Leseprobe Frühling in Fjällbacka

Kapitel 1 – Silja

„Ach, Malin! Er fehlt mir so.“ Mit gesenktem Kopf saß Silja im Schaukelstuhl ihres Vaters und wiegte sich ins Leere starrend vor und zurück. Trotzdem nahm sie aus den Augenwinkeln Malins mitleidigen Blick wahr. Doch ihre Cousine schwieg.

Offenbar waren ihr die tröstenden Worte ausgegangen oder die letzten Tage in Skåne län, der südlichsten Provinz Schwedens, hatten sie gelehrt, dass Silja, tief in ihrer Trauer versunken, ohnehin keine Antwort erwartete.

Nachdem Siljas Vater, Karl Blom, zwei Tage zuvor beerdigt worden war und wohlwissend, dass sich der Aufenthalt ihrer Cousine dem Ende neigte, fühlte sie tiefe Dankbarkeit für Malins Anwesenheit. Dass diese sich scheinbar in der Verantwortung sah, statt Silja einfach ihrem Trübsinn zu überlassen und abzureisen, war typisch. Malin hatte schon immer ein großes Herz gehabt.

Nun legte sie ihre Hand sanft auf Siljas Arm. „Onkel Karl hätte sicher nicht gewollt, dass du jeden Lebenswillen verlierst. Er war so ein fröhlicher Mensch.“

Silja nickte und schluckte schwer. „Der Frühling war seine liebste Jahreszeit. Ach, Malin, dass er die ersten warmen Sonnenstrahlen nur durch das Krankenhausfenster sehen durfte, ist so ungerecht.“ Ein weiteres Schluchzen erschütterte ihren Körper und brachte den Schaukelstuhl zum Vibrieren.

Malin seufzte kaum hörbar. Ihr Blick verriet Silja, wie gern sie ihre Gedanken auf etwas Positives gelenkt hätte.

In die Stille hinein klingelte überraschend das Telefon.

Silja meldete sich mit tränenerstickter Stimme und lauschte,

während sie beobachtete, wie Malins Blick über die Bücherregale ihres verstorbenen Vaters wanderte.

„Was soll das heißen?“, schrie Silja und Malin zuckte zusammen.

Auf diesen kurzen Satz folgte im Raum eine unheimliche Stille, während derer Malin besorgt die Stirn runzelte und Silja verzweifelt den Forderungen ihres Bruders lauschte. Mit einem resignierten „Nein, das geht nicht“ beendete sie schließlich das Telefonat. Danach verharrte sie hoch aufgerichtet, aber vollständig reglos im Schaukelstuhl, der wie ein Mahnmal in schräger Position eingefroren schien, weil sie ihre Füße gegen den Boden stemmte. Silja fühlte sich wie gelähmt. Den Hörer hielt sie noch immer in der Hand und fixierte ihn als den verhassten Überbringer einer weiteren Hiobsbotschaft.

„Was ist denn los?“, erkundigte sich Malin zaghaft.

„Das war Lennart“, erklärte Silja wie in Trance. „Er hat einen Interessenten für das Haus gefunden.“

„Für welches Haus?“ Malin schnappte sichtlich überrascht nach Luft.

Es fiel Silja schwer, das Unaussprechliche in Worte zu kleiden.

Doch Malin hatte die Tragweite dieser Neuigkeit offenbar auch ohne nähere Erläuterungen erfasst. „Für dieses Haus … für euer Haus?“ Sie machte eine weit ausholende Armbewegung.

„Genau“, antwortete Silja tonlos. „Für unser Elternhaus.“

Malin schluckte. „Wollt ihr es etwa sofort verkaufen?“

„Ich nicht! Aber Lennart sagt, er braucht das Geld.“

„Okay. Wie wäre es, wenn du ihn einfach auszahlst?“

Statt einer Antwort schüttelte Silja den Kopf. Sie presste die Lippen aufeinander, konnte jedoch ein weiteres Schluchzen nicht unterdrücken. Tränen rannen über ihre Wangen.

„Das verstehe ich nicht. Als Vorschullehrerin verdienst du immerhin einigermaßen, oder?“

„Ich bin arbeitslos, Malin.“

„Arbeitslos?“

Silja wischte mit einem Papiertaschentuch über ihr tränennasses Gesicht und schnäuzte sich nachdrücklich. Anschließend warf sie das nasse Knäuel in einen Papierkorb neben dem Schaukelstuhl, in dem sich bereits ein beachtlicher Berg von benutzten Tüchern auftürmte.

„Was meinst du damit? Wieso bist du arbeitslos? Was ist mit deiner Stelle bei der Tagesstätte um die Ecke?“

„Der Vertrag war auf zwölf Monate befristet“, schniefte Silja. „Ich bin für eine Kollegin eingesprungen, die vor einem Jahr ihr drittes Kind bekommen hat. Nun übernimmt sie wieder und ich muss gehen. Das ist auch in Ordnung, denn ich habe zuletzt Teilzeit gearbeitet, um mich besser um Pappa kümmern zu können. Mit meinen paar Kröten kann ich Lennart unmöglich auszahlen. Und ohne Job gibt mir die Bank wohl kaum einen Kredit, obwohl ich sicher schnell eine neue Anstellung finden werde.“

Malin starrte Silja betroffen an.

„Ich würde dir ja gerne helfen, aber mein gesamtes Erspartes ist kürzlich in eine neue, professionelle Kameraausrüstung für meine Selbstständigkeit geflossen und außerdem zahle ich einen Kredit für mein Haus in Fjällbacka ab.“

Silja nickte. Als Geldgeberin schied Malin aus, aber ein solches Angebot hätte sie ohnehin nicht akzeptieren können. Im beschaulichen Wohnzimmer von Karl Blom breitete sich ein weiteres Mal eine bedrückende Stille aus, die nur gelegentlich von Siljas Schluchzern unterbrochen wurde.

„Warte mal …“ Nachdenklich strich sich Malin durch ihr langes Haar. „Ich habe neulich …“ Angestrengt runzelte sie die Stirn. „Ein Tapetenwechsel würde dir sicher nicht schaden.

Hier in der vertrauten Umgebung erinnert dich alles an bessere Zeiten und das ist in deiner derzeitigen Verfassung sicher wenig hilfreich.“

Verwirrt sah Silja ihre Cousine an. Worauf wollte sie hinaus?

„Ich habe da vielleicht eine Idee …“, setzte Malin vorsichtig an.

Siljas lugte hinter einem Taschentuch hervor.

„Wie du weißt, werde ich übermorgen nach Dänemark fahren und dort die nächsten Wochen arbeiten …“

Malins Worte rauschten an Silja vorbei, ohne sich einzuprägen. Sie verzog keine Miene.

„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“

„Entschuldige. Was hast du gesagt?“

„Ich sprach von meinem Auftrag, dänische Frühlingsimpressionen einzufangen.“

„Ach ja. Das wird bestimmt toll. Gestaltest du einen neuen Bildband?“

„Nein, dieses Mal sind die Aufnahmen für ein Magazin bestimmt.“

„Aha.“

„Aber ich werde für einige Wochen im Ausland sein …“

„Hm.“

„Silja?“

„Was?“

„Wie fändest du es, in der nächsten Zeit mein Haus zu hüten?“

„Dein Haus? In Fjällbacka? Das geht nicht. Ich war schließlich noch nie dort. Du weißt doch, dass ich hier nicht wegkonnte.“

„Na, und? Ich gebe dir die Adresse und du machst es dir bei mir gemütlich: Gießt meine Blumen, genießt die Sonnenuntergänge über dem Meer …“

„Das ist wirklich ein nettes Angebot, Malin, aber ich muss dringend Arbeit finden …“

„Da hätte ich vielleicht etwas für dich …“

„…und unser Haus leerräumen.“

„Also, ich finde, das kann Lennart machen, wenn er es so eilig hat mit dem Verkauf. Immerhin hast du dich – im Gegensatz zu ihm - fast zwei Jahre lang um euren Vater gekümmert!“

„Er hat hin und wieder angerufen.“

„Wow! Ich bin beeindruckt!“

„Trotzdem kann ich nicht einfach davonlaufen. Ich möchte Pappas Sachen in Ruhe durchsehen und meine zusammen packen …“

„Weißt du was? Ich helfe dir dabei. Wir haben zwei Tage. Wenn wir die Ärmel hochkrempeln …“

Zwei Tage? Ich kann unmöglich in so kurzer Zeit alles durchsehen“, protestierte Silja.

„Wir packen das Wichtigste in Kartons und du lädst die Sachen auf die Ladefläche des Pickups. Ich habe mich immer gefragt, warum dein Vater die Riesenkiste behalten hat, nachdem deine Mutter gestorben und Lennart ausgezogen war. Aber nun hat es doch sein Gutes. Die alte Möhre wird dein Bruder kaum haben wollen.“

„Sicher nicht, er fährt einen Sportwagen.“

„Na, bitte. Dann packen wir alles, was dir gehört und du behalten willst, in das Auto und auf die Ladefläche und um den Rest soll sich dein Bruder kümmern. Überleg mal: Was ist dir wichtig?“

„Der Schaukelstuhl. Und das gute Geschirr. Die Fotoalben natürlich und ein paar Bücher. Mein Fahrrad bräuchte ich auch.“

„Sehr gut. Das werden wir problemlos verstauen.“

Unternehmungslustig klatschte Malin in die Hände. Angesichts ihres Plans schien sie äußerst guter Dinge zu sein, während Silja noch immer gegen die Lethargie ankämpfte, die sie seit Tagen fest im Griff hatte.

„Du fängst an zu stöbern und ich besorge ein paar Umzugskartons. Hast du eine Plane und Spanngurte für die Ladefläche?“, drang die Stimme ihrer Cousine wie aus weiter Ferne an ihr Ohr.

„In der Garage. Trotzdem fühlt es sich irgendwie falsch an. Ich kann doch nicht einfach davonlaufen, Malin.“

„Willst du etwa dabei sein, wenn Lennart wildfremde Leute durch das Haus führt?“

Silja schüttelte energisch den Kopf.

„Das dachte ich mir. Auf geht’s! Wir haben achtundvierzig Stunden Zeit, bis ich nach Süden düsen werde und du in Richtung Norden.“

„Und was ist mit einem Job? Wovon soll ich in Fjällbacka leben?“

„Ach, ja, das wollte ich dir vorhin erzählen: Kurz vor meiner Abreise traf ich zufällig Ebba Holmgren, die Leiterin des Hortes, die dringend eine Vorschullehrerin sucht. Ich werde sie umgehend anrufen und ihr sagen, dass ich die perfekte Fachkraft für sie gefunden habe.“

Triumphierend sah Malin Silja an.

„Aber …“

„Keine Widerrede! Du fängst nächste Woche übergangsweise dort an, meine Liebe. Bis zu den Sommerferien kannst du Ebba aushelfen. Danach sehen wir weiter. Das löst dein Problem ebenso wie ihres und ich muss mir in Dänemark keine Sorgen machen, dass dir hier die Decke auf den Kopf fällt oder du obdachlos wirst, weil Lennart ein herzloser Idiot ist.“

Kapitel 2 – Silja

Was Silja drei Tage zuvor wie eine absolute Schnapsidee ihrer Cousine vorgekommen war, nahm nun rasend schnell Gestalt an und erschien ihr zunehmend weniger absurd. Ihr ganzes Leben hatte sie in Südschweden verbracht, aber es waren nicht nur glückliche Jahre gewesen. Gegen Ende ihrer Schulzeit war ihre Mutter erkrankt. Lennart hatte die weite Welt erkundet, sie hingegen die Pflege übernommen. Ihre Freunde waren weggezogen, hatten geheiratet und lebten ihr Leben, während Silja bis zum Tod ihrer Mutter zwischen Krankenbett und Studium hin- und hergependelt war. Nach einer kurzen Ruhephase hatte ihr Vater völlig unerwartet seine Krebsdiagnose erhalten und es war ihr wie ein grauenvolles Déjà-vu vorgekommen. Und nun, direkt nachdem sie Karl Seite an Seite mit seiner geliebten Alma beerdigt hatte, brachte Lennart sie um ihr Zuhause und das Schicksal sie um ihre Arbeitsstelle. Zwar war sich Silja bewusst gewesen, dass sie sich längst um einen anderen Job hätte kümmern müssen, doch aufgrund der Pflege ihres Vaters hatte ihr jeglicher Elan dazu gefehlt. Deshalb kam ihr Malins spontane Eingebung, die einen Aufschub versprach, gar nicht ungelegen.

Falls dies nicht der richtige Zeitpunkt für einen Neuanfang war, würde er wohl niemals kommen. Und während der achtwöchigen Sommerferien hoffte Silja, so viel Abstand zu den aktuellen Ereignissen zu gewinnen, dass sie mit einem klaren Kopf auf die Suche nach einer passenden Festanstellung gehen konnte. Während der einjährigen Vertretungsphase hatte sie aufgrund der Doppelbelastung kein allzu enges Verhältnis zu ihren Kollegen und Schützlingen aufbauen können. Auch in dieser Beziehung wollte sie sich in Zukunft mehr einbringen. Bei näherer Betrachtung erkannte Silja, wie recht Malin damit hatte, ihr einen Neubeginn zu verordnen. Im Geiste dankte sie ihrer Cousine, die ihr in der vergangenen Woche so manchen positiven Impuls gegeben hatte.

Sobald Malin in Richtung Dänemark aufgebrochen war, fuhr Silja schweren Herzens zum Friedhof, wo sie lange Zeit stumm und mit tränennassen Wangen am Grab ihrer Eltern ausharrte. Mehrfach ordnete sie die mitgebrachten Blumen neu an. Schließlich erhob sie sich schwerfällig, wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über die geröteten Augen und trat einen Schritt zurück.

„Hej då, Mamma och Pappa.“ Sie schluckte. ”Sobald ich aus Fjällbacka zurück bin, komme ich euch wieder besuchen. Vielleicht finde ich hier in der Nähe Arbeit und eine Wohnung. Ihr fehlt mir so sehr!“ Mit einem Schluchzer wandte sie sich ab und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, davon.

Zwar konnte Silja noch immer kaum glauben, dass sie mit dem uralten Pickup ihres Vaters, schwer beladen bis über das Zulässige hinaus, der E6 Kilometer für Kilometer in Richtung Norden folgte. Doch Malins Plan erschien ihr beileibe nicht mehr so abwegig wie im ersten Moment. Und den Besichtigungen und dem Verkauf des Hauses, in dem sie ihr gesamtes Leben verbracht hatte, wollte sie auf keinen Fall beiwohnen.

Lennart hatte nicht schlecht gestaunt, weil sie auf die Schnelle die Erinnerungsstücke ausgesucht hatte, die ihr gefielen, und sich anschließend aus dem Staub machte. Genau genommen war er über diese von Malin initiierte Spontanität seiner Schwester so verblüfft gewesen, dass er nur mäßig protestiert hatte. Ohnehin war seine aufkeimende Empörung von Malin sofort im Keim erstickt worden, indem sie ihm harsch erklärte, in der durch seinen unsäglichen Egoismus verursachten Eile keinerlei Zeit für Diskussionen zu haben. Ihr zufriedenes Grinsen bei dieser wenig charmanten Abfuhr hatte Silja das erste Mal seit Wochen ein Lächeln entlockt.

Bei der Erinnerung daran, kehrte es zurück und sie drehte leicht beschwingt das Autoradio lauter.

Während einer Rast auf halber Strecke nach Göteborg, machte Silja am frühen Nachmittag auf einem Parkplatz halt. Auf einer Bank sitzend betrachtete sie die vorbeiziehenden Wolken. Der noch recht kühle Frühlingswind ließ sie frösteln, als sie ihr Mobiltelefon hervorholte und Malin anrief.

„Sag bloß nicht, du hast Zweifel bekommen und drehst gerade um. Ich habe schon mein erstes Hotel südlich von Kopenhagen bezogen und momentan keine Zeit, dir den Kopf zurechtzurücken.“

„Keine Sorge. Ich wollte bloß berichten, wo ich mich befinde. Insgesamt habe ich nämlich etwa ein Drittel der Strecke hinter mir und seit einer Weile weht mir der Seewind um die Nase.“

„Das freut mich! Gewöhn dich am besten sofort an das Gefühl, denn er wird in Fjällbacka dein ständiger Begleiter sein.“

„Ich bin schon sehr gespannt auf dein Zuhause. Leider konnte ich dich ja bisher nie dort besuchen.“

„Es ist traumhaft schön. Ein bisschen überlaufen im Sommer, aber um diese Jahreszeit werden nicht allzu viele Touristen zu sehen sein. Genieß es einfach. Und denk dran: Der Hausschlüssel liegt unter dem Blumentopf neben der Tür.“

„Ja, ich weiß. Ein geniales Versteck übrigens. Da kommt sicher kein Einbrecher drauf!“, sagte Silja lachend.

„Der potentielle Einbrecher wäre gestraft genug, falls er sich die Mühe machen würde, mein Zeug zu durchwühlen. Das einzig Wertvolle in meinem Besitz ist die Kameraausrüstung und die trage ich stets bei mir.“

„… und hütest sie wie einen Schatz, ich weiß. Übrigens habe ich vergessen, dich zu fragen, wo ich parken kann.“

„Dieses Schlachtschiff? Das wirst du am Straßenrand abstellen müssen. Am besten ganz nah an meinem Gartenzaun, damit die anderen Autos noch vorbeikommen. Denk bitte daran: Ich wohne in einer Sackgasse!“

„Genau: In einem weißen Haus mit einem weißen Zaun und einer weißen Gartenbank. Das klingt viel zu spießig für dich, Malin.“

Ihre Cousine lachte. „Tief in meinem Herzen bin ich furchtbar kleinbürgerlich und langweilig. Wusstest du das nicht?“

„Wer’s glaubt!“

„Apropos langweilig! Vergiss bloß nicht, meinem Nachbarn Bescheid zu sagen, dass du dich ab sofort um die Pflanzen und die Post kümmerst. Er wird nicht böse darüber sein, denn er ist ein vielbeschäftigter Mann.“

„Magnus Fredriksson. Der Tischler.“

„Genau der! In den solltest du dich übrigens unter keinen Umständen verlieben. Er ist bekanntermaßen mit seiner Arbeit verheiratet.“ Malin lachte frech.

„Keine Sorge. Da ich nur für kurze Zeit in Fjällbacka sein werde, habe ich nicht vor, mir einen Mann zu angeln. Stattdessen werde ich die Zeit nutzen, den Kopf freizubekommen und mir Gedanken zu machen, wo ich in Zukunft wohnen und arbeiten werde.“

„Egal, wie du dich entscheidest, reise auf keinen Fall ab, bevor ich zurück bin. Ich möchte mich persönlich davon überzeugen, dass es dir besser geht und dir die Gegend zeigen. Die Westküste ist wirklich sehenswert.“

„Versprochen. Wie läuft es bei dir in Dänemark?“

„Gut. Neben mir im Hotel wohnt eine deutsche Familie. Da konnte ich endlich mal wieder meine eingestaubten Deutschkenntnisse hervorkramen. Du hättest den erstaunten Blick ihrer kleinen Tochter sehen sollen, als ich ihr erklärt habe, dass sie mich duzen darf, weil sich in Dänemark, Schweden und Norwegen alle Menschen duzen.“

Silja lachte. „Und was hat sie dazu gesagt?“

„Sie wollte wissen, ob das auch stimmt. Ich habe ihr mein Ehrenwort darauf gegeben, dass wir nur bei den Königsfamilien eine Ausnahme machen, aber die wird sie wohl kaum treffen.“

„Vermutlich nicht. Ich muss jetzt Schluss machen, Malin, sonst komme ich erst im Dunkeln an und finde womöglich dein Haus nicht.“

Just in dem Moment, als Silja auflegte, überwand die Sonne die graue Wolkendecke und sandte wärmende Strahlen zu ihr hinab. Genießerisch reckte sie ihr Gesicht gen Himmel. Ein wohliges Gefühl durchdrang ihren Körper, während sie mit geschlossenen Augen dastand und den Moment genoss. Der sanfte Frühlingswind streichelte ihre Wangen und fuhr durch ihr langes, blondes Haar. Der Geruch von feuchter Erde stieg in Siljas Nase und rief ihr das lächelnde Gesicht ihres Vaters ins Gedächtnis, der sie in jedem Jahr nach der Schneeschmelze zu sich gerufen und gesagt hatte: „Komm her, Silja, und rieche den Frühling!“ Tief in ihrem Innern wusste sie, dass sie dieses Bild stets mit sich tragen würde. Der Tod hatte ihr die Liebsten genommen, nicht aber die Erinnerung an sie. In diesem Wissen stieg Silja wieder in den vollbeladenen Pickup, um ihre Fahrt in unbekannte Gefilde fortzusetzen.

Sobald sie auf ihrem Weg in Richtung Norden Göteborg passiert hatte, machte sie vor dem Abzweig nach Uddevalla erneut eine Pause, ließ die Stadt anschließend östlich liegen und folgte der E6 über die Uddevalla-Brücke, die den Byfjord überquert. Am frühen Abend erreichte Silja schließlich die ersten Häuser des Fischerortes Fjällbacka. Auf dem Parkplatz unterhalb der Kirche sah sie einen Fremdenführer seine Schäfchen in einen Reisebus scheuchen und auch in den zahllosen Restaurants und Cafés am Hafen waren schon einige Besucher unterwegs. Silja fuhr langsam an kleinen Schuhläden, winzigen Buchhandlungen und puppenstubenhaften Bäckereien in buntgestrichenen Holzhäusern vorbei, vor deren Schaufenstern sich vereinzelte Touristen tummelten. Durch das geöffnete Autofenster vernahm sie Stimmengewirr. Norwegische Wortfetzen drangen ebenso an ihr Ohr wie schwedische und englische. Vom Meer wehte eine leichte Brise zu ihr herüber, die einen salzigen Geschmack auf Siljas Zunge hinterließ. Die Bucht war größer, als sie gedacht hatte. Beeindruckt warf sie beim Fahren einige Seitenblicke auf die vielen weißen Segelboote, die sanft auf den Nordseewellen schaukelten.

Malin hatte nicht übertrieben. Der Badeort war eine kleine Schönheit und Silja spürte schon in den ersten Minuten, wie gut es sich in Fjällbacka leben ließ. Links von der Straße hinter den Hotels und Restaurants erhob sich der mächtige Vetteberg, ein gigantischer Felsen, der unweit der Küste steil emporstieg und die kleine Stadt überragte.

Silja folgte Malins Wegbeschreibung und lenkte den Wagen schließlich in eine Sackgasse, wo sie vor zwei beinahe identischen weißen Holzhäusern parkte. Ein Blick über den Zaun gab ihr die Gewissheit, am Ziel zu sein, denn in dem linken Vorgarten sah sie die von Malin beschriebene Gartenbank neben einem Blumentopf. Zu ihrem Erstaunen stand die Sitzgelegenheit jedoch nicht wie erwartet gesittet neben dem Eingang und lud dazu ein, sich darauf niederzulassen. Stattdessen war sie kopfüber auf die Lehne gekippt und mit Zwingen versehen, die darauf schließen ließen, dass sie gerade repariert wurde. Dieser Umstand irritierte Silja zwar, da die Beschreibung ansonsten aber zutraf, verwarf sie jegliche Fragen, die ihr in den Kopf schossen und öffnete das Gartentor. Unter dem mit Frühlingsblumen bepflanzten Kübel entdeckte sie, wie von Malin beschrieben, den Hausschlüssel und öffnete die Tür. Das Abendlicht drang durch ein Sprossenfenster und Silja lugte vorsichtig ins Wohnzimmer. Auf dem runden Esstisch lagen einige Briefe, was sie daran erinnerte, den Nachbarn über ihr Kommen zu informieren. Doch zunächst wollte sie einen Teil ihrer Sachen ausladen und unter die Dusche springen.

Nachdem Silja die Spanngurte gelöst und die Plane zusammengefaltet hatte, trug sie ihren geliebten Schaukelstuhl ins Wohnzimmer, türmte die Kartons in den Flur und brachte die Reisetaschen mit all ihrer Kleidung ins Haus.

Im ersten Stock befand sich ein kleines Bad, wie Malin es beschrieben hatte, und im Schrank entdeckte sie ein flauschiges graues Handtuch der Superlative. Verwundert betrachtete Silja den Rasierapparat, der neben der Zahnbürste stand. Der war doch für Männer?! Das war wieder einmal typisch für Malin, ihr nichts von einem neuen Freund erzählt zu haben, obwohl sie fast eine Woche miteinander verbracht hatten!

Erschöpft, aber auch erleichtert, öffnete Silja den Reißverschluss ihrer größten Reisetasche, holte frische Wäsche und einen Jogginganzug heraus und verschwand in der Duschkabine. Der Wasserstrahl erfrischte sie ungemein. Fast kam es ihr vor, als wuschen die neue Umgebung und die Brause einen Teil ihres Kummers mit sich fort. Genießerisch schloss sie die Augen, derweil das Wasser ihr über die blonden Haare und das verschwitzte Gesicht rann.