Leseprobe Tage des Neubeginns

1

Würzburg, 1933

Trotz des eiskalten Tages strahlte Maria wie an einem Sommermorgen. Sie bemerkte es erst, als ihr entgegenkommende Passanten auch ein Lächeln schenkten. Endlich hatte der Goldschmied seine Arbeit an dem Geschenk für Mama beendet und es nach Marias Wünschen gestaltet. Sie fasste nach dem Schächtelchen in ihrer Handtasche. Mama würde Augen machen. Sie eilte durch die Schönbornstraße mit ihren mehrstöckigen Häusern, die im Erdgeschoss oft kleine Läden beherbergten und bog um die Ecke. Dann hatte sie den Wäscheladen erreicht. Die Marienkapelle schlug sechs Uhr, als Maria vor dem Laden stehen blieb. Wie jedes Mal wanderte ihr Blick zu dem Metallschild über der Tür. Darauf stand in schwarzen Lettern vor einem cremefarbenen Hintergrund: Leonore Wagner.

Mamas Traum von einem eigenen Geschäft hatte sich noch vor der Geburt Katharinas, ihrer Ältesten, erfüllt und seitdem arbeitete sie jeden Tag darin. Vor einem Jahr hatte sie Katharina eingestellt. Maria hob das Kinn. Das sollte ihrer Mutter erst einmal jemand nachmachen, ihr Geschäft so gut zu führen, dass sie sogar noch ihre Tochter beschäftigen konnte!

Als sie die Ladentür öffnete, bimmelten die Glöckchen darüber, doch der Raum war leer. Bestimmt war Katharina schon nach Hause gegangen und Mama im kleinen Nebenraum mit etwas beschäftigt.

Maria blieb an der Theke stehen, auf der cremefarbene Handschuhe lagen. Solche liebte Katharina. Sie strich über die kühle Seide. Sie selbst hasste alles, was sie daran hinderte, zu erspüren, was sie berührte. Fühlen war doch das Wichtigste überhaupt.

Leonore kam aus dem Büro heran, gefolgt von einem Mann in Papas Alter. Er trug einen Mantel aus schwerem Wollstoff über einem Anzug, in der Hand hielt er einen Hut. Bei Marias Anblick lächelte er, drehte sich dann zu Mama um, verabschiedete sich und verließ den Laden.

Marias Mutter sperrte hinter ihm ab. Sie fuhr sich durchs Haar und schaute erst auf ihre Schuhspitzen, bevor sie das Gesicht hob. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Lippen ebenso – wie bei einem jungen Mädchen. Sie lächelte. „Liebes, wie schön, dass du mich besuchst.“

Maria erschien es eher, als sei sie im unpassenden Moment vorbeigekommen. „Wer war der Mann?“

Leonore drehte sich zur Ladentür, als stünde er noch dort. „Ach der. Nur ein Bekannter.“

„Einer, der in dein Büro darf?“

Sie zuckte die Schultern. „Er kennt sich mit den Büchern gut aus. Ich hatte da eine Frage zu einem bestimmten Punkt.“ Sie ging wieder nach hinten und kam mit Mantel, Hut und Handtasche zurück.

Maria musterte sie. „Etwas, das ihr nicht im Laden bereden konntet?“

Leonore rückte ihren Hut vor dem Spiegel zurecht. „So ist es.“

Sie traten nach draußen. Mama schaute von einer zur anderen Seite der Straße, als wartete der Mann auf sie. Merkwürdig! In das Büro durfte niemand außer Katharina – normalerweise! Maria horchte in sich. Das Kribbeln in ihrem Bauch war mit dem Mann verschwunden und damit die Freude, ihre Mutter zu überraschen. Sie schaute sich um. Wer war der Mann, der sozusagen in das Allerheiligste des Geschäftes eindringen durfte? Mama kannte ihn wohl gut genug, um das zuzulassen, also vertraute sie ihm offenbar. Doch die Vertrauten ihrer Eltern gingen bei ihnen ein und aus. Der Mann hatte sie aber noch nie zu Hause besucht, hier im Laden aber schon. Seltsam.

 

Erst Tage später verschenkte Maria das Medaillon. Leonore strahlte überglücklich, als sie es öffnete und die winzigen Fotografien bestaunte. Eine von Papa, eine von Katharina, Sophia und ihr.

Leonore gab ihr einen Kuss. „Danke, mein Kind. Das ist ja wunderschön. Hast du die anfertigen lassen?“

Maria nickte. Die Freude, die sie stets wärmte, wenn sie jemanden beschenkte, erfüllte sie auch jetzt. Aber an dem Medaillon klebte die Erinnerung an den Mann in Mamas Büro, an Mama, die wie ein junges Mädchen wirkte, eines, das von etwas abzulenken versuchte, indem es Alltägliches tat.

Leonore schien die Stimmung ihrer Tochter zu spüren. „Was ist denn? Schau, ich lege es gleich um.“

Maria lächelte und imitierte mit verstellter Stimme den üblichen Spruch ihres Vaters. „Das will ich aber auch hoffen.“

Beide lachten sie.

Wie so oft hatte Maria die sie aufwühlenden Gedanken in die hinterste Ecke ihres Kopfes gestopft, doch sie blieben ja dennoch bestehen und drängten in ihr Bewusstsein, wenn sie alleine war – so wie jetzt. Gedanken an eine eingerahmte Familie, eingebettet in ein Medaillon, aus dem keiner herausfiel. Sie setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Sekretär. Die meisten Menschen stellten sich wohl ans Fenster, wenn sie nachdachten. Marias aber ging zur Straße hin und da lenkte sie oft etwas ab, vorüberschlendernde Nachbarn, ein Automobil und seit neuestem Uniformierte, die Papa besuchten. Die empfing er hier in der Villa! Deswegen auch die ewigen Streitereien zwischen ihrem Vater und Sophia, die die Partei ablehnte. Das tat Katharina auch, aber die knallte Papa ihre Meinung nicht an den Kopf. Sophia vertrat ihre als Einzige und hielt sie Papa vor, ohne dass sie ihn verärgerte. Sie blieb immer sein Augenstern. Maria selbst lehnte die Partei ebenso ab, denn ihr erschienen die meisten Mitglieder gewaltbereit und diese Bereitschaft machte ihr Angst. Und dann die Ablehnung der Juden! Selbst Papa behandelte David wie einen Sklaven, wenn Parteimitglieder ihn besuchten, nur weil David ein Jude war. Dabei behauptete er stets, David sei nicht nur ein Bediensteter, sondern ein Freund. Würde sie Papa aber vorhalten, wie grässlich er sich ihm gegenüber benahm, würde er bestimmt nur abwinken und behaupten, sie verstünde nichts von Politik. Das lag gewiss daran, dass sie sich kaum an den Diskussionen um die Partei beteiligte. So wie damals, als Papa der Familie erklärt hatte, er trete der NSDAP bei, weil er es für besser hielt, ihr anzugehören, um Stadt und Land auf Vordermann zu bringen. Da hatte nur Sophia aufbegehrt. Alle anderen hatten geschwiegen, auch sie selbst, obwohl sie den Entschluss nicht verstanden hatte. Auch jetzt fragte sie sich, warum Papa eine Partei unterstützte, die Juden ablehnte, und auftrat, als gehörte ihr die Stadt und das Land, obwohl sie die Wahl noch nicht gewonnen hatte und hoffentlich als Verlierer hervorging.

Maria fragte Papa aber nicht. Zum einen scheute sie einen Konflikt innerhalb der Familie, zum anderen stand es ihr nicht zu, ihren Vater zu kritisieren, der sie mit Hingabe großgezogen hatte. Aber gerade sein liebevolles Wesen brachte sie nicht mit dem Eintritt in diese Partei zusammen. Glaubte er, dort etwas Gutes bewirken zu können? Vielleicht. Wenn es so war, warum erkannte Sophia den Grund nicht? Sie stand Papa doch so nah. Stattdessen schleuderte sie ihm alles entgegen, was ihr gegen den Strich ging, und es herrschte häufig Krach zwischen ihnen. Wie oft hatte Maria da mit ihren Späßen die Wogen geglättet. Wieder ein Teil einer Rolle, der gut vertuschte, was sie wirklich bewegte.

Doch wenn die Familie nicht zusammenhielt, was blieb ihr dann? Im Grunde schien es ihr, als verschlösse Papa die Augen davor, was die Partei verkündete und ausführte, und Sophia rüttelte ihn wieder wach. Sie war stark und glich ihm so sehr. Sie würde er immer lieben, also brauchte sie kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Katharina, die Mama in ihrem Laden half, war die Tüchtige und Vernünftige, die abwartete und danach in Ruhe überlegte und abwog. Sie selbst, als die Kleine, übergingen alle. Oder lag es nicht daran, dass sie die Jüngste war? Wie sie die anderen wohl beschrieben, wenn sie danach fragte? Wahrscheinlich nur auf das Äußere reduziert: helle Haut, schwarze Augen, schwarzes Haar. Und da sagte Sophia immer, Schwarz sei keine Farbe!

Vor Jahren hatte sie einmal gefragt, wie sie zu dem Schwarz gekommen war. Ihr Vater war strohblond, mittlerweile auch grau gesprenkelt und besaß blaue Augen. Mama hatte braunes Haar und braune Augen. Soviel Maria bekannt war, hatten auch ihre Großeltern kein schwarzes Haar besessen. Mama hatte ihr geantwortet: „Du bist eben etwas Besonderes.“

Wer mochte das schon sein, wenn man nicht gerade Geburtstag feierte oder einen Preis gewonnen hatte und deswegen im Mittelpunkt stand?

Etwas Besonderes. Maria schnaubte. Oh ja, das war sie!

Letztes Jahr hatte Mama Doktor Lange geklagt: „Maria ist stets so blass. Ich mache mir Sorgen deswegen.“

Der Doktor hatte abgewunken. „Das haben wir gleich.“ Er hatte ihr Blut abgenommen und ihr nach wenigen Tagen Lebertran verschrieben.

Als der Doktor ihr den verordnet hatte, hielt er ihre Krankenakte so, dass Maria unter dem Kästchen mit der Bezeichnung Blutgruppe AB las.

Viel später hatte sie sich bei Lange erkundigt: „Was hat es denn mit der Blutgruppe auf sich?“

„Oh, diese Blutgruppe setzt sich aus der Gruppe A und B zusammen. Hier im Land herrscht vor allem die Gruppe A oder AB vor.“

Es war nicht schwer, die von ihrer Mutter herauszufinden. Die stand in ihren Unterlagen zu den Geburten von ihren drei Kindern. Sie hatte Gruppe B.

Tage später, bei einem Spaziergang, hatte Papa ihr über die Wange gestrichen. „Der Lebertran bekommt dir gut. Du hast richtig rosige Wangen.“

„Danke.“ Sie hatte ihren Mut zusammengenommen. „Welche Blutgruppe hast du?“

„Beschäftigst du dich jetzt auch damit?“

Sie hatte nur mit den Schultern gezuckt.

„Null.“ Er hatte gegrinst. „Eine seltene Blutgruppe.“

Die Antwort hatte Maria ernüchtert.

In ihren Augen stiegen Tränen auf, rannen die Wangen herab und tropften auf den Sekretär. Aus Erzählungen Davids wusste sie von Mamas Übelkeit während der Schwangerschaft mit ihr und wie Maria an dem eiskalten Morgen im Januar zur Welt gekommen war. Mama war also ihre leibliche Mutter, fehlte nur die andere Wurzel, ihr wirklicher Vater.

Nein, so konnte sie ihn nicht nennen. Er hatte sie gezeugt, aber sich wohl kaum für sie interessiert. Oder wusste er nichts von ihr, so wie sie bis vor kurzem nichts von ihm? Wer er wohl sein mochte? Einer von den Bekannten ihrer Eltern? Nein, wohl eher nicht. Zumindest ähnelte ihr keiner von ihnen, weder besaß einer das schwarze Haar, noch … Halt!

Sie hatte jemanden gesehen mit dem gleichen Haar und dem hellen Teint! Den Mann im Laden, der aus dem Büro gekommen war!

Konnte das wirklich sein? Glich er ihr tatsächlich äußerlich oder wünschte sie sich das nur, weil sie ihren Erzeuger kennenlernen wollte? Natürlich war es merkwürdig gewesen, dass er im Allerheiligsten des Ladens gewesen war, aber das machte ihn noch lange nicht zu ihrem Vater.

Wie sollte sie nur herausfinden, wer es war, ohne ihre Mutter zu fragen? Darauf ansprechen durfte sie sie niemals, denn das stellte Mama nur bloß und ob sie ihr dann den Namen verraten würde, das stand in den Sternen.

Wieder sammelten sich Tränen in Marias Augen. Sie war also ein Fehltritt, ein Versehen, ungewollt und doch in das Leben einer intakten Familie gepurzelt – mit Eltern und zwei Schwestern gesegnet, nein, zwei Halbschwestern. Und sie war der Bastard, und käme das heraus, wie stünde Mama dann da? Nein, deren Untreue musste bei Maria bleiben. Die würde sie als Geheimnis hüten.

Es klopfte an der Tür, so leise wie es nur David tat. Er steckte den Kopf zur Tür herein. „Gnädiges Fräulein, darf ich kurz stören?“

David schaute auch heute wieder aus wie einem Magazin entsprungen. Das dunkle Haar gescheitelt, die Kleidung wie frisch gebügelt.

Maria drehte sich weg und wischte mit dem Taschentuch über ihr Gesicht. „Ja, David?“

„Fräulein Margarethe wartet unten in der Diele.“

„Ach, schicken Sie sie doch bitte herauf.“

„Selbstverständlich, Fräulein Maria.“

Maria wischte sich das Gesicht noch einmal mit dem Taschentuch ab, stand auf und betrachtete sich im Spiegel. So verheult wie sie ausschaute, hielt sie es für besser, wenn Margarethe heraufkam und sie sonst keinen antraf.

Schon klopfte es an der Tür. Margarethe schneite herein und umarmte Maria zur Begrüßung. Dann hielt sie sie etwas auf Abstand und zog eine Braue hoch. „Hast du geweint? Was ist denn los?“

Maria schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin etwas erkältet und habe schlecht geschlafen.“

Margarethe legte ihr die Hand auf die Stirn. „Fieber hast du keins. Dann lass uns an die Luft gehen, die wird dir guttun.“

„Ich sehe dich in letzter Zeit kaum noch. Warum igelst du dich so ein?“

„Tue ich doch gar nicht.“ Margarethe richtete vor dem Spiegel ihre Frisur. „Na gut, im Grunde habe ich in der letzten Zeit auch viel um die Ohren.“

Maria musterte sie. „Was machst du denn?“

„Mich um die christliche Jugendgruppe kümmern.“

„Aha.“

Margarethe erzählte von ihrer Arbeit dort, dass sie mit den Kindern las und Lieder sang, doch Maria hörte nur mit halbem Ohr zu. War es nicht leichter, sich um andere zu kümmern, wenn im Inneren alles an seinem Platz war?

Margarethe stoppte ihre Erzählung und starrte Maria an. Wartete sie auf eine Antwort? Maria hatte die Frage nicht gehört. Also nickte sie. Hoffentlich passte die Reaktion.

Margarethe lächelte. „Was du brauchst, ist etwas Zerstreuung. Wie wäre es, wenn wir zwei an einem Abend ins Tanzcafé gingen?“
Maria rollte mit den Augen. „Ich bin noch viel zu jung dafür sagt Mama.“

„Du bist siebzehn, ich zwanzig, also auch nicht volljährig. Trotzdem lässt mich meine Mutter hingehen.“

„Du bekommst doch ohnehin alles, was du dir wünschst.“

Margarethe verzog das Gesicht. „Ja, ich – das verwöhnte Einzelkind.“

Maria schaute zu Boden. Nun drückte sie Margarethe auch in eine Rolle. Sie hob das Gesicht wieder. „Entschuldige, ich weiß, dass das nicht stimmt.“

Zwar war Margarethe das einzige Kind der Schultheiß, und ihre Mutter versuchte auch, sie zu verhätscheln, indem sie sie nach der neuesten Mode ausstaffierte und auch sonst alles Erdenkliche tat, um ihr Kind glücklich zu sehen. Doch Margarethe selbst war das Getue eher lästig und für ihre Garderobe interessierte sie sich nur, wenn ihr etwas außergewöhnlich erschien. Ihr lag es mehr, anderen zu helfen, was sie ja auch in der Jugendarbeit tat.

Maria schämte sich ihrer Worte. Sie war gerade gedankenlos gewesen, weil sie den Kopf mit Sorgen voll hatte. Im Grunde beneidete sie Margarethe um ihre Leichtigkeit im Leben. Ihre Worte waren Maria peinlich. Sie senkte den Kopf und hob ihn wenig später wieder.

Margarethe kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Du bist ganz schön durch den Wind, hm?“

Maria zuckte die Schultern. „Etwas angeschlagen halt.“

„Überleg dir das mit dem Tanzcafé noch einmal.“

Sie umarmte Maria, ging bereits zur Tür, drehte sich aber wieder um. „Ist Sophia da?“

„Ich weiß nicht.“

„Ich schau mal nach ihr.“

Schon verschwand sie aus dem Zimmer, schloss die Tür hinter sich und ließ Maria alleine zurück. Was war das denn? Seit wann interessierte Margarethe sich für Sophia?

Maria ging ans Fenster und schaute hinaus. Der Apotheker von gegenüber trat aus dem Haus, stellte den Kragen nach oben und steckte die Hände in die Taschen. Er machte nur kleine Schritte und ging gebeugt. Wie viele Sorgen es wohl brauchte, bis sie ein Rückgrat beugten?

Unten öffnete Margarethe das Gartentor, Sophia folgte ihr. Margarethe lachte und hob das Gesicht. Maria trat rasch einen Schritt zurück ins Zimmer. Fehlte ja gerade noch, dass sie sie bemerkten und ihretwegen ein schlechtes Gewissen bekamen.

Maria setzte sich wieder auf den Stuhl und starrte die gegenüberliegende Wand mit dem Bild über ihrem Betthaupt an. Ein Engel beschützte ein Mädchen und einen Jungen, die über einen schmalen Steg balancierten, unter dem ein Wildbach rauschte. Wagte jemand etwas, wurde er beschützt. Derjenige, der einfach nur dasaß und vor sich hinbrütete, bedurfte keines Schutzes. Er war es nicht wert, solange er sich nur bemitleidete.

Keiner mochte Heulsusen. Margarethe hatte es ihr gerade demonstriert. Sie ging lieber mit Sophia spazieren, weil die sich eben dazu bereiterklärte, anstatt ihr beim sich selbst Bedauern Gesellschaft zu leisten.

Und nun? Maria starrte auf ihren Sekretär. Da lagen ihre Notizbücher, fein säuberlich nach Jahren und Themen geordnet. Obenauf das mit den Außentemperaturen aus diesem Jahr. Sie schlug es auf, ging zum Fenster, las die Temperatur ab und trug die sieben Grad für heute ein.

Im Grunde notierte sie ständig etwas, angefangen bei ihrer Körpergröße und der von Katharina und Sophia über die Höhe des Nussbaumes im Garten bis zu den Sonnenstunden am Tag. Nun also die Temperaturen. Sie strich über die Seite. Zahlen liebte sie, die schafften Klarheit, Ordnung – allemal besser als diffuse Gefühle und Trübsal. Sie griff in ihr Holzkästchen, nahm ihren Glückspfennig heraus, trat ans Fenster, drehte ihn in der Hand und fing die Sonnenstrahlen mit ihm ein. Er funkelte, als sei er gerade erst gegossen worden. Als kleines Mädchen hatte sie ihn im Hofgarten der Residenz gefunden und hocherhobenen Hauptes nach Hause getragen. Damals hatte sie ihn jedem gezeigt, der ihn sehen wollte, denn er war ihr erstes Geldstück gewesen. Mama hatte sie daraufhin erklärt, dass sie von nun an ihr Geld zählen wolle und überhaupt Zahlen das Schönste der Welt seien. Wäre nur alles so logisch wie eine Zahlenreihe.

Maria trug den Pfennig zurück zum Sekretär, verstaute ihn in dem Kästchen, packte alle Notizbücher weg, als ihr ein kleines Büchlein dazwischen herausfiel. Sie hob es vom Boden auf. Es war ihr Tagebuch aus Kinderzeiten. Sie schlug es wahllos auf und begann zu lesen:

Margarethe ist gemein. Sie hat gesagt, dass ich immer die Prinzessin sein will und nie die Hofdame. Aber Sophia hat dann gesagt, dass ich auch beschützt werden muss und deshalb die Prinzessin sein darf. Dann wollte ich sie aber nicht mehr sein.

Schon damals hatte sich Sophia um ein gerechtes Miteinander gesorgt. Das hatte sich bis heute nicht geändert.

Wir waren mit Mama auf dem Volksfest und haben Zuckerwatte gegessen. Die war lecker. Katharina hat mir noch Bonbons geschenkt und gesagt, ich solle sie mir gut einteilen, dann könne ich mich länger an den schönen Tag erinnern.

Maria roch die Zuckerwatte beinahe, wenn sie die Augen schloss. Sie strich über ein Bonbonpapier, das sie unter die Zeilen geklebt hatte. Die Kindheitserlebnisse erschienen ihr wie ein einziger Nachmittag im Sommer: träge, pastellfarben, voller Kinderlachen. Damals hatte sie wie selbstverständlich dazugehört.

Sie klappte das Buch zu. So durfte sie nicht weiter in den Tag hineinleben, grübeln und sich zermürben. Aber was konnte sie tun? Wie den Namen des Vaters herausfinden? Und dann?

Das Denken im Kreis brachte nichts. Maria lief nach unten, schlüpfte in ihren Mantel, wickelte sich einen Schal um und verließ das Haus. Frische Luft würde ihre Gedanken sortieren. Hoffentlich!

Sie ging im Park spazieren, vorbei an dem Ententeich, dessen Wasser am Rand eine Eisschicht trug, an den Bäumen und Büschen, die ihre erstarrten Äste gen Himmel ragten. Schließlich verließ sie den Park wieder. Unschlüssig stand sie vor dem Tor zum Hofgarten der Residenz. Sollte sie gleich zurückgehen? Da rief eine Stimme in ihrem Rücken ihren Namen. Maria drehte sich um. Die Sängerin Sina kam auf sie zu. Wie war bloß noch der Nachname?

„Hallo, ich bin Sina Mainberger. Sie sind doch eine Freundin von Margarethe, oder?“

Maria nickte. „Ja, stimmt.“

Sina vergrub ihre Hände in den Manteltaschen ihres verschlissenen Mantels. Obwohl sie abgetragene Sachen anhatte, schaute sie umwerfend aus. Das schwarze Haar, die olivfarbene Haut, die vollen roten Lippen und diese großen dunklen Augen.

Haar und Augen – ihren eigenen so ähnlich.

Sina blieb vor ihr stehen. „Sie sind Maria, oder? Margarethe hat mir so viel von Ihnen erzählt. Die schöne Maria.“

Sina schaute sie lächelnd an, doch Maria mochte das Kompliment nicht mehr hören. Gab es denn an ihr nichts Interessanteres als ihr Aussehen? Wie oft hatte sie schon gesagt bekommen, wie gut sie aussehe, Mamas hübsches Mädchen, nun eine attraktive junge Frau. Als wäre das Äußere wichtig. Im Grunde diente es ihr als Rückzug, als Versteck ihres Inneren. Dafür eignete es sich prima.

„Alles in Ordnung?“ Sina musterte sie.

Maria senkte den Blick. „Ja.“

Sina deutete mit dem Kinn zum Hofgarten. „Ich muss hier weiter und Sie?“

„Ich gehe mit.“

Sina erzählte von ihrer Arbeit beim Stadttheater. Dabei zog sie den Wollschal enger um den Hals. „Die Stimme ist mein Kapital. Und was arbeiten Sie?“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich weiß schon, nicht jede junge Frau arbeitet. Margarethe auch nicht, aber sie engagiert sich ja in der Kirche oder so was Ähnliches.“

Maria wandte sich ab. Was sollte sie antworten? Wen interessierte schon eine Aufstellung über die Außentemperaturen?

Da kamen ihnen drei Uniformierte entgegen, die direkt auf sie zusteuerten. Sina trat einen Schritt zur Seite und zog Maria mit sich. Die Uniformierten wichen nicht zurück, sie setzten ihren Weg fort, als gehöre er ausschließlich ihnen. Unfassbar! Maria schluckte. „Sind wir Geister oder was sollte das gerade eben?“

Die drei trafen auf andere und grüßten mit ausgestrecktem Arm. „Heil Hitler!“

Sie redeten kurz miteinander, und einer mit gelacktem schwarzem Haar drehte sich zu ihnen um. Die Augen kniff er zu Schlitzen zusammen.

„Komm!“ Sina zog Maria mit sich. „Verschwinden wir von hier.“

Sie duzte Maria auf einmal, die Furcht schien sie zusammenzuschweißen.

„Was wollen die von uns?“ Maria folgte Sina, die schon beinahe aus dem Hofgarten hinausrannte. Erst als sie das Tor erreichten und auf den Rennweg traten, blieben sie stehen. Sina schaute zurück. „Keiner zu sehen.“ Dann wandte sie sich an Maria. „Ich weiß es nicht, nehme aber an, dass die keine Sinti mögen und ich bin eine.“

„Ich verstehe nicht.“

Sina hob die Hände. „Wen mögen die schon? Die Juden nicht und uns Sinti auch nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Einer von den wichtigen Parteimitgliedern hat mir nach meinem letzten Auftritt Blumen geschickt. Auf der Straße aber würde er mich nicht einmal grüßen.“

„Aber …“ Maria drehte sich um und schaute zurück, doch es kam ihnen nur eine junge Frau mit einem Mädchen an der Hand entgegen.

Sina legte ihr die Hand auf den Arm. „Ich muss jetzt weiter. Mach dir nicht so viele Gedanken, die Rüpel meinten mich.“

„Das reicht ja wohl!“ Maria schüttelte den Kopf. „Was nehmen die sich eigentlich raus?“

„Was sie wollen. Auf Wiedersehen.“ Sina lächelte, rieb sich die Hände, steckte sie in die Taschen und eilte in Richtung Stadttheater.

Maria schaute ihr nach. Diese Uniformierten hätten Sina und sie umgerannt – einfach so – wenn Sina nicht rechtzeitig reagiert hätte. Und das nur, weil sie den Sinti angehörte? Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Das würde sie Papa erzählen!

Sie ging den Rennweg hinauf und traf dort auf Sophia. Die sagte über den Schal um Mund und Nase: „Na, wenn du sowieso spazieren gehst, hättest du das auch zusammen mit uns machen können.“

Maria nickte. Wie sie das „uns“ betonte. Als seien Margarethe und sie beste Freundinnen. „Ja, ich wollte auch noch ein wenig an die Luft.“

Sophia hakte sie unter. „Jetzt aber nichts wie heim in die warme Stube.“

Maria hielt mit ihr Schritt und erzählte von den Uniformierten.

Sophia schnaubte. „Dieses elende Pack! Wollen zwei Frauen über den Haufen rennen, das trauen sie sich. Ich möchte die sehen, wenn ihnen von starken Männern die Stirn geboten wird.“

„Reg dich nicht wieder auf.“ Maria seufzte. Hätte sie nur ihren Mund gehalten und Papa später zur Rede gestellt.

Sophia blieb plötzlich stehen. „Warte! Die Kerle haben was gegen die Sinti und sind deswegen auf euch zugestürmt, also wegen Sina?“

Maria zuckte die Schultern. „Das sagt jedenfalls Sina.“

„Was aber ist mit dir? Du warst doch neben ihr. Die können sich doch nicht trauen, dich auch umzurennen!“

Maria strich sich über ihr Haar. „Vielleicht haben sie durch mich hindurchgeschaut.“

Sophia lächelte. „Das wären aber die ersten Männer, die das täten.“

Maria schaute sie fragend an. „Was meinst du damit?“

„Du schaust schon ab und an in den Spiegel, oder?“

„Hör auf!“ Jetzt ging das schon wieder los! Maria ging weiter, Sophia folgte ihr und schwieg zum Glück. So blieb ihr die Litanei über die Männer und ihr Aussehen erspart. Aber Sophias Gedanke nagte an ihr. Es stimmte, was sie ansprach. Maria war an Sinas Seite gewesen und sie gehörte nicht den Sinti an. Warum waren die Uniformierten nicht ausgewichen? Natürlich war es falsch, Sina abzulehnen und sie umzulaufen, aber wenn die beiden das vorhatten, warum nahmen sie es in Kauf, dass auch Maria in Mitleidenschaft gezogen würde? Nur weil sie Sina begleitet hatte?

 

David öffnete die Haustür, nahm ihnen die Mäntel ab und hängte sie auf Bügel. Da stürmte Sophia bereits in Heinrichs kleines Zimmer, das sogenannten Herrenzimmer, in dem er auch jetzt am Tisch saß, die Lesebrille auf das blonde Haar geschoben, eine Zigarette rauchend. Der zweite Stuhl stand ein Stück vom Tisch entfernt, offenbar hatte David ihm Gesellschaft geleistet. Sophia baute sich vor ihrem Vater auf.

„Du glaubst nicht, was passiert ist.“

Heinrich stippte die Asche ab und hob das Gesicht. „Was?“

Maria folgte David in den Raum und stellte sich neben ihn.

„Erzähl du!“, forderte Sophia sie auf. Also berichtete sie, wie die Uniformierten sich verhalten hatten. Als sie endete, fragte ihr Vater: „Sina Mainberger? Die Sängerin vom Theater?“
Sophia übernahm. „Genau die. Und was sagst du dazu, dass deine Parteifreunde Maria und sie einfach so umrennen wollten?“

Heinrich musterte David, antwortete ihr aber. „Möglich, dass sie nicht auf ihren Weg geachtet haben.“

„Was?“ Sophia schnaubte. „Glaubst du Maria nicht?“

„Manchmal sieht etwas anders aus als es gemeint war.“

Maria drehte sich um, verließ das Zimmer und stieß dabei beinahe mit Leonore und Katharina zusammen.

Ihre Mutter hielt sie am Arm fest. „Was ist denn hier los?“

Sophia drehte sich zu ihnen um und schilderte durch die offene Tür, was geschehen war. „Und Vati spielt natürlich wieder alles runter.“

Katharina legte den Arm um Maria.

Leonore trat ins Zimmer und wandte sich an ihren Mann. „Warum glaubst du dem Kind nicht?“

Maria senkte den Kopf. Dem Kind! Natürlich brauchte sie wieder ihre Mutter, die ihr den Rücken stärkte. Wie sie das hasste! Auch die Debatten und das Schimpfen Sophias. Lieber hätte sie alleine mit ihrem Vater gesprochen und das in Ruhe. Später würde sie genau das tun!

Maria lächelte. „Es ist ja nichts passiert. Schlimmer als alles andere ist mein Bärenhunger. Wenn ihr also nicht wollt, dass ich wirklich umfalle, dann lasst uns jetzt zu Abend essen.“

„Das ist mal ein Wort!“ Heinrich stand auf, bot Leonore den Arm an und führte sie ins Esszimmer. Sophia ging kopfschüttelnd an ihr vorbei und machte gerade den Mund auf, als Katharina sie stoppte. „Lass es jetzt mal gut sein.“