Leseprobe Tage der Hoffnung

1

Würzburg, 1933

Die Vorhänge an den Fenstern waren noch offen. Der Mond stand milchig weiß am nachtschwarzen Himmel, einzig ein Stern zeigte sich neben ihm. Zu wenig Licht, um einzelne Büsche im Garten erkennen zu können. Vielmehr wirkten sie wie große, schwarze Klumpen. Schwarz die Nacht, die Umgebung, der Horizont. Dabei war Schwarz keine Farbe.

Sophia seufzte. Kannten ihre Schwestern sie so wenig oder meinten sie, sie zu ihrem vermeintlichen Glück zwingen zu müssen? Zusammen mit Katharina und Maria würde sie den Abend ihres neunzehnten Geburtstages im Tanzcafé Christina verbringen, obwohl sie nicht gerne tanzte und das Café nicht einmal kannte. Bis jetzt war es ein schöner Geburtstag gewesen. Ihre Eltern hatten ihr einen besonderen Tag bereitet. Ob der Abend wohl auch so werden würde?

Sie zog die Vorhänge zu. Nur ihr Zimmer besaß zwei hohe Fenster. Obwohl Katharina ein gutes Jahr älter war als sie, hatte sie ihr das größte überlassen. Zum Glück! Schließlich musste sie all die gemalten Bilder irgendwo unterbringen und mehr Licht zum Malen bekam sie so auch ab.

Die Uhr schlug sechsmal, Zeit sich zurechtzumachen. Sie schlüpfte aus Rock und Bluse und trat zu ihrem Bett. Dort lag es! Das Kleid, das sie heute Abend tragen würde. Vorsichtig nahm sie es auf und zog es über. Die Seide kühlte ihr die Haut und wog weniger als die schwere Wolle, die sie im Winter meist trug. Wie es ihr wohl stand? Sie stellte sich vor den Spiegel.

Die Farbe des Kleides hatte das wässrige Blau des Himmels an einem Nachmittag im Sommer, der gleiche Farbton wie der Stein an ihrem Armkettchen, der gleiche wie der ihrer Augen – ihre Lieblingsfarbe. Blau schimmerte hoffnungsfroh, selbst jetzt am Abend bei dem schummerigen Licht der Lampe. Sie drehte sich vor dem Spiegel. Das Kleid schmeichelte ihrer etwas zu fülligen Taille, weil es den Blick auf die bauschigen Ärmel lenkte. Perfekt!

Sie lächelte sich im Spiegel an. Heute hatte Vati ihr das schönste Geschenk überhaupt gemacht. Sie durfte in der Aula der Oberrealschule ihre Werke ausstellen. Schon wieder bekam sie deswegen einen Kloß im Hals. Sie hatte hart an sich gearbeitet und sie wünschte sich sehnlichst, dass viele ihre Bilder betrachteten und sich bestenfalls daran erfreuten. Schon länger drängte es sie danach, die Meinung anderer zu hören. Nun bot sich die Möglichkeit dazu. Endlich! Mit der Ausstellung würde sie Mama beweisen, wie gut sie ihr Handwerk beherrschte. Mama, der sie nie etwas recht machen konnte.

Nichts da! Kein Trübsal blasen! Heute war ein Tag der Freude.

Sie trat an die Zimmertür und lauschte nach draußen. Ob Maria und Katharina bereits ihre Abendkleidung trugen? Katharina schaute gewiss wieder aus wie aus dem Modemagazin entsprungen und Maria war ohnehin wie eine Bienenkönigin, um die die männlichen Wesen kreisten.

Schnell noch einmal einen Blick in den Spiegel werfen. In dem Kleid wirkte sie wie eine Fee aus den Märchen.

David klopfte an, sie erkannte das zaghafte Klopfen, dann blieb er im Türspalt stehen. Der gute David, für sie mehr ein Zweitvater als Bediensteter. Ihm gefielen all ihre Bilder. Unermüdlich hatte er sie motiviert, ihre Gefühle in ihre Werke zu legen, so lange, bis sie sich mit jedem einzelnen zufriedengab.

„Was gibt es, David?“

„Die gnädigen Fräulein warten.“

„Danke.“

Er gab die Tür frei.

In der Galerie kam Maria als Erste heran und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Katharina lächelte. „Ich ahnte, dass dir das Kleid ausgezeichnet stehen würde.“

Nachdem Vati und selbst Mama sie bezaubernd fanden, fuhren sie zu dritt zum Café Christina.

 

Tanzmusik vermischte sich mit Stimmengemurmel, der Duft nach Wein und Zigarettenrauch schlug ihnen entgegen. Sophia hielt kurz den Atem an. Die Gerüche verabscheute sie. Sie atmete flach weiter. Den Abend über würde sie die schon aushalten.

Sie drängten an den Tanzpaaren vorbei, die auf dem Holzboden herumwirbelten. Linker Hand spielte ein Musiker auf einem Klavier. Er hielt die Augen geschlossen und schien in seiner Musik aufzugehen. Wie gut sie das Gefühl kannte. In solchen Augenblicken drang sie während des Malens in ihr Innerstes vor und legte ihre Stimmung in ihr Werk.

Hinter der Tanzfläche reihten sich Tische und Stühle aneinander, über denen kreisrunde Leuchten ein fahles Licht spendeten. Am hintersten Ende wischte eine Frau die Theke sauber.

Katharina blieb dicht hinter ihr, Maria zog sie mit sich. Schon schnellten junge Männer in die Höhe und boten ihnen einen Platz an deren Tischen an. Maria wählte einen aus, von dem sie einen direkten Blick auf einen goldgerahmten Spiegel an der Wand hatte. Darin prüfte sie ihre Frisur und lächelte. Sie schaute auch heute aus wie ein schwarzhaariger Engel mit dunklen Augen.

Einer der Männer bat Sophia um den ersten Tanz, noch bevor sie Platz genommen hatte. Der Mann führte sie geschickt zum Tango „Du schwarzer Zigeuner“. Leider redete er kein Wort mit ihr, dafür sprach sein Gesicht Bände. Eine Röte zog sich vom Hals über seine Wangen. Gleich nach dem Tanz brachte er sie an den Platz zurück, dankte und verschwand zu einer Gruppe von Männern.

Ein anderer kam heran, reichte ihr ein Glas Wein und warf ihr bewundernde Blicke zu. Offenbar stand das Kleid ihr wirklich gut.

„Du strahlst richtig von innen heraus“, sagte Katharina.

Sie stieß mit ihr an. „Ihr habt mich wohl gut herausgeputzt.“

„Du siehst wirklich hübsch aus.“ Katharina deutete mit dem Kinn in eine Ecke und lachte. „Maria aber auch. Sie ist von so vielen Männern umgeben, dass man nur noch ihr Lachen wahrnimmt.“

Marias Lachen steckte sie an. „Hoffentlich kann sie sich all die Namen merken.“

„Das braucht sie nicht, sie stellen sich ihr oft genug vor.“

Auf einmal stand Joseph Weiß an ihrem Tisch. Er begrüßte sie mit einer leichten Verbeugung: „Guten Abend, Fräulein Wagner.“

Katharina grüßte lächelnd zurück. Auch Sophia musste über die förmliche Anrede Josephs schmunzeln. Neulich erst war Katharina zu ihm in den Wagen gestiegen und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Und auch jetzt hielten sie einander mit Blicken fest.

Wie schön für die beiden! Katharina lächelte sie an, drehte sich aber gleich wieder zu Joseph um.

Der schien sich von dem Betrachten seiner Liebsten losreißen zu müssen, wandte sich an sie und überreichte ihr ein Geburtstagsgeschenk. Es war ein Parfum, Chanel No 5.

„Vielen Dank, Herr Weiß.“

Bestimmt stammte es aus seinem Kaufhaus und das führte er bereits seit zwei Jahren, obwohl er nur wenig älter war als Katharina. Bewundernswert!

Er lächelte. „Es freut mich, wenn es Ihnen gefällt, Fräulein Wagner.“

Dann beugte er sich hinab zu Katharina und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Daraufhin raffte sie die Sachen zusammen und entschuldigte sich bei Sophia. „Herr Weiß und ich müssen noch etwas bereden. Ist dir das recht?“

Sie nickte. Was sollte sie auch erwidern?

„Ich bin gleich zurück“, versprach Katharina.

Hoffentlich! Sie schaute ihnen nach und suchte dann mit den Augen nach Maria. Die tanzte gerade mit einem ihrer Verehrer. Dabei lachte sie mit offenem Mund und legte den Kopf in den Nacken. Ihre Schwestern schienen sich zu amüsieren. Sophia drehte ihr Weinglas auf dem Tisch.

Wie gerne stünde sie jetzt inmitten ihrer Bilder und suchte die für die Ausstellung aus, die schönsten Landschaftsgemälde, aber auch eine Handvoll Porträts.

Die letzten Akkorde des Liedes erklangen. Ob Maria an den Tisch zurückkehrte?

Mit einem Mal schob sich deren beste Freundin Margarethe durch die Menge. Sie hatte sich bei einem hageren Mann untergehakt, der sich mit aufgerissenen Augen im Café umschaute, als befände er sich auf einem unbekannten Planeten. Wie gut sie ihn verstand!

Als Margarethe sie ausmachte, winkte sie, kam heran und gratulierte ihr zum Geburtstag. Maria hatte wohl ihre Freundin bemerkt, hob ihren Rock und trippelte auf ihren Stöckelschuhen heran. Sie begrüßte Margarethe mit einer Umarmung. Deren Begleiter kannte sie wohl nicht, denn er wurde ihnen vorgestellt. Er hieß Martin Moltke, neigte kurz den Kopf, drehte sich dann um und schritt in Richtung Theke.

Maria schaute ihm nach, wandte sich dann mit hochgezogenen Brauen an ihre Freundin. „Nanu?“

Die winkte ab. „Ach, er ist wegen der Reichstagswahl verärgert.“

Maria zuckte mit den Schultern. „Da kümmere ich mich nicht drum.“ Dann lächelte sie Sophia an. „Und heute, an Sophias Festtag, erst recht nicht.“

Schon entschwebte Maria wieder auf das Parkett und lächelte ihnen über die Schulter des Tanzpartners zu.

Margarethe erzählte, dass Moltke gerade aus Nürnberg zurückgekehrt sei. „Er macht sich Sorgen um das Land. In den meisten Städten hat wohl die falsche Partei die Oberhand.“

Sophia versuchte, sich zu konzentrieren. Vermutlich meinte Margarethe die NSDAP. Ein Schauder durchfuhr sie. Sie hatte Mitglieder der Partei kennengelernt, ungehobelte Rüpel, die sich aufführten, als hätten sie etwas zu sagen. Zu ihrem Bedauern gehörte Vati dieser Partei an und das verstand sie nicht. Wie konnte er nur! Zu spät merkte sie, dass sie ihre Gedanken laut aussprach. „Es ist nicht zu fassen!“

Margarethe nickte. „Das macht mir auch Angst.“

„Mir auch. Warum wählen so viele Menschen diese Partei, wo sie doch wissen, was die vorhat?“

Margarethe schnaubte. „Leider ist es so.“ Sie beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte. „Wie weit muss ein Mitglied der Partei sinken, um gegen Andersgläubige so vorzugehen wie sie es tun? Und im Grunde ist denen der Glaube egal, sie hassen die Juden, einfach so. Zudem verfolgen sie jeden, der ihre Ideologie nicht teilt.“

Als ob sie das nicht wusste! David hatte es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Auf ihn hatten sie einen Jungen gehetzt, der ihm einen Stein an den Kopf geworfen hatte und das nur, weil David Jude war.

Gerade wollte sie sie fragen, wie es in den anderen Städten ausschaute, da forderte ein Uniformierter Margarethe zum Tanz auf. Die blieb einen Augenblick sitzen, blinzelte hektisch und stand schließlich mit einem Lächeln auf, das ihre Augen nicht erreichte. Dann folgte sie ihm auf das Parkett.

Sophia strich sich eine Strähne aus der Stirn. In ihrem Kopf drehte sich alles. Wie ernst würde es für Andersgläubige werden, wenn schon Vati neulich bei einem Besuch der Parteimitglieder David wie einen Sklaven behandelt hatte? Daraufhin hatte sie heftig mit ihrem Vater gestritten.

Schließlich trat Moltke an den Tisch und stellte zwei Gläser Wein ab. „Sorgen?“ Er wartete keine Antwort ab, setzte sich und schob ihr ein Glas hin. „Sie haben heute Geburtstag, hörte ich. Lassen Sie uns darauf anstoßen.“

Er verzog spöttisch die Mundwinkel und trank dann das halbe Glas leer. Danach kramte er Zigaretten aus seiner Jackentasche heraus, bot ihr eine an, die sie dankend ablehnte, und zündete sich selbst eine an. Er blies den Rauch seitlich weg und wandte sich an sie. „Sind Sie oft hier?“

Es klang, als habe er gefragt, ob sie häufig Regenwürmer aß.

Sie zuckte mit den Schultern. „Warum? Gefällt Ihnen das Café nicht?“

Er zog an der Zigarette. „Nein, was sollte mir hier gefallen? Es ist vertane Zeit und ein sinnloses sich im Kreis drehen. Wenn ein Mann eine Frau kennenlernen möchte, dann kann er sich doch mit ihr unterhalten statt sie auf dem Parkett herumzuzerren.“

Wider Willen musste Sophia laut lachen.

Er grinste ebenso, dabei funkelten seine braunen Augen wie bei einem frechen Lausbuben. Als ihm Asche auf den Tisch fiel und er sie wegpustete, fiel ihm eine schwarze Strähne in die Stirn. Er warf den Kopf zurück und zwinkerte ihr zu. „Habe ich recht?“

„Möchten Sie recht behalten?“

„Nein, ich liebe Widerspruch und die nachfolgende hitzige Debatte.“

Sie prustete los. „Über das Tanzen im Café?“

„Für Bewegungsmuffel wie mich eine Herausforderung.“

„Was tun Sie dann hier?“

Er stützte den Kopf auf die Hand. „Mich mit einer netten Dame aus gutem Hause unterhalten.“

„Das wussten Sie doch vorher nicht.“

Er nickte. „Doch. Margarethe informierte mich ausführlich. Warten Sie.“ Er zählte an den Fingern ab. „Maria ist die beste Freundin von ihr und allgemein sehr beliebt. Sophia ist die mittlere Tochter der Familie Wagner, hat heute Geburtstag und malt gerne Bilder. Katharina ist beinahe volljährig und enorm fleißig.“ Er schaute sich um. „Wo ist sie überhaupt?“

„Sie kommt bestimmt gleich wieder.“

„Auch gut. Sie sind ja da.“

„Na schön“, sagte sie. „Warum also sind Sie mit Margarethe hierhergekommen?“

„Um zu gratulieren.“ Er rieb sich die Augen. „Sie war auf dem Weg zum Café, also begleitete ich sie.“

„Und was tun Sie sonst?“

„Beruflich? Ich gehöre nicht der noblen Gesellschaft an, ich verdiene mein Geld mit den Händen, als Schreiner.“

Das klang, als habe die noble Gesellschaft Aussatz.

„Ach, und die Mitglieder der sogenannten feinen Gesellschaft verdienen ihr Geld nicht mit Arbeit?“

Er schnaubte. „Ich weiß, dass ihr Vater arbeitet. Das auch.“

Moltke hielt sich wohl für besonders edel, weil er mit den Händen arbeitete. Er blies gerade den Rauch zu Kringeln. Sophia tat, als reizte sie der Zigarettenrauch. Sie hustete in ihre Faust. „Was heißt das?“

Moltke drückte sogleich die Zigarette aus. „Dass Herr Wagner sein Mäntelchen nach dem Wind hängt, was die Politik angeht.“

Sie sprang auf. „Was erlauben Sie sich! Ich lasse meinen Vater hier nicht von jemandem beleidigen, der ihn nicht einmal kennt.“

Er erhob sich und zog die Mundwinkel nach unten. „Und ob ich Ihren Vater kenne!“ Er trat nahe an sie heran. „Wenn es Sie interessiert, was ich genau meine, dann wenden Sie sich an Margarethe. Wie ich hörte, besitzen wenigstens Sie einen wachen Verstand.“

Er drehte sich um und ließ sie stehen. So ein unverschämter Kerl! Kam heran, bot ihr einen Wein an, plauderte nett und beleidigte Vati aus heiterem Himmel. Sie trank den Wein in einem Zug aus, setzte sich, dann atmete sie einige Male tief ein und wieder aus.

Moltke hatte behauptet, er kenne Vati. Ob das stimmte? Leider war es so, dass Vati einer Partei angehörte, die Menschen hasste. Einen wirklichen Grund dafür gab es nicht. Und wie sich Hass auswirkte, hatte sie bei David miterlebt. Folglich waren er und alle Juden in Gefahr. Ihr Herz raste mit einem Mal.

Als Margarethe an den Tisch trat, bat Sophia sie, einen Schluck aus deren Glas trinken zu dürfen. Sie trank und stellte das Glas dankend ab. „Dein Begleiter ist bereits gegangen. Woher kennst du ihn denn?“

Margarethe setzte sich neben sie. „Ich habe ihn über Bekannte kennengelernt. Er hätte nicht hierherkommen sollen. Das ist nichts für ihn.“

„Warum nicht?“

Margarethe lächelte. „Er sucht nach den echten Werten im Leben.“

„Tun wir das nicht alle?“

„Ich denke nicht. Den meisten ist die Not der übrigen Menschen gleichgültig. Nicht so Martin. Er schultert das Leid der anderen.“

„Arbeitet er in einer Hilfsorganisation?“

Margarethe starrte zu Boden, als Maria sich zu ihnen gesellte. Die strich sich ihre Frisur glatt. „Für heute habe ich genug vom Tanzen. Mir tun die Füße weh.“ Dann schaute sie von einer zur anderen. „Was ist denn hier los? Habt ihr vergessen zu feiern?“

Margarethe lachte. „Du hast recht. Kommt! Lasst uns noch einmal auf den Geburtstag anstoßen.“

Sophias Glas war leer, also zuckte sie mit den Schultern, stützte dann das Kinn auf die Hand. Maria stupste sie lachend an. „Ich hole dir etwas zu trinken.“

„Hol lieber unsere Mäntel.“

 

Vor dem Ausgang schauten sie sich um.

„Lass uns auf Katharina warten“, sagte Maria. „Sonst wird sie zu Hause Ärger bekommen.“

„Auf jeden Fall.“ Sophia wandte sich an Margarethe. „Wegen meiner Frage vorhin ...“

Die aber schüttelte den Kopf. „Ich muss jetzt wirklich nach Hause.“ Sie umarmte zuerst Maria, dann Sophia. „Wir sehen uns noch.“

Maria lachte. „Margarethe hat es aber eilig.“ Dann rieb sie ihre Hände aneinander. „Hast du ihren neuen Mantel gesehen? Den finde ich schick.“

„Ja. Aber sie sieht ja immer wie eines der Models aus den Magazinen aus.“

„Weil ihre Mutter sie einkleidet. Neulich sagte sie, dass Margarethe sie in den Wahnsinn treibe, weil ihr die Garderobe gleichgültig sei. Aber als einzige Tochter der Schultheiss, soll sie natürlich hübsch aussehen.“

„Na, so passt sie auch äußerlich gut zu dir.“

Maria strahlte. „Wir verstehen uns doch auch sonst gut.“

„Weil ihr euch ergänzt.“

„Wie meinst du das?“

Sophia steckte die Hände in die Manteltaschen. Ihr fiel dazu stets ein, wie Maria sich als kleines Mädchen geweigert hatte, einen Cousin Margarethes mit den Puppen mitspielen zu lassen, einfach weil er ein Junge war. Daraufhin hatte ihre Freundin überlegt und entschieden, den Kleinen sehr wohl mitmachen zu lassen, denn nur so wären alle in der Lage zu prüfen, ob es auch ein Spiel für Buben sei.

„Du saugst das Leben auf, tanzt lächelnd durch den Tag. Margarethe lässt alles auf sich wirken und bewertet es bis ins Kleinste, bevor sie etwas dazu sagt.“

„Ach, und ich denke über nichts nach oder wie?“ Maria zog einen Schmollmund.

„Doch, aber du reagierst spontan.“

Maria zuckte mit den Schultern. „Dann bin ich eben fix und Margarethe klug.“

Auch Sophia schätzte die Freundin als gescheite Frau ein. Wie aber passte Moltke in ihr Leben?

„Wie kommt es zu der Freundschaft zwischen Margarethe und Moltke?“

Maria schüttelte den Kopf. „Da fragst du die Falsche. Auch ich staune, in welcher Gesellschaft meine beste Freundin sich manches Mal aufhält. Neulich ging sie mit einer Schauspielerin aus dem Theater untergehakt zum Einkaufen.“

In dem Augenblick brachte Joseph Weiß Katharina zu ihnen zurück. Sie schaute aus, als sei sie gerade aus dem Bett aufgestanden, die Augen auf Halbmast geschlossen, das Haar zerzaust. Bei dem Gedanken an ein Bett glühte Sophias Gesicht. Gut, dass so ein kalter Wind blies, der würde ihre Wangen kühlen.

Auf dem Heimweg richteten sie unter einer Laterne Katharinas Frisur und hatten Glück damit. Mama schien nichts zu bemerken. Sie musterte Katharina und strich ihr über den Kopf. „Die neuen Tänze sind zu wild für eine elegante Frisur.“

 

Sophia lag im Bett, fand aber keine Ruhe. Sie hatte ihre Lampe angelassen und starrte die Stuckdecke in ihrem Zimmer an. Schon als Kind hatte sie in den Blumenmustern der vier Ecken Gesichter von Elfen ausgemacht, was Unsinn war. Doch sie hatte sie sich vorgestellt und sogleich aufs Papier gebannt. Ebenso hatte sie geglaubt, im Glaseinsatz ihres Schrankes Tierköpfe zu erkennen. Auch die hatten ihren Weg auf das Papier gefunden.

Sie drehte sich auf die Seite. Dieser Moltke! Wie er ihr empfohlen hatte, bei Interesse an seinem Tun Margarethe nach ihm zu fragen. Der konnte warten bis zum Sankt-Nimmerleinstag. Sie würde sich bestimmt nicht nach ihm erkundigen.

Jedenfalls war jetzt nicht an Schlaf zu denken.

Sie sprang aus dem Bett und griff sich ihren Skizzenblock. Mit wenigen Strichen entwarf sie Moltkes hageres Gesicht, die hohen Wangenknochen, den schmalen Mund zu einem spöttischen Lächeln verzogen, das energische Kinn, das schwarze Haar, wie es über die traurigen Augen fiel. Ach, Unsinn. Sie riss das Blatt ab und pfefferte es in eine Ecke. Jetzt adelte sie ihn auch noch mit einem Entwurf! Den arroganten Kerl! Bloß weil da Hoffnungslosigkeit in seinem Blick mitschwang. Nein, das war nicht richtig, es war mehr das bekannte Gefühl: Trostlosigkeit.

Das kannte auch sie zur Genüge. Sie schloss die Augen. Es stiegen die üblichen Bilder auf. Mama lachte mit offenem Mund über Sophias erste passable Zeichnung: ein Porträt von Greta Garbo. Vati hielt es mit stolzgeschwellter Brust in den Händen: „Schau nur, Leonore.“

Doch Mama lachte weiter und schüttelte den Kopf.

Ein anderes Mal thronte Mama auf dem Sofa, in einem Arm Katharina, im anderen Maria. Sophia stand Nägel kauend davor. Für sie war kein Platz übrig.

„Du bist deines Vaters Tochter“, hieß es. Als wären das die anderen beiden nicht.

Ihr Hals schnürte sich zu, als habe sie die Zeichnung von vorhin verschluckt. Sie nahm das Stück Kohle in die Hand und skizzierte einen Mann mit schwarzem Haar von hinten, er trug ein Jackett und eine Hose, stand aber barfuß auf sandigem Boden inmitten einer wüsten Landschaft. Hier und da fanden sich abgeknickte Grashalme, dort ein Baum mit blattloser Krone. Dürre und Trostlosigkeit bis ins Unendliche. Das genügte für heute.

Sie klappte den Skizzenblock zu, kuschelte sich unter die Bettdecke. Das altbekannte Gefühl blieb. Sie weinte sich in den Schlaf.

 

Wie jeden Morgen frühstückte sie zusammen mit Maria. Ihre Eltern und Katharina waren bereits zur Arbeit gegangen. Ihr war es ein Rätsel, warum Mama und Katharina sich das antaten. Das Geld war nicht der Grund, schließlich verdiente Vati genug, um die Familie zu ernähren. Vermutlich gab es ihnen ein Gefühl, bedeutungsvoll zu sein, wenn sie etwas Nützlichem nachgingen. „Nützliches“ war eines der Lieblingswörter Mamas. Selbstverständlich zählten Sophias Bilder nicht dazu. Wie langweilig aber wäre eine Einrichtung ohne Gemälde? Abgesehen davon, welche Gefühle ein Bild in einem Menschen auslöste.

Gemälde von anderen aber waren akzeptabel, nur nicht die von ihr.

„Was hast du heute vor?“ Maria pustete in ihre Teetasse.

Auch diese Geste hasste Mama, doch die war ja gerade nicht anwesend.

„Ich will zum Blumenthal. Ich brauche eine neue Leinwand und Kohle, Farben auch.“

Maria nickte. „Ich wäre gerne dabei, habe mich aber mit Margarethe verabredet.“

„Was habt ihr vor?“

Maria zuckte mit den Schultern. „Wir gehen ins Café Meier. Danach will sich Margarethe wieder mit dieser christlichen Jugendgruppe treffen. Ich weiß nicht, warum sie da mitmacht.“

„Welche Jugendgruppe denn?“

Maria trank ihren Tee, dann tupfte sie mit einer Serviette ihren Mund ab. „Ach, Margarethe ist katholisch und da gibt es eben die Jugendarbeit. Was die da genau machen, das weiß ich nicht.“ Sie flüsterte mit einem Mal. „Sie sagt, die Arbeit von ihnen wird von der NSDAP nicht gerne gesehen, aber eben geduldet.“ Maria lehnte sich zurück. „Mir ist aber nicht klar, warum sie sich da so sorgt, schließlich haben die hier in der Stadt nicht gesiegt.“

„Nein, aber sie tun so als ob.“

Sie hatte plötzlich keinen Appetit mehr und schob den Teller von sich.

 

Zusammen verließen sie das Haus und schlenderten die Ludendorffstraße hinab, vorbei am Park, in dem die Büsche und Bäume die kahlen Äste zum Himmel reckten, als flehten sie um Knospen und Blätter. Es war aber erst März und ein kalter Tag dazu. Vor der Residenz marschierten junge Männer in der Uniform dieser schrecklichen Partei auf und ab und schwenkten eine Fahne. Auf der befand sich das Kreuz mit den Haken, dem Symbol, das so furchteinflößend wie die Mitglieder der Partei war.

„Am besten, du beachtest die gar nicht.“ Maria hakte sich bei ihr unter.

„Es hilft denen doch, wenn wir sie dulden.“

Maria schaute kurz zu Boden, dann hob sie den Kopf wieder. „Was willst du denn gegen sie unternehmen? Vergiss nicht, dass unser Vater auch zu ihnen gehört.“

Das war ja das Furchtbare, aber noch lange kein Grund, alles hinzunehmen. Doch was konnten sie unternehmen? Ihr musste etwas einfallen!

Maria riss sie aus den Gedanken, als sie den Marktplatz erreichten. „Ich gehe jetzt runter zur Alten Mainbrücke. Zwar wäre ich noch gerne bei Mama vorbeigegangen, aber ich bin zu spät dran.“

Sie umarmten sich zum Abschied, dann schaute Sophia Maria nach, wie sie leichtfüßig über den Platz eilte. Für sie war das Leben eine einzige Bühne, in der sie die Hauptrolle spielte. Wozu sich sorgen, wenn doch alles zu ihrem Guten geschah und das Schlechte von ihr ferngehalten wurde? Sophia seufzte. Könnte sie doch nur einen Tag in so einer pastellfarbenen Stimmung verbringen. Das Bild der schwenkenden Fahne mit dem Hakenkreuz erschien vor ihrem inneren Auge. Sie blinzelte es weg.

Die Uhr der Marienkapelle schlug zur halben Stunde. Sophia drehte sich um und ging die wenigen Schritte zu Mamas Laden. Möglicherweise konnten sie die Mittagspause zusammen verbringen.

Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, kam ihr Katharina entgegen. Sie trug einen Packen Seidenstrümpfe in der Hand und legte sie auf einem Stuhl nieder.

„Wie schön, dass du uns besuchst.“ Sie trat näher an sie heran und wisperte. „Kein Wort zu Mutter wegen gestern Abend!“

Sophia schüttelte den Kopf und sagte laut: „Ich will rüber zu Papier und Feder, dachte aber, ich schau rasch bei euch herein. Wann macht ihr Mittagspause?“

Mama kam aus dem Hinterzimmer heran. „Ich denke, dass es heute eher halb eins werden wird.“ Sie schaute kurz auf die Uhr. „Übrigens hat Blumenthal den Laden geschlossen.“ Sie senkte den Blick.

„Das kann nicht sein.“ Sie hatte sich doch wohl verhört. „Das Geschäft gibt es schon immer. Wieso ...“

Katharina legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Er wurde gegängelt und gab auf.“

Sie ballte die Fäuste. „Von dieser verflixten Partei, nicht wahr?“

In dem Augenblick läutete die Ladenglocke und eine Bekannte ihrer Eltern betrat den Laden. Sophia kam nicht gleich auf den Namen, der war ihr auch gerade gleichgültig. Sie wandte sich an Katharina, doch die begrüßte die Frau freundlich. „Guten Morgen, Frau Schmidt. Ich habe Ihre Ware schon bereitgelegt.“

Derweil drängte Mama sie zur Tür. „Schau nach, ob du beim Weiß das bekommst, was du brauchst“, wisperte sie. „Noch gibt es das Kaufhaus ja.“

Mama schob sie regelrecht hinaus. Offenbar fürchtete sie, Sophia könne laut gegen die Partei protestieren, gerade so, als wüsste sie nicht, sich in der Öffentlichkeit zu benehmen. Aber war es nicht gerade wichtig, öffentlich gegen die Partei anzugehen? Keiner traute sich, jeder nahm alles von denen hin.

Vor der Tür drehte sie sich zum Laden um. Wäre sie doch nur nicht hineingegangen. Da drinnen hatte es ihr noch nie gefallen. All die hautfarbene Wäsche! Langweilig bis zum Gehtnichtmehr. Ach, Unsinn! Mamas Geschäft konnte nichts für ihren Hass auf die NSDAP.

Vor der Tür reckte sie das Gesicht zum blassblauen Himmel und ließ den Blick über die roten Dächer schweifen, dann auf die mehrstöckigen prächtigen Häuser rundherum, in deren Fensterscheiben sich die Sonne spiegelte. Wie schön das Licht und die Farben waren! Und darunter loderte die Gehässigkeit der Partei.

Sophia schlug den Mantelkragen hoch und ging durch die Schustergasse. Dann würde sie eben keine Pause zusammen mit Katharina und ihrer Mutter machen. Pah! Im Grunde hatte Mama sie gekränkt, indem sie sie wie einen Backfisch hinausbefördert hatte. Vermutlich war sie aber selbst schuld daran. So manches Mal war sie aus der Haut gefahren, wenn ihr etwas gegen den Strich gegangen war, und dann hatte sie lautstark ihre Meinung kundgetan. So wie neulich bei dem Abendessen, als Vati David gemein behandelt hatte, nur weil er Parteimitglieder bewirtet hatte und hatte zeigen wollen, wie er mit Juden umging. Da war es ihr gleichgültig gewesen, dass Parteimitglieder am Tisch gesessen hatten. Sie hatte David verteidigt und ihren Vater leider dabei bloßgestellt. Dafür hatte es Schelte gegeben.

Für einen Augenblick hielt sie inne. Blumenthals Laden war also geschlossen. Weil ihn die Mitglieder der NSDAP dazu gezwungen hatten. Tränen traten ihr in die Augen. Da würde sie sich selbst von überzeugen. Womöglich hatte er doch wieder aufgemacht oder es handelte sich um ein Missverständnis. Sie wischte die Tränen weg.

Dann bog sie um die Ecke, hastete am Juliusspital vorbei und gelangte in die Kaiserstraße. Dort blieb sie vor dem Wollwerth-Geschäft stehen. Der Blick von da auf den Kiliansbrunnen am Bahnhof war großartig. Die Häuser rechts und links der Straße schienen Spalier zu stehen, nur um einen Rahmen für den Brunnen zu bilden. Sie hatte die Szene bereits skizziert, aber bis jetzt nicht gemalt, weil sie auf das Frühjahr mit seinem Sonnenlicht wartete, das die Konturen klarer herausschnitt. Zudem brauchte sie Farben für das Bild.

Mit wenigen Schritten überquerte sie die Straße und stand vor Blumenthals Laden. Und wirklich! Dort hing ein Schild mit der Aufschrift „Geschlossen“. Kein Missverständnis, keine Neueröffnung. Nun rannen Tränen über ihre Wangen. Sie wischte sie mit dem Ärmel ab. Das Ganze war so eine Gemeinheit! Blumenthal, der für seinen Laden lebte. Er behandelte seine Ware voller Ehrfurcht. Jeder Federhalter wurde überlegt platziert und am Briefpapier schätzte er den Duft, den es ausströmte. Der Laden gehörte zu Blumenthal wie der Pinsel zur Farbe. Und nun?

Laute Stimmen auf der gegenüberliegenden Straßenseite lenkten sie ab. Sie wischte sich noch einmal über die Augen und drehte sich um. Ein Uniformierter der verfluchten Partei rempelte jemanden an und nannte ihn „Judenschwein“. Der Beschimpfte trat einen Schritt zurück. Das war doch Joseph Weiß! Sophia wollte bereits hineilen, doch sogleich hasteten zwei Männer, breit wie Schränke, aus dem Kaufhaus und stellten sich zwischen Joseph und den Uniformierten. Der trat zwei Schritte zurück. „Ich werde wiederkommen, darauf könnt ihr euch verlassen. Hochnäsiges Pack!“ Dann streckte er den rechten Arm aus und brüllte den üblichen Gruß.

Joseph Weiß drehte sich um und ging in das Kaufhaus zurück. Die zwei Männer folgten ihm.

Sophias Herz raste. Trotz der Kälte schwitzte sie auf einmal im Nacken. Sie holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Nun gängelten die Parteimitglieder also auch Joseph Weiß. Er war wohl jetzt an der Reihe. So hatten sie es gewiss schon mit Blumenthal gemacht, bloß hatte der keine Männer zur Seite gehabt, die ihn schützten.

Sophia überquerte die Straße. Verflixt! Joseph und Katharina waren ein Paar. Sollte sie Katharina von dem Vorfall erzählen? Es war wohl besser, wenn sie mit Joseph darüber sprach. Sie trat durch die Glastür ins Kaufhaus und ließ den Blick über die dunklen Holzregale schweifen, in denen Handtaschen neben Lederhandschuhen standen. Es wäre geschickt, wenn noch passende Schals dabei lägen.

Sie eilte an der Lederwarenabteilung vorbei, ließ die Abteilung mit dem Schmuck hinter sich, dessen edle Stücke in einer langen Glasvitrine angeboten wurden, und gelangte in die Kosmetikabteilung. Blumiger Duft schlug ihr entgegen. Unzählige Flaschen thronten in den dunklen Holzregalen, auf Tischen lockten Lippenstifte und sonstige Schminkutensilien. Goldgerahmte Spiegel standen bereit, in denen die Kundinnen das Ergebnis des Verschönerns betrachten konnten. Da wäre es von Vorteil, Kämme und Bürsten neben den Spiegeln bereitzulegen. Was für Nichtigkeiten ihr durch den Kopf gingen, als hätte sich die Angst bei all der Pracht hier im Kaufhaus geduckt.

Als sie in die Buchabteilung gelangte, in der die Bücher in Regalen aus Eichenholz wie in einer Bibliothek wirkten, fiel ihr Blick auf die Schreibwaren auf der rechten Seite und dazwischen führte eine Treppe in die oberen Geschosse. Es zog sie zu den Farben und Blöcken, doch zuerst wollte sie mit Joseph Weiß sprechen. Traute sie sich das zu? Er war der Besitzer dieses riesigen Hauses, aber gestern hatte er wie jeder andere junge Mann gewirkt, als er ihr das Parfum geschenkt hatte. Also los!

Sie stieg in den ersten Stock. Dort hingen Mäntel für Herren neben Anzügen und Hemden. Was hinter der Treppe angeboten wurde, war nicht zu erkennen. Aber auch hier wirkten die Regale aus Eiche sehr nobel. Warum hatte sie die früher nie beachtet?

Im zweiten Stockwerk gab es alles für die Damen. Das hatte sie zusammen mit Katharina und Maria oft besucht. Ein Schild wies auf die neue Mode im Frühjahr hin. Dahinter waren die neuen Kostüme ausgestellt, daneben die leichten Mäntel. Was sie in der kurzen Zeit ausmachen konnte, erschien ihr langweilig. Mit wenigen Kniffen sähe das Ganze raffinierter aus. Aber so erging es ihr schon seit jeher. Ihr fiel stets etwas auf, das verändert, dem Stück dann den nötigen Pfiff gäbe.

Als Kind hatte sie einmal zwei Bommel von ihrem Mantel abgetrennt und auf die Spitzen ihrer neuen Schuhe geklebt. Mama hatte geschimpft, weil der Kleister die Schuhe ruiniert hatte. Dennoch hatte Sophia das Paar aufgehoben und zu Hause gerne getragen.

Im obersten Stockwerk stapelte sich Bett- und Tischwäsche in den Regalen, aber auch auf Tischen. Auch hier hätte sie einen Tisch mit edlem Porzellan eingedeckt und unter dem Geschirr eine besonders feine Tischdecke ausgebreitet. Aber gut. Es war ja nicht ihre Aufgabe, die Ware des Kaufhauses zu präsentieren. Gerade plagten sie andere Sorgen.

Nun stand sie im richtigen Stockwerk. Ein Schild mit der Aufschrift „Büro“ verwies sie in den entsprechenden Trakt. Was aber, wenn sie an der falschen Tür anklopfte oder Joseph Weiß gerade mit jemandem ein wichtiges Gespräch führte und sie es störte? Dennoch! Es ging um seine Sicherheit, aber auch um die Katharinas. Noch einmal tief durchatmen!

Gerade da kam eine Frau mittleren Alters auf dem Gang heran. Sie schien Sophias Ratlosigkeit zu bemerken. „Kann ich Ihnen helfen?“

Sophia räusperte ihren Kloß im Hals weg. „Ja, danke.“

„Ja bitte?“

„Ich möchte Herrn Weiß sprechen.“ Ihre Stimme klang piepsig, sie räusperte sich noch einmal.

„Aha.“ Die Frau musterte sie. „Haben Sie einen Grund, sich zu beschweren? Wurden Sie unfreundlich behandelt?“

Sophia schüttelte den Kopf. „Nein. Es geht um etwas Privates.“

Die Frau nickte lächelnd. „Dann folgen Sie mir bitte. Gerade passt es gut. Später hat Herr Weiß noch Termine.“

Sie hastete den Gang entlang, klopfte an der letzten Tür, öffnete sie und trat zur Seite, um sie freizugeben. „Herr Weiß, eine Dame möchte Sie sprechen.“
Joseph erhob sich hinter seinem Schreibtisch, knöpfte sein Jackett zu, kam mit ausgestrecktem Arm auf sie zu und gab ihr die Hand. „Kommen Sie herein und nehmen Sie Platz, Fräulein Wagner.“

Sophia nahm auf dem Stuhl vor dem riesigen schweren Tisch aus Kirschholz Platz. Joseph setzte sich ihr gegenüber. Er hob die Brauen. „Hatten Sie eine schöne Feier gestern Abend?“

„Sie haben mir Katharina entführt.“

Röte überzog sein Gesicht. „Das tut mir leid, aber wir hatten etwas Wichtiges zu besprechen.“

„Ja, das glaube ich.“ Im gleichen Augenblick dämmerte ihr, wie das klang. Ihr Gesicht glühte.

Joseph schien das zu übersehen. Er legte den Kopf schief. „Ich hoffe, Sie verzeihen mir.“

„Natürlich, aber deswegen bin ich nicht hier.“ Sie holte tief Luft. „Ich weiß nicht recht, wie ich das formulieren soll.“

Joseph lehnte sich zurück. „Nur heraus mit der Sprache.“

Sie schaute zur Decke, als fielen die Worte von dort herab. Es half alles nichts, sie musste ihm jetzt klar sagen, was sie bedrückte. „Herr Weiß ...“

„Joseph bitte.“

„Gut. Joseph. Es ist doch so, dass die NSDAP sich in der Stadt breitmacht, obwohl sie die Wahl verloren hat.“

Er seufzte. „Das tut sie, bedauerlicherweise.“

„Deren Mitglieder belästigen Menschen des jüdischen Glaubens.“

Er legte die Fingerspitzen aufeinander. „Auch das stimmt.“

Sie überlegte, wie sie fortfahren sollte, da beugte er sich nach vorne. „Und nun fürchten Sie, dass Katharina darunter leiden könnte?“

„Genau, aber auch alle Juden. Herr Blumenthal hat seinen Laden geschlossen.“

„Ja, ich weiß das. Auch andere wurden bedroht.“

„Ebenso wie Sie. Doch Sie haben Männer, die Sie schützen.“
Er nickte. „Die Frage ist, wie lange sie mich vor der Partei bewahren können.“

„Bitte nehmen Sie die Pöbeleien der Parteimitglieder ernst.“

Er nickte. „Hier in der Stadt haben sie die Wahl nicht gewonnen, in den meisten deutschen Städten aber schon. Ich halte die Partei für gefährlich.“ Er seufzte. „Mein Vater ist krank, meine Mutter wurde bereits von Uniformierten bedroht.“

„Was unternehmen Sie dagegen?“

„Ich werde mit meinen Eltern das Land verlassen.“

Also hieß es Abschied nehmen von Katharina. In Sophias Innerem krampfte es. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie stand rasch auf, um sich nicht in Verlegenheit zu bringen. „Ich verstehe. Dann werde ich künftig jeden Augenblick, der mir bleibt, mit Katharina genießen.“ Sie hob die Hand zum Gruß. „Leben Sie wohl.“

Joseph erhob sich ebenso und trat zu ihr. „Leben Sie auch wohl, Sophia.“

Sie wischte sich über die Augen und hatte bereits die Hand auf dem Türgriff, als er murmelte. „Katharina wird nicht mit mir gehen.“

Wie bitte? Er wollte sich trennen?

Sie drehte sich um. „Sie geben Katharina auf? Was sind Sie für ein Mann!“

Er hob die Hände vor die Brust. „Nein, so ist es nicht! Sobald der Wahnsinn hier im Land ein Ende findet, werde ich zurückkehren und wir werden heiraten.“

Sie glaubte, sich verhört zu haben. Katharina blieb bei ihnen?

Joseph seufzte. „Wir lieben uns und haben uns die Ehe versprochen.“

Sophia schluckte die Tränen hinunter. „Wer weiß, wie lange dieser Irrsinn dauern wird. Und all die Zeit wollt ihr aufeinander warten, nur wegen des Kaufhauses?“

Joseph hatte das Kaufhaus einst von seinem Vater übernommen. Aber war es denn so wichtig, dass Katharina blieb, nur um es für ihn zu erhalten? Sophia schüttelte den Kopf. „Kaufhaus gegen Liebe?“

Joseph drehte das Gesicht zur Seite. „Wir werden es zusammen schaffen.“ Er nickte. „Katharina und ich lieben uns. Da spielt die Zeit keine Rolle.“

„Nehmen Sie doch nicht alles so hin. Kämpfen Sie!“

„Ich trage die Verantwortung für meine Eltern. Was bleibt mir denn übrig, als zu fliehen?“

„Ohne Gegenwehr?“

Er wischte sich über das Gesicht. „Habe ich eine Wahl?“

„Katharina hat sie.“

„Wir haben uns entschieden.“

Sie gaben sich die Hand zum Abschied. „Alles Gute für Sie, Joseph.“

„Das wünsche ich Ihnen auch.“

 

Sophia ließ sich beim Treppensteigen Zeit. Die NSDAP hatte einen Keil zwischen Joseph und Katharina gerammt. Alles Liebenswerte erstickte sie und verwandelte es in Leid. Wie schön hätte es für die beiden werden können und nun sahen sie sich gezwungen, eine lieblose Lösung zu finden. Katharina würde sich sehnen, bis es wehtat. Und Joseph nahm alles hin.

Nun gut, er sah sich gezwungen, seine Eltern und auch sich selbst in Sicherheit zu bringen. Warum aber begleitete ihn Katharina nicht? Sie liebte ihn doch! Da sollte sie doch an seiner Seite bleiben. Natürlich war sie noch nicht volljährig und Vati würde Joseph nicht mit offenen Armen empfangen. Aber für eine Liebe lohnte es sich doch zu kämpfen.

Begegnete ihr selbst irgendwann der Mann fürs Leben, dann ginge sie mit ihm durch dick und dünn. Sie wäre sogar froh, wenn sie kämpfen könnte und ihr nicht alles auf dem Silbertablett serviert würde. Das bewies den Wert der Liebe und schweißte gewiss zusammen.

Im Erdgeschoss hielt sie inne. Da hatte sie nun das Gespräch mit Joseph gesucht, um zu erfahren, wie er sich und Katharina schützte und ihre Schwester dachte nicht einmal daran, ihn zu begleiten! Wie aber würde sie den Schmerz um den Verlust Josephs ertragen? Ihr hatte schon der kleine Augenblick gereicht, als sie zunächst angenommen hatte, dass Katharina wegging. Aber was bedeutete es, sich stets zu sehnen und das Verlangen nach dem Seelenverwandten über Jahre nicht gestillt zu bekommen? War das nicht schlimmer, als sich von der Familie loszureißen? Aber was wusste sie schon? So richtig verliebt war sie mit ihren neunzehn Jahren bis jetzt nicht gewesen. Der eine oder andere hatte ihr schon gefallen. Meist waren es eben die, die abgerückt in einer Ecke standen. Sie zog es auch stets zu Männern hin, deren Stirn grau umwölkt war. Zumindest glaubte sie das. Moltke war zum Beispiel jemand voller Sorge. Natürlich kein Kandidat für sie. Aber sie würde sowieso niemals heiraten. Sie wollte frei bleiben, um zu jeder Tages- und Nachtzeit zu malen, wenn ihr danach war. Katharina und Joseph aber liebten sich, durften das aber nicht, weil die Partei Juden hasste und aus dem Land ekelte. Warum nahmen das alle hin? Was hieß hinnehmen? Vati unterstützte das Ansinnen sogar! Ihr drehte sich der Magen bei dem Gedanken um. Es musste doch eine Möglichkeit geben, die NSDAP aufzuhalten. Sie zerstörte das Leben der Stadt, sogar im gesamten Land! Sah das denn keiner außer ihr? Doch, Moltke. Aber er alleine konnte nichts ausrichten, so wie sie alleine auch nicht. Dazu brauchte es eine große Menge, die sich auflehnte.

In der Parfumabteilung bot eine Verkäuferin ihr an, die neuen Düfte auszuprobieren und riss sie aus ihren Gedanken. Sophia lehnte dankend ab und da fiel ihr ein, dass sie ja noch eine Leinwand, Blöcke und Farben besorgen wollte. Im Grunde schien ihr der Wunsch angesichts der Sorgen unwichtig, dennoch ging sie zurück zu den Schreibwaren. Einen Block fand sie sogleich, eine Leinwand nicht und mit den Farben war das so eine Sache. Da gab es wohl welche, aber nicht die, die sie sonst immer verwendete. Und nun? Sie würde das Kobaltblau und das Tannengrün mitnehmen und beides zunächst ausprobieren.

Damit machte sie sich auf den Weg zur Kasse. Plötzlich stand Margarethe neben ihr.

„Grüß dich, Sophia. Wie schön, dich zu sehen.“ Sie schaute sich um. „Bist du alleine hier?“

„Ja. Maria wollte sich doch mit dir treffen.“

„Das haben wir auch, aber sie ist schon nach Hause gegangen und ich ...“, Margarethe warf einen Blick über Sophias Schulter und lächelte, „... ich will ein paar Besorgungen erledigen.“

Sophia folgte Margarethes Blick. An ihnen schob sich eine Frau vorbei, die sie von irgendwoher kannte. Wo hatte sie sie nur schon einmal gesehen?

Margarethe wartete, bis die Frau an ihnen vorbei war. Dann flüsterte sie: „Das ist Sina Mainberger. Sie singt am Stadttheater.“

Die Sängerin bewegte sich nicht nur elegant, sie wirkte wie die Königin eines fremden Landes. Ihr Haar, die Augen und der Teint waren dunkel, die Lippen voll und knallrot gefärbt. Ihre schlanken Arme unterstrichen jede Bewegung des Körpers und ihre Taille war so schmal wie bei den Frauen in den Modemagazinen. Sophia zog unwillkürlich den Bauch ein. Ach, wäre sie so schlank und hätte schwarzes Haar und dunkle Augen statt ihres brünetten Haares und den wässrig blauen Augen. Sie liebte Farben. Warum war sie mit keiner ausgestattet worden? Unsinn! Im Grunde liebte sie Blau. Außerdem war ihr doch ihr Äußeres gleichgültig.

„Sie ist Sängerin“, wiederholte Margarethe.

Da dämmerte es Sophia endlich, woher sie die junge Frau kannte. Sie hatte in einer Operette, die ihre Familie besucht hatte, eine kleine Nebenrolle gespielt. Merkwürdig, dass Margarethe und die Schauspielerin sich grüßten. „Kennst du sie gut?“

Ihre Freundin zuckte mit den Schultern. „Wann kennt man einen Menschen schon?“

Auf philosophische Sprüche verspürte Sophia keine Lust, eher darauf, Margarethe nach Moltke zu fragen.

„Gestern Abend sagte Moltke etwas Seltsames zu mir.“

Margarethe legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. „Nicht hier!“ Sie schaute sich um. „Bezahl erst deine Sachen und lass uns am Main spazieren gehen.“

Sie entschieden, am Bahnhof über Moltke zu reden, weil Sophia der Weg bis zum Fluss hinab zu weit erschien. Am Kiliansbrunnen pickten Spatzen und Tauben auf dem Boden nach Essbarem. Diese Vögel blieben der Stadt auch im Winter treu.

Margarethe deutete auf sie. „Tauben sind die Ratten der Lüfte.“

„Das klingt aber grausig.“

Margarethe lächelte. „Manches Mal bleibt einem nichts anderes übrig, als sich das zu nehmen, was man braucht.“

„Das sagst ausgerechnet du, die von ihren Eltern gehätschelt wird und jeden Wunsch erfüllt bekommt?“

„Ich bezog das Bild der Ratten nicht auf mich.“ Sie zog Sophia ein Stück beiseite, weil ein älteres Ehepaar am Brunnen stehen blieb. Der Mann zündete sich eine Zigarette an, die Frau rieb sich die Hände.

Es hatte sich abgekühlt. Sophia war froh um ihre Handschuhe, schließlich trug sie eine Tasche mit sich und konnte nicht beide Hände in denen des Mantels vergraben. „Wir sprachen von Moltke.“

Nachdem sie Abstand zwischen den Brunnen und sich gebracht hatten, wartete Sophia auf eine Antwort.

Margarethe schaute in die Ferne, blinzelte dann hektisch und holte tief Luft.

„Moltke arbeitet als Schreiner, setzt sich aber in der katholischen Jugendgruppe auch für ... wie soll ich es nennen ... für Gerechtigkeit ein. Er fürchtet, dass die Mitglieder der grässlichen Partei Menschen, die mit deren Ideologie nicht einverstanden sind, es deutlich spüren lassen werden, noch mehr als bisher.“ Sie räusperte sich. „Entschuldige bitte, dein Vater gehört ja auch der Partei an.“

„Leider. Deswegen haben wir schon gestritten.“

„Ich weiß. Maria erzählte mir davon.“ Sie schien Sophia mit ihren Blicken zu durchleuchten. „Du findest das doch nicht gut, was die Partei tut?“

Sophia schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht. Sogar Blumenthal haben sie aus seinem Laden geekelt. Und das heute bei Joseph Weiß versucht. Das ist alles ungeheuerlich!“

„So ist es. Und die Juden werden künftig bestimmt noch stärker darunter leiden. Moltke denkt, dass die NSDAP gegen alle angehen wird, die ins Land eingereist sind, und nicht nur gegen die Juden.“

Sophia schaute sie wohl derart verständnislos an, dass Margarethe fortfuhr. „Zum Beispiel all die Sinti. Sie sind ja sesshaft, wohnen also in einer Wohnung und ziehen nicht mehr in ihren Wagen umher. Dennoch wurden sie bereits von einigen Uniformierten angepöbelt. Sina zum Beispiel.“ Margarethe stütze eine Hand auf die Hüfte. „Da feiern sie sie im Stadttheater, schenken ihr sogar Blumen, aber auf der Straße wird sie dumm angeredet.“

Da gehörte Sina also den Sinti an. Daher ihr etwas fremdes Aussehen. Es wäre traumhaft, sie einmal zu porträtieren. Was ging ihr heute nur im Kopf herum!

Margarethe bekam eine Zornesfalte zwischen den Brauen. „Das sind solche Rüpel! Da muss man sich doch wehren!“

Endlich teilte jemand ihre Wut.

„Was unternimmt denn Moltke?“

Margarethe flüsterte mittlerweile so leise, dass sie kaum zu verstehen war. „Komm doch mal in seine Schreinerei. Am besten mittwochs gegen sieben Uhr.“ Sie schaute sich erneut um. „Pass aber auf, dass dir keiner folgt!“

„Warum? Gilt das Versammlungsverbot auch hier in der Stadt?“

„Gleichwie, es ist besser, wenn wir nicht auffallen.“

Sie hatte „wir“ gesagt. Wer sich wohl dort alles einfand?

Margarethe hakte sich bei ihr unter. „Komm! Lass uns durch die Stadt bummeln, bevor wir mit unserem Gerede auffallen.“

War es schon so weit gekommen? Fielen sie auf, bloß weil sie sich am Bahnhof unterhielten?

Dann war das nicht mehr die Stadt, in der Sophia aufgewachsen war und es war höchste Zeit, dem Hetzen der Partei entgegenzusteuern. Doch wie? Sie warf Margarethe einen Blick zu. Die nickte, als läse sie ihre Gedanken.

 

Sie blieben vor dem Schaufenster einer Konditorei stehen und nahmen sich Zeit, sich gedanklich zu sortieren. Sophia atmete tief ein und aus. Sie würde die Schreinerei aufsuchen. Schließlich bot sich da eine Möglichkeit, überhaupt etwas zu unternehmen. Jedenfalls war sie Margarethe dankbar, dass sie ihr einen Weg aufzeigte.

Aus einer Laune heraus zog Sophia sie in die Konditorei und kaufte für sie beide Schokoladentörtchen. Mit denen in der Hand spazierten sie durch den Ringpark und ließen sie sich schmecken.

„Nicht zu süß und nicht zu bitter“, lobte Margarethe. Sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Lippen ab. Dann aß sie auf und verabschiedete sich. „Ich muss nach Hause. Mutter sorgt sich bestimmt schon.“

„Musst du nicht noch zu einer Jugendgruppe? Maria sagte das.“

Margarethe legte den Kopf schief. „Dazu ist es längst zu spät.“

Sophia umarmte sie. „Auf Wiedersehen.“

„Hoffentlich am Mittwoch.“

 

Sophia kehrte aufgewühlt nach Hause zurück, drückte David wortlos Mantel und Hut in die Hand und verschwand in ihrem Zimmer. Sie fand keine Ruhe, tigerte vom Fenster zur Tür und zurück. Es gab also Menschen, die sich wehrten und zu denen zog es sie hin. Ginge sie zu dem Treffen, begegnete sie aber Moltke. Im Grunde wollte sie das nicht. Doch sie war mit der Partei ganz und gar nicht einverstanden. Moltke auch nicht. Leider aber gehörte Vati ihr an. Katharina hatte ihn verteidigt. Er wolle die Familie mit der Mitgliedschaft schützen, hatte sie behauptet. War das aber der richtige Weg? Wenn nicht, lag Moltke mit seinem Schimpfen nicht daneben. Ob er ihn von einer der Baustellen kannte? Das alles würde sie nur herausfinden, wenn sie entweder Vati fragte oder zu dem Treffen ging.

Sie schaute aus dem Fenster. Merkwürdig, dass ein jeder hinausstarrte, wenn es im Inneren rumorte, gerade so, als stünde dort die Antwort auf alle Fragen.

Spräche sie ihren Vater auf Moltke an und er kannte ihn, würde er ihr den Kontakt verbieten, denn die beiden mochten sich anscheinend nicht. Wollte sie danach doch zu einem Treffen, dann gegen Vatis Willen. Also war es besser, ihn nicht zu fragen.

Gut, sie würde zu einem der Treffen gehen. Ihr schwirrte der Kopf. Etwas zu malen, half gewiss. Wie die neuen Farben wohl auf der Leinwand wirkten?

Sie waren ebenso schön wie die vorherigen, zwar eine Nuance heller, doch das ließ sich mit ein wenig Mischen ausgleichen. In jedem Fall würde sie sich da noch einige Farbtöne zulegen.

Erst als das Licht schwächer wurde, wusch sie die Pinsel aus und schloss die Tuben. Das Bild, auf dem der Mann von hinten zu sehen war, war fast fertig. Die Landschaft hatte den öden Grauton bekommen, der das Gefühl der Trostlosigkeit in ihr hervorrief. Es war gut gelungen.

Sie trat von der Leinwand zurück, als es an der Tür klopfte.

Maria steckte den Kopf zur Tür herein. „Störe ich?“

„Nein, komm rein.“

Ihre Schwester setzte sich aufs Bett, das knarzte. „Katharina redet gerade mit den Eltern. Du glaubst nicht, was passiert ist.“ Maria zog die Brauen hoch, was ihre Augen riesig erscheinen ließ. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Sophia kannte den Ausdruck an ihr nur zu gut. Etwas regte ihre kleine Schwester auf.

„Was denn?“ Sie setzte sich neben Maria.

„Katharina kauft Joseph Weiß das Kaufhaus ab. Stell dir das nur vor! Das riesige Geschäft! Und sie will es leiten.“

„Ja, ich weiß.“

„Warum weißt du immer alles schon vor mir?“

„Weil ihr mich alle interessiert, deswegen.“

„Aber ...“ Maria winkte ab. „Das spielt ja keine Rolle. Verstehst du das? Wieso verkauft Joseph ihr das? Wegen der Partei und ihren Machenschaften?“

„Ja, verdammt. Und weil er das Land verlassen wird.“

„Wir dürfen nicht fluchen.“ Maria fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Sophias Nase herum.

Als spielte das jetzt eine Rolle! Sie umarmte Maria.

Die zog die Brauen hoch. „Aber Katharina liebt doch Joseph. Ich meine, wenn er ausreist, dann ...“

Offenbar war sie nicht die Einzige, die Katharinas Verhalten nicht verstand.

„Er wird wiederkommen und dann werden sie heiraten. So ist der Plan.“

„Romantisch finde ich das nicht.“

„Wir leben nicht in Zeiten, in denen Romantik großgeschrieben wird.“

„Die Armen. Ihnen ist nicht einmal die Liebe vergönnt.“

Noch immer glaubte Sophia, dass Katharina so durchsetzungsfähig war, dass sie auch für das Problem einen Weg finden würde. Daher drückte sie Maria nur die Hand.

Die stand auf und strich ihren Rock glatt. „Vater ist jedenfalls stolz auf Katharina. Er will ihr in den nächsten Tagen bei der Übernahme des Kaufhauses helfen.“

„Natürlich wird er das.“ Das allzu bekannte Gefühl kroch in Sophia hoch.

Vergessen war ihre Ausstellung. Wieder einmal drehte sich alles um Katharina. Was hatte es also für einen Sinn, ein Gemälde nach dem anderen zu malen, wenn es keiner außer ihr zu sehen bekam?

Maria winkte ihr und schloss die Tür hinter sich, nur um gleich wieder hereinzuschneien. „Jetzt hätte ich es beinahe vergessen: Sobald Katharina die neue Eigentümerin des Kaufhauses ist, veranstaltet Vater eine Feier.“

„Aha.“

„Katharina ist davon wenig begeistert, weil vermutlich wieder diese Rüpel eingeladen werden.“

„Dann halte ich mich von der Feier fern.“

„Und lässt Katharina alleine?“

„Ich kann sowieso nicht so gut trösten wie du. Außerdem will ich nicht mit den NSDAP-Mitgliedern zusammensitzen.“

„Im Grunde gibt es für die nichts zu feiern, weil das Kaufhaus eben nicht in deren Hände geraten ist.“

Sophia grinste. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Das alte Traditionshaus in den Händen dieser gemeinen Rüpel! Sie hätten es bestimmt zu einem Werkzeug für ihre Zwecke gemacht. Maria hatte recht. Das war eine Art des Widerstandes, die Sophia gefiel. „Stimmt. Auf die Weise bietet Katharina denen die Stirn.“

„Na siehst du.“

„Ja, aber da ist noch Vati. Er gehört der Partei an und so hat die doch wieder ihre Hände im Spiel.“

„Jetzt führt aber Katharina das Kaufhaus und fertig.“

Sophia seufzte. Und Katharina würde sich von den Parteimitgliedern feiern lassen.

Maria betrachtete sie aus großen Augen. „Wirst du zur Feier kommen?“

„Nein, ich muss den Parteimitgliedern keine Gesellschaft leisten.“

Maria kam heran und umarmte Sophia. „Auch nicht mir zuliebe?“

Sie schüttelte den Kopf. „Warum gehst du denn hin?“

„Wegen Katharina. Ich weiß, dass es ihr dort nicht behagen wird.“

Maria nahm die Klinke in die Hand und war fast zur Tür hinaus. „Und du weißt das auch.“

Sie würde stets zu ihren Schwestern halten, aber nicht mit der NSDAP feiern.

 

Vor dem Spiegel richtete Sophia sich das Haar, wie immer vor dem Abendessen. Heute gab es eine Nudelsuppe und die kochte keiner so gut wie Hilda. Als kleines Mädchen hatte sie sie ihre Zweitmama genannt. Sie grinste sich im Spiegel an, da klopfte es an ihrer Tür und Katharina trat ein. Sie rieb ihre Hände aneinander und faltete sie. Die gleiche Geste, die Mama an den Tag legte, sobald sie etwas Unangenehmes mitzuteilen hatte. Als wüsste Sophia nicht von ihren Plänen. Aber sie nahm sich vor, sich nicht zu verplappern. Wenn Joseph Katharina von dem Gespräch erzählen wollte, dann bitte. Sie würde schweigen.

Katharina schilderte, wie sehr Joseph und sie sich liebten, in welcher Gefahr seine Familie schwebte und was ihm sein Kaufhaus bedeutete.

„Verstehst du? Es ist das Lebenswerk seines Vaters und nun auch Josephs Leben. Und die Partei wird es ihm wegnehmen, einfach so, um es an sich zu reißen.“ Tränen rannen über Katharinas Wangen.

Sophia nahm sie in den Arm. Warum war sie den Tag über wütend auf Katharina gewesen? Bestimmt hatte die sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Zudem traf sie keine Schuld an dem Ganzen, sondern die NSDAP.

Sie strich Katharina über den Rücken. Scham stieg in ihr hoch. Vorhin, da war sie sogar eifersüchtig gewesen, weil Vati sich nicht die Zeit für ihre Ausstellung genommen hatte. Richtig kindisch hatte sie sich benommen und das vor Maria! Das galt es später wieder geradezurücken.

Katharina wischte sich die Tränen ab und schluchzte noch ein paarmal. „Joseph wird bald abreisen und wohl eine Weile im Ausland bleiben.“

„Du tauschst das Kaufhaus gegen die Liebe.“

Nun fing sie schon wieder mit dem Gestänker an! Sie räusperte sich und schaute in Katharinas erschrockene Augen. „Es tut mir leid. Ich meine: Willst du Joseph nicht lieber begleiten?“

„Wir haben uns schon entschieden.“

Die gleichen Worte hatte Joseph gebraucht.

„Für uns als Familie freue ich mich, dass du bleibst.“ Sie strich ihr übers Haar. „Aber für euch als Paar nicht.“

Katharina knüllte ihr Taschentuch zusammen. „Ja, ich weiß, wie du es meinst. Aber Joseph zerreißt es das Herz, wenn er das Kaufhaus abgenommen bekommt.“

„Und dir? Wenn er abreist?“

Katharina seufzte. „Ich muss das halt aushalten ‒ für Joseph.“

Sie stand auf, umarmte Sophia und verließ das Zimmer.

Warum nur war sie oft so unbeherrscht, dass ihr Worte herausrutschten, die sie besser für sich behalten hätte? Wieso vermochte sie nicht so zu trösten, wie es Maria stets gelang?

Sie atmete tief ein und aus und klopfte an Marias Tür.

 

Tage später, an besagtem Abend der Feier, nachdem sich Sophia versichert hatte, dass Maria Katharina beistehen würde, eilte sie die Ludendorffstraße hinab.

Heute wurde das Kaufhaus gefeiert. Es war bereits in KAWA umbenannt worden. Doch Katharina hatte das frühere Schild aufbewahrt, hatte sie erzählt, so wie sie auch Joseph im Herzen aufbewahren würde.

Sophia schlug den Mantelkragen hoch. Ein eisiger Wind war aufgekommen.

Der Apotheker kam ihr entgegen und lupfte den Hut. „Fräulein Wagner, ich wünsche Ihrer Schwester viel Erfolg mit dem Kaufhaus.“

„Danke, ich werde es ausrichten.“

„Möge sich alles zum Besten wenden.“

„Ja, das hoffen wir auch.“

Er nickte. „Man muss halt für den Erfolg etwas tun, und zwar in jedem Bereich!“

Warum nur bekam sie das von allen Seiten zu hören? Sie verabschiedete sich und setzte ihren Weg fort. Wieder und wieder schaute sie sich um. Keiner folgte ihr. Es war ein weiter Weg bis zur Schreinerei. Hoffentlich heftete sich niemand an ihre Fersen. Nun bediente sie sich auch noch der Sprache des Untergrundes. Aber was wusste sie schon darüber?

Sie wählte den Weg durch den Hofgarten, hielt inne und tat so, als sähe sie die Büsche und Bäumchen das erste Mal. Frostüberzogen wie mit Zuckerhüten gruppierten sie sich in Reih und Glied. Sophia drehte sich im Kreis. Hinter ihr kam ein Mann in einem langen schwarzen Mantel heran. Wie angewurzelt blieb sie stehen, hielt den Atem an. Der Mann zog den Hut und spazierte an ihr vorüber.

Sie atmete auf. Doch die Gefahr war noch nicht vorbei. Sie wartete ein paar Atemzüge ab und schlenderte gemächlich weiter. Dabei ließ sie ihre Umgebung nicht aus den Augen. Der Mann war nun ein gutes Stück vor ihr, dann verließ er den Garten durch das vordere Tor.

Als sie hinaustrat, war er weg. Zum Glück! Sie prüfte die Umgebung. Lediglich ein alter Mann zog einen Handkarren hinter sich her, der über das Kopfsteinpflaster holperte. Sie hatte absichtlich den längeren Weg zur Zellerstraße gewählt. Sie hastete die Hofstraße hinab, ließ die Domstraße hinter sich und betrat die Alte Mainbrücke mit ihren Steinfiguren. Hier ließ sie sich stets Zeit, um die Figuren auf sich wirken zu lassen. Auch jetzt trat sie von einer zur nächsten, aber nur, um sich nach etwaigen Verfolgern umzuschauen.

Ein Liebespaar schmuste in inniger Umarmung. Gerade das war doch verdächtig. Gewiss lösten sie sich voneinander, sobald Sophia etwas Abstand zwischen sich und sie gelegt hatte. Sie schlenderte weiter, blieb stehen, strich mit dem Finger einen Schwung im Gewand der Figur nach und lugte zurück. Das Paar lehnte über der Brüstung und schaute auf den Fluss hinab. Auffällig bis zum dorthinaus!

Sophia lehnte sich mit dem Rücken an die Brüstung und behielt das Paar im Auge. Die beiden küssten sich und schlenderten dann in die entgegengesetzte Richtung.

Also hatte sie nun Zeit verloren für nichts. Sogleich eilte sie über die Brücke in die Zellerstraße. Margarethe hatte ihr das Haus beschrieben. Über der Haustür hing angeblich ein Hobel. Dort vorne stand ein einstöckiges Haus mit einer breiten Holztür und dem besagten Hobel darüber.

Vor der Schreinerei schaute Sophia sich vorsichtig um. Keiner war zu sehen. Noch bevor sie an die Tür klopfte, flog diese auf, eine Hand packte sie am Arm und zog sie hinein.

Ein Mann in ihrem Alter lachte sie an. „Nicht erschrecken, ich habe mir nur einen Scherz erlaubt.“ Er deutete zu einer Tür neben sich und machte eine einladende Handbewegung. „Hereinspaziert.“

„Was soll das? Ich finde das nicht spaßig!“ Sie warf ihm einen zornigen Blick zu.

„Entschuldigen Sie.“ Er lachte noch immer. „Kommen Sie!“

War der verrückt, sie so zu erschrecken? Worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Sollte sie nicht besser gehen?

Der Mann winkte ihr, ihm zu folgen. „Jetzt kommen Sie doch endlich, wir warten schon eine Weile.“

„Machen Sie das nicht noch einmal!“

„Ich habe mich entschuldigt.“ Nun machte er ein zerknirschtes Gesicht.

Nun gut, sie konnte ja wenigstens einen Blick in den Raum werfen.

Zunächst blieb sie im Türrahmen stehen und atmete tief ein. Sie liebte den Duft nach Holz und hier schlug er ihr so stark entgegen, dass sie gar nicht genug davon bekam. Herrlich! Dann trat sie in den schwach beleuchteten Raum. Hier also schreinerte Moltke. Abgeschliffene Bretter lagen aufeinander. Auf der rechten Seite arbeitete er wohl an einem Schrank, jedenfalls wies ein viereckiger Kasten darauf hin. Links von ihr standen zwei Stühle, in einem dunklen Braun lasiert. Mitten im Raum saß Martin Moltke an einem Tisch und schaute sie grinsend an. Ansonsten war keiner anwesend.

Der junge Mann drängelte sich an ihr vorbei. „Wir haben auf Sie gewartet. Nehmen Sie doch Platz!“

„Wieder ein Scherz?“ Sie trat einen Schritt zurück. „Wo sind die anderen?“

Moltke zuckte mit den Schultern. „Margarethe wird noch dazu stoßen, wenn sie es zeitlich schafft. Ansonsten müssen Sie sich mit uns beiden zufriedengeben.“ Er lachte. „Oder flößen wir Ihnen Angst ein?“

Sophias Kehle fühlte sich staubtrocken an. Warum nur hatte sie sich hierhergewagt? Nie zuvor war sie im Dunkeln alleine unterwegs gewesen und nun sah sie sich gezwungen, sich ohne Begleitung mit zwei Männern zusammenzusetzen. Wüsste ihre Mutter davon, würde sie ihr den Kopf abreißen.

„Ja, da verabschiede ich mich doch gleich wieder.“ Sie drehte sich um, öffnete die Haustür und starrte in Margarethes lächelndes Gesicht. Die war in Begleitung einer älteren Frau, die sie als ihre Hausdame vorstellte. Im Gegensatz zu Sophia hatte Margarethe weitergedacht. Sophia senkte den Blick. Verflixt! Was würden die beiden von ihr denken? Margarethe umarmte sie sogleich und schob sie in die Werkstatt. „Wie schön, dass du gekommen bist.“ Sie grüßte die beiden Männer, setzte sich zusammen mit der Hausdame zu ihnen und deutete auf den Platz neben sich. „Komm doch her.“

Sophia senkte den Kopf. Bestimmt glühten ihre Wangen. Wie konnte sie nur so leichtfertig aus dem Haus stürmen?

„Lasst uns anfangen.“ Moltke faltete die Hände und schloss die Augen. Die anderen taten es ihm gleich.

Sophia schaute in die Runde. Was ging hier vor sich?

Dann geschah etwas, das sie niemals erwartet hätte. Moltke murmelte ein Gebet. Er bat Gott darum, allen Menschen Frieden ins Herz zu säen und den Hass zu vertreiben.

Nachdem alle das Amen gesprochen hatten, räusperte sich Sophia. „Ihr betet hier in der Werkstatt und was tut ihr sonst noch? Ich meine: Wir treffen uns doch nicht nur hier, um zu beten, oder?“

Margarethe öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Sie warf Moltke einen fragenden Blick zu, indem sie die Augenbrauen hochzog.

Moltke schien mit sich zu ringen, dann aber räusperte er sich. „Also, da Margarethe dich seit deiner Kindheit kennt, denke ich, dass wir dir vertrauen können.“

Sophia wusste nicht, wann sie zum Du übergegangen waren, aber ihr war es recht, wenn sich hier alle duzten. Sie nickte Moltke zu.

„Gut“, fuhr er fort. „Es ist so, dass wir uns meist an einem anderen Ort treffen. Dorthin kommen viel mehr Leute als hierher in die Schreinerei. Du wirst aber verstehen, dass wir den Treffpunkt neuen Mitgliedern nicht gleich verraten.“
„Weil Versammlungen jeglicher Art von der NSDAP unerwünscht sind?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nicht der Grund. Wir leiten eine katholische Jugendgruppe und der ist es erlaubt, regelmäßige Treffen abzuhalten.“ Er deutete auf den Mann neben sich. „Das ist Karl. Er kümmert sich um die Pfadfindergruppe hier vor Ort. Sie wandern häufig zusammen. Auch das ist uns gestattet. Die Frage ist nur: Wie lange noch?“

Sophia zuckte mit den Schultern. „Ja, das weiß ich auch nicht.“

„Eben.“ Margarethe übernahm nun. „Wir werden aber die Gruppe beisammenhalten, denn sie ist auf eine beachtliche Zahl angewachsen, nicht nur hier in der Stadt, sondern im ganzen Land. Wir denken, dass wir der Partei auf diese Weise die Stirn bieten, denn die Jugend ist auf unserer Seite.“

Zweifel stiegen in Sophia auf. Die gesamte Jugend war bestimmt nicht auf Moltkes Seite. Es gab da einen Jungen, der David einen Stein an den Kopf geworfen hatte. Eine Frage aber brannte ihr auf der Seele. „Was genau unternehmt ihr gegen die Partei?“

Moltke meldete sich wieder zu Wort. „Es geht immer um den Widerstand. Es gibt viele Arten, den zu leisten. Unsere ist nicht die mit Waffengewalt. Wir möchten auf andere Art zeigen, dass wir uns nicht unterdrücken lassen.“

„Und auf welche?“

„Zunächst machen wir so weiter wie bisher, wandern, singen und beten zusammen.“

Sophia stand auf. „Das reicht mir nicht. Zudem gehöre ich der evangelischen Kirche an.“

Moltke wischte sich über das Gesicht. „Das spielt doch keine Rolle. Viele evangelische Christen sind zu uns gestoßen, weil die Partei euren Bischof in der Stadt überrumpelte.“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Das wird uns nicht passieren.“ Er starrte sie an.

Es war nicht zu fassen! Was war das für ein Widerstand? Beten und singen, das konnte sie auch zu Hause im Kämmerlein, dazu brauchte es keine heimlichen Treffen.

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nichts für mich.“ Dann wandte sie sich an Margarethe. „Bleibt ihr ruhig noch hier. Ich finde alleine nach Hause.“

Die aber stand auf und zog die Hausdame mit. „Auf keinen Fall! Wir begleiten dich natürlich.“

 

Den gesamten Weg über redete Margarethe auf sie ein. Wichtig sei doch, sich nichts gefallen zu lassen, Gegenwehr zu zeigen. Wer wusste schon, was denen noch alles einfiele. Gerade dann sei es von Wert, jemanden an seiner Seite zu haben. Das war alles richtig und dennoch ...

„Das genügt mir nicht“, antwortete Sophia.

 

Vor der Villa verabschiedete sie die beiden und trat durch die Haustür. In der Diele traf sie auf Maria. Die führte sie nach oben in Katharinas dunkles Zimmer und dort ans Fenster. „Schau!“

Ein blasser Schemen stand regungslos, halb verdeckt vom Nussbaum, im Garten. „Wer ist das?“

Marias Stimme zitterte. „Katharina und hinter dem Baum ihr Joseph.“

„Verabschiedet er sich gerade?“

„Vermutlich.“

„Dann braucht sie gleich Trost. Mach du das!“

„Das werde ich.“

Sophia tastete sich durch das dunkle Zimmer, verließ es und war froh, als sie im nächsten Augenblick in ihrem Bett lag. Was war das nur für ein Abend gewesen! Gegen das aber, was Katharina gerade ausstand, glichen ihre Sorgen kleinen Schäfchenwolken. Oder vielleicht doch nicht?

2

Am nächsten Morgen wachte Sophia so früh auf, dass sie außer Maria noch alle beim Frühstück antraf. Sie war mundfaul, wie jeden Morgen, und hörte den Gesprächen zu.

„Heinrich“, sagte Mama. „Bist du auch so stolz auf Katharina?“

„Das bin ich, Leonore.“ Vati griff nach ihrer Hand. Dann runzelte er die Stirn. „Aber ich sorge mich um dich.“

Mama schaute blass aus, wie ein unbemaltes Stück Papier. Sophia stellte die Tasse ab. „Mama, was ist denn mit dir?“

Die winkte ab. „Nichts mein Kind. Ich bin nur etwas erschöpft.“

Katharina ergriff das Wort. „Mutter, dir geht es nicht gut. Trotzdem willst du den Laden aufmachen und auch noch alleine führen? Sei nicht so leichtsinnig!“

„Wenn du Hilfe brauchst, dann sag es.“ Sophia ahnte schon, was nun folgen würde.

„Kind, wobei willst du mir helfen?“ Sie tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. „Roll nicht mit den Augen! Du bist nun mal nicht fürs Kaufmännische geboren.“

Bevor Sophia widersprechen konnte, stoppte Katharina sie. „Sophia kann die Ware auspacken. Das zehrt doch am meisten an deiner Kraft.“

„Papperlapapp.“ Damit war für Mama das Thema beendet.

Natürlich durfte sie nicht helfen, nicht einmal Ware auspacken, als bräuchte sie dafür kaufmännische Erfahrung! Das war lächerlich! In ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Gab es irgendetwas, das sie in Mamas Augen richtig machte? Die Frage kam beinahe über ihre Lippen, doch Mama stand gerade vom Tisch auf und stützte sich dabei ab. Also schluckte Sophia die Frage hinunter.

 

In ihrem Zimmer machte sich Sophia zurecht, eilte die Treppe hinab und verließ die Villa. Sie zog ihre Handschuhe über, dann öffnete sie das Gartentor. Es blies ein kalter Wind, doch die Sonne schien von einem blassblauen Himmel herab, über den sich einzelne Schleierwolken schoben. Blaue und weiße Tupfen, so kindlich sorglos, friedlich. Sie drehte sich am Gartentor um. Heute ähnelte der gelbe Anstrich der Villa eher dem von altem Heu. Gleichwie, hinter Häusern in sonnigem Gelb lebten bestimmt frohe Gemüter. In denen, die altem Heu glichen, trug jemand ein Päckchen, gefüllt mit Kummer.

Ihr Blick wanderte über die Vorderfront. Die weißen Fensterläden standen alle offen, bis auf die von Marias Fenstern. Wie jeden Tag schlief sie gerne länger als der Rest der Familie. Ihr gehörte das Zimmer auf der linken Seite im ersten Stock, das Elternschlafzimmer war rechts davon. Sophias lag hinten auf der Rückseite mit Blick zum Garten, ebenso wie Katharinas. Im Grunde gefiel ihr die Villa von der anderen Seite besser, dennoch hatte sie sie stets von der Frontseite gemalt. Warum nur? Sie trat auf den Bürgersteig und drehte sich erneut um. Heute glänzte das schwarze Walmdach wie lackiert. Die Frostschicht war gewichen. Womöglich verdrängte endlich der Frühling den kalten Winter.

Sie winkte dem Apothekerpaar auf der gegenüberliegenden Seite. Die Frau stopfte ein Netz in einen Korb, der um ihr Handgelenk hing. Offenbar planten sie einen größeren Einkauf.

Sollte sie auch etwas einkaufen? Vielleicht noch einige Farben beim Weiß? Nein, das Kaufhaus hieß ja nun KAWA. Dabei könnte sie Katharina besuchen. Ach, zuerst einmal würde sie einfach in die Innenstadt hinuntergehen und sich dann treiben lassen.

 

Auf dem Platz vor der Residenz versammelten sich Uniformierte und schwenkten Fahnen mit dem Hakenkreuz darauf. Hoffentlich machte Vati da nicht mit! Sie wandte ihren Blick ab. Bloß weg hier!

In der Domstraße schaute sie hoch zur Festung. Wie beruhigend, dass die Stadt im schützenden Talkessel der Weinberge lag und die Burg ein Auge auf sie hatte. So hatte sie als kleines Mädchen gedacht. Und heute? Was, wenn sich unter der jetzigen Regierung alles umkehrte? Wenn die Burg zum Symbol der Unterdrückung würde? In der Residenz hatten sich der Gauleiter und sein Gefolge ja bereits breitgemacht.

Sie schüttelte den Kopf. Als genügte das nicht, bereitete ihr das kränkliche Aussehen Mamas Sorgen, das so gar nicht zu ihr passte. Mutter war der Rudelführer, hatte Vati einmal zum Spaß gesagt, und das Bild hatte Sophia stets vor Augen. Nie im Leben wäre ihr der Gedanke gekommen, dass Mama Schwäche zeigen könnte. Die ließ sie sich auch jetzt nicht anmerken, sie verhielt sich stur wie eh und je. Aber sie schaute krank aus und ließ sich nicht helfen. Sophia seufzte. Was sollte sie bloß unternehmen?

Neben der Festung stand das Käppele. Die kleine Wallfahrtskirche reckte ihre zwei Türme gen Himmel, als wollte sie den Anblick von der Festung auf sich lenken. Sophias Blick wanderte hin und her. Das Käppele schaute niedlich aus, mehr aber auch nicht. Noch nie hatte sie den Wunsch verspürt, es zu zeichnen, ebenso wenig wie die Festung. Es gab bereits zu viele Gemälde und Fotografien von beidem und eine war so langweilig wie die andere. Besucher der Stadt stiegen aber dort hinauf und beteten in der kleinen Kapelle. Ob ihre Wünsche erhört würden?

Sie schlenderte die Domstraße hinab bis zur Alten Mainbrücke und schaute auf den Fluss. Ihr fiel ein, wie sie sich gestern Abend verfolgt glaubte. Im Nachhinein war das witzig.

Plötzlich blieb eine alte Frau neben ihr stehen. Sie stützte sich auf einen Stock mit abgeblätterter Farbe. Sie stöhnte. „Wäre ich noch so jung wie Sie.“

„Was dann?“

Die Frau lächelte. Tausend Fältchen umgaben ihre funkelnden Augen. „Dann könnte ich ganz hinauf zum Käppele. So aber ...“, sie wiegte den Kopf hin und her. „... muss ich sehen, wie viele Stationen ich schaffe.“

Als Kind war Sophia mit Vati mehr als einmal den Kreuzweg hinaufgestiegen. Damals hatte sie die lebensgroßen Figuren auf dem Weg schauerlich gefunden. Sie stellten das Leiden Jesu nach, von der Verurteilung durch Pilatus bis zur Grablegung. Auch heute noch würden die sie abstoßen, auch wenn es sich um Kunstwerke handelte.

„Sie sind doch nicht gut zu Fuß. Warum tun Sie sich das an?“

Die Frau lächelte wieder. „Um für unsere Stadt zu beten.“ Sie zeigte zur Kirche hinauf. „Von dort schaut die Mutter Gottes auf uns Würmle herab. Die will ich darum bitten, Unheil abzuwenden.“

Ob sich die Mutter Gottes wohl um die Politik der Stadt und des Landes kümmerte? Sophia legte den Kopf schief. Gleichwie, gab es ein schöneres Ansinnen? Um das eigene Wohl zu bitten, fiel den meisten Menschen nicht schwer. Wie viele davon wohl an das der anderen dachten?

Die Frau verabschiedete sich, da hielt Sophia sie zurück. „Warten Sie. Ich werde Sie begleiten, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Komm nur mit, Mädel. Zwei Stimmen bewirken vielleicht mehr.“

 

Als sie endlich die erste Station erreichten, schnaubte die alte Frau. „Hier wird Jesus verurteilt. So ergeht es gerade der Stadt.“

Eine weise Frau! Sophia drehte sich um. Ihr Blick wanderte über Würzburg. Sie würde für die Stadt beten, aber auch für Mama. Das tat sie am besten gleich, denn zusammen mit der Frau würde sie niemals oben in der Kapelle ankommen.

Die alte Frau hielt einen Rosenkranz in der Hand und murmelte ein Gebet. Sophia schaute hinauf zur Kirche und sprach in Gedanken ihre Bitten aus, da vernahm sie Stimmen hinter sich. Zwei Uniformierte, rund zwei Jahre jünger als sie, stiegen die Stufen hinauf. Als sie die Terrasse erreichten, bauten sie sich vor Sophia auf. Einer mit einem dicken Pickel auf der Nasenspitze hob die Augenbrauen.

„Wen haben wir denn da?“ Er steckte die Daumen in den Gürtel seiner Jacke.

Der zweite, dürr wie ein Besenstiel, faltete die Hände. „Betende Frauen. Wie fromm! Na, Alte? Betest du auch für mich?“

Sophia stellte sich neben die alte Frau. Die warf den Jungen zornige Blicke zu. „Schert euch zum Teufel, wenn ihr schon nicht bis Fünf denken könnt.“

Die zwei Uniformierten schauten sich an. „Die Alte ist frech.“ Das war der Pickelige.

„Müssen wir uns das gefallen lassen?“ Der Dürre trat einen Schritt auf die Frau zu.

Sophia baute sich sogleich vor ihm auf. „Lasst sie in Ruhe!“

Der Pickelige grinste von einem Ohr bis zum anderen. „Was sonst?“

Sophia ballte die Fäuste. „Verschwindet! Was sucht ihr überhaupt hier auf dem Stationsweg?“

Der Pickelige bekam eine Zornesfalte zwischen den Brauen. „Leute wie euch.“

Er trat zu der alten Frau, riss ihr den Rosenkranz aus den Händen und schleuderte ihn weit von sich.

Die Frau griff noch nach ihm, da fiel ihr der Stock aus der Hand. Der Kerl hob ihn auf und fuchtelte damit wie mit einem Schwert in der Luft herum. Der Dürre grölte darüber.

Sophia stützte die alte Frau, da trat der Dürre nah an sie heran.

„Na, Püppchen? Spielst hier die herzensgute Helferin?“

Nun reichte es! Sophia stieß die Luft aus und zischte: „Sagt mal Jungs, weiß eigentlich Gauleiter Carsten davon, dass ihr Frauen beim Beten belästigt? Ich werde ihn fragen, wenn er uns das nächste Mal besucht.“

Ekel stieg in ihr hoch, aber der Trick schien zu wirken.

Der Dürre drehte sich zu seinem Freund um und warf ihm einen unsicheren Blick zu.

Der Pickelige schwang den Stock. Den bestärkte doch nur seine Uniform, die lächerliche braune Uniform mit den Hakenkreuzen. Ohne die würden sich die beiden so eine Aktion niemals zutrauen. „Wer belästigt hier wen? Wir schauen nur nach dem Rechten.“

„Gebt der Frau den Stock zurück!“

Der Pickelige hörte mit dem Schwingen auf. „Sonst?“

„Gehe ich sofort zum Gauleiter.“

Beide starrten sie erst an, dann senkten sie den Blick. Sie nahmen den Mund zu voll, letztlich fehlte ihnen aber der Mut, wirklich Schlimmes anzustellen. Noch!

Der Pickelige ließ den Stock fallen, drehte sich zum Dürren um und bedeutete ihm, nach unten zu gehen. Letzterer warf Sophia noch einmal einen zornigen Blick zu, folgte seinem Freund aber, wenn auch betont langsam. Feiges Pack!

Sophia hob den Stock auf und drückte ihn der Frau in die Hand. Sie hatte keine Lust mehr zum Beten und der alten Frau saß offensichtlich der Schrecken noch in den Knochen, so blass wie sie aussah. Daher hakte sie sie unter. „Kommen Sie. Beten können wir schließlich überall.“

Die Frau versteifte sich. „Kennen Sie den Gauleiter gut?“

Sophia grinste. „Ich habe meinen Vater von ihm reden hören, aber mir ist gerade nichts Besseres eingefallen.“

„Dann ist es ja gut.“ Nach wenigen Stufen hinab schimpfte die Frau: „Stänkerer!“

Sophia schaute nach vorne. Dort standen die zwei Dummköpfe an eine Hauswand gelehnt. Die beiden grölten mit gefalteten Händen und hielten sich den Bauch vor Lachen. Als sie Sophia aber zusammen mit der Frau sahen, drehten sie die Köpfe weg.

Sie hob das Kinn im Vorübergehen.

Die alte Frau japste nach Luft. „Die wollen uns alle einschüchtern.“ Dann hob sie den Zeigefinger. „Aber das schaffen die bei mir net.“

Sophia brachte die Frau bis vor ihr Haus in der Karmelitenstraße. Dort drückte diese ihr die Hand. „Bleiben Sie so wie sie sind, junges Fräulein. Weichen Sie niemals vom Weg ab.“

„Das werde ich nicht.“

Sophia ging die Straße in Richtung Brücke. Diese miesen NSDAP-Kerle! Wie sehr hassten sie andere Menschen und somit auch sich selbst. War es nicht so, dass jemand, der andere für eine bestimmte Eigenschaft hasste, im Grunde den Charakterzug an sich selbst verabscheute? Gewiss gönnten die zwei Dummköpfe ihnen das Beten nicht, weil sie selbst den Drang danach spürten, aber es sich nicht gestatteten oder andere es ihnen nicht erlaubten.

 

Die Glocken der Marienkapelle läuteten zu Mittag. Es war an der Zeit, nach Hause zu gehen. Schließlich wartete Hilda mit dem Essen auf sie. Sie nahm am besten die Abkürzung über den Marktplatz.

Bereits aus der Ferne drangen laute Stimmen aus der Richtung des Rathauses an Sophias Ohr. Was da wohl passierte? Sie folgte dem Gebrüll, als zwei Männer hinter einem Torbogen hervortraten. Der eine hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen und einen Schal um den Mund gewickelt. Er wirkte von der Statur her wie Joseph Weiß. Aber das war ja unmöglich. Der weilte ja mittlerweile in der Schweiz. Der zweite war ein alter Mann, dürr bis auf die Knochen. Er überquerte o-beinig den Marktplatz und legte dabei eine Hand auf sein Kreuz.

Sie folgte ihm zu der Menschenmenge vor dem Rathaus. Da hatte sich ja eine beachtliche Anzahl versammelt. Was ging hier vor sich?

Kreisleiter Müller und Gauleiter Carsten redeten auf den Bürgermeister ein, während sie die Fahne der NSDAP in den Händen hielten. Was verlangten die?

Sie schob sich durch die Menge ein Stück nach vorne. Müller brüllte laut, dass es an der Zeit sei, die richtige Fahne zu hissen. Carsten trat so nahe an den Bürgermeister heran, dass Sophia fürchtete, er würde diesen gleich niederstoßen.

„Das Rathaus ist ab sofort in unserer Gewalt“, keifte Müller. Er hielt die Fahne in die Höhe. „Zum Zeichen dafür wird die jetzt hochgezogen.“

Uniformierte der NSDAP rückten dem Bürgermeister dicht auf die Pelle, bis der sich verzweifelt umschaute. Keiner kam ihm zu Hilfe, wenn auch in manchem Gesicht Abscheu stand. Der Bürgermeister hob die Hände, drehte sich um und verließ den Platz. Das war ungeheuerlich! Diese Widerlinge rissen einfach so die Macht an sich, obwohl sie die Wahl verloren hatten! Sophia schaute sich um. Wieso griff denn keiner ein? Einige schüttelten den Kopf, schwiegen aber. Andere verließen den Platz, manche aber applaudierten.

Da musste doch jemand eingreifen!

„Halt!“, rief Sophia. Sie schob sich weiter nach vorne, als sie eine Hand am Arm packte und festhielt. Sie drehte sich um. Moltke stand hinter ihr.

Er schüttelte den Kopf und deutete mit dem Kinn zum Marktplatz. „Komm!“

„Nein!“, rief sie.

Einige Köpfe drehten sich zu ihr um.

„Los jetzt!“ Moltke zog sie mit sich.

Erst als sie genügend Abstand zum Rathaus hatten, ließ er sie los.

„Was fällt dir ein?“ Sie rieb sich die Stelle am Arm, an der er sie gepackt hatte.

Er senkte den Kopf. „Es tut mir leid, falls ich dir wehtat.“

Sie winkte ab. „Pah! Das ist doch jetzt unwichtig wie nur was.“ Sie zeigte zum Rathaus. „Was aber dort geschieht, das kann doch keiner hinnehmen. Da muss man doch einschreiten.“

Moltke schüttelte den Kopf. „Hast du gesehen, mit wie viel Mann die dort angerückt sind? Was willst du da alleine dagegen ausrichten? Die sperren dich weg und dann ist es mit deinem Aufbegehren vorbei.“

Sollte sie das alles akzeptieren, wie alle anderen? Ganz bestimmt nicht! Sie trat einen Schritt auf ihn zu. „Ach, ist es besser, die schalten und walten zu lassen, wie es denen gerade in den Sinn kommt?“

„Es ist besser, die Menschen um uns herum zu informieren und ihnen die Augen zu öffnen. Je mehr wir für uns gewinnen, umso erfolgreicher werden wir sein.“ Moltke fixierte ihren Blick.

Sie schnaubte wütend. „Und wann wird es soweit sein? Wann wehrt ihr euch? Und wie? Mit Beten?“

„Ein Schritt nach dem anderen. Aber eine sinnlose Aktion zu starten, die ins Leere führt, ist sogar gefährlich.“ Er schaute sich um. „Geh jetzt nach Hause.“

Was glaubte er eigentlich, wen er vor sich hatte? Sie ließ sich gewiss nicht herumkommandieren wie ein kleines Mädchen! Sie trat nahe an ihn heran. „Ist Beten dein Widerstand?“

„Na, dann geh doch zur Residenz und brülle dort herum“, zischte er. Er ging zwei Schritte weg, kam wieder zurück. „Schau doch, wie weit du kommst. Die sperren dich weg, schlagen dich zuvor zusammen oder noch Schlimmeres. Hast du dann etwas gewonnen?“

Sie schluckte. Hatte er recht? Vermutlich. „Aber ...“

„Wenn du etwas tun willst, dann weißt du ja, wo du mich finden kannst.“ Er nickte zum Abschied, vergrub die Hände in den Manteltaschen und schlug den Weg zur Alten Mainbrücke ein.

Sophia holte tief Luft und stieß sie aus. Moltke regte sie bei jedem Treffen auf, hier aber hatte er sie beschützt. Sie schaute zurück zum Rathaus. Die Menschenmenge lichtete sich. Es blieben wohl nur die, die Beifall spendeten. Eine Gänsehaut kroch über Sophias Rücken. Es war grauenvoll, was hier geschah. Ob Vati davon wusste? Sie würde ihn zur Rede stellen!

Sie hastete über den Marktplatz, eilte zur Residenz, von dort am Park entlang in die Ludendorffstraße bis zur Villa. Dort lehnte sie sich kurz an das Tor und verschnaufte.

Der Apotheker winkte ihr und kam heran. Er deutete zum Himmel. „Die Sonne verhöhnt uns.“

„Die Sonne kann nichts für die Dummheit der Menschen.“

„Es ist der Hass im Herzen weniger.“ Er drehte sich um. „Der Hass ist der Weg zum Bösen.“

 

Sophia malte bis zum Abend an einem Porträt, das Katharina auf dem Küchentisch sitzend zeigte, wie sie zwischen ihren Zehen pulte. Sie hatte lange an Katharinas konzentriertem Blick gearbeitet, jetzt aber passte der Ausdruck des jungen Gesichtes.

Dann endlich schlug die Haustür zu und Vati redete mit David unten in der Diele. Sie legte die Pinsel auf die Palette und stieg die Treppe hinab.

Vati bekam von ihr einen Kuss auf die Wange, dann bat sie ihn um ein Gespräch.

Er legte den Arm um ihre Schultern. „Lass uns gleich reden, bevor Leonore und Katharina heimkommen, denn dann wollen wir zusammen essen und danach will ich noch Papiere durchschauen.“
Er führte sie in das kleine Zimmer, in dem er meist zusammen mit David rauchte und einen Cognac trank, auch wenn er behauptete, dort Männergespräche zu führen. Auch jetzt goss er sich etwas zu trinken ein und setzte sich an den kleinen Tisch ihr gegenüber.

„Was gibt es, mein Mädchen?“

Sie würde gleich auf den Punkt kommen. „Heute Mittag war ich vor dem Rathaus und habe erlebt, wie deine Partei die Macht an sich gerissen hat und den Bürgermeister ... ja ... im Grunde vertrieben hat.“

Vati trank das Glas leer. „Was soll ich dazu sagen? Das machen die überall so. Befehl von höchster Stelle.“

„Die?“ Sie merkte, dass sie laut wurde und senkte die Stimme. „Vati, du gehörst zu ihnen.“

Er fixierte einen Punkt rechts von ihr. „Davon verstehst du nichts, mein Kind.“ Dann schaute er ihr in die Augen. „Warum beschäftigst du dich überhaupt damit? Schau, Maria interessiert sich nicht für Politik ...“

„Ich bin nicht Maria.“ Sie holte tief Luft. „Entschuldige bitte. Ich habe dich unterbrochen.“ Sie seufzte. „Warum machst du bei so einer Partei mit, die Angst verbreitet und Menschen hasst, ja sie sogar aus dem Land vertreibt?“

Vati stand auf und trat ans Fenster. „Ich könnte dir aufzählen, was die Partei alles vorhat, um den Menschen zu helfen.“ Er drehte sich zu ihr um, hob die Arme und ließ sie fallen. „Verstehst du? Es muss im Land wieder bergauf gehen.“

Das konnte doch nicht wahr sein! War er so verblendet? Sie erhob sich. „Mit Gewalt und auf dem Rücken Unschuldiger?“

Vati schaute zu Boden. „Der Machtwechsel lässt sich nicht mehr aufhalten.“

„Doch! Jeder, der noch in den Spiegel schauen will, muss sich wehren. Noch gibt es genügend Menschen, die sie aufhalten können.“ Tränen traten in Sophias Augen. „Du hast immer gesagt, wir sollten rechtschaffen bleiben, oder etwa nicht?“

Vati nahm sie in die Arme. „Manchmal braucht es dafür Umwege.“

Sie schaute zu ihm hoch, als er ihr zuzwinkerte.

Eine Weile blieb sie in seinen Armen gekuschelt. Er roch wie immer nach Wald und Harz, nach seinem Rasierwasser, umschlang sie, als wollte er sie davontragen und strich ihr übers Haar.

Sie kannte seine Umwege nicht, verspürte auch keine Lust, sie mit ihm gemeinsam zu gehen. Ihr Weg war ein anderer.

Als sie die Stimmen von Katharina und Mama vernahm, löste sie sich aus der Umarmung. „Bitte vertreib das Grauen aus dem Land!“

Das war Kleinmädchendenken, aber gerade war sie auch sein Mädchen.

Vati zuckte mit den Schultern. „Wir werden sehen.“

 

Am nächsten Morgen erzählte David während des gemeinsamen Frühstücks, dass die Mitglieder der NSDAP neben der Residenz, die Festung sowie die Faulenbergkaserne und andere wichtige Gebäude der Stadt eingenommen hätten. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

Sophia wandte sich an ihren Vater. „Was sagst du dazu?“

Mama wischte Krümel vom Rock. „Was soll Heinrich dazu sagen? Er hat damit nichts zu tun.“

„Wie bitte?“ Sie hörte wohl nicht recht! „Es ist seine Partei!“ Dann schaute sie zu ihrem Vater. „Wusstest du davon?“

Der legte seine Serviette auf den Teller. „Muss ich mich hier für jede Aktion der NSDAP rechtfertigen? Was geht dich das an?“

„Lass es jetzt gut sein“, mischte sich Katharina ein. „Wir sollten so wie immer als Familie zusammenhalten.“

„Und die Augen verschließen?“ Sophia schaute ungläubig in die Runde.

Da lächelte Vati ihr zu. „Mein Mädel, heute steht dir die Aula der Oberrealschule zur Verfügung. Ich stelle dir auch einen meiner Leute zur Seite, er wird deine Gemälde aufhängen. Vielleicht hilft auch ...“

Sie sprang vom Stuhl auf, sodass er umkippte. „Wie kannst du bei all den schrecklichen Ereignissen, die deine Partei verursacht, an die Ausstellung denken?“

David hob den Stuhl auf. „Gnädiges Fräulein ...“

Spielten ihr hier alle einen Streich? Wie friedlich sie ihr Frühstück einnahmen. Als ob die Welt um sie herum nicht in grellen Flammen loderte! Waren sie derart blind?

Schließlich stemmte sich Mama ächzend hoch und verließ das Zimmer.

„Es geht ihr nicht gut“, sagte Maria.

Sie machte Anstalten, ihr zu folgen, da bedeutete ihr Sophia sitzen zu bleiben. „Ich geh schon, schließlich habe ich sie wohl vertrieben.“

Sie klopfte an die Tür des Schlafzimmers und trat ein.

„Wie geht es dir?“

Mama sah noch immer so bleich wie eine unbemalte Leinwand aus. Das Hausmädchen half ihr beim Auskleiden und brachte sie zu Bett. „Ich komm gleich wieder“, versprach Emmi.

Mama lächelte. „Heute fühle ich mich ein wenig schwach. Ich brauche etwas Ruhe, dann muss ich den Laden aufschließen. Noch gehört er ja mir.“
Sophia setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. „Was heißt das?“

„Stell dir vor: Katharina wird den Laden in ihr Kaufhaus aufnehmen. Von da an bin ich arbeitslos.“

Sophia seufzte. „Du musst jetzt erst mal wieder auf die Beine kommen. Da ist die Arbeit doch unwichtig.“

Da hob Mama den Zeigefinger. „Die Arbeit ...“
„... steht an erster Stelle, ich weiß.“

Mama fasste nach ihrer Hand. „Heute wirst du deine Ausstellung aufbauen, nicht? Dein Vater ist schon ganz aufgeregt. Präsentiere deine Bilder, schließlich hast du Jahre an ihnen gearbeitet.“

Durch Sophia ging ein Ruck. Das waren ja ganz neue Töne!

„Ja, ich habe mir mit ihnen Mühe gegeben.“

„Ich weiß. Dann zeige sie den Mitmenschen!“ Mama holte tief Luft und schloss die Augen, als Vati zusammen mit Maria hereinkam.

Sophia schlich hinaus. Hatte sie sich verhört? Mit einem Mal hielt Mama sie dazu an, ihre Werke der Öffentlichkeit zu zeigen. Dann fand sie sie wohl doch nicht so schlecht. Dabei hatte sie kaum jemals eines zu sehen bekommen. Oder war sie heimlich in ihr Zimmer gegangen? Wie auch immer. Natürlich drängte es sie zu der Ausstellung, trotz der politischen Lage.

Sie stieg die Treppe hinauf, ging in ihr Zimmer und betrachtete ihre Werke. Wenn es sogar Mama wünschte, dann würde sie die Ausstellung halt aufbauen.

Vati hatte ihr die Gelegenheit dazu gegeben. Er schätzte ihre Kunst und gleichzeitig unterstützte er die NSDAP. Sie ballte die Fäuste. Sie musste gegen sie angehen und daher würde sie am Abend nach dem Aufbau der Galerie zu Moltke gehen.

 

Sophia hatte einen Mann aus Vatis Baufirma erwartet, der ihr beim Verladen und beim Aufhängen der Bilder helfen würde, aber gewiss keinen Uniformierten aus der Partei. Doch genauso einer bot sich ihr an. Er war nicht größer als sie, auch in ihrem Alter, zog leicht das rechte Bein nach und hatte schmalere Schultern als sie selbst. Na, das konnte ja was werden ...

Zum Glück packte Maria mit an. Sie dirigierte den Jungen, bis alles in Vatis Wagen geladen war.

So verfuhr Maria auch mit ihm, als Vatis Chauffeur Armin vor der Oberrealschule hielt. Sie wies ihn an, die Bilder auszuladen und einzeln an die Wände der Aula zu lehnen. Daraufhin wollte sich der Uniformierte verabschieden. Das konnte ihm so passen!

Sophia hielt ihn am Arm zurück.

„Nichts da! Wir müssen jedes Bild noch aufhängen.“ Sie drückte ihm einen Hammer und Nägel in die Hände. „Schön langsam. Ich muss mir noch überlegen, wo ich welches Gemälde platziere.“

Der Junge rollte mit den Augen, doch das war ihr gleich.

Der Platz, der Lichteinfall durch die hohen Fenster, die Leuchten an der Decke, alles spielte eine Rolle, damit jedes Werk seine Wirkung voll entfalten konnte. Das Gemälde mit dem Blick vom Ufer auf den Main in der Sanderau war ihr liebstes Landschaftsbild, weil ihr die Lichtsprenkel auf der Wasseroberfläche besonders gut gelungen schienen. Das sollte den Platz auf der Wand gegenüber dem mittleren Fenster bekommen. Am besten war es wohl, wenn die Landschaftsbilder das Tageslicht abbekamen, denn da wirkten die Gräser, Blumen und Büsche lebendiger. Hingegen erschienen ihr die Hintergründe der Kinderporträts im schummerigen Licht der Lampen schön verschwommen, was auch so sein sollte. Sie sortierte die Gemälde, forderte den Jungen auf, die Nägel entsprechend einzuschlagen, hängte die Bilder auf und wieder um, bis sie zufrieden mit ihnen war.

Maria blieb vor den Porträts stehen. „Wann um alles in der Welt hast du die gemalt?“ Dann hielt sie die Hände vor den Mund und senkte sie wieder. „Das bin ja ich, oder? Als ich mich am Residenzbrunnen nass gemacht habe.“ Sie lachte laut.

„Ja, das bist du. Selbst als Mädchen mit nassem Haar warst du wunderschön.“

Maria winkte ab. „Ach, hör schon auf.“

Doch ihr Lächeln verriet, wie sehr sie sich über das Kompliment freute. Sie winkte den Jungen zu sich. „Nachdem du den Hammer sowieso in der Hand hältst, werden wir es folgendermaßen machen: Sophia überlegt sich Titel für die Bilder, ich schreibe sie auf die Schilder und du nagelst sie unter die Werke.“

Maria hatte doch wirklich kleine Schilder aus festem Papier zurechtgeschnitten und mitgenommen. Daran hatte Sophia nicht einmal gedacht. Natürlich! Die Werke brauchten einen Namen! Sie bedankte sich mit einem Kuss auf Marias Wange.

Bild für Bild gingen sie zusammen durch, überlegten sich zum Scherz auch Titel wie „Der letzte Flug der Libelle“ oder „Die Wolke im Nebel“ und kicherten darüber, bis der Uniformierte seufzte und um mehr Ernst und Eile bat.

Sie waren beinahe fertig, als Katharina hereinschneite. Sophia folgte Katharinas Blick auf die Gemälde, die sie noch nie in einer solchen Fülle, geschweige denn überhaupt einmal aufgehängt, gesehen hatte. All das hatte sie Strich für Strich gemalt, verbessert und daran gefeilt, bis es gepasst hatte.

Katharina trat zu ihr und umarmte sie.

„Schau dir an, was du geleistet hast.“ Sie ließ sie los und betrachtete die Porträts, besonders das, wo sie als Mädchen auf dem Tisch saß und zwischen ihren Zehen pulte. Sie schüttelte den Kopf. „Das wirkt so unglaublich echt.“

Sophias Herz weitete sich. „Danke schön.“

 

Später, als alles beschriftet war, sie aufgeräumt hatten und Maria bereits die Hand auf die Türklinke legte, ging Sophia von Bild zu Bild. Weder mochte sie sie alleine hier zurücklassen, was albern war, noch eines von ihnen verkaufen. Es waren doch ihre Gedanken und Gefühle, die sie in jedes Werk eingesponnen hatte. Ab morgen würden fremde Menschen sie betrachten und beurteilen, womöglich mitnehmen und in ihrem Zuhause aufhängen. Ob die erkannten, was sie aussagten? Schließlich wussten sie ja nichts von ihr und würden sie aufgrund eines Werkes auch nicht kennenlernen. Wie auch? In keinem der Werke fand sich ihre Seele wieder, sie streute in jedes einzelne nur Splitter von sich. Dennoch gehörten die ja zu ihr und wurden nun endgültig von ihr gekappt, falls sie überhaupt eines verkaufte. Sie drehte sich einmal im Kreis. Grün überstrahlte alle anderen Farben. Ein hoffnungsvolles Grün. Sie trat zu Maria an die Tür. „Lass uns nach Hause gehen.“

 

Sophia schlüpfte in ein dunkelgrünes Kleid. Dazu würde sie ihren schwarzen Mantel überziehen. Ein Schal wäre noch gut. Sie wühlte in ihrem Schrank und zog einen braunen heraus. Mit dem über dem Kopf würde sie so gut wie unsichtbar durch die Nacht schleichen. Heute war nicht Mittwoch, dennoch hatte Margarethe sie um ein Treffen am Residenztor gebeten. Was sie wohl vorhatte?

Was brauchte sie noch für das Treffen? Ihr fiel nichts ein. Sie griff nach dem Schal. Da klopfte es an der Tür. Sie ließ ihn wieder fallen.

Vati trat ein. „Liebes, lass uns noch bei der Oberrealschule vorbeischauen. Ich möchte mir deine Ausstellung ansehen.“ Er lächelte. „Unten wartet ein großer Strauß Rosen auf dich. Ich dachte mir, den könntest du in der Aula aufstellen.“

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke, Vati.“

Dann tat sie, als räume sie auf, griff nach dem Schal und legte ihn ordentlich zusammen. Wie konnte sie Vati vom Besuch der Ausstellung abbringen? Ginge sie dahin, käme sie zu spät zum Treffen mit Margarethe.

„Ich würde dich lieber morgen mit meinen Gemälden überraschen.“ Sie nahm ein Täschchen vom Stuhl. „Die Rosen könntest du mir dann feierlich bei der Eröffnung überreichen.“

„Das ist ein schöner Gedanke.“ Er verfolgte jeden ihrer Handgriffe mit den Augen. „Aber Maria hat mir den Mund wässrig gemacht, daher will ich unbedingt noch heute Abend vorbeischauen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Später braucht mich Leonore. Sie möchte mit mir etwas bereden. Also ist jetzt der beste Zeitpunkt für einen Besuch.“

Verflixt! Was könnte sie noch vorbringen?

Es klopfte, David schaute zur Tür herein. „Entschuldigen Sie bitte. Gnädiger Herr, unten wartet ein Mann in Uniform auf Sie.“

Vati wandte sich an sie. „Tut mir leid, mein Mädchen. Wie es aussieht, werden wir doch alles auf morgen verschieben müssen.“

„Außer, du jagst den Kerl unten zum Teufel!“

„Sophia!“ Er schüttelte den Kopf und verließ das Zimmer.

Na bitte! Sie hatte ihn verärgert, also würde er heute nicht mehr nach ihr schauen. Sie lugte nach unten.

Vati und der Mann verzogen sich ins kleine Zimmer. Mit Schal und Täschchen in den Händen hastete sie die Treppe hinab, hängte die Tasche um, schlüpfte in den Mantel. Da vernahm sie Vatis Abschiedsgruß. Gleich würde der Mann aus dem Zimmer kommen. Sie machte einen Satz zur Haustür, zog sie so leise wie möglich ins Schloss, eilte zum Gartentor hinaus und wickelte den Schal um Kopf und Schultern. Schnell! Bloß nicht den Uniformierten im Rücken haben!

Sie versuchte sich zu beeilen, doch stellenweise war der Boden gefroren. Folglich gab sie bei jedem Schritt acht. Sie hatte den Park noch nicht erreicht, da vernahm sie Schritte hinter sich, die sich ihr näherten. Also ging sie noch langsamer weiter. Bestimmt war das der Uniformierte. Als sie ihn direkt hinter sich glaubte, beugte sie sich zu ihrem Schuh hinab und tat, als schnürte sie ihn fester.

Der Mann grüßte im Vorbeigehen, drehte sich aber noch einmal um. Sogleich zog sie wie beiläufig ihren Schal über Mund und Nase, doch es war zu spät. Er hatte sie gewiss gesehen, hoffentlich aber nicht erkannt.

Er ging nun gemächlich weiter, schaute noch einmal zurück und schritt durch das Tor in den Hofgarten. Verflixt! Folgte sie ihm, sprach er sie womöglich an. Liefe sie um die Residenz herum und dann zum Tor, verlöre sie Zeit. Dennoch! Sie hatte keine andere Wahl, um sich mit Margarethe zu treffen, ohne aufzufallen.

Sie rannte den Weg hinab, bog um die Ecke und gelangte auf den Vorplatz der Residenz. Dort gingen Uniformierte ein und aus, aber es überquerten auch Spaziergänger den Platz. Sie tat, als gehörte sie einer Gruppe Männer und Frauen in ihrem Alter an, schlenderte knapp hinter ihnen über den Platz, nur um so schnell wie möglich die letzten Meter zum Residenztor zurückzulegen.

Margarethe war nicht da. Sie suchte die Umgebung mit den Augen ab, so gut sie es im Dunkeln vermochte. Nichts! Sie trat durch das Tor. Einige Meter vor ihr eilte eine schmale Gestalt den Weg zum hinteren Tor hinab. Bestimmt war sie das. Sie würde ihr folgen, aber nicht rennen. Das wäre zu auffällig. Gerade da legte jemand die Hand auf ihre Schulter. Sophia zog die Luft ein und zuckte zusammen.

„Ich bin’s“, flüsterte Margarethe.

Sie stieß die Luft aus. „Was bin ich erschrocken!“

„Endlich bist du da.“ Margarethe drehte sich um. „Komm!“

Diesmal war sie alleine. Sie nahm Sophia an der Hand. „Kein Wort! Folge mir.“

Sie rannten in die Hofstraße. Vor dem kleinen Handarbeitsladen „Strickhexe“ blieben sie stehen. Margarethe schaute sich um. Weiter unten am Paradeplatz stand ein Liebespaar eng umschlungen. Sophia presste die Lippen zusammen. Neulich hatte sie gerade so ein Pärchen verdächtigt. Wer wusste schon, ob sie so danebengelegen hatte? Auch Margarethe schien unschlüssig. Sie zuckte mit den Schultern. „Was denkst du?“

„Ich weiß es nicht.“

„Lass uns nicht länger warten.“ Margarethe trat einen Schritt zurück. „Wer weiß, wer noch alles hier auftaucht.“ Sie prüfte erneut die Straße, dann trat sie zu einer Holztür neben dem Laden und klopfte dreimal an.

Sophia stellte sich dicht neben sie. Ihr Herz schien im Hals zu klopfen. Sie schluckte mehrmals, dann endlich öffnete eine Frau mit einem gestrickten Schal um die Schultern die Tür. „Herein mit euch!“

Die Frau drückte sich an die Wand des engen Flures. Margarethe trat ein und schritt auf eine offene Tür zu, die in einen Kellerraum führte. Sophia folgte ihr.

Eine Lampe auf einem quadratischen Tisch, auf dem Stapel von Papier lagen, erhellte spärlich den Raum. Um den Tisch saßen oder standen Frauen und Männer in Sophias Alter. Zwischen ihnen stand Moltke mit verschränkten Armen. Er verdeckte teilweise den Blick auf eine Maschine an der hinteren Wand. Sophia erkannte nur, dass die Maschine aus schwarz gefärbtem Metall war und ein langer Hebel aus ihr herausragte. Wozu die wohl diente? Neben ihr lagen Säcke, gefüllt mit Wolle in allen Farben, Körbe und Kisten, in denen sich ebenso bunte Wolle türmte. Wie schön sich die Farbtupfer im Dunkel ausmachten.

Margarethe und Sophia grüßten, dann nahmen sie auf zwei freien Stühlen Platz.

Moltke zog eine Braue hoch, wünschte einen guten Abend und räusperte sich. „Es wird keiner mehr kommen. Fangen wir an.“

Ob wohl wieder gebetet würde? Aber keiner faltete die Hände.

Vielmehr zog Moltke ein Blatt Papier unter seiner Weste hervor.

„Das ist das neue Liedblatt.“ Er wandte sich an eine junge Frau. „Danke Klara für das Schreiben.“ Dann reichte er es einem Mann neben sich, der es las und schließlich weitergab.

Moltke schaute in die Runde. „Wer möchte es vervielfältigen?“

Die Frau, die die Tür geöffnet hatte, meldete sich zu Wort. „Ich bekomme das mit der Maschine nicht so hin, kann aber jemandem zur Hand gehen.“

Der Mann neben Moltke nickte. „Ich mach das.“

Moltke ließ Sophia nicht aus den Augen. „Gut. Sehen wir uns also übermorgen wieder und diesmal hier! Da werden alle kommen.“

Nach und nach verließen sie den Raum. Moltke legte eine Hand auf Sophias Schulter. „Warte!“ Er winkte sie zu der Maschine. „Hier drucken wir die Liedblätter. Und wie du mitbekommen hast, schreibt sie jedes Mal jemand anderer von uns.“

„Mit einer Schreibmaschine?“

„So ist es. Wenn du mitmachen willst, dann besorge ich dir eine.“

„Ich kann mir selbst eine beschaffen.“ Das hatte trotziger geklungen als sie es wollte. Aber das Ganze war unsinnig. „Warum verteilen wir nur Liedtexte?“

„Christliche Lieder und Gebete oder Gedanken lehnt die Partei ab. Doch wir Christen lehnen uns dagegen auf. Wir ...“

„Warum rufen wir nicht mittels der Texte zur Gegenwehr auf?“

Moltke fixierte sie. „Das ist zu riskant. Da werden die uns einen Riegel vorschieben und dann ist es aus mit dem Widerstand.“

„Ja, das leuchtet mir ein.“ Aber es musste doch eine Möglichkeit geben. „Was, wenn ich jeweils eine Zeichnung beilege, die eben irgendeinen Aufruf darstellt?“

Moltke fixierte sie aus schmalen Augen. Er rieb sich das unrasierte Kinn. „Hm. Kein schlechter Gedanke.“ Er schien mit sich zu ringen. „Entwirf was und bring es das nächste Mal mit.“ Er drückte ihr mehrere handbeschriebene Blätter Papier in die Hand. „Tipp die bitte bis übermorgen auf der Schreibmaschine ab.“

„Bis übermorgen?“ Wie dumm, dass sie Moltkes Angebot abgelehnt hatte. Doch die Blöße, ihn doch um eine Schreibmaschine zu bitten, würde sie sich nicht geben.

„Ja, da treffen wir uns wieder hier und vervielfältigen dein Schreiben.“ Er zog die Stirn in Falten. „Ich brauche dir nicht zu sagen, dass du alles geheim halten musst? Verstecke auch auf dem Heimweg die Blätter gut!“

Anschließend beteten sie doch noch ein stilles Gebet, alle außer ihr. Wo um alles in der Welt könnte sie die Blätter auf dem Heimweg am besten verstecken und woher eine Schreibmaschine bekommen?

Als Sophia nur noch mit Margarethe, der Besitzerin des Geschäftes und Molke im Kellerraum stand, kehrte sie ihnen den Rücken zu, legte sich den Schal um, knöpfte ihre Bluse auf, schob die Blätter hinein und schloss die Knöpfe wieder. Zufrieden wandte sie sich an ihre Freundin. „Lass uns heimgehen.“

Moltke grinste. „Bis zum nächsten Mal.“

Augenscheinlich hatte er ihr Versteck mitbekommen. Na wenn schon! Hauptsache, sie brachte alles sicher nach Hause.

Sie war bereits an der Tür, da fiel ihr etwas ein. Sie wandte sich an Moltke. „In der Oberrealschule stelle ich Bilder aus, ab morgen. Möchtest du vorbeikommen?“

Moltke nickte. „Danke.“

Draußen zog Margarethe sie auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Morgen werde ich auf jeden Fall zu deiner Ausstellung kommen. Aber jetzt sollten wir direkt nach Hause gehen. Schaffst du den Heimweg alleine?“

War es gut, dass jede von ihnen alleine unterwegs war? Schlüge sie aber Margarethe vor, bei ihr zu übernachten, dann müsste sie ihrer Familie erklären, dass sie noch unterwegs gewesen war und womöglich stellten sie dann Fragen. War es besser, zu versuchen, unbemerkt ins Haus zu schlüpfen? Auf der anderen Seite sorgte sie sich um Margarethe. Deren Heimweg war deutlich länger.

„Wie wäre es, wenn du mich begleitest und die Nacht bei uns verbringst?“

Ihre Freundin schüttelte den Kopf.

„Warte! Wir könnten einfach behaupten, uns zufällig bei einem Spaziergang getroffen und nicht gemerkt zu haben, wie die Zeit verging.“

Margarethe lächelte. „Und was für eine Ausrede gebrauchen wir das nächste Mal?“

Sie hatte recht. „Gut, dann wünsche ich dir einen guten Heimweg.“

 

Die Blätter auf Sophias Brust schienen zu glühen, als sie an der Residenz vorbeihastete. Dort standen Männer vor dem Eingang und redeten miteinander. Gingen die nie heim? Wäre sie selbst nur schon zu Hause und hätte die Blätter irgendwo in ihrem Zimmer versteckt. Im Grunde war es lächerlich. Es waren doch nur Kirchenlieder darauf zu lesen. Was war denn schlimm daran? Warum machte Moltke so ein Gehabe darum? Gerade mit der Geheimnistuerei hatte er ihr Angst eingejagt. Doch wenn sie jetzt schon ein mulmiges Gefühl auf dem Heimweg hatte, wie bitte sollte sie dann den Plan mit den aufrührerischen Zeichnungen umsetzen? Da war das heimliche Zeichnen noch die leichteste Aufgabe. Danach mussten die Blätter zu Moltke gelangen und bei deren Transport würde ihr das Herz stehen bleiben, wenn ihre Nerven jetzt schon flatterten. Also – tief durchatmen! Und weitergehen!

Hoffentlich kam Margarethe gut nach Hause. Gewiss fürchtete sie sich weniger, schließlich war sie ja bei vielen Treffen dabei gewesen und hatte wohl Übung darin.

Sophia fasste unter den Schal und presste das Papier an sich. Was tat sie da? Sie zog die Hand wieder weg. Das war ja wie ein Fingerzeig auf die Zettel.

Sie hastete den Rennweg hinauf. Der Park zu beiden Seiten wirkte heute Abend besonders finster. Was, wenn sie hinter dem Gestrüpp jemand beobachtete? Sie zog unwillkürlich den Kopf ein. Unsinn! Es war besser, sie straffte sich und verhielt sich so wie immer.

Nun kam ein Mann die Straße herab. Er blieb unter einer Laterne stehen und zündete sich eine Zigarette an. Ein Uniformierter. Ob der seine übliche Route lief?

Der Mann ließ sich Zeit. Sie eilte weiter. Eine Armlänge entfernt von ihr blieb er stehen. Er schaute auf seine Armbanduhr. „Ist es nicht ein wenig spät zum Spazierengehen?“

Ihr Herz hämmerte. Hoffentlich zitterte ihre Stimme nicht. „Nein, finde ich nicht. Aber ich gehe auch nicht spazieren.“

„Sondern?“

„Ich komme von meiner Ausstellung. Da gab es noch allerhand zu tun.“

Zum Glück war ihr das eingefallen!

Er zog eine Braue hoch. „Ach, wirklich?“

Sie reckte das Kinn in die Höhe. „Kommen Sie doch morgen vorbei! Sie ist in der Oberrealschule.“ Er zeigte keinerlei Regung. „Fragen Sie nach Sophia Wagner. Ich bin Heinrich Wagners Tochter.“

Es ließ sich nicht ablesen, ob er bei der Nennung des Namens beeindruckt war. Natürlich riskierte sie, dass er ihn aufschrieb und dass Vati davon erfuhr. Aber hatte sie eine Wahl, wenn sie ihn überzeugen wollte?

Der Mann streckte den Arm aus, murmelte den Gruß der Partei und ging weiter.

Sophia setzte den Weg fort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Hoffentlich erfuhr Vati nichts von dem Vorfall!

Wenige Schritte vor der Villa kam der Apotheker von gegenüber heran. Er lupfte den Hut.

„Guten Abend, Fräulein Sophia. Beinahe hätte ich Sie nicht erkannt.“
Sie grüßte auch und deutete zu der Laterne vor sich. „Ist es nicht hell genug?“

Er schien sie zu mustern. „Das schon. Aber Sie sehen aus, als wären Sie gerannt.“

Sie kramte ein Taschentuch heraus, tupfte sich den Schweiß ab und schüttelte den Kopf. „Ich hatte nur eine unerfreuliche Begegnung.“

„Ja, auf die stößt man in letzter Zeit nur allzu oft.“

Mit einem Mal schwang die Haustür auf. Sophia zuckte zusammen. Vati verabschiedete einen Uniformierten mit Handschlag. Schon wieder einen? Offenbar legte der ausnahmsweise keinen Wert auf den üblichen Gruß.

Sophia strich ihren Rock glatt, richtete den Schal und öffnete das Gartentor. Der Uniformierte kam heran, streckte die Hand aus. „Guten Abend, gnädiges Fräulein.“

Nun erkannte sie den Mann. Es war Gauleiter Carsten, der sich zusammen mit dem Kreisleiter in allen bedeutenden Gebäuden der Stadt breitgemacht hatte. Nein, dem wollte sie nicht die Hand reichen.

Da trat Vati neben Carsten. „Das ist meine Tochter, Sophia.“ Er warf ihr einen ernsten Blick zu. „Gauleiter Carsten.“

Sie wischte sich mit dem Taschentuch über ihre Hände. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe schmutzige Hände. Ich habe im Gestrüpp gewühlt und nach Ästchen gesucht – als Zeichenobjekte. Aber leider nichts Brauchbares gefunden.“

Carsten ließ die Hand sinken. „Ach, Sie zeichnen?“

„Ja. Meine Leidenschaft.“

Er lächelte. „Hier scheinen ausschließlich begabte, hübsche Damen zu wohnen. Es freut mich, Sie kennenzulernen, meine Liebe.“

Seine Liebe war sie ganz bestimmt nicht. Sie hob das Gesicht zu ihm hinauf. „Die Damen des Hauses sind auch mit reichlich Verstand gesegnet.“

Er kniff die Augen zusammen. „Ja, ich habe nicht den geringsten Zweifel daran.“ Er schaute von ihr zu Vati und wieder zu ihr zurück. „Wo waren Sie denn um die späte Uhrzeit unterwegs?“

Nun lag es ihr auf der Zunge, zu fragen, was ihn das anging. In dem Augenblick sagte der Apotheker: „Fräulein Sophia war so nett, mich auf meinem Abendspaziergang zu begleiten. Das tut sie häufig, ganz zu meiner Freude.“

Carsten zog die Brauen hoch, nickte aber. „Verstehe. Dann wünsche ich den Herrschaften noch einen angenehmen Abend.“

Sophia gab das Gartentor frei und wandte sich lächelnd an den Apotheker. „Gute Nacht.“

Der tippte sich an den Hut. „Die wünsche ich Ihnen auch.“

Er überquerte die Straße und verschwand in seinem Haus. Soeben hatte sie einen Freund gewonnen.

Vati hielt ihr die Haustür auf, dann schloss er sie leise hinter sich. „Sophia, wo warst du und wie schaust du aus?“

„Das hast du doch gehört. Der Apotheker und ich sind im Park spazieren gegangen.“ Sie machte einen Schmollmund. „Du hattest ja keine Zeit für mich.“

Er hob die Hand. „Es tut mir leid. Morgen werde ich mich freimachen und zu deiner Ausstellung kommen. Versprochen.“

Sophia legte Mantel und Schal ab, gab Vati einen Kuss, dann ging sie in ihr Zimmer hinauf.

 

Wo ließen sich die Papiere nur am besten verstecken? Unter der Matratze? Im Sekretär? Der war im Grunde ein gutes Versteck, denn er besaß ein Geheimfach und das ließ sich absperren. Wie sie aber herausgefunden hatte, besaßen Marias und Katharinas Sekretäre das gleiche Fach und es passte auch jeder der Schlüssel zu jedem der Fächer. Also kam das nicht infrage.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren. Ohne zu überlegen, steckte sie die Papiere unter ihre Bettdecke.

Maria kam herein und setzte sich auf das Bett. Sophia hielt die Luft an, weil sie ein Knistern befürchtete, doch nichts geschah.

Maria strich sich eine Strähne aus der Stirn. „Puh! Bin ich heute müde. Erst die Ausstellung, auf die ich mich natürlich freue, und dann der Gauleiter, dem ich artig die Hand geben musste.“

„Und Katharina?“

„Von der ist er ganz entzückt. Na ja, wie auch immer. Sie ist traurig.“

„Das wird sie noch länger sein. Sie wird sich auch sehnen.“ Sophia seufzte. „Ob das so ein Kaufhaus wert ist?“

Maria zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls muss die Liebe der beiden groß sein, wenn sie das alles füreinander auf sich nehmen.“ Sie schlug die Hände zusammen. „Ist das nicht romantisch?“

Wie ihre Augen strahlten und sich die Wangen rot färbten. Ob sie selbst jemals so entzückend ausschaute? Dennoch fand sie das Verhalten nicht romantisch, wollte aber Maria die Begeisterung nicht nehmen. „Gewiss werden sie arg verliebt sein.“

„Hoffentlich verliebe ich mich auch einmal so sehr.“

Sophia setzte sich zu Maria. „Da bin ich ganz sicher. Eine Auswahl an Männern steht dir ja immer zur Verfügung.“

Maria kicherte. „Nur weil die mich mögen, heißt das nicht, dass mein Herz für sie schlägt. Da muss der Richtige noch kommen.“

„Das wird er.“

Maria ließ nur Schönes in ihre kleine Welt treten und erfreute sich daran. Genau das Leichte in deren Leben liebte Sophia an ihr. Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Mach dir keine Gedanken um den richtigen Mann. Er wird dich schon finden.“

Maria stand vom Bett auf. „Hoffentlich!“ Sie ging zur Tür. „Schaust du noch einmal nach Katharina?“

„Sie kann ja zu mir kommen, wenn sie mag.“

Sophia wartete, bis Maria die Tür schloss, dann fischte sie die Papiere unter der Decke heraus.

Wo würde sie keiner bemerken? Ihr Blick fiel auf die Skizzenmappe. Natürlich! Sie schob die Blätter zwischen den Stapel ihrer Zeichnungen und atmete erleichtert auf, als Katharina anklopfte.

Sophia war nicht gut im Trösten und lenkte Katharina ab, indem sie das Gespräch auf das Kaufhaus brachte. Katharina erzählte von ihrer Sekretärin Sonja, die ihr eine Menge Arbeit abnahm, indem sie den Schreibkram erledigte.

„Schreibt sie alles mit der Hand?“

Katharina winkte ab. „Natürlich nicht. Sie tippt die Unterlagen mit der Schreibmaschine.“

Wenn das nicht die Gelegenheit war! Sie nahm ihren Mut zusammen. „Sag mal, denkst du, dass ich die Maschine auch benutzen könnte?“

Katharina zog eine Braue nach oben. „Was möchtest du denn schreiben?“

Das war eine gute Frage!

Sophia stand auf, trat zu ihren Werken. „Oh, weißt du, ich möchte eine Art Katalog meiner Werke erstellen, erst mal nur so für mich. Den möchte ich aber ordentlich schreiben und du kennst ja meine hässliche Handschrift.“

Katharina gähnte herzhaft. „Ich werde jetzt schlafen gehen.“ Sie umarmte Sophia. „Aber natürlich kannst du die Maschine benutzen. Sonja geht meistens gegen sechs Uhr, oft auch früher, nach Hause. Ich bleibe ja länger im Büro, also kannst du abends gerne deine Texte tippen kommen.“

Sophia schluckte. Was, wenn Katharina mitbekam, was sie da tippte? Aber da würde sie sich eben Gedanken drüber machen, wenn es soweit war.

 

Nachdem Katharina gegangen war, zog Sophia einen der Liedtexte nach dem anderen aus der Mappe heraus. In einem hieß es: Auf, auf, ihr Reichsgenossen, euer König kommt heran. Dazu würde ihr gewiss eine Zeichnung einfallen.

Ein weiterer Text kam Sophia bekannt vor. Aus tiefster Not schrei ich zu dir.

Sie schlug in einem ihrer Bücher nach. Richtig! Das war ein evangelisches Lied. Der Text stammte von Martin Luther. Da unterschied Moltke offenbar nicht so streng die katholische von der evangelischen Kirche. Hauptsache der Inhalt der Texte schreckte auf. Das fand sie gut. Auch sie wollte wachrütteln und ihre Zeichnungen sollten das stützen.

 

Es war bereits spät in der Nacht, als sie mit ihren Entwürfen zufrieden war. Zusammen mit den Liedtexten schob sie sie in die Skizzenmappe. Die nutzlosen zerriss sie in kleine Stücke und warf sie in den Kamin, dessen Flammen bereits erloschen waren. Erst jetzt merkte sie, wie kalt es im Zimmer war und wie klamm sich ihre Finger anfühlten. Sie rieb die Hände aneinander, dann spreizte sie die Finger der linken Hand und ballte sie zu einer Faust. Wüsste Mama, dass sie ausschließlich mit links malte, sie wäre entsetzt. Mit der rechten Hand, der angeblich guten, schrieb sie. Zwar hässlich, aber immerhin leserlich, weil sie dazu angehalten worden war. Aber das Zeichnen und Malen überließ sie ihrer linken Hand. Außer David wusste keiner davon. Es schaute ihr auch niemand dabei zu, nicht weil sie jemals ein Verbot dazu ausgesprochen hätte. Vielmehr interessierte ihre Technik keinen.

 

Am nächsten Tag freute sie sich über die wenigen Besucher ihrer Ausstellung. Jeden einzelnen begleitete sie von Gemälde zu Gemälde und erklärte, wie das Bild entstanden war oder erzählte eine Geschichte dazu. Der eine oder andere zeigte Interesse, die meisten aber lächelten gequält. Sie bekam Kommentare zu hören, wie etwa: „Ganz nett“, „Das Potenzial ist da“ und ähnliche. In den Situationen hätte sie am liebsten ihre Bilder verdeckt und die Besucher hinauskomplimentiert. Doch sie führte sie bis zum Ende, schloss hinter ihnen die Tür und atmete erleichtert auf.

Maria bekam das Verhalten eines solchen Gastes mit. Es war eine Dame in ihrem Alter, die beim Betrachten eines Bildes hektisch blinzelte, dann die Mundwinkel herabzog, schweigend zum nächsten schritt, sich schließlich für die Ausstellung bedankte und den Raum verließ.

Daraufhin legte Maria die Hand auf Sophias Schulter. „Die ist bestimmt traurig, dass sie nicht so gut malen kann.“

„Das glaube ich nicht.“ Sie starrte auf ihre Porträts. „Vielleicht erwarten die meisten andere Motive als Landschaften und Kinderzeichnungen.“

Maria zuckte mit den Schultern. „Das ist doch deren Problem. Ich meine, manche mögen dies und andere das. Du kannst nicht jedem seine Wünsche erfüllen. Mach das, was dir Freude bereitet und steh dahinter, gleich, was andere sagen.“

Dafür umarmte sie Maria. Warum nur ließ sie sich durch die Meinung einiger Besucher so verunsichern? Sie war mit ihren Werken zufrieden und fertig.

Sophia rückte noch das ein oder andere Bild zurecht, als die Tür aufschwang. Vati trat ein. Er begrüßte sie beide mit einem Kuss auf die Wange und drückte Sophia einen Strauß weißer Rosen in die Hand. „Für dich! Und jetzt will ich mir mal die Werke meiner Künstlerin anschauen.“

Alles hatte sie erwartet, nicht aber, dass er sich Tränen aus den Augen wischte, nachdem er die Porträts betrachtet hatte. „Ich bin so stolz auf dich, Mädle.“

Er nahm sie in die Arme und zeigte auf die Porträts. „Wie treffend du euch Kinder gemalt hast. Die Bilder muss Leonore unbedingt sehen!“

In dem Augenblick schwang die Tür erneut auf und der Uniformierte von gestern Abend auf der Straße trat ein. Er streckte den Arm zum Gruß.

Sophias Beine schienen für wenige Augenblicke am Boden festgewachsen. Als aber Vati sie losließ und den Mann begrüßte, kam wieder Leben in sie. Auch sie ging zu dem Uniformierten hin.

„Kann ich Sie durch die Ausstellung führen?“

Er grinste. „Wenn es Ihnen Freude bereitet.“

Vati räusperte sich. „Kennt ihr euch?“

Schweiß trat auf Sophias Stirn.

Der Mann aber zuckte mit den Schultern. „Flüchtig.“

Zwischen Vatis Brauen bildete sich eine Falte. Er musterte Sophia, dann aber wandte er sich zur Tür. „Ich muss los. Auf Wiedersehen.“

Maria ging zu ihm und hielt ihm die Tür auf. „Bis heute Abend.“

Sophia atmete erleichtert auf. Das aber erschien ihr sogleich ungeschickt. „Er ist mein größter Kritiker.“

Der Uniformierte nickte. Dann erzählte sie ihm zu jedem Bild ihre kleinen Geschichten, die sie mittlerweile auswendig kannte. Am Ende grinste er sie an. „Ja, nette Bilder. Leider verstehe ich nichts von Kunst.“

Was hatte sie auch erwartet? Sie zuckte mit den Schultern. „Ja, dann, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“

Er verabschiedete sich und verschwand durch die Tür. Also war er wohl nur gekommen, um zu prüfen, ob sie gestern Abend die Wahrheit gesagt hatte und es wirklich eine Ausstellung gab. Zum Glück war er jetzt verschwunden. Unwillkürlich warf sie einen Blick auf ihre Tasche hinter Marias Stuhl. Dort lag die Zeichenmappe mit den Liedtexten. Sie atmete ein und wieder aus. Ruhig bleiben! Der Kerl war weg!

Maria deutete mit dem Kinn zur Tür. „Wer war denn das?“

„Ein Wichtigtuer.“

„Seit wann hast du Bekannte aus der Partei?“

„Bekannte? Den werde ich hoffentlich nie wiedersehen.“

Maria lachte. „Er hat ja auch nichts gekauft.“

 

Am Nachmittag schneite Margarethe herein, begleitet von der Sängerin, die sie neulich im Kaufhaus getroffen hatten. Ihr Name fiel Sophia nicht gleich ein, doch Margarethe stellte sie einander vor. „Sina Mainberger, das ist die Künstlerin Sophia Wagner.“

Sina reichte ihr die Hand und wandte sich sogleich den Bildern zu. Vor den Porträts schlug sie entzückt die Hände zusammen. „Die würde ich alle kaufen, wenn ich es mir leisten könnte.“

Sophia vermochte sich kaum auf den Inhalt der Worte zu konzentrieren, denn Sina schien selbst beim Reden zu singen. Ihre Stimme klang weich und sie unterstrich ihr Sprechen mit sanften Handbewegungen wie eine Tänzerin auf der Bühne. „Wenigstens eines möchte ich mitnehmen.“ Sie drehte sich zu Sophia um.
Nun war es soweit! Sie musste sich von einem ihrer Werke trennen. Das würde dann in einer fremden Wohnung an der Wand hängen und hoffentlich dem neuen Besitzer Freude bereiten. Etwas stach in ihre Brust. Gleichwie, sie würde das Bild für sich selbst erneut zeichnen.

„Sie will wissen, was du dafür haben möchtest“, flüsterte ihr Margarethe ins Ohr.

Maria stieß sie an. „Du bist gerade dabei, dein erstes Werk zu verkaufen!“ Dann wandte sie sich an Sina und nannte ihr den Preis. Zum Glück hatte Maria die Aufgabe des Verkaufs übernommen. Zahlen waren Sophia ein Gräuel.

Sina kaufte das Bild, auf dem Katharina zwischen ihren Zehen pulte. „Sobald ich wieder etwas Geld gespart habe, werde ich wieder eines mitnehmen.“ Sie strahlte Sophia an. „Ich bin froh, eine Künstlerin zu kennen. Danke schön für das Bild.“

Erst nachdem sie zusammen mit Margarethe gegangen war, horchte Sophia in sich. Ob Sina beim Betrachten des Bildes auch das Loslassen der Gedanken der kleinen Katharina empfinden würde? Und gleichzeitig all die Konzentration auf die Aufgabe des Kindes erkennen konnte? Ein Kind besaß die Fähigkeit, alles um sich herum auszublenden und das durchzuführen, was ihm eben gerade wichtig erschien. Das war die Aussage des Bildes, ganz gleich, wie niedlich Katharina darauf wirkte. Hoffentlich empfand Sina das. Denn die Mühe des Malens lohnte sich nur für die aufsteigenden Gefühle während der Arbeit.

„Sina ist wunderschön“, riss sie Maria aus den Gedanken. „Findest du nicht auch?“

„Ja, das ist sie. Ich möchte sie gerne malen.“

„Du kannst sie über Margarethe erreichen.“ Dann knetete sie ihre Hände. „Es ist vier. Meinst du, dass du die letzte Stunde ohne mich auskommst?“

„Ja, natürlich. Wo willst du hin?“

Maria schlüpfte in ihren Mantel. „Nur ein wenig frische Luft schnappen.“

Ihr war es wohl zu langweilig geworden. Sophia ließ den Blick über die Bilder schweifen und blieb an der kahlen Stelle hängen. Es war unglaublich! Sie hatte es geschafft, eines ihrer Werke zu verkaufen. Unfassbar! Sie strich über die leere Wand, an der Katharinas Porträt gehangen hatte. Welchen Rahmen Sina wohl dafür wählen würde?

Wenn es ihr gelänge, noch mehr Geld zu verdienen, dann könnte sie bei der nächsten Ausstellung womöglich alle Bilder einrahmen. Um wie viel schöner sie dann aussähen – mit Rahmen und herausgeputzt.

Mit einem Mal schwang die Tür auf und Moltke trat ein. Er war wirklich gekommen! Sie hatte vermutet, dass er alles, was mit Kunst zu tun hatte, für verschwendete Zeit hielt.

„Guten Tag“, murmelte er. Dann deutete er in den Raum. „Hier ist also die Ausstellung der Kunstwerke.“

„Ja, das ist meine Ausstellung.“ Sie reckte das Kinn.

„So weit muss man es erst einmal bringen.“ Er lächelte, dann kreuzte er die Hände auf dem Rücken und stellte sich vor das erste Bild neben der Tür.

Sophia trat zu ihm. „Das ist einer meiner liebsten Plätze am Main.“

„Sag bitte nichts zu den Bildern. Ich will sie auf mich wirken lassen – ohne jegliche Geschichte dazu.“

Also ging sie zu dem Stuhl, auf dem Maria gesessen hatte und nahm Platz.

Martin Moltke schlenderte von einem Bild zum anderen, kehrte manches Mal zurück zu dem vorherigen, murmelte etwas, das sie nicht verstand und ließ sich eine Menge Zeit beim Betrachten.

Nachdem er am Ende angekommen war, drehte er sich zu ihr um. „Du hast Talent. Aber du solltest etwas mehr Gesellschaftskritik in deine Gemälde einbringen, so wie du es ja mit den Liedtexten vorhast.“

Was wusste er schon vom Malen! In ihren Bildern steckten Gefühle, natürlich keine Politik.

„Als die Bilder entstanden, lebte ich noch in meiner heilen Welt.“

„Ja, das spüre ich beim Betrachten. Und jetzt ist die Welt durcheinandergeraten?“

„Hätte ich mich sonst bereiterklärt, in deiner Gruppe mitzuwirken?“

Er musterte sie aus schmalen Augen, dann nickte er. „Wie ich sehe, bist du unbeschadet mit den Papieren heimgekommen.“

„Ja, und ich habe auch bereits Entwürfe für die Lieder.“

„Gut. Ich werde sie mir ansehen, wenn sie fertig sind.“ Er schaute zu Boden. „Bring alles morgen mit. Margarethe wird sich um das Vervielfältigen kümmern.“ Dann runzelte er die Stirn. „Ich muss nach Nürnberg.“

Sophia stand vom Stuhl auf. „Du verlässt Würzburg?“ Warum gab ihr das einen Stich in der Brust? Sie kannte ihn doch kaum.

Er kaute auf seiner Wange. „In Nürnberg gibt es Probleme innerhalb der Gruppe. Da halte ich es für nötig, einiges zu regeln. Von dort will ich nach München.“

„Wann wirst du wieder zurückkehren?“

Er nahm ihre Hand. „Ich weiß es nicht. Ich könnte dir schreiben und berichten, was wir bewirken. Ich denke, dass du Margarethe und die anderen gut unterstützen kannst.“

Sie nickte. In ihrem Hals war es gerade so eng, dass sie keinen Ton herausbrachte.

„Hör zu, Sophia!“ Er drückte ihre Hand. „Natürlich ist es zu gefährlich, wenn du Briefe von mir erhältst. Deswegen werde ich unter dem Namen Martina Stern schreiben. Und bestimmt finde ich auch verwobene Sätze, um eben für Fremde alles im Unklaren zu lassen.“

Sie räusperte sich, tauchte dann in seine Augen. „Ja, lass es uns so machen.“

Er hielt ihren Blick fest, küsste ihr die Hand und ließ sie los. „Ich hasse lange Abschiede. Leb wohl!“

Er wartete keine Antwort ab. Stattdessen schien er nicht schnell genug den Raum verlassen zu können.

Sophia sank zurück auf den Stuhl. Was bildete sich Martin ein! Er hasste lange Abschiede. Ja, dann nichts wie weg. Vielleicht hätte sie aber gerne mehr über seine Aufgabe in Nürnberg und München erfahren? Oder auch darüber, wie es hier ohne ihn weiterging? Aber nein, er riet ihr, gesellschaftskritischer zu malen, er musste weg, er hasste ... Ständig ging es um ihn! Sie sprang wieder vom Stuhl auf, ballte die Fäuste, dann sammelten sich Tränen in ihren Augen. Sie würde seine Reaktion auf ihre Entwürfe nicht einmal mitbekommen. Dabei fand sie sie gelungen. Sie trat gegen den Stuhl, dass er kippte. Wenn Mama das sehen könnte! Sie würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Mit einem Mal fühlte sie sich müde. Sie warf einen Blick auf die Porträts. Gesellschaftskritik! Aber eine Familie weckte auch unterschiedliche Gefühle. Wusste Martin das nicht? Dann sollte er die Porträts genauer betrachten. Da war die hübsche Maria auf einem der Bilder, wie sie alleine durch ihr Lächeln jeden um den Finger wickelte. Die bildhübsche Maria! Oder sie selbst, wie sie trotzig in die Linse des Apparates starrte, weil sie ihr Kleidchen Katharinas hatte anpassen müssen, obwohl sie ein anderes vorgezogen hätte. Aber Mama ließ sich allenfalls von Maria um den Finger wickeln. Ansonsten bestimmte sie, auch wenn sie andere verärgerte, ohne es zu merken. Möglich auch, dass es ihr egal war, solange es nicht ihre zwei Augensterne waren.

Ach, nun verfiel sie wieder in die alte Litanei, nur weil sie sich ärgerte. Im Grunde war ja nichts passiert. Martin verreiste, würde aber auch zurückkehren. Bis dahin mussten das Leben und der Widerstand vorangetrieben werden. Also! Sie sperrte ab und schlug den Weg zum Kaufhaus ein.

Der milde, drückende Abend verhieß Regen. Das Wetter hasste sie. Ihr war, als kämpfte der Wind gegen den Regen an und sie befände sich mitten auf dem Schlachtfeld. Ihre Haut kribbelte am ganzen Körper, selbst auf dem Kopf und das machte sie nervös.

 

Am Barbarossaplatz traf sie auf Margarethe. „Ich habe mich gerade von Sina verabschiedet.“

Sophia dachte kurz daran, sie wegen eines Porträts von Sina zu fragen, verwarf den Einfall aber wieder. Nach dem Schreiben der Texte war noch Zeit dafür.

Margarethe lächelte. „So in Gedanken?“

„Das Wetter ist furchtbar.“

„Ja, es ist mild geworden.“ Sie fixierte Sophias Blick. „Ich muss dir etwas sagen.“ Sie schien zu zögern. „Diese Parteimitglieder sind so unverschämt. Einer von ihnen hat die Wand des Kaufhauses beschmiert.“

„Was?“

„Er hat Judenbraut darauf geschrieben, mit roter Farbe. Der Hausmeister hat es zwar weggewischt, aber Katharina hat es noch gelesen. Leider.“

„Was? Das ... denen gehört endlich ein Riegel vorgeschoben, diesen ...“

Margarethe stoppte sie. „Nicht so laut!“

„Im Gegenteil! Jetzt müssen wir den Mund aufmachen!“

Margarethe legte die Hand auf ihren Arm. „Ja, aber nicht, indem wir unsere Wut hinausschreien und dafür den Mund verboten bekommen.“

„Du hast recht. Ein schreiender Mund nützt nichts.“

3

Sophia klopfte an Katharinas Bürotür und trat ein. Kühle schlug ihr entgegen, aber Katharina schloss gerade das Fenster und begrüßte sie. „Ich brauchte frische Luft.“

Sie drehte sich lächelnd zu ihr um. Dunkle Ringe unter den Augen hoben sich stark von ihrem blassen Teint ab. Kein Wunder bei dem, was sie momentan durchmachte.

„Schön, dass du vorbeischaust.“
Sophia umarmte sie.

Katharina rückte ihr den Stuhl vor dem Schreibtisch zurecht. „Setz dich doch. Sonja hat in ihrem Büro eine Kanne Tee stehen. Bin gleich wieder da.“

Auf dem Schreibtisch lag eine aufgeschlagene Mappe, auf der sich Zahlen in Spalten reihten. Schon bei deren Anblick wurde es Sophia schwindelig. Durch solche Tabellen kämpfte sich Katharina also durch. Die Arme!

Katharina trug ein Tablett herein, auf dem sie eine Thermoskanne und zwei Tassen balancierte. Sie stellte es auf dem Schreibtisch ab und füllte die Tassen.

Sophia sog den Duft ein. „Hagebuttentee?“

„Ja, es ist Sonjas liebste Sorte.“

Sophia nippte am Tee, doch er war noch zu heiß. „Ich werde die Tasse mit hinübernehmen.“
Katharina schaute sie fragend an.

„Du hast es vergessen.“ Sophia kramte ihre Skizzenmappe aus der riesigen Umhängetasche. „Ich will doch Texte auf Sonjas Schreibmaschine tippen.“

„Ach, stimmt ja. Entschuldige, da habe ich nicht mehr dran gedacht.“ Sie stand auf. „Komm, ich zeige dir, wie du die Maschine bedienst.“

„Warte!“ Wie sollte sie das Thema ansprechen? „Stimmt es, dass du wegen Joseph Weiß belästigt wirst?“

Katharina setzte sich wieder. „Hat der Hausmeister geplappert?“

„Nein.“

„Es spielt ja auch keine Rolle, woher du es erfahren hast. Sag Mutter nichts davon, sie sorgt sich sonst nur.“
„Ich sorge mich auch.“

Katharina winkte ab. „Nichts als dumme Sprüche.“

„Da versucht jemand, dir Angst einzujagen, so wie es die Partei halt gerne macht. Dabei ist es keine Schande, die Braut eines Juden zu sein.“

„Deswegen gebe ich nichts darauf.“

„Trotzdem schikaniert dich die Partei.“

„Einer von ihnen, nicht alle. Denk an Vater!“

Als könnte sie ihn vergessen!

Katharina lachte. „Du solltest dich jetzt sehen. Als ob du gleich jemandem an die Gurgel willst.“ Sie stand wieder auf. „Komm mit in Sonjas Büro.“

Als sie die Tür öffnete, stand ein blonder Mann davor. Er ließ die zur Faust geformte Hand fallen. „Nun geht Ihre Tür schon automatisch auf, Fräulein Wagner, sobald ich zu Ihnen möchte.“

Katharina lachte. „Ihr starker Wille öffnet Ihnen eben alle Türen.“

Er reichte ihr Unterlagen. „Das sind die Zahlen des letzten halben Jahres.“

Katharina nahm sie ihm ab. „Herr Schmidt, die hätten doch Zeit bis morgen gehabt. Was tun Sie denn noch hier?“

Er rieb sich die Augen. „Ich wollte Ihnen einen raschen Überblick verschaffen. Auf dem obersten Blatt finden Sie ...“

„Lieben Dank. Ich werde mich schon zurechtfinden.“

Katharina ging zurück zum Schreibtisch, legte die Mappe ab und drehte sich zu ihrem Mitarbeiter um. „So, und nun ab nach Hause mit Ihnen!“

In dem Augenblick strahlte sie etwas aus, das Sophia nicht gleich zu fassen bekam. Katharina wirkte mit einem Mal, als füllte sie den Raum aus, wie Mama, wenn sie der Köchin ihre Wünsche kundtat.

Schmidt hob die Hand zum Gruß. „Einen schönen Abend, die Damen.“ Er ging wenige Schritte, drehte sich noch einmal um und lächelte, dann verschwand er hinter einer Tür.

Katharina fasste nach Sophias Hand. „Komm, sonst wird es heute wirklich sehr spät.“

 

Sonja Hochrheins Büro ähnelte Katharinas, es war nur etwas kleiner und hatte keinen Besucherstuhl vor dem Schreibtisch. Auf dem thronte in der Mitte die Schreibmaschine, daneben lagen Unterlagen in einem Korb. Ansonsten war er leer.

Katharina legte ein Blatt Papier in die schwarze Maschine, die es aufrollte. Dann tippte sie auf die Tasten und auf dem Papier erschien der Text: „Sophias Katalog.“

Sie lächelte. „Wirst du zurechtkommen?“

„Ja, natürlich.“

„Gut, dann lasse ich dich alleine.“ Sie schaute auf die Uhr. „Ich werde noch eine Stunde brauchen, so lange kannst du hier arbeiten. Dann gehen wir zusammen heim, ja?“

„Ja, danke.“

 

Sophia klappte die Mappe auf und nahm den ersten Liedtext heraus. Sie legte sich noch einen handgeschriebenen Zettel mit den Titeln ihrer Gemälde griffbereit. Dann zog sie das beschriebene Blatt aus der Maschine und legte mit dem Text los. Sie tippte die Strophen ab und ließ am rechten Rand genügend Platz für ihre geplanten Zeichnungen. Als sie beinahe mit allen drei Seiten fertig war, steckte Katharina den Kopf zum Türspalt herein.

Sophia zuckte zusammen. „Hast du mich erschreckt!“

Ihr Herz schlug bis zum Hals. Zöge sie jetzt das Blatt heraus, dann wäre das zu auffällig. Wenn aber Katharina eintrat und darauf schaute, dann würde sie Fragen stellen. Was sollte sie tun?

„Entschuldige bitte.“ Katharina nickte. „Ich kenne das. Wenn man konzentriert arbeitet und vertieft in die Sache ist, dann erschrickt man beim leisesten Geräusch. Brauchst du noch lange?“

„Nein, ich bin so gut wie fertig.“

Hoffentlich ging sie zurück in ihr Büro. Sophia schob den handgeschriebenen Liedtext unter das Blatt mit den Titeln. Doch sein Zwilling in der Maschine ließ sich nicht verdecken.

Katharina nickte. „Prima. Es ist zwar erst eine halbe Stunde um, aber ich mag nicht mehr. Schreib du in Ruhe alles fertig, ich räume drüben rasch auf.“

„Ja, das mache ich. Ich bringe dann hier alles in Ordnung.“

Katharina war schon hinausgegangen, steckte aber den Kopf wieder herein.

Sie schien den Raum zu mustern. „Was willst du in Ordnung bringen?“

„Oh, nur meine Sachen.“

„Ja, natürlich wirst du die mitnehmen.“ Sie zog eine Braue hoch.

Sophia schluckte. Sie redete Unsinn, wie immer, wenn sie sich aufregte. „Ich tippe das schnell fertig.“

„Prima. Bis gleich.“ Katharina schloss die Tür.

Sophia atmete auf. Ihre Hände aber zitterten. Wie sollte sie so das Lied zu Ende schreiben? Sie schloss die Augen, atmete ruhig ein und aus. Dann schaute sie auf den Text, tippte die letzten Wörter und zog das Blatt heraus. Endlich fertig.

 

Im Rennweg waren sie so in ein Gespräch über Sophias ersten Ausstellungstag vertieft, dass sie nicht auf ihren Weg achteten. So übersah Sophia einen alten Mann, der aus dem Park trat, und stieß mit ihm zusammen. Sie entschuldigte sich und fasste in die Tasche. Die Mappe war weg!

Derweil stellte Katharina sie einander vor. Der Mann hieß Jakob und war ein Freund von Joseph Weiß. Die beiden unterhielten sich, aber Sophia schaute sich hektisch um.

Die Mappe war beim Zusammenstoß herausgerutscht und lag am Boden. Himmel! Zum Glück hatte sie die Deckel zusammengebunden, sodass die Blätter kaum verrutscht waren. Sophia bückte sich, da fasste eine Männerhand danach. Als sie aufsah, grinste ihr ein Uniformierter zu, neben ihm stand mit herausgereckter Brust Kreisleiter Müller.

Sophias Magen krampfte. Jetzt bloß keine Angst zeigen!

Sie streckte die Hand nach der Mappe aus. „Danke.“

Der Uniformierte behielt sie in der Hand. „Wichtige Unterlagen bewahrt man so auf, dass sie nicht auf der Straße herumliegen.“ Er schaute zu Müller und grinste.

Sophia nickte. „Wie recht Sie doch haben. Aber auch die Kochrezepte einer jungen Frau haben auf der Straße nichts zu suchen.“

Der Uniformierte starrte die Mappe an, als enthielte sie eine ansteckende Krankheit. Er reichte sie Sophia, die sie sofort zurück in die Tasche steckte.

Müller schien das alles nicht zu interessieren. Er starrte den alten Mann aus schmalen Augen an. Dann wandte er sich an Sophia. „Sie sind mit dem Mann hier zusammengestoßen, nicht? Mit solchen Typen rempeln wir auch oft aneinander.“

Müllers Begleiter lachte übertrieben laut.

Katharina schob die Brauen zusammen. „Sie rempeln alte Männer an, Herr Kreisleiter? Finden Sie nichts Ebenbürtiges?“

Müller fuhr zu ihr herum, als hätte sie ihn geohrfeigt. „Ihr Heimweg, Fräulein Wagner, zieht sich wohl, wenn Sie sich mit jedem unterhalten.“

Katharina grinste. „Sind Sie auch auf dem Heimweg? Dann wollen wir Sie nicht aufhalten.“

Sophia riss die Augen auf. Katharina nahm kein Blatt vor den Mund. So musste sie künftig auch auftreten. Noch aber war ihr Magen verknotet.

Müller schnaubte. „Ja, aber ich unterhalte mich halt nicht mit jedem dabei.“

In Sophia kochte es hoch. Sie machte schon den Mund zum Sprechen auf, da zischte Katharina: „Meine Gesprächspartner suche ich mir schon selbst aus, Herr Kreisleiter.“

Er musterte sie von oben bis unten. „Sie sollten in Ihrer Wahl vorsichtiger sein. Nicht jeder ist der richtige Umgang für Sie.“

„Da haben Sie vollkommen recht!“ Katharina gab Jakob die Hand. „Kommen Sie gut nach Hause.“

Sie schaute ihm kurz nach, wie er den Rennweg hinunterging. Dann hakte sie Sophia unter. „Komm, lass uns heimgehen, bevor die Parteimitglieder sich um uns sorgen.“ Sie kehrten Müller den Rücken zu. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rief sie: „Auf Wiedersehen, Herr Kreisleiter.“

Müller brüllte den üblichen Gruß.

Sophia rannte beinahe den Weg hinauf. Schweiß rann ihr den Rücken hinab. Ihr war, als trüge sie Diebesgut bei sich und sei gerade so der Kontrolle entkommen. Nach wenigen Schritten hielt Katharina sie an. „Du keuchst ja schon. Es gibt keinen Grund, so zu hetzen.“

Also versuchte Sophia ruhig zu atmen und langsamer zu gehen. „Müller hat mich aufgeregt.“

„Er ist ein Ekel und ein hochnäsiges dazu, aber wir brauchen wirklich nicht vor ihm davonzurennen. Warum auch?“

„Ja gut.“ Sophia drückte die Tasche an sich, zog aber gleich die Hand wieder weg. Wenn Katharina wüsste, was sie mit sich trug und dass sie sie angelogen hatte. Die Entwürfe lagen ja auch in der Mappe! Mit denen brachte sie nicht nur sich in Gefahr, sondern auch die ganze Familie. In ihrem Hals wurde es eng. Sie war nicht einmal in der Lage zu schlucken. War es das alles wert?

Katharina legte den Arm um sie. „Na komm! Beruhige dich.“

Nach wenigen Schritten hielt Katharina sie plötzlich zurück. „Welche Kochrezepte trägst du bei dir?“

Sophia winkte ab. „Ach, ich wollte denen nichts über meine Bilder sagen.“

Damit schien sich Katharina zufriedenzugeben. Dennoch hatte sie sie eben angelogen. War der Widerstand das wert? Sie wollte ihre Familie nicht gefährden. Aber wie schaute die Alternative aus? Nichts tun und sich vor der NSDAP ducken? Nein, dann könnte sie nicht mehr in den Spiegel schauen.

„Immer noch zornig?“ Katharina lächelte sie an.

„Auf Müller schon.“ Sie blieb stehen. „Wer ist Jakob?“

„Sagte ich dir doch. Ein Freund von Joseph.“

„Ein Jude?“

Katharina ließ den Arm von ihren Schultern fallen. „Spielt das eine Rolle?“

„Hast du keine Angst, dass Müller ihn dein Verhalten spüren lassen wird?“

„Aber ...“

„David bekam einen Stein an den Kopf, nur weil er Jude ist.“

Katharina drehte sich auf dem Absatz um. „Ich werde gleich nach ihm schauen.“

Sophia hielt sie zurück. „Nur um Müller in die Arme zu laufen? Geh besser morgen früh zu ihm, natürlich unauffällig.“

„Gut, wenn du meinst.“ Sie strich sich über die Stirn. „Und keine Sorge, ich bin mittlerweile gut im Anschleichen.“

Sophia nickte, hakte Katharina unter und ging weiter. In welchen Zeiten lebten sie nur! Sie schwitzte aus Angst vor einer Entdeckung von kirchlichen Liedtexten und natürlich der Entwürfe. Katharina hingegen war gezwungen, auf Umwegen zu einem Freund zu schleichen. Das war ein derartiger Irrsinn! Und alles nur aus Furcht vor einer Strafe, die sich eine Partei ausdachte, bestehend aus Menschen, die andere unter Druck setzten und quälten, einzig um ihre Macht zu beweisen und ihren Willen durchzusetzen. Warum war das möglich? Weil die Mitglieder grausam waren und ihre Macht auf diese Weise demonstrieren wollten.

Nein, Vati gehörte auch zu ihnen und der war nicht so. Warum dann? Weil die anderen es sich gefallen ließen! Also war es an der Zeit, sich zu wehren. Und das musste in alle Köpfe hinein. Sie fasste an ihre Tasche. Zusammen mit Margarethe, Moltke und den anderen würde sie allen die Augen öffnen. Es war richtig, was sie vorhatte, absolut richtig.

„Gesprächig bist du heute nicht.“ Katharina blieb stehen. Sie waren am Gartentor der Villa angekommen.

Sophia hielt das Tor auf. „Du auch nicht.“

„Ich sorge mich um Jakob.“

David öffnete die Haustür. „Guten Abend, gnädige Fräulein.“ Er nahm ihnen die Mäntel ab. Sophia dankte ihm, dann wandte sie sich an Katharina. „Du möchtest lieber jetzt noch zu Jakob, stimmt`s?“

„Ich mache mir halt Sorgen.“

David räusperte sich. „Jakob Schneider?“

Katharina nickte. „Wir wissen nicht, ob Kreisleiter Müller ihn im Visier hat.“

David zog die Brauen zusammen. „Er ist auch ein Freund von mir. Wenn Sie erlauben, werde ich noch einen Abendspaziergang machen und nach ihm sehen.“

Katharina legte ihm die Hand auf den Arm. „Aber nicht alleine. Ich gehe mit.“

Er schüttelte den Kopf. „Das ist kein guter Einfall. Armin wird mich begleiten.“

Sophia klemmte sich die Tasche unter den Arm. „Dann fahrt doch gleich mit dem Automobil.“

David schüttelte den Kopf. „Das steht mir nicht zu.“

„Unsinn!“ Katharina fackelte nicht lange. Sie rief Armin herbei, bat ihn, David zu Jakob zu fahren und bedankte sich für seine Mühe.

 

Sophia verstaute die Mappe in ihrem Zimmer. Hoffentlich ging es Jakob gut.

Sie setzte sich auf das Bett. Am besten war es, das Abendessen abzuwarten und danach mit den Zeichnungen loszulegen. Schade nur, dass Moltke sie nicht zu sehen bekam. Sie warf einen Blick auf die Staffelei. Auf dem Gemälde hatte sie ihn inmitten einer öden Landschaft gezeichnet, so wie sie seine Grundstimmung empfunden hatte.

Ob er sie mochte? Er war zu ihrer Ausstellung gekommen, hatte ihr Talent erkannt, ihr empfohlen, Gesellschaftskritik in ihren Bildern zum Ausdruck zu bringen. Ob ihm die Trostlosigkeit auf dem aktuellen Bild gefiele? In jedem Fall würde sie seine Meinung zu ihren Zeichnungen auf den Textblättern erfahren. Fragte sich nur wann.

Noch vor dem Abendessen kehrten David und Armin zurück. Katharina platzte in Sophias Zimmer herein.

„Es geht Jakob gut. Morgen früh will ich noch mal nach ihm schauen.“

Sophia fiel ein ganzer Fels vom Herzen. Nun würde sie die nötige Ruhe für die Zeichnungen finden.

Den restlichen Abend übertrug sie ihre Entwürfe auf die Liedblätter.

Sie fand in der Nacht kaum Schlaf und nickte am nächsten Tag in der Ausstellung beinahe ein. Als es fünf Uhr schlug, machte sie sich mit den fertigen Liedtexten auf den Weg zum Wollgeschäft in der Hofstraße.

 

„Das ist großartig.“ Margarethe gab die Texte mitsamt den Bildern an Karl weiter.

Der wiegte den Kopf hin und her. „Meint ihr nicht, dass die zu provokant sind?“

Sophia nahm ihm die Blätter ab. Natürlich provozierten die Zeichnungen, aber das war ja auch der Plan. Sie las den Titel des Liedes erneut: Auf, auf, ihr Reichsgenossen, euer König kommt heran. Daneben ritt Jesus auf einem Esel und reichte David die Hand. Die Szene spielte vor Würzburgs Ortsschild, hinter dem Bauern und Kaufleute, mit Stöcken bewaffnet, Goliath aus der Stadt jagten. Der wiederum trug auf den Schultern Totenköpfe.

Sie schaute Karl in die Augen. „Das möchte ich gerne so lassen.“

Margarethe nahm es ihr ab. „Mir gefällt das auch sehr gut. Ich bin sicher, dass es auch Martin zusagen wird.“

„Ja, hoffentlich.“ Sophia betrachtete das nächste Bild.

„Und das zweite finde ich auch gut.“ Sie grinste über das Wesen im langen Mantel mit Kapuze, das in der Hand eine Sichel trug. Sie reichte es Margarethe.

„Ähnelt der Sensenmann hier nur zufällig dem Kreisleiter?“

Sophia lachte. „Natürlich.“

„Ist das die Anspielung?“

Sophia schüttelte den Kopf. „Schau genau hin.“

Margarethe starrte auf die Zeichnung, dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Jetzt seh ich den Ohrring. Es ist ein Hakenkreuz.“ Sie nickte anerkennend. „Und das Gute daran ist, dass es Karikaturen sind. So kommt keiner auf dich als Schöpferin.“

„Hoffentlich.“

Karl rieb sich das Kinn. „Ich weiß nicht recht. Bis jetzt haben wir nichts Verbotenes getan.“

Nun reichte es ihr mit dem Bedenkenträger. „Wie sollen wir uns sonst wehren? Die Partei tut doch auch, was sie will!“

Karl seufzte. „Ja, aber wenn sie uns die Gruppe verbieten, dann haben wir auch nichts davon.“

„Dazu müssen sie uns erst einmal auf die Schliche kommen.“ Margarethe grinste.

Karl wandte sich an Sophia. „Und wenn sie dich in deinen Zeichnungen erkennen?“

Margarethe schüttelte den Kopf. „Wir leben in einer Universitätsstadt, in der es vor Künstlern wimmelt.“

Sophia fixierte Karls Blick. „Wenn wir die Menschen jetzt nicht aufwecken und ihnen klarmachen, was die Partei ihnen antut, dann ist es bald zu spät dafür.“

Karl schüttelte den Kopf. „Ich trage Verantwortung für die Kinder in meiner Pfadfindergruppe. Ich kann und will sie nicht in Gefahr bringen.“ Er zeigte auf die Blätter. „Das tue ich aber damit.“

Margarethe starrte ihn an. „Warum? Was haben unsere Texte mit den Kindern zu tun?“

Karls Gesicht färbte sich rot. „Ich halte das halt für zu gefährlich.“ Er schaute auf seine Schuhspitzen.

„Na gut.“ Margarethe wandte sich an ihn. „Lasst es uns so machen: Wir stimmen erst bei der Versammlung übermorgen über die Zeichnungen ab. Ich werde in der Zwischenzeit versuchen, Martin zu erreichen und ihm verschlüsselt eine Beschreibung der Zeichnungen zukommen zu lassen.“ Sie legte eine Hand auf Karls Arm. „Einverstanden?“

Er zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen.“

In Sophia kochte es hoch. Sie hatte sich zu den Liedern Gedanken gemacht, sich Mühe mit den Karikaturen gegeben, die so gar nicht ihr Stil waren, und nun kam wieder ein Zauderer daher und meldete Bedenken an. Sie schaute zu Margarethe.

Die ließ die Schultern hängen. „Tut mir leid, aber hier dürfen alle ihre Meinung sagen.“

Sophia nickte. „Gut, dann gehe ich jetzt.“

„Warte.“ Margarethe legte die Blätter auf den Tisch. Sie wandte sich an die Besitzerin des Ladens. „Kümmerst du dich darum?“ Dann hakte sie sich bei Sophia unter. „Ich komme mit.“

Margarethe begleitete sie bis zum Residenztor. Sie erzählte ihr, dass sich übermorgen alle Mitwirkenden der Gruppe im Wollgeschäft träfen. „Du kommst doch auch?“

„Ja, natürlich.“

„Ärgere dich nicht, noch ist nichts entschieden.“

Sophia blieb stehen. „Es genügt doch nicht, nur zu singen und zu beten. Die Menschen müssen aufwachen und erkennen, was mit ihnen geschieht, solange noch Zeit ist.“

„Sei so gut und schreib deine Gedanken auf.“

„Was?“

„Und halte so was wie eine Rede beim nächsten Treffen.“

„Ich? Das kann ich nicht.“

Margarethe lächelte. „Warum nicht?“

Sophia seufzte. „Sobald ich vor mehreren Leuten sprechen muss, fange ich an zu zittern.“

Margarethe schaute nach oben, dann legte sie den Kopf schief. „Natürlich könnte ich deine Rede vortragen, aber das ist nicht dasselbe. Bei dir spüre ich das Feuer.“

Sophia schwitzte. Offenbar reichte es, wenn sie sich nur vorstellte, vor anderen ihre Gedanken zu äußern. Sie hatte sich auf dem richtigen Weg geglaubt und nun zerrann ihr Einfall zwischen den Fingern, es sei denn, sie würde die anderen überzeugen. Sie seufzte. Wenn es aber der Sache diente, würde sie sich überwinden.

„Gut, ich mache es.“

„Das freut mich.“

 

Sophia schaute gerade ihrer Freundin nach, als Katharina aus einer Seitengasse herankam. Sie beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich war noch einmal bei Jakob. Es geht ihm gut, aber ich fürchte, dass er hier in der Stadt nicht mehr sicher ist.“

„Er braucht Schutz vor diesen ...“

„Psst!“ Katharina deutete mit dem Kinn zur Residenz. Wie immer standen die Besatzer dort Posten.

Es brodelte in Sophia. „Wir dürfen unsere Meinung nicht mehr laut sagen. Menschen werden gegängelt und gezwungen, das Land zu verlassen. Und alle anderen ducken sich.“

„Sei still!“ Katharina zog sie mit sich den Rennweg hinauf. „Es nützt keinem etwas, wenn ...“

„Ich habe leise mit dir gesprochen.“

„Na gut, aber reg dich bitte zu Hause über alles auf und nicht hier auf der Straße.“

Es war sinnlos. Keiner verstand sie. Dabei dachte Katharina doch wie sie, nur hemmte sie ihr gesellschaftliches Ansehen, oder hatte sie tatsächlich Angst vor der Partei? Wohl eher nicht, sonst wäre sie mit Müller nicht so umgesprungen.

Sie gelangten in die Ludendorffstraße. Katharina stieß sie leicht an. „Bist du beleidigt?“

„Nein.“

„Du denkst, ich wäre feige?“

„Auch das nicht.“

„Es hilft nichts, gegen einen Schwarm Wespen um sich zu schlagen. Besser ist es, sie mit einem Köder abzulenken.“

„Dazu muss man erst einmal erkennen, dass die Wespen Gefahr bedeuten.“

Katharina nickte. „Das ja.“

„Aber genau das ist eben Vielen unklar, sonst würden sie dagegen ankämpfen.“

Katharina gähnte herzhaft. „Entschuldige. Es war ein langer Tag. Vielleicht mag sich nicht jeder einmischen oder er handelt nach dem Motto: Augen zu und durch.“

So wie alle hingenommen hatten, dass Blumenthal vertrieben, David mit einem Stein beworfen und eine Betende angepöbelt wurde. Josephs Familie war gezwungen zu flüchten. Die wichtigen Gebäude der Stadt wurden besetzt und die Macht von den Rüpeln an sich gerissen. Was musste noch geschehen?

 

David öffnete ihnen die Tür. „Guten Abend, gnädige Fräulein.“ Er wirkte niedergeschlagen. Katharina schien es nicht zu bemerken, Sophia aber schon.

„Was ist passiert?“

David schüttelte den Kopf. „Nichts. Es ist alles wie immer.“

Sophia musterte ihn, doch er rückte nicht mit der Sprache heraus.

„Ist Vati im kleinen Zimmer?“

„Er ist noch bei der gnädigen Frau.“

Dann würde sie ihn später dazu befragen.

 

In ihrem Zimmer legte Sophia sich aufs Bett und starrte an die Decke. Eine Rede sollte sie also halten. Vermutlich würde die so viel Sinn haben wie ihre Zeichnungen, nämlich keine! Wozu gab sie sich Mühe, wenn alles von Bedenkenträgern weggewischt wurde?

Sie drehte sich zur Seite. War sie ehrlich, hatte sie Angst, vor mehreren Menschen etwas vorzutragen. Denn es erschien ihr doch nicht alles sinnlos. Gut, es musste über ihre Zeichnungen abgestimmt werden, aber sie waren noch nicht vom Tisch. Vielleicht konnte sie mit einer Rede auch etwas bewirken und die anderen von einem stärkeren Handeln überzeugen. Margarethe hatte in ihren Worten Feuer gespürt. Hoffentlich behauptete sie das nicht nur zum Trost wegen Karls Ablehnung. Gleichwie, sie musste es versuchen.

Sie stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Es half ihr stets, wenn sie sich beim Denken bewegte. Die Rede musste kurz ausfallen, ansonsten geriete sie ins Stammeln. Wo sollte sie anfangen? Auf keinen Fall bei den Schikanen der Partei. Schließlich kannte die jeder von ihnen und alle lehnten sie wohl auch ab. Also?

David klopfte an. Vati bat sie um ein Gespräch.

 

Die Tür des kleinen Zimmers stand offen und Sophia trat ein. „Was gibt es so Dringendes?“

Vati setzte sich an den Tisch und deutete auf den Platz gegenüber. Er fasste nach seinem Cognacschwenker und drehte ihn in der Hand. In der kupferfarbenen Flüssigkeit blitzten im Schein der Lampe goldene Sprenkel auf. Die Farben mochte Sophia auf eine Leinwand streichen. Sie lachte innerlich. Ob sie wohl mit Cognac malen konnte?

„Was erheitert dich?“ Vati trank einen Schluck.

Sie winkte ab. „Nichts Wichtiges.“

Er schaute ihr direkt in die Augen. „Dein Name fiel heute bei einer Besprechung.“

„Wirklich? Interessiert sich das Bauamt für mich?“

„Red keinen Unsinn! Ich meine eine Besprechung der Partei.“

„Was habe ich mit diesen ...“

„Stopp! Ich will keinen Vortrag hören. Es hieß, dass du zu später Stunde unterwegs warst.“ Er seufzte. „Das ist ja nicht weiter tragisch.“

Sie stand auf. „Ich lasse mir von deiner Partei nicht vorschreiben, wann ich spazieren gehen darf und wann nicht. Als Nächstes bekomme ich noch vorgeschrieben, wann es mir erlaubt ist zu malen und zu essen.“

Vati schaute auf den Boden.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Wenn du es genau wissen willst: Ich war in der Galerie. Du hattest ja keine Zeit für mich, nur für deine Parteimitglieder.“

„Ich bin doch zur Ausstellung gekommen.“

„Ja, aber nicht an dem Abend.“ Sie machte einen Schmollmund. „Mich hat einer deiner neuen Freunde auf dem Heimweg nach meinem Namen gefragt. Einer, der gerade von dir weggegangen war. Ist das nicht verrückt?“

Vati stand auf. Er wich ihrem Blick aus. Beinahe schon tat er ihr leid, aber sie wollte ihm zeigen, dass er sich die falschen Freunde ausgesucht hatte.

„Es tut mir leid, mein Kind. Dennoch wäre ich froh, wenn nicht ständig eine meiner Töchter den Parteimitgliedern in die Arme laufen würde.“
„Oh, keine Sorge. Ich werde mich nicht in die Arme von einem dieser Rüpel werfen.“ Sie verließ das Zimmer.

 

Auch am nächsten Tag fand Sophia keinen Einstieg in die Rede. Zu viele Einfälle drängten sich ihr auf. Der Hass gegen die jüdische Bevölkerung, die Schikanen, die Besetzung aller wichtigen Gebäude ... am besten, sie nahm den Hass als Aufhänger. Oder?

Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl in der Galerie, als Sina Mainberger hereinkam. Sie trug ihr Haar in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten gebunden. Im Herankommen knöpfte sie ihren schlichten beigen Mantel auf. Darunter kam ein braunes Kleid zum Vorschein. Vermutlich wirkte sie selbst in Sack und Leinen wie eine Tänzerin.

„Sie werden es nicht glauben, aber mich hat es wieder hierhergezogen.“

Sie reichte Sophia die Hand.

Sophia stand vom Stuhl auf. „Ich freue mich über Ihren Besuch.“

Sina strahlte. „Ich muss mir einfach die Bilder noch einmal anschauen.“

Sie ging von einem zum anderen. „Besonders die Kinderporträts mag ich so.“ Mit Schwung drehte sie sich zu Sophia um. „Irgendwann möchte ich selbst Kinder haben. Am liebsten zwei Mädchen.“

Die würden vermutlich genau solche Schönheiten werden wie ihre Mutter.

Sina schaute sie fragend an. „Wünschen Sie sich auch Kinder?“

„Ich weiß nicht. Momentan auf keinen Fall.“

Sina riss die Augen auf. „Warum nicht?“

„Nicht in diesen Zeiten.“

„Verstehe.“ Sinas Gesicht verdüsterte sich, dann aber lächelte sie wieder. „Wann machen Sie hier Schluss?“

Sophia warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, doch Sina hielt plötzlich ihre Hand darüber. „Nicht nach der Uhrzeit. Machen Sie dann Schluss, wenn Sie es für richtig halten.“ Sie nahm ihre Hand wieder weg. „Sobald Sie hier schließen, werden wir zwei irgendwo einen Kaffee trinken gehen. Wie hört sich das an?“

Sophia zog ihren Mantel an, griff sich die Handtasche und verließ zusammen mit Sina die Oberrealschule.

 

Sie landeten in einem Café in der Münzstraße. Süßer Kuchenduft, verwoben mit dem nach Kaffee und Zigarettenrauch, schlug ihnen entgegen. Wenige Leuchten warfen ihren Schein auf hochlehnige schwarzgestrichene Stühle und Tische. Eine Gruppe junger Leute lungerte in einer der Ecken herum, sie rauchten und lachten gerade laut.

„Studenten aus der Universität“, flüsterte Sina.

Sie steuerte einen Tisch in der gegenüberliegenden Ecke der Gruppe an.

Sophia hatte sich kaum gesetzt, als eine rundliche junge Frau herankam und nach ihren Wünschen fragte.

Sina bestellte sogleich. „Bringen Sie uns zwei Tassen Kaffee und von dem köstlichen Marmorkuchen.“ Sie zwinkerte Sophia zu. „Einverstanden?“

Sophia lachte. Da bestellte Sina und erkundigte sich erst danach, ob es ihr recht war. „Ja, das klingt gut.“

„Heute habe ich frei, keine Vorstellung am Abend, und nun sitze ich hier gemütlich mit einer Künstlerin.“ Sie beugte sich vor. „Und heute wird nicht mein Bruder plötzlich neben mir stehen und mich nach Hause holen. Er ist nämlich verreist.“

„WAS tut er?“

„Oh, er meint immer, auf mich aufpassen zu müssen.“ Sie rollte mit den Augen.

„Wohnen Sie mit ihm zusammen?“

„Ja, und mit meinen Eltern, mit ...“, sie zählte an den Fingern ab, „... meiner Tante, meinen Cousinen, dem Onkel, der Oma und einer alten Frau, die nicht mit uns verwandt ist.“

„Das muss wundervoll sein, mit so vielen vertrauten Menschen zusammenzuleben.“

Sina zuckte mit den Schultern. „Ich kenne es nicht anders, aber an Ruhe ist da nicht zu denken.“

Kaffee und Kuchen wurden gebracht. Der Kuchen schmeckte nicht zu süß und auch nicht zu herb nach Kakao.

„Schön saftig.“ Sina sammelte mit der Gabel die letzten Krümel vom Teller, dann trank sie einen Schluck. „Es tut gut, einmal nicht gefragt zu werden: Und was machen Sie sonst noch außer Singen? Geht es Ihnen auch so? Sagen die Leute: Ach, Sie malen – und sonst?“

Sophia schüttelte den Kopf. „Nein. Bis jetzt wusste keiner außer meiner Familie, dass ich male.“

Sina riss die Augen auf. „Was? Das müssen wir aber schnell ändern! Na, alleine schon meine große Familie kennt jetzt ein Bild von Ihnen. Ach, wissen Sie was? Ich werde im Schaukasten des Theaters einen Hinweis auf die Ausstellung aushängen.“

„Oh, danke dafür.“

Dann erzählte Sina von ihrer Kindheit. „Damals zogen wir noch im Wohnwagen umher. Ich habe viele Städte kennengelernt, sagen meine Eltern. Erinnern kann ich mich nicht, denn ich war ja damals noch so klein.“ Sie hielt den Arm etwa einen halben Meter über dem Boden. „Was ich aber weiß, ist, dass ich schon immer schallend gesungen habe. Lieder in unserem Dialekt. Den kann ich leider kaum noch. Nur einzelne Bröckchen.“

Bevor sie das Café verließen, bot Sina ihr das Du an. Am Paradeplatz trennten sie sich, versprachen sich aber zuvor, bald wieder zusammen einen Kaffee zu trinken.

 

Sophia ging weiter in die Hofstraße. Welche Farbe ordnete sie Sina zu? Grün! Sina war in Grün getaucht. Wie leicht die Stunden mit ihr vergangen waren. Sie liebte die Menschen wie die Musik und hoffte auf Kinder, auf Leben also. Da glich sie Maria. Die umgab sich auch am liebsten mit Menschen. Vermutlich spürte sie sich da am meisten. Sina aber suchte wohl eher den Austausch. Sophia hielt kurz inne. Vielleicht täuschte sie sich auch in Sina.

Vor der Residenz stand keiner der Uniformierten. Was war denn da passiert? War ihnen der Abend zu kalt? Mit einem Mal trat Vati heraus. Sophias Magen krampfte. Gerade da mochte sie ihn niemals sehen. Er schlug den Weg in ihre Richtung ein. Nein, jetzt wollte sie ihm nicht begegnen. Sie beeilte sich und war vor ihm zu Hause.

 

Sie wartete aber in der Diele auf ihn. Er grüßte kurz und bat David ins kleine Zimmer. Sophia hielt die beiden aber auf. „Was ist passiert?“

Vati schüttelte den Kopf. „Nichts. Kommen Sie, David.“

Er log. Sie sah ihm doch an, dass sich etwas Entscheidendes verändert hatte. Am liebsten würde sie an der Tür horchen, aber das gehörte sich nicht.

Maria kam von oben herunter. „Liebste Sophia, hast du Lust, heute Abend mit mir auszugehen?“ Sie hakte sich unter. „Mama ist versorgt, Katharina anscheinend noch auf der Arbeit, aber du hast Zeit, oder? Margarethe geht auch mit.“

Sie verspürte nicht die geringste Lust dazu, wusste aber auch nicht, wie sie sich rausreden konnte. Doch da kam ihr Hilda zu Hilfe. „Mädchen, ich bräuchte wenigstens eine von euch zur Hilfe.“

„Ich kann nicht“, stieß Maria gleich hervor.

„Du, Sophia?“ Hilda schaute sie fragend an. „Morgen kommen wieder diese Parteikerle zum Essen. Emmi hat heute und morgen frei. Alleine schaffe ich die Vorbereitungen nicht.“

Sophia löste sich von Maria. „Tut mir leid.“

 

Am nächsten Abend hatte Sophia noch immer keinen Einstieg für ihre Rede gefunden. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch machte sie sich auf den Weg zur Hofstraße. Heute verkniff sie sich, einen Blick auf den Vorplatz der Residenz zu werfen. Lieber rasch daran vorbeigehen und die Uniformierten nicht beachten!

An der Kreuzung zur Hofstraße begegnete sie Sina.

„Ich habe gerade Margarethe verabschiedet.“ Sie schaute sie aus knallroten Augen an.

„Geht es dir nicht gut?“

Sina nickte, ihre Unterlippe zitterte. „Meine Eltern haben ein Schreiben bekommen. Mein Bruder wurde festgenommen.“

„Was?“

Sina räusperte sich in ihre Faust. „Wir wissen nicht warum, er weiß es auch nicht. Sie befragen ihn dauernd zu unserer Rasse.“

„Ich verstehe nicht.“

„Ja, ich auch nicht.“ Tränen sammelten sich in ihren Augen.

„Zu welcher Rasse denn?“

„Wir sind Sinti.“

„Ihr seid Würzburger, so wie ich auch und wie alle anderen hier in der Stadt.“ Sophia schnaubte. Wie sie diese Demütigungen der Partei aufregten!

Ohne Vorwarnung drückte Sina sie an die Brust. „Schön, dass du das sagst.“

Sie gab sie aus der Umarmung wieder frei. Dann sog sie die Luft ein und stieß sie in einem Schwall wieder aus, als wollte sie sich von einer Last befreien. „Mir ist jetzt nicht nach Singen zumute, aber die Vorstellung muss weitergehen, hat man uns eingebläut. Das Theater ruft.“

Sophia verabschiedete sich. Ihr wurde übel. Wer um alles in der Welt passte in die Welt dieser elenden Partei? Nur ausgesuchte Mitglieder? Wurden alle anderen vergrault?

 

Sie schlug gegen die Tür des Wollgeschäftes, als wäre sie die Brust des Gauleiters. Die Besitzerin ließ sie kopfschüttelnd ein. Der Raum war so voll mit Menschen, dass Sophia gerade so einen Stehplatz an der Tür ergatterte. Himmel! Vor so vielen Leuten brachte sie gewiss keinen Ton heraus.

Margarethe schob sich durch die Menge. „Gut, dass du da bist. Ich habe die anderen schon etwas vorbereitet. Sag, wenn du soweit bist.“

Niemals! Sie würde nur Unsinn reden. Sie warf Margarethe einen flehenden Blick zu. Die lächelte ihr aufmunternd zu. Das half ihr aber nichts.

„Leute“, rief Margarethe. „Sophia ist jetzt da und hat euch etwas zu sagen. Lasst uns danach abstimmen. In Ordnung?“

Die Gespräche verstummten, die Männer und Frauen rückten rechts und links an die Wände und gaben den Blick auf sie frei.

Margarethe beugte sich zu ihr. „Siehst du, so viele Leute sind es gar nicht.“

Es waren zu viele. Alle starrten sie an. Ihr Gesicht glühte, sie schwitzte, dafür war ihr Hals trocken wie abgelagertes Holz. Sie verknotete ihre Finger, dann löste sie sie wieder. Es waren viele Leute hier, aber die ließen sich vielleicht überzeugen. Sie alle könnten sich dagegen wehren, dass Menschen wie Sinas Bruder und all die anderen so ein Elend erlitten.

Sie schaute in die Augen einer jungen Frau und in die eines Mannes im Alter ihres Vaters. Ihr Blick wanderte weiter. Margarethe stieß sie an, dann endlich räusperte sie sich und fand einen Anfang.

„Du darfst nicht stehlen, heißt es. Tut man das, wird man bestraft. Ist das richtig?“

Manche bejahten. Also fuhr sie fort. „Aber genau das geschieht im Augenblick in unserer Stadt und im ganzen Land.“

Einige nickten, andere schauten sie fragend an.

„Da hat sich eine Gruppe Rüpel zusammengetan, sie stiehlt anderen die Häuser, jagt sie fort. Sie stiehlt ihnen ihre Geschäfte, jagt sie fort. Sie stiehlt ihnen ihre Würde, belästigt sie. Sie stiehlt ihnen ihre Freiheit, nimmt sie gefangen.“ Ihre Stimme brach, Tränen traten in ihre Augen, rannen die Wangen herab. Sie ließ sie fließen.

Die Männer schauten weg, die Frauen nickten.

„Wir können bei den furchtbaren Taten mitmachen. Wir können wegschauen. Wir können uns aber auch wehren.“

„Das tun wir ja.“

„Wie denn?“

„Dann machen die mit uns dasselbe.“

„Zu gefährlich.“

Sophia ließ sich nicht beirren. „Wir können ihnen aber auch unsere Häuser, Geschäfte und unsere Kinder überlassen.“

Nun verstummten alle. Sie schauten sie verwundert an.

Sophia machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr.

„Können wir dann noch in den Spiegel schauen?“

Erst schwiegen alle, dann redeten sie durcheinander. Margarethe schaute sie mit offenem Mund an, dann drückte sie ihr die Hand. „Das machst du gut.“

Manche schauten betreten zu Boden. Natürlich, sie hatten Angst.

„Mir ist klar, dass die Partei gefährlich ist. Auch ich fürchte mich. Die Nationalsozialisten reißen die Macht an sich, sie entscheiden, wer hier arbeiten und leben darf. Glaubt ihr, dass sie damit von alleine aufhören? Wenn wir nichts tun, wird es nur schlimmer werden.“

„Was schlägst du vor?“, rief ein junger Mann.

Sie fixierte ihn. „Zunächst alle Menschen über die Taten der Partei informieren.“

Eine ältere Frau schnaubte. „Das werden ja alle mitbekommen haben.“

Margarethe übernahm. „Wir müssen die erreichen, die wegschauen.“

Sophia zitterte innerlich. Hoffentlich sah ihr das keiner an. Ihre Arme und Beine schienen kraftlos zu sein. Sie versuchte ruhig ein- und auszuatmen. Jetzt sollte ihr keiner mehr Fragen stellen. Sie musste kurz Kraft sammeln. Unglaublich! Sie hatte vor so vielen Menschen gesprochen und ihre Gedanken vorgetragen.

Margarethe drückte sie auf einen Stuhl. „Ihr habt die Meinung Sophias gehört und ihr kennt alle die Zeichnungen. Geht in euch und lasst uns dann abstimmen.“

Die Besitzerin des Ladens zog Margarethe auf die Seite und redete auf sie ein. Andere traten hinzu und beteiligten sich am Gespräch. Sophia verstand nicht, was sie sagten. Es bildeten sich noch zwei Gruppen, die murmelnd diskutierten. Karl war unter ihnen, warf ihr einen Blick zu, wandte sich dann wieder ab. Sie saß als Einzige abseits, als ob sie nachsäße.

Margarethe reichte ihr ein Glas Wasser. „Du schaust aus wie ein Leichentuch.“

Sophia klammerte sich an dem Glas fest und schaute in die Runde.

Ein älterer Mann stellte sich vor sie. „Jesus Christus zahlte für sein aufrührerisches Tun mit dem Leben.“

Sie stand vom Stuhl auf. „Er zahlte mit dem Leben, weil er verraten wurde und weil er anderen im Weg war, nicht weil er seine Überzeugung lebte.“

Der Mann wiegte mit dem Kopf hin und her. „Das kann man sehen, wie man will.“ Dann fixierte er ihren Blick. „Wärst du bereit, ins Gefängnis zu gehen oder zu noch Schlimmerem, nur der Zeichnungen wegen?“

War sie das? Es sagte sich so leicht, dass sie alles für ihre Sicht auf die politische Lage täte, aber war es auch so? Von ihrer Warte aus, also der in ihrem Zimmer in der Villa oder hier im Laden, ließ sich die Meinung locker in die Welt hinausschreien. Wie aber schaute es aus, wenn sie in einer Zelle schmorte?

Dann erschien aber das Bild Davids mit verletzter Stirn vor ihrem geistigen Auge. „Bin ich nicht gegen die Partei, dann bin ich auf deren Seite. Und das wird niemals passieren. Also: Ja, ich bin bereit.“

Er nickte anerkennend. „Das wollte ich hören.“ Dann ging er zu der Gruppe auf der linken Seite, schaute zu Boden, hob den Kopf und sagte etwas zu den anderen.

In Sophia ließ die Unruhe nach. Hoffentlich hatte sie die anderen überzeugt, obwohl sie die Rede nicht vorbereitet hatte. Hoffentlich hatte sie nicht nur Unsinn geredet!

Karl trat in die Mitte des Raumes.

„Ich denke, dass jetzt alle zu einer Meinung gekommen sind. Lasst uns abstimmen.“ Er schaute zu Margarethe. „Wir teilen Zettel aus, auf denen ein Ja oder Nein für die Zeichnungen steht. Kreuzt an, wofür ihr stimmt.“

Margarethe ging mit einem Körbchen herum. Auch Sophia durfte einen Zettel herausfischen und machte ihr Kreuz beim Ja.

Es mochte gerecht sein, dass die Gruppe abstimmte, aber sollte ihr Vorhaben wirklich von Kreuzchen auf Zetteln abhängen? War es nicht enorm wichtig, sich endlich zu wehren? Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Schenkel. Warum dauerte das alles so lange?

Margarethe faltete die Zettel auseinander und rief Ja oder Nein, Karl führte die Strichliste. Dann war es soweit.

Karl ergriff das Wort. „Das Ergebnis der Abstimmung lautet: unentschieden.“

Manche schnaubten, andere grinsten oder schüttelten den Kopf. Sophia las an ihren Gesichtern ab, dass keiner mit dem Ergebnis zufrieden war.

„Und jetzt?“, rief eine junge Frau.

Margarethe schaute zu Karl. „Eine erneute Abstimmung wird nichts bringen.“ Sie rieb sich die Stirn. „Ich habe Martin ein Schreiben geschickt, in dem ich ihm von den Zeichnungen erzählte. Wenn seine Antwort bis übermorgen nicht ankommt, dann müssen wir wohl noch einmal abstimmen. Möglich, dass einer von euch sich umentscheidet. Wenn Martins Schreiben uns aber bis dahin vorliegt, dann soll er das Zünglein an der Waage sein.“

Alle schienen damit einverstanden zu sein.

 

Margarethe begleitete Sophia wieder ein Stück auf ihrem Nachhauseweg. „Unentschieden bedeutet kein Nein.“

Sophia blieb stehen. „Wenn wir Gegner der Partei uns schon nicht trauen, dann laden wir sie doch geradezu ein, sich zu nehmen, was sie wollen.“

„Warte auf Martins Schreiben.“

 

Es gab keine Antwort von Moltke. Also stimmten sie erneut ab und das Ergebnis war ernüchternd. Zwei hatten sich auf die Seite der Bedenkenträger geschlagen.

Dann sollten sie ihren Kram doch alleine machen! Sophia stand auf, knallte die Tür des Ladens zu und ging nach Hause. Feiglinge, allesamt!

 

Dann malte sie eben wieder, das hatte sie ohnehin vernachlässigt. Sie zeichnete einen riesigen Stiefel, um den Männer und Frauen in geduckter Haltung standen. Na bitte! Wenn das Bild nicht Gesellschaftskritik enthielt.

 

Noch am Abend kam Margarethe vorbei, plauderte eine Weile mit Maria. Beide schauten dann so plötzlich bei Sophia herein, dass sie das Gemälde nicht mehr abdecken konnte.

„Brr, das ist ja schaurig.“ Maria wandte sich ab.

Margarethe lächelte. „Mir gefällt das sehr gut. Aber der Hintergrund fehlt.“

Sophia lächelte. „Da grüble ich noch drüber nach. Wie wäre es mit einer Lagerhalle? Jedenfalls darf der Hintergrund nicht vom Rest ablenken.“

Maria ging zur Tür. „Sophia und ihre gruseligen Gedanken. Die verstehe, wer will.“

Margarethe folgte ihr, drehte sich noch einmal zu Sophia um, zwinkerte ihr zu und stellte eine Stofftasche neben der Tür ab, bevor sie sie schloss.

Sogleich stürzte sich Sophia auf die Tasche. Sie enthielt einen Stapel der Liedtexte. Was sollte das? Sie brauchte die nicht. Die würde sie ihr wieder zurückbringen. Doch halt! In der Tasche lag noch ein Umschlag und darin steckte eine Nachricht von Margarethe. Sie schrieb, Sophia möge bitte die Texte in der Stadt verteilen. Was sie freute: Die Zeichnungen waren mitgedruckt worden, aber die Symbole der Partei fehlten.

Sie warf noch einmal einen Blick auf die Zeilen Margarethes. Da stand noch ein Postskriptum! „Ergänze doch die Zeichnungen entsprechend.“

Sollte das ein Scherz sein? Zum einen hatten sie abgestimmt und ihre Zeichnungen waren abgelehnt worden. Andererseits war es kein Hexenwerk, Ohrringe und Totenköpfe zu zeichnen.

Zunächst aber brauchte sie ein Versteck für die Blätter. Sie sperrte ihren Sekretär auf, schob sie in eine Schublade und drehte den Schlüssel im Schloss um.

Was, wenn sie die Zeichnungen ergänzte und die Blätter verteilte? An wen überhaupt? Im Grunde an alle, die nicht der Partei angehörten. Woher aber wusste sie, wer Mitglied war und wer nicht? Möglicherweise teilte ihr Margarethe das noch mit. Gerieten die Texte an die richtigen Leute, dann erfüllten sie hoffentlich ihren Zweck.

Was, wenn sie aber in die falschen Hände gelangten? Gewiss kam ihr keiner auf die Schliche, aber es läge auf der Hand, dass es Texte der katholischen Gruppe waren. Und dann würde es für die gefährlich. Es sei denn, sie wiesen darauf hin, dass eben nicht alle Blätter mit den Symbolen gekennzeichnet waren, sondern diese im Nachhinein und nur auf einen Teil gemalt worden waren. Ob das genügte?

Gut, Margarethe hatte sie dazu angehalten, die Verantwortung aber übernahm sie alleine. Wenn ihr aber jemand auf die Schliche kam? Dann bekäme sie Ärger, würde bestraft werden. Vati könnte ihr da auch nicht aus der Patsche helfen.

Sie legte sich aufs Bett. Auch wenn sie alles auf ihre Kappe nahm, die Partei hätte Katharina mitsamt dem Kaufhaus auf dem Kieker und Vati verlöre womöglich seine Stellung innerhalb der Partei, was das kleinste Übel war. Wie würde Mama mit ihrem kranken Herzen das verkraften? Und Maria? Verlöre sie ihre Lebensfreude?

Sollte sie also alles so belassen, wie es war? Nein. Jetzt bot sich ihr die Gelegenheit, der Partei die Stirn zu bieten. Die durfte sie nicht verstreichen lassen.

Genau zwei Stunden zeichnete sie, dann verschloss sie die Blätter erneut im Sekretär und ging zu Bett.

 

Am nächsten Morgen klopfte David an, trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Gnädiges Fräulein, ich habe eine Nachricht für Sie.“

Sophia ärgerte sich gerade, weil sie ihre Weste falsch zugeknöpft hatte, schaute aber zu ihm auf. „Von wem denn?“

„Von Fräulein Margarethe“, wisperte David.

Sie streckte die Hand nach dem Schreiben aus. „Danke, David.“

„Das Frühstück ist serviert.“ Er verließ das Zimmer.

Sogleich riss sie den Umschlag auf. Auf dem Schreiben reihte sich Adresse an Adresse. Der Zettel durfte niemals in die falschen Hände geraten, also würde sie ihn hier im Zimmer verstecken. Wie aber sollte sie dann vorgehen? Die Adressen auswendig lernen? Das machte keinen Sinn, denn es kamen nie mehr als zwei Familien je Straße vor. Im Grunde war das gut so. Würde sie an jedem Haus stehen und etwas einwerfen, fiele das auf. Also würde sie die Texte am besten im Dunkeln an wenige verteilen, deren Namen sie sich einprägte. Natürlich würde es auf diese Weise dauern, bis sie alle eingeworfen hatte.

 

Zufrieden mit ihrem Plan setzte sie sich an den gedeckten Frühstückstisch. Katharina stand bereits auf und wollte sich auf den Weg zur Arbeit machen. „Du hast deine Weste falsch geknöpft.“

Sophia schaute an sich herab. „Ja, danke.“

„Kommst du heute wieder zum Tippen?“

„Nein, ich bin erst mal fertig.“

Katharina verabschiedete sich.

Vati trank einen Schluck Tee. „Was macht die Ausstellung?“

„Unverändert. Vielleicht tut sich heute was.“

„Das gewiss. Gauleiter Carsten will vorbeischauen.“

Sie zuckte zusammen, obwohl sie es nicht wollte. „Was?“

„Sag nicht immer was, es heißt wie bitte.“ Er tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. „Und warum erschrickst du so? Nur weil es der Gauleiter ist?“

Er war ihr größter Feind in der Stadt – deswegen.

„Warum interessiert er sich für meine Werke?“

„Er liebt Kunst. Er spielt mit dem Gedanken, eine Galerie zu eröffnen, die dauernd etwas ausstellt.“

„Aha.“

„Kind!“ Er lächelte. „Du musst dich mit ihm gutstellen!“

Sie starrte Vati mit offenem Mund an. Der stand auf, wünschte ihr einen schönen Tag und verließ das Zimmer. Das meinte er nicht ernst! Sie hasste Carsten!

Ihr war der Appetit vergangen, daher ging sie zum Schlafzimmer von Mama, um nach ihr zu schauen.

Die saß an zwei Kissen gelehnt und rührte in einer Tasse Tee. „Sophia! Komm, setz dich zu mir.“

Emmi zupfte an der Bettdecke herum. „Nicht einmal eine einzige Scheibe Brot will die gnädige Frau essen.“

Mama warf ihr einen zornigen Blick zu. „Ich weiß selbst, wann ich satt bin.“

„Ja, aber Sie müssen die Tabletten nehmen!“

„Das werde ich.“ Dann wedelte sie mit der Hand. „Danke, Emmi. Lass uns jetzt alleine.“

Ihre Mutter wartete, bis Emmi die Tür zugezogen hatte. Dann rollte sie mit den Augen. „Ich hasse es, wenn Emmi von mir in der dritten Person spricht, als wäre ich nicht da.“

Sophia lachte. „Sie hat wohl auf Verstärkung gehofft.“

„Pah! Nur weil ich im Bett liege, lasse ich mich nicht wie ein Kind behandeln.“

Nein, das ließ Mama nicht zu und darüber freute sich Sophia. Bloß keinen Rollentausch!

Mamas Hand zitterte, als sie die Tasse zum Mund führte. Sie trank kleine Schlucke und reichte Sophia die Tasse. „Stell sie bitte auf dem Nachtschrank ab. Der Tee ist noch zu heiß.“

Die Tasse fühlte sich heiß an. „Ja, lass ihn besser abkühlen.“

Mama reckte das Kinn. „Am Abend wird Katharina mir vom Umbau erzählen und mit mir die Bestellzahlen durchgehen. Bis dahin will ich mich ausruhen.“ Sie schaute nach hinten. „Kannst du eines der Kissen weglegen?“

„Ja, natürlich.“ Sophia legte es auf Vatis Bettseite. „Ich werde später noch einmal nach dir schauen.“

„Gerne, mein Kind.“

 

Auf dem Weg zur Oberrealschule sagte sie sich die ersten fünf Namen und die Adressen von der Liste wieder und wieder auf. Aber das Bild von Mama mit hochgerecktem Kinn schob sich vor ihr inneres Auge. Wie gut, dass sie trotz ihrer Krankheit den Stolz und das Sagen beibehielt. Nur so hielt Mama nach wie vor die Hand über die Familie, nur so fühlte sich Sophia zu Hause wie in einem Nest.

Eine Adresse lag auf dem Weg zur Realschule. Sophia zog einen der Texte heraus. Sie hatte sie klein gefaltet, dadurch ließ sich jeder gut in der Hand verbergen. Wenige Schritte vor dem Haus drehte sie sich um. Keiner war zu sehen. Eine Frau mit Kinderwagen kam ihr entgegen. Das Kleine schrie sein Leid heraus. Als die Frau an ihr vorbeiging, lächelte sie entschuldigend.

Sophia fand den Briefkasten nicht gleich. Er steckte in einer Säule neben dem Hoftor. Sie warf den Zettel ein, trat zwei Schritte weg vom Tor, ging rasch weiter. Ihr Herz schien in den Hals gewandert, drückte die Luft ab. Sie atmete tief ein und wieder aus. Weiter!

Es gab eine zweite Adresse, ein Stückchen von der Realschule entfernt. Besser, sie erledigte das sofort.

Gerade als sie den Zettel in den Briefkasten steckte, stand mit einem Mal Sina neben ihr. „Verteilst du Reklamebriefe von deiner Ausstellung?“

Sophia ging nicht darauf ein. „Geht es dir besser?“

Sina nickte. „Sie haben meinen Bruder freigelassen. Zum Glück!“

Sophia schlug den Weg zur Ausstellung ein. „Begleitest du mich ein Stück?“

„Ich bin sogar auf dem Weg zu dir.“ Sina grinste geheimnisvoll.

 

Nachdem sie in der Galerie die Mäntel abgelegt hatten, zog Sina ein Blatt Papier aus ihrer Tasche. „Ich habe da etwas entworfen.“ Sie reichte es Sophia.

Auf dem Entwurf pries sie die Ausstellung in Großbuchstaben an. Beim Lesen der Zeilen hätte Sophia gleichzeitig weinen und lachen können. Warum fiel ihr so was nicht von selbst ein?

Sina zuckte mit den Schultern. „Wir vom Theater werfen immer Reklamezettel in die Postkästen der Einwohner. Da dachte ich, das machen wir bei dir genauso.“

„Das ist ein sehr guter Einfall.“ Sophia umarmte Sina zum Dank. Da machte sie sich Gedanken darum, wie sie sie unterstützen könnte. Was für eine wundervolle Freundin!

Sina stemmte die Hände in die Hüften. „Was ist jetzt? Hast du schon selbst Zettel entworfen?“

„Nein.“

„Ach, war das dann vorhin was anderes?“

„Ja.“

Sina starrte auf Sophias Tasche. „Hast du noch mehr zum Verteilen? Ich kann dir helfen.“

Was sollte sie ihr antworten? Am besten ein klares Nein. Auf der anderen Seite würde sie eine Ewigkeit für das Einwerfen der Texte brauchen, wenn sie nicht mehr als fünf am Tag loswurde. Und Sina hasste die Partei ebenso wie sie. Dennoch ‒ sie gehörte nicht zur Gruppe. Moltke würde Sophia den Kopf abreißen, wenn sie sie einweihte.

„Danke, du brauchst mir nicht zu helfen.“ Ihr Gesicht glühte.

Sina zuckte mit den Schultern.

Sie plauderten über Kunst am Theater und das Malen, bis es Zeit zum Mittagessen war. Sophia mochte sich nicht von Sina trennen. „Magst du mit zu mir zum Essen kommen?“

Sina schaute ernst drein. „Wollen wir nicht lieber in ein Café gehen?“

 

Sina schlug einen Weg ein, der an der dritten Adresse vorbeiführte. Sophia fischte einen der Texte heraus und schob ihn zum Briefkastenschlitz hinein.

„Na, teilen die Damen nun die Post aus?“ Kreisleiter Müller schob sich seine Brille zurecht.

Sophias Herz raste. War der aus dem Straßenpflaster herausgewachsen? Warum hatte sie ihn nicht kommen sehen? Himmel! Ihr Hals schien zugeschnürt. Sie brachte keinen Ton heraus.

Sina griff in ihre Tasche und drückte ihm einen Zettel in die Hand. „Fräulein Wagner macht Reklame für ihre Ausstellung. Wenn es Sie interessiert, dann ...“

Er winkte ab. „Ist mir bekannt. Heil Hitler!“

 

Erst im Café fanden sie beide die Sprache wieder. Sina bestellte das Gleiche wie beim letzten Mal. Die Bedienung brachte zuerst einer Gruppe junger Leute Kaffee und Wasser und ging dann in einen Raum hinter der Theke. Die Gruppe redete und lachte, einer von ihnen legte einem Mädchen den Arm um die Schulter. Sie schob ihn wieder weg.

So ausgelassen und fröhlich hatte sich Sophia nie gefühlt. Warum eigentlich nicht?

„Also?“ Sina schaute ihr direkt in die Augen. „Du musst mir nichts sagen, kannst es aber gerne.“

Sie hatte ihr aus der Patsche geholfen. Natürlich ging es Müller nichts an, was Sophia in Briefkästen steckte, nur war ihr auf die Schnelle nichts eingefallen und ein Schweigen hätte seine Neugier geweckt.

Die Bedienung brachte duftenden Kaffee und Kuchen. Sophia trank einen Schluck und wärmte ihre Hände an der Tasse. Dann fasste sie in ihre Tasche, holte einen der Texte heraus und schob ihn rüber zu Sina.

Die faltete ihn auseinander, warf einen Blick darauf, faltete ihn rasch zusammen und steckte ihn ein. „Wo muss der hin?“

Sophia flüsterte Namen und Adresse.

„Hast du noch mehr davon?“

„Jede Menge.“

Sina nickte, schaute zur Decke. „In Ordnung. Ich werde mir einen Stapel mitnehmen. Wenn ich die einwerfe, fällt das keinem auf. Wie ich nämlich sagte: Ich verteile ständig irgendwas.“

Stimmte das? Wenn sie aber Sina nicht vertrauen konnte, wem dann? Und auf diese Weise wäre sie gleich einen Stapel los.

Sie aßen den Kuchen. Sina schob die letzten Krümel auf die Gabel. „Warst du schon einmal richtig verliebt?“

„Nein, bis jetzt nicht.“

Sina zog die Brauen hoch. „Nicht? Noch nie?“ Sie lächelte. „Ich bin es dauernd. Meistens in einen Kollegen. Momentan aber in den Freund meines Bruders.“ Sie seufzte. „Er hat so schöne Hände.“

Sinas Augen leuchteten bei der Schwärmerei. Dann zwinkerte sie Sophia zu. „Wie müsste dein Traummann aussehen?“

Darüber hatte sie noch nie nachgedacht. „Hm. Er sollte sich für das, was er tut, mit ganzem Herzen einsetzen. Und es müsste etwas Sinnvolles sein.“

„Na gut, aber wie sollte er aussehen?“

„Sorgenvoll.“ Als sie Sinas erstaunten Blick sah, fügte sie hinzu: „Na, seine Stimmung sollte eher grau als sonnengelb sein.“
Nun nickte Sina. „Ich verstehe. Uns sonst? Dunkelhaarig? Blond? Blauäugig oder braune Augen?“

„Das ist mir gleich. Hauptsache, er ist kein verwöhnter, alberner Junge.“

„So einen finde ich auch furchtbar.“ Sina trank einen Schluck. „Du magst aber nicht die jammernden Problempfleger, eher die Kämpfer, oder?“

„Ja, natürlich. Die, die sich für etwas einsetzen und eben nicht nur zum Tanzen gehen.“

„Hoffentlich besuchen die aber das Theater.“ Sina lachte.

Ob Moltke das tat? Sophias Gesicht glühte. Hatte sie etwa ihn beschrieben?

Sina schien ihre Verlegenheit zu bemerken, überging sie aber. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. „Wollen wir die Blätter holen?“

Das kam jetzt doch überraschend. In Sophias Magen breitete sich ein mulmiges Gefühl aus. Sie schaute Sina direkt in die Augen. Die hielt ihrem Blick stand und lächelte. „Na, was ist?“ Dann schlüpfte sie in ihren Mantel.

 

Erst vor der Residenz ergriff Sina das Wort. „Wenn du die Zettel lieber alleine verteilen möchtest, dann mach das.“ Sie hob abwehrend die Hände. „Ich will mich nicht aufdrängen.“

Sophia hatte gehofft, dass Sina genau die Sätze nicht sagen würde. Allzu oft hatte sie die von Mama gehört. „Wenn es dir nicht passt, wie ich dich kämme ..., also ich will mich nicht aufdrängen.“

Dabei wollte derjenige, der das behauptete, ein Lob und einen Dank für sein Tun hören und gewiss keine Ablehnung. Sophia hatte Mama deswegen stets geantwortet, dass sie lieber von Emmi frisiert wurde. Natürlich hatte Mama daraufhin mit verkniffenem Gesicht den Kamm zur Seite gelegt und war zur Einsicht gekommen, dass sie ein kreuzehrliches Kind hatte.

Sie gingen durch das Residenztor. Ihre Freundschaft stand gerade auf der Kippe und das nur, weil sie ihren Mund nicht gehalten hatte. Aber wenn sie Sina nicht vertraute, wem dann?

Dennoch! Warum gehörte Sina nicht der Gruppe an? Margarethe war doch ihre Freundin! Ob sie auch einen Teil der Texte an Sina weitergereicht hatte? Die Frage konnte sie ihr unmöglich stellen, ohne Margarethe zu verraten. Es reichte auch so, was sie ausgeplappert hatte.

„Ist es dir nicht recht, wenn ich die Zettel mit austeile?“ Sina blieb stehen. „Dich beschäftigt doch was. Denk nicht mehr an die Texte. Wir bleiben deswegen trotzdem Freundinnen.“ Sie zeigte nach links. „Ich werde jetzt nach Hause gehen.“

Sophia hielt sie zurück. „Unsinn. Natürlich finde ich es gut, wenn du mir beim Verteilen hilfst. Ich gebe dir gerne die Hälfte der Blätter.“

 

Sina ging mit ihr ins Zimmer hoch. Sie packte die Blätter und eine Abschrift der Adressen in ihre große Tasche, dann stiegen sie zusammen die Treppe hinab, als Vati in seiner Uniform zur Haustür hereinkam. Er reichte David den Mantel.

Sina schien zuerst wie versteinert, dann drehte sie sich zu Sophia um und starrte sie mit offenem Mund an. Sophia nahm einfach ihre Hand und hielt sie fest.

„Sina, das ist mein Vater, Heinrich Wagner.“ Sie lächelte Vati an. „Das ist Sina Mainberger.“

Vati kam heran, reichte Sina die Hand. „Es freut mich, Sie persönlich kennenzulernen. Auf der Bühne habe ich Ihren Gesang bereits genossen.“

Sina räusperte sich. „Ganz meinerseits.“

„Vati, Sina wollte gerade gehen.“

Nachdem Sophia die Haustür hinter Sina geschlossen hatte, versuchte sie sich an Vati vorbei zu stehlen, doch der hielt sie zurück. „Woher kennt ihr euch?“

„Sina kam zufällig zu meiner Ausstellung und da haben wir uns angefreundet.“

„Aha.“ Er schaute an ihr vorbei. „Und da lädst du sie gleich zu uns nach Hause ein?“

„Ja und?“

„Sie ist eine Sängerin.“

„Ja, ich weiß das. Und ich eine Malerin.“

„Sophia!“ Er holte tief Luft. „Sie gehört zu den Sinti.“

„Besser als zur NSDAP.“

Vati ballte die Fäuste, da ergriff David das Wort. „Möchten die Herrschaften einen Tee?“

„Nein, wir möchten jetzt keinen Tee!“, stieß Vati hervor. Er presste die Lippen zusammen. „Ich möchte nicht, dass du mit Frau Mainberger weiterhin befreundet bist und das hat nichts mit der Partei zu tun.“

Nun reichte es Sophia. „Ich möchte auch nicht, dass du mit den Rüpeln aus der Partei befreundet bist und trotzdem lädst du sie in unser Haus ein.“

Sie ließ ihn stehen, nahm zwei Stufen auf einmal, ging in ihr Zimmer und knallte die Tür zu. Dort warf sie sich aufs Bett. Jetzt würde Mama wieder sagen, dass sie sich wie ein trotziger Backfisch benahm. Sollte sie doch. Das war ja wohl der Gipfel! Ihr verbot Vati eine Freundschaft mit einer Sängerin, die lediglich Lieder auf einer Bühne vortrug und die er selbst anhörte. Aber er verköstigte hier im Hause Rüpel, die David beleidigten und tolerierte das sogar. Wie widersinnig war das?

 

Natürlich traf sie sich am letzten Tag der Ausstellung wieder mit Sina in der Oberrealschule. Sie kam zusammen mit Margarethe, die sich gleich mit Maria über einen Abend im Tanzcafé unterhielt. Sina zog Sophia auf die Seite. „Ich bin alle Blätter losgeworden, und du?“

„Fast alle. Ich muss vorsichtig sein, weil die Ausstellung jetzt zu Ende geht.“

„Verstehe.“ Dann warf sie einen Blick zu Maria und Margarethe hinüber. „Das mit deinem Vater wusste ich nicht. Du riskierst viel.“

„Das ist es mir wert.“

„Natürlich.“ Dann grinste sie. „Du widersetzt dich ihm und magst Widerstandskämpfer. Nun versteh ich auch die Beschreibung deines Traummannes.“

Da drehte sich Sophia weg. „Ein Traummann ist ein Traummann.“

„Das schon, aber manchmal gibt es ja ein lebendes Bild dazu.“

„In meinem Fall nicht.“

Aber stimmte das auch?

 

Zusammen mit Margarethe blieb sie bis zum Abend. Sie hängten mit Maria und ihr die verbliebenen Bilder ab. Sophia hatte in erster Linie Landschaftsgemälde verkauft. Das verstand Sina nicht. Sie schwärmte noch immer für die Kinderporträts. Deswegen schenkte ihr Sophia das, auf dem sie den Betrachter trotzig anschaute.

„Tausend Dank!“ Sina umarmte sie. „Ich werde es neben das andere hängen.“

Sie packten alle Bilder sorgfältig in Papier ein und stapelten sie aufeinander. Armin würde sie morgen abholen. Sophia strich über das letzte Bild, eines, auf dem der Main im November gemalt war, an dem der Mond selbst mittags blass am Himmel stand und die Szene beinahe wirkte, als herrschte Dämmerung. Die Ausstellung war für sie wie ein Schulterklopfen gewesen. Nun musste sie erst wieder Werke sammeln und auf eine neue hinarbeiten. Im Grunde war das auch spannend, zumal ihre Arbeit jetzt wohl von ihrer Familie, auch von Mama, ernster genommen wurde. Dennoch hätte sie ihre Bilder gerne noch einige Tage hier in der Galerie aufgehängt, an den Wänden betrachtet und zugeschaut, wie sie auf die Besucher wirkten. Manche der Gäste traten vor einigen einen Schritt zurück, manche einen näher und kniffen die Augen zusammen. Andere drehten nach der ersten Runde noch eine und entschieden dann, welches ihnen am besten gefiel. Ihr war da zumute, als lernten sie und die Gäste sich über die Werke kennen. Nun würde sie wieder einsam an neuen arbeiten.

 

Zu viert traten sie den Heimweg an. Es war ein so milder Abend, dass sie die Mäntel aufgeknöpft ließen. Der Himmel war bewölkt, ab und an lugte die Mondsichel zwischen den Wolken hervor. Nach wenigen Schritten ließ sich Margarethe zurückfallen und winkte Sophia heran. „Martin hat sich gemeldet. Schon bald wird er zurückkommen.“

Hauptsache, er kam zurück! Sophia schnaubte. Was ging ihr da nur durch den Kopf? „Ja, das ist gut.“

Margarethe kicherte. „Das hörte sich gerade nicht so an, aber es ist natürlich gut. Was aber auch wichtig ist: Er findet deine Zeichnungen großartig. Das werden wir den anderen bei der nächsten Aktion sagen!“

Das ahnte sie bereits! Moltke würde sie unterstützen. Sie lächelte. „Das ist wirklich großartig. Aber sag mal, hast du schon eine Reaktion von jemandem mitbekommen, bei dem ich die Zeichnungen eingeworfen habe?“

Margarethe schüttelte den Kopf. „Da müsste ich Karl oder jemanden von der Kirche fragen. Es weiß doch sonst keiner, dass ich da mitmache. So wenig wie bei dir.“

Sina und Margarethe verabschiedeten sich vor der Residenz.

Maria hakte sich bei Sophia ein. „Sina ist wirklich nett, aber sie hört wohl lieber zu, als dass sie was sagt.“

Ihr hatte sie sogar von ihrem Bruder erzählt. Vielleicht war sie einfach vorsichtig wegen Vati.

„Gute Zuhörer sind rar gesät.“

Maria stupste sie an. „Du bist ein guter Zuhörer.“ Dann zeigte sie zum Vorplatz der Residenz. „Da winkt uns Vati.“

Er kam heran, hatte eine Zornesfalte zwischen den Brauen. „Wisst ihr, ob Katharina schon zu Hause ist?“

„Nein, wir waren bis jetzt in der Oberrealschule.“ Sophia musterte ihn. Er schaute nicht nur zornig, sondern auch müde aus.

„Was ist denn passiert?“

„Nichts, ich möchte euch nur alle daheim wissen.“

Sie nahmen ihn in die Mitte. Maria erzählte ihm, wie sie die Ausstellung aufgeräumt hatten, dann schaute sie zu ihm auf. „Warum willst du uns um dich haben? Sag schon.“

Er räusperte sich. „Müller ist verärgert, weil ihm zu Ohren gekommen ist, dass jemand in der Stadt gegen ihn wettert.“

Sophias Herz schien zu stolpern. Sie nahm sich zusammen. „Was für ein Wunder!“

Vati fuhr zu ihr herum. „Mädel! Spotte in unseren vier Wänden, wenn du es dir schon nicht verkneifen kannst, aber nicht auf offener Straße.“

Maria schüttelte den Kopf. „Nur weil ihn jemand nicht mag, macht er ein Getue darum?“

„Es geht nicht nur um ihn, sondern auch um die Partei und somit um die Regierung.“

Vatis Beistand zu Müller nervte Sophia. „Die NSDAP wurde ja in der Stadt auch nicht gewählt.“

Vati machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das spielt doch keine Rolle.“

„Doch, das tut es.“ Sophia fasste nicht, wie er den Umstand wegwischte. „Hier hat man euch nicht ins Herz geschlossen und nun merken das die Menschen endlich.“

Sie hatte keine Wahl, als gegenzureden, so wie immer. Es tat nur weh, dass das beim eigenen Vater nötig war. Ein Irrsinn! Zudem krampfte ihr Magen. Denn eines stand fest: Jemand hatte Müller die Zeichnung gezeigt. Weiter wusste er, dass sie malte und noch schlimmer: Er hatte sie beim Verteilen erwischt. Nahm er das zusammen, dann stand sie vermutlich auf der Liste der Verdächtigen ganz oben.

Vati schwieg. Maria lenkte Sophias Blick auf sich und schüttelte den Kopf. Natürlich lag auch ihr nicht daran, weiter auf dem Thema herumzureiten. Ihr war eher nach Heulen zumute.