Leseprobe Wir drei am Weihnachtsmorgen

Kapitel 1

Sonntag, 1. Dezember 2019

Ein letzter Pinselstrich umhüllt den grünen Strudel, der bereits von roten Linien umgeben war, zusätzlich mit silberner Farbe. Immer noch den Pinsel in der Hand, puste ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und gehe ein paar Schritte zurück, um mein neustes Werk besser im Ganzen betrachten zu können. Stolz lasse ich meine Augen über die wenigen Farben, die die weiße Leinwand zieren, wandern und überlege, ob dies den Ansprüchen genügen würde. Eine Falte schleicht sich auf meine Stirn und erste Zweifel kommen in mir auf. Vielleicht würde es die Erwartungen an eine Ausstellung erfüllen, aber nicht die Erwartungen an DIE Ausstellung und schon gar nicht meine eigenen.

»Verdammt!«, fluche ich und knalle den Pinsel auf den kleinen Tisch, auf dem sich auch meine Ölfarben befinden. Ich hatte zuvor Stunden damit verbracht, die richtigen Farben auszuwählen und eine passende Grundierung herzustellen. Doch jetzt stand ich vor einem Gemälde, welches in meinen Augen nicht gut genug war, um Teil der womöglich wichtigsten Kunstausstellung meines Lebens zu sein.

Das Gemälde hat zwar, wie es meiner Vision entspricht, ein weihnachtliches Farbenspiel, das eine wundervolle Symbiose ergibt, doch es ist einfach nicht gut genug. Die Anforderung an ein weihnachtliches Kunstwerk ist zwar erfüllt, doch sieht es einfach zu gewollt aus. Die Farben sind zu offensichtlich. Und auch der grüne Strudel, der in meiner Fantasie an einen Tannenbaum erinnern sollte, ist zu deutlich, um zu meinem eigentlichen, abstrakten Stil zu gehören.

Eine kleine Panikwelle durchflutet meinen Körper und hinterlässt neben einem schnelleren Herzschlag auch einen trockenen Hals. Weihnachten ist nur noch wenige Wochen entfernt und würde schon bald vor der Tür stehen. Noch bleibt genug Zeit, um das letzte, alles entscheidende Kunstwerk für die Ausstellung fertigzustellen, doch die Zeit ist auch etwas, das nicht aufhaltbar ist. Würde ich nicht rechtzeitig ein passendes Gemälde fertigen, wäre all die Anstrengung in den letzten Wochen umsonst gewesen. Noch vor ein paar Jahren hätte ich bei diesen Gefühlen einfach die Leinwand solange mit Farben bemalt, bis nichts mehr zu erkennen gewesen wäre, um es anschließend wütend zu entsorgen. Auf diese Weise habe ich immer am besten mit einem misslungenen Kunstwerk umgehen können und wieder Platz für neue Ideen geschaffen. Doch seit dieser grausamen Kritik, die sämtliche Kunstinteressenten abgeschreckt hat, bleibt die Kundschaft in Eduards und meinem kleinen Laden aus. Bevor dieser Kunstkritiker meine Kunst als peripher und reizlos bezeichnet hat, hatten Eduard und ich genügend unserer Kunstwerke in unserem kleinen Kunstladen verkaufen können, um gut über die Runden zu kommen. Hin und wieder war sogar ein kleiner Urlaub möglich gewesen. Mittlerweile sind wir gezwungen, an jedem Cent festzuhalten, was unter anderem auch daran liegt, dass mich die Vorbereitung auf die bevorstehende Ausstellung viel Zeit und Ressourcen gekostet hat, sodass im Moment hauptsächlich Eduard für Einnahmen sorgt. Wieder einmal überkommt mich ein schlechtes Gewissen, denn während ich dabei bin, mir einen meiner Träume zu verwirklichen, steckt Eduard seine Wünsche zurück. In ihm wallt ebenso viel Kreativität wie in mir, die sich nach der Oberfläche sehnt, um Menschen mit dem, was wir erschaffen, zu begeistern. Daher rechne ich es ihm auch hoch an, dass er mir zurzeit so viel Freiraum für meine Kreativität schenkt. In solchen Augenblicken ist unsere Liebe besonders spürbar. Eduard ist eigentlich nicht der Art Mann, der einem ständig sagt, wie sehr er einen liebt. Mit Worten kann er generell nicht so viel anfangen. Er drückt seine Gefühle mit seiner Kunst und mit Taten aus. Sobald die Kunstausstellung vorüber ist, werde ich mich zurückhalten, damit auch er wieder mehr Zeit hat, seine Kunst frei auszuleben, ohne ständig unseren Laden betreuen zu müssen.

Mit einem Mal überkommt mich das Bedürfnis, Eduard nahe zu sein. Da ich heute in unserer kleinen Wohnung gearbeitet habe und nicht wie üblich in dem kleinen Raum, der sich im hinteren Teil unseres Kunstladens befindet, kann ich mir nicht kurz eine Umarmung von meinem Liebsten abholen. Tatsächlich habe ich ihn den ganzen Tag noch nicht zu Gesicht bekommen. Als ich heute Morgen aufgestanden bin, lag nur ein Zettel auf seinem Kopfkissen, auf dem geschrieben stand, dass er bereits auf dem Weg zum Laden war, um vorher noch an seinen eigenen Werken zu arbeiten. Somit hatte ich unsere Wohnung heute für mich allein und konnte mich voll und ganz dem finalen Kunstwerk widmen, welches das Herz der Kunstwerke, die ich an Weihnachten ausstellen darf, bilden soll. Ein Blick auf die Leinwand vor mir erinnert mich wieder daran, dass mein Vorhaben bisher gescheitert ist. Dann blicke ich zu der Uhr, die Eduard bei unserem Einzug über die Tür gehängt hat, damit wir die Zeit, die wir unserer Kunst widmen, nicht gänzlich aus den Augen verlieren. Es ist bereits nach acht Uhr abends und von Eduard fehlt immer noch jede Spur. Normalerweise öffnen wir sonntags immer nur für einen halben Tag, und das auch nur, weil wir das Geld brauchen und die Menschen an den Wochenenden mehr Zeit für Kunst haben.

Kurzerhand gehe ich ins Badezimmer, wasche mir die Hände und ziehe mir dann im Flur meinen Wintermantel über, um Eduard nach Hause zu holen. In den letzten Tagen reizte er seine Arbeitszeit immer mehr aus, sodass er abends meist todmüde ins Bett fällt und ich zunehmend das Gefühl bekomme, dass unser gemeinsames Leben langsam auseinandergerissen wird. Dieses Gefühl jagt mir eine Heidenangst ein. Eduard ist der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte und genau deshalb habe ich den Antrag, den er mir vor schon anderthalb Jahren gemacht hat, überglücklich angenommen.

Draußen umhüllt mich bereits die Dunkelheit, begleitet von schneidendem Wind, während ich durch die Straßen von Paris laufe. Unser Kunstladen liegt nur etwa zehn Gehminuten von unserer Wohnung entfernt und ziemlich zentral in Frankreichs schöner Hauptstadt. Als ich vor sechs Jahren von Deutschland nach Frankreich ausgewandert bin, um mit Eduard ein gemeinsames Leben voller Liebe und Kunst zu beginnen, haben wir zunächst lange nach einer bezahlbaren Wohnung in Paris gesucht. Da wir unser Geld hauptsächlich mit unseren Kunstwerken verdienen wollten und Eduard mit seinen Landschaftsgemälden in der Kunstszene bereits Fuß gefasst hatte, war es uns besonders wichtig gewesen, zentral zu leben. Leider bedeutete dies auch hohe Mieten, wenn man nicht gerade in einer Bruchbude leben wollte. Schließlich haben wir eine kleine Wohnung mit knapp vierzig Quadratmetern gefunden, bei der wir sogar noch einen kleinen Raum, der uns als Atelier zum Arbeiten dient, einrichten konnten. Als wir eingezogen sind, ähnelte unser neues Zuhause eher einer Baustelle als einem Ort der Zuflucht. Doch wir waren so glücklich darüber, überhaupt etwas Bezahlbares gefunden zu haben, dass wir motiviert genug waren, die unscheinbare Wohnung in unser erstes gemeinsames Zuhause zu verwandeln.

Während ich an all die Zeit, in der wir die Wände tapeziert und gestrichen, Böden herausgerissen und neu verlegt haben, zurückdenke, wird mir trotz der Kälte um mich herum im nächtlichen Paris ein bisschen wärmer. Mein Weg zu Eduard führt mich ein kleines Stück an der Seine entlang über die Pont Alexandre III. Als ich die Brücke zur Hälfte überquert habe, bleibe ich für einen Augenblick stehen. Mein Blick fällt auf den Eiffelturm, der nachts zu jeder vollen Stunde anfängt zu leuchten. Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, an den ich mich in Zeiten voller Sorge zurücksehne, der mich ruhig und zufrieden werden lässt, dann ist es hier mitten auf der Pont Alexandre III. Es liegt nicht nur am Wasser der Seine oder an den kunstvollen Verzierungen, die die Brücke schöner als alle anderen erscheinen lässt, sondern vor allem an Eduard. Hierher hat er mich nach unserem ersten richtigen Date geführt und mir einen unvergesslichen ersten Kuss geschenkt. Daher ist es kaum verwunderlich, dass er mir ausgerechnet hier im Sommer 2018 die Frage aller Fragen gestellt hat. Inmitten von Touristen, die den Eiffelturm und die Pont Alexandre III fotografierten, hat er mir gesagt, dass er sein restliches Leben mit mir verbringen möchte und war vor mir auf die Knie gefallen. Einen schöneren Moment kann ich mir kaum vorstellen. Das Lächeln, das sich bei dieser Erinnerung auf meine Lippen geschlichen hat, wird jedoch schnell wieder von einer tiefen Sorgenfalte verdrängt. Diesen Sommer hätte eigentlich unsere Hochzeit stattfinden sollen. Jetzt ist schon der letzte Monat des Jahres angebrochen und die einst geplante Hochzeit scheint immer noch meilenweit entfernt. Als das Geld bei uns immer knapper wurde, weil sich unsere Kunst nach dieser Kritik nur noch sehr schwer verkaufen ließ, haben wir die Ansprüche für unsere Traumhochzeit immer weiter heruntergeschraubt. Irgendwann haben wir die Reißleine gezogen und die Hochzeit abgesagt. Weder ich noch Eduard benötigen eine besonders lukrative Hochzeit, aber das Budget war so niedrig geworden, dass wir die Hochzeit nicht mehr hätten genießen können. Deshalb ist die bevorstehende Ausstellung auch so wichtig für mich. Sie ist eine Chance, zurück in die Kunstszene zu kommen und einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Auf diese Weise würde endlich wieder etwas Geld reinkommen und wir könnten uns vielleicht schon nächsten Sommer unser Eheversprechen geben. Der Gedanke an unsere Hochzeit ist das, was mir momentan am meisten Hoffnung gibt. Das und Eduard, der derzeit alles für mich und meine Karriere aufopfert. Doch in letzter Zeit stelle ich mir immer wieder die Frage, ob all die Anstrengung es wert ist. Kunst war immer etwas, das uns beide miteinander verbunden hat. Jetzt habe ich manchmal das Gefühl, dass die Kunst versucht, uns beide schleichend langsam zu entzweien und das Band zwischen uns zu zerreißen.

Bevor ich die letzten Minuten bis zu Eduard laufe, blicke ich nochmal auf den Ring, den ich – entgegen der deutschen Tradition – an meinem rechten Ringfinger trage. Als ich mich damals für Frankreich und Eduard entschieden und Deutschland den Rücken gekehrt habe, habe ich mich sofort in meine neue Heimat verliebt. Daher wollte ich auch unbedingt die Tradition der Franzosen übernehmen und meinen Verlobungsring nicht wie in Deutschland üblich an der linken, sondern an der rechten Hand tragen. Der goldene Ring, der mit einem kleinen Diamanten verziert ist, erscheint zwar schlicht und äußerst filigran, was eigentlich nicht besonders gut zu mir und meiner Persönlichkeit passt, doch genau deshalb liebe ich ihn so sehr. Er ist ganz anders als die anderen Schmuckstücke, die ich besitze und das macht ihn für mich so besonders. Zudem liebt Eduard Gegensätze, da dies auch uns als Paar in einem Wort am besten beschreibt. Ich bin der optimistische Wirbelwind in unserer Beziehung, während Eduard mit seiner leicht arroganten Art oft zu Übertreibungen neigt und alles in Frage stellt. Obwohl er mich damit manchmal zur Weißglut treibt, liebe ich ihn genau dafür.

Ein sanfter Windstoß erinnert mich wieder daran, wie kalt es um diese Zeit ist und ich laufe weiter zu unserem Laden. Fünf Minuten später stehe ich vor dem Gebäude, in dem wir den Großteil unserer Kunst aufbewahren und verkaufen. Direkt neben der Eingangstür ist eine gut erhaltene Straßenlaterne angebracht, die mit ihren verschnörkelten Verzierungen an den Stil des Barocks erinnert. Wie auch in unserer Wohnung gibt es hier nur wenig Platz, sodass wir beinahe jeden Zentimeter des Ladens sinnvoll ausnutzen. Als ich unser Geschäft betrete, steigt mir sofort der Geruch von getrockneter Farbe und Lavendel in die Nase. Ich liebe diese Pflanze und bin ganz süchtig nach dem wohltuenden Duft, der für mich die perfekte Mischung aus Blumen und Kräuter bedeutet. Damals, bei unserer Eröffnung, hat mich Eduard damit überrascht, dass in jeder freien Ecke ein Lavendelstrauß stand. In der kleinen Kammer hinter dem Verkaufsbereich, in der wir unter anderem auch unsere Werke fertigen, haben wir immer etwas getrockneten Lavendel auf Vorrat und so war Lavendel ein Markenzeichen von uns und unserem Kunstladen geworden.

»Eduard?«, rufe ich in den Raum, als ich meinen Verlobten auf den ersten Blick nirgendwo entdecken kann. Da die Tür jedoch nicht verschlossen ist, muss er noch irgendwo hier sein.

»Eduard!«, rufe ich ihn dieses Mal ein bisschen lauter und durchquere den kleinen Raum hastig. In unserer Arbeitskammer finde ich ihn schließlich vor einer kleinen Leinwand sitzend, auf der lediglich ein hellblauer Grundton zu sehen ist.

»Hier bist du! Wieso hast du nicht geantwortet? Ich habe dich gerufen.«

Doch Eduard zeigt keine Reaktion auf meine Frage und ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus.

»Eduard!«, schreie ich ihn an und renne auf ihn zu, wobei ich beinahe die Leinwand umgestoßen hätte. Der Schock, der mein Herz für eine Sekunde hat aussetzen lassen, weicht sofort großer Erleichterung, als Eduard mit einem leisen Schnarchen aufwacht.

»Was ist denn los?«, fragt er mich gähnend, zieht sich die Brille, die er nur trägt, um seriöser zu wirken, ab und schaut mich verwirrt an. Seine dunklen Haare, die ohnehin immer ein bisschen chaotisch aussehen, sehen noch zerzauster als sonst aus.

»Was los ist? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Es ist halb neun! Und wieso schläfst du hier eigentlich, während der Laden noch offen ist?!« Vorwurfsvoll schaue ich ihn an.

»Tut mir leid«, sagt er und steht langsam auf. »Es war ein anstrengender Tag.«

Und das ist allein meine Schuld, denke ich, spreche meine Worte jedoch nicht laut aus. »Du solltest nicht mehr so lange arbeiten«, sage ich stattdessen und versuche, mein schlechtes Gewissen beiseitezuschieben.

»Es ist ja nur noch für ein paar Wochen«, entgegnet mir Eduard und drückt mir einen kleinen Kuss auf die Wange. Er versucht, seine Müdigkeit vor mir zu verbergen, aber ich kann ihm deutlich ansehen, wie erschöpft er tatsächlich ist.

»Lass uns nach Hause gehen.«

Kapitel 2

Montag, 2. Dezember 2019

»Wieso hast du mich nicht geweckt?« Wütend rennt Eduard zum Kühlschrank und reißt die Tür auf, um sich etwas Milch für seinen Kaffee herauszuholen. Dabei knallt er die Tür so fest zu, dass ich die sich darin befindenden Flaschen klirren höre.

»Stopp!«, sage ich laut und stehe auf. »Hinsetzen.« Ich zeige auf den freien Platz, auf dem Eduard immer sitzt.

Perplex starrt er mich an, als hätte ich ihm gerade erzählt, dass die Erde nur eine Scheibe sei. »Hast du mal auf die Uhr gesehen? Ich hätte längst im Laden sein müssen!«

»Du setzt dich jetzt sofort an den Tisch oder ich sage die Ausstellung ab«, drohe ich ihm mit der einzigen Sache, die ich gegen ihn ausspielen kann. Eduard schiebt seine Brille zurecht und sieht mich eindringlich an, um mich durchschauen zu können. Ich halte seinem Blick stand und warte, bis er sich schließlich endlich seine Kaffeetasse schnappt. Erst, als er sich hingesetzt hat, löse ich meine starre Pose und setze mich ebenfalls wieder auf meinen Platz.

»Willst du mir vielleicht sagen, was du mit dieser ganzen Sache bezwecken willst? Ich habe wirklich keine Zeit für solche Spielchen«, meint Eduard, als ich keine Anstalten mache, ihm mein Verhalten zu erklären und stattdessen ungehindert weiter frühstücke. Für einen Moment schaue ich ihn nachdenklich an und verliere mich dabei fast in seinen blaugrünen Augen, die vom ersten Sonnenlicht des Tages angestrahlt werden.

»Du brauchst dringend eine Pause«, sage ich ruhig.

»Und wie stellst du dir das vor? Wir können den Laden nicht einfach einen Tag geschlossen halten. Schon gar nicht an einem Montag!«

»Das werden wir auch nicht, aber da ich momentan mit meinem Gemälde nicht vorankomme, dachte ich, es sei das Beste, eine kreative Pause einzulegen.«

»Was willst du damit sagen?« Skeptisch mustert er mich und zieht die linke Augenbraue nach oben, bis sich Falten auf seiner Stirn bilden.

»Für die Ausstellung gibt es noch jede Menge Dinge zu tun, die nichts mit Leinwänden und Farben zu tun haben. Alles, was ich brauche, sind mein Laptop und ein funktionierendes WLAN. Ersteres kann ich überall mit hinnehmen und Letzteres ist im Laden verfügbar, daher werde ich heute den Laden übernehmen«, kläre ich ihn auf, aber wie ich bereits vermutet hatte, scheint er nicht allzu viel von meinem Plan zu halten. »Eduard, ich werde nicht dabei zusehen, wie du dich kaputt arbeitest, nur damit ich diese Ausstellung machen kann.«

»Nein«, sagt Eduard und schüttelt den Kopf. »Du musst dich auf die Ausstellung konzentrieren. Ich werde in den Laden gehen.«

Ärgerlich verschränke ich die Arme vor der Brust. Manchmal kann er wirklich so stur wie ein kleines Kind sein. Eduard lässt sich ohnehin nicht gern etwas vorschreiben. Weder von mir, noch von sonst jemandem.

»Es ist meine Ausstellung und deshalb machen wir das so, wie ich es sage. Ich gehe in den Laden und organisiere von dort aus ein paar Dinge, die ich ohnehin schon zu lange vor mir hergeschoben habe. Du bleibst zuhause und gönnst dir endlich mal einen Tag Pause. Morgen kannst du dann wieder den ganzen Tag schuften, aber heute wirst du dir einen Tag frei nehmen. Ein Nein akzeptiere ich nicht.« Damit ist das Thema für mich vom Tisch und ich widme mich wieder dem Croissant, dessen köstlicher Duft mich schon die ganze Zeit in der Nase kitzelt.

Eduard sieht mich noch einen Moment eindringlich an. Seine Lippen sind zu einem dünnen Strich verzogen, was ein Zeichen von innerem Widerstand bedeutet. Jedoch kennt er mich gut genug, um zu wissen, dass ich ebenso stur sein kann wie er, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe. Aus diesem Grund gibt er sich schließlich geschlagen. Vielleicht ist er aber auch einfach nur zu erschöpft, um mit mir zu diskutieren. In einem Zug trinkt er seine komplette Tasse Kaffee aus und verzieht dabei keine Miene. Dann steht er, ohne noch ein Wort zu sagen, auf, schnappt sich seine Jacke und verlässt die Wohnung. Wie sauer er ist, kann ich deutlich an der Anspannung, die den ganzen Raum erfüllt, spüren. Ich hasse es, wenn wir nicht einer Meinung sind und es sich auf unsere Stimmung auswirkt.

Nachdem ich mein Croissant mehr heruntergewürgt als genossen habe, packe ich meinen Laptop, meinen Kalender und ein Notizbuch ein und mache mich dann auf den Weg, um den Laden zu öffnen und einige Dinge zu organisieren.

Während ich durch die Straßen von Paris laufe, drehen sich meine Gedanken immer noch um Eduard und die Belastung, der er sich meinetwegen aussetzt. Es ist wirklich höchste Zeit, dass die Ausstellung stattfindet und wieder Normalität unseren Alltag bestimmt.

Als ich vor der Tür unseres Geschäfts stehe, befürchte ich kurz, Eduard könnte hier sein, doch ich stelle schnell fest, dass die Tür noch verschlossen ist. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, jetzt im Laden zu stehen, nachdem mein Verlobter in letzter Zeit diese Aufgabe übernommen hat, obwohl ich selbst auch schon hunderte Male hier die Stellung gehalten habe. Zwar fühlt es sich für mich ungewohnt an, wieder hier zu sein und zu arbeiten, aber mein Körper zeigt mir einmal mehr, dass wir Menschen Gewohnheitstiere sind. Wie von selbst laufe ich hinter den Verkaufstresen und verstaue meine Sachen darin. Mein Blick gleitet über den kleinen Verkaufsraum, bis mir auffällt, dass ich das Licht noch nicht eingeschaltet habe, da es draußen beinahe hell genug ist. Nachdem ich den Lichtschalter betätigt habe, schaue ich aus dem Fenster. Gegenüber unseres Kunstladens befindet sich ein alter Süßwarenladen. Anfangs haben wir gehofft, die Leute, die dort Süßigkeiten kaufen, könnten auch zu unseren Kunden werden, aber es sind meist nur Kinder, die sich dort aufhalten und sich kleine Leckereien kaufen. Leider entspricht das nicht ganz unserer Zielgruppe, sodass wir nur dann einen Vorteil haben, wenn die Kinder kunstbegeisterte Eltern mit herbringen, was zu unserem Bedauern nicht oft der Fall ist.

Wie aufs Stichwort kommen in dem Moment zwei Kinder die Straße entlang und verschwinden im Inneren des Süßwarenladens. Mein Blick fällt auf das hübsch dekorierte Schaufenster. Darin sind nicht nur die leckersten Süßigkeiten präsentiert, sondern auch jede Menge Weihnachtsdekorationen zu sehen. Neben einem großen Weihnachtsmann aus Schokolade und vielen Tannenzweigen, bringt eine kunterbunte Lichterkette das Fenster zum Leuchten. Glitzernde Sterne und zahlreiche Weihnachtskugeln runden das kitschige Weihnachtsthema ab.

Wenn ich dagegen unser Schaufenster betrachte, ist es nicht halb so ansprechend wie das, welches ich gerade so ausgiebig gemustert habe. Zwar hat Eduard schon vor langer Zeit eine Lichterkette angebracht und ich habe zusätzlich einige Lavendelzweige und etwas Pampasgras in einer großen Vase drapiert, aber von weihnachtlicher Vorfreude fehlt bis jetzt jede Spur. Normalerweise sind wir immer eine der ersten, die Weihnachten im Schaufenster ankündigen, doch durch die Vorbereitungen für die Kunstausstellung habe ich es total vergessen und Eduard hat aufgrund der ganzen Arbeit wohl auch nicht mehr daran gedacht.

Bevor ich mich an meinen Laptop setze und meine Aufmerksamkeit erneut der Ausstellung widme, gehe ich nach hinten in unseren Arbeitsraum. Irgendwo muss eine kleine Kiste sein, in der wir unsere Weihnachtsdekoration aufbewahren. Sicher würde Eduard das Arbeiten etwas leichter fallen, wenn er sieht, dass ich den Laden dekoriert habe. Wie ich, liebt auch er die Weihnachtszeit über alles. Ein bisschen Weihnachtsdeko würde ihn daher bestimmt etwas aufheitern.

Da der Raum nicht allzu groß ist, muss ich nicht lange nach der richtigen Kiste suchen und kann kurz darauf unsere Dekoration anbringen. Wir legen Wert darauf, auch in der Weihnachtszeit einen stimmigen Farbton passend zu unserem Laden zu schaffen, daher haben wir uns vor ein paar Jahren dazu entschieden, unsere Weihnachtsdeko silbern und in verschiedenen Lilatönen zu halten. Auf diese Weise passt alles immer noch zu unserem Lavendelthema und versprüht dennoch weihnachtliche Stimmung. Jedes Jahr ändere ich die Anordnung der verschiedenen Kugeln. Engelshaar, Zimtstangen und getrocknete Orangenscheiben dürfen dabei natürlich nicht fehlen. Außerdem bringe ich eine Lichterkette am Verkaufstresen an, um auch hier die Weihnachtszeit einzuläuten. Stolz betrachte ich nach etwa dreißig Minuten das fertige Arrangement. In dieser ersten halben Stunde, die ich nun schon im Laden bin, bleibt die Kundschaft leider aus. In Zeiten, in denen wir genügend verkauft hatten, haben sich die Kundenströme auf den Nachmittag verteilt und morgens war auch nicht sonderlich viel los gewesen. Trotzdem betrübt mich die Stille, die mich langsam zu erdrücken droht. Bevor ich sie noch mehr wahrnehmen kann, hole ich mein Notizbuch hervor und mache mir eine To-do-Liste, auf die ich all die Dinge schreibe, die ich für die Ausstellung noch erledigen muss. Ganz oben auf meiner Liste steht »Visitenkarten!!!«. Viel zu lange habe ich diesen Punkt nun schon vor mir hergeschoben. Eduard und ich haben zwar beide bereits eigene Visitenkarten und es sind auch noch ausreichend viele verfügbar, aber für die Ausstellung will ich unbedingt neue drucken lassen. Da die Kunstausstellung im prächtigen Schloss Versailles stattfinden wird und hochrangige Besucher erwartet werden, muss alles absolut perfekt sein. Bevor ich meine To-do-Liste mit weiteren Aufgaben fülle, fahre ich meinen Laptop hoch, um nach Druckereien für die neuen Visitenkarten zu suchen. Kaum ist der Laptop startklar, leuchtet ein kleiner Briefumschlag an der Taskleiste auf, der eine neue E-Mail ankündigt. Mein Herz schlägt schneller, als ich den Absender erkenne. Die E-Mail kommt direkt von der Périphérie-Stiftung, die die Kunstausstellung im Schloss Versailles organisiert und durchführt. Für eine winzige Sekunde habe ich Angst, kurz vor dem Ziel eine Absage zu erhalten. Vielleicht haben sie einen besseren Künstler gefunden? Doch als ich die E-Mail lese, beruhige ich mich langsam und auch die Anspannung lässt nach. Es ist eine reine Informations-E-Mail, Tag und Uhrzeit für Auf- und Abbau werden nochmals bekanntgegeben. Am Ende der E-Mail fordern die Vorsitzenden dazu auf, Maße des vorhandenen Platzes vor Ort zu nehmen, damit beim Aufbau keine Überraschungen auftreten. Glücklicherweise habe ich genau das bereits vor ein paar Wochen getan und umgehend verschnörkelte Staffeleien bestellt, die perfekt zum Stil des barocken Schlosses passen und im Spiegelsaal bestimmt traumhaft schön aussehen werden.

Sicherheitshalber notiere ich mir »Maß nehmen« nochmals auf meiner To-do-Liste. Von dieser Ausstellung hängt so viel ab, dass ich lieber einmal zu viel als zu wenig die Maße überprüfe.

Während ich stundenlang vor dem Bildschirm meines Laptops verbringe, ohne auch nur einen einzigen Kunden in Empfang nehmen zu können, verfliegt die Zeit schneller als ich Versailles sagen kann. Zuerst habe ich mich meinen Visitenkarten gewidmet und versucht, ein neues Design zu erstellen. Am Ende habe ich drei schöne Entwürfe, aber gleichzeitig bei allen das Gefühl, dass noch etwas fehlt. Zudem muss ich mich dringend um meine Preisliste kümmern, die Camille noch diese Woche benötigt. Eduards und meine Preise liegen im unteren Bereich, weil den Menschen nach dieser vernichtenden Kritik unsere Werke nicht mehr besonders viel wert sind. Bei der Ausstellung im Schloss Versailles hingegen werden zahlreiche Gäste vor Ort sein, die lukrative Preise gewöhnt sind. Die Werke der anderen ausstellenden Künstler sind um einiges teurer als die von Eduard und mir. Ich sollte dringend Camille fragen, ob ich die Preise etwas anpassen kann. Unter keinen Umständen möchte ich den Gästen als die billige Künstlerin in Erinnerung bleiben.

Kurz bevor ich später am Abend meine Sachen zusammenpacken will, höre ich das kleine Glöckchen läuten, das an der Eingangstür die Ankunft neuer Kunden verkündet. Hastig streiche ich mir meine wilde Haarpracht zurecht und setze mein gewinnbringendstes Lächeln auf. Da ich schon länger nicht mehr unseren Laden betreut und schon gar nichts verkauft habe, schlägt mein Herz durch die Vorfreude auf einen möglichen Verkauf ein paar Takte schneller. In meinem Kopf gehe ich bereits sämtliche Begrüßungsformeln und Kundengespräche durch.

»Herzlich Willkommen in unserer kleinen Kunstwelt«, sage ich strahlend. Doch, statt meine zurechtgelegten Floskeln aufzusagen, verschlägt es mir für einen kleinen Moment die Sprache. Beinahe hätte ich vergessen zu lächeln, so enttäuscht bin ich über das Mädchen, das zur Tür hereinkommt und nicht den Eindruck erweckt, als kenne sie sich mit Kunst sonderlich gut aus. Mein Blick fällt auf ihre schwarz umrandeten Augen – ich wusste nicht, dass der Waschbären-Look bei den Teenies heutzutage noch beliebt ist – und ihre zerrissene Jeans, die so viel nacktes Bein offenbart, dass sie draußen in der Kälte bestimmt fürchterlich frieren muss.

Das Mädchen erwidert nichts auf meine Begrüßung und schaut unsicher durch den Laden. »Ich sehe mich nur mal um«, sagt sie. »Gehört Ihnen der Laden?« Neugierig mustert sie mich mit ihren blaugrünen Augen, die mir seltsam bekannt vorkommen.

»Ja«, sage ich und nicke. »Zusammen mit meinem Verlobten. Wir verkaufen hier unsere Kunstwerke. Suchst du ein Weihnachtsgeschenk für jemanden?« Wenn sie selbst nichts mit Kunst anfangen kann, so kann es ja vielleicht ein Familienmitglied. Ihre Eltern oder Großeltern könnten Kunstliebhaber sein und würden sich bestimmt über eines unserer Werke freuen. Wieso sonst sollte sich ein Mädchen im Teenageralter in unseren Laden verirren und sich dann auch noch umsehen wollen?

»Nein, ich brauche nichts«, antwortet sie knapp und raubt mir damit jede Hoffnung, heute doch noch etwas zu verkaufen. Nachdem ihre Augen noch eine Weile an unseren Gemälden haften, fällt ihr Blick schließlich auf mich. »Sie sind nicht von hier, oder?«

Verdammt. Jedes Mal, wenn ich denke, mein Französisch wäre ausgereift genug, um mich für eine Einheimische zu halten, nimmt mir irgendjemand diese schöne Illusion.

»Nein, ich komme eigentlich aus Deutschland«, sage ich lächelnd.

»Was machen Sie dann hier?« Obwohl es sich nur um eine einfache Frage eines wohl neugierigen Mädchens handelt, kommt es mir vor, als wolle sie mich damit provozieren.

»Ich habe mich verliebt«, antworte ich ihr und fahre mit meinen Fingern über den Verlobungsring an meiner rechten Hand.

»Sie haben seinetwegen Ihre Heimat aufgegeben?« Erneut klingt ihre Frage mehr nach Provokation als reiner Neugierde, was mir zunehmend missfällt.

»Ja, das habe ich. Wenn du nichts kaufen willst, würde ich den Laden jetzt gerne schließen. Eigentlich haben wir schon seit einer halben Stunde geschlossen.« Normalerweise ist es nicht meine Art, Menschen derart aus unserem Laden zu drängen, aber wenn man es genau nimmt, stellt das Mädchen keine ernstzunehmende Kundin dar. Wahrscheinlich hatte sie sich nur die Zeit vertreiben wollen und war so auf unseren Laden gestoßen.

Eine Weile blicke ich ihr noch hinterher, während sie nach draußen geht und die Tür hinter sich zuzieht. Dann schüttle ich den Kopf, stecke sämtliche Lichterketten aus und schließe den Laden, ohne einen weiteren Gedanken an das neugierige Mädchen zu verschwenden.

Kapitel 3

Dienstag, 3. Dezember 2019

»Was hältst du davon, wenn wir heute mit dem Dekorieren unserer Wohnung beginnen?«, frage ich Eduard am nächsten Morgen. Gestern hatte ich mich voll und ganz auf die Vorbereitungen der Ausstellung konzentrieren können und da bis auf das neugierige Mädchen nicht ein einziger Kunde erschien, habe ich ziemlich viele Punkte auf meiner To-do-Liste abhaken können.

»Wie wäre es heute Abend?«, fragt Eduard mit einem frechen Glitzern in den Augen. Ich wusste, dass er sich über Weihnachtsdekoration freuen würde. Bestimmt würde ihm das Arbeiten – nun, da der Laden dekoriert war – leichter fallen. Das hoffe ich jedenfalls.

»Ich verlasse mich darauf«, entgegne ich ihm und drücke ihm einen Kuss auf den Mund. Eduard war gestern Abend noch zu mir in den Laden gekommen und hat sich entschuldigt, da er falschgelegen und die kleine Pause gestern mehr als gebraucht hatte.

»Falls es doch später werden sollte, kannst du ja schon mal ohne mich anfangen«, ruft Eduard, während er auch schon die Tür hinter sich zu zieht und mir damit jede Möglichkeit zu widersprechen, nimmt.

Eigentlich habe ich mir für heute vorgenommen, nochmal zum Schloss Versailles zu fahren, um ein weiteres Mal Maß zu nehmen. Aber Camille, die Ansprechpartnerin für die ausstellenden Künstler und außerdem eine meiner engsten Freundinnen, meinte bei unserem Telefonat gestern Nachmittag, dass es kein guter Zeitpunkt sei. Es stehen wohl irgendwelche Reinigungsarbeiten im Spiegelsaal an, daher werde ich erst morgen vor Ort sein. Da ich nicht schon wieder einen Bürotag machen will und außerdem noch ein Kunstwerk fertigstellen muss, werde ich mich heute wieder dem kreativen Teil meiner Arbeit widmen. In dem kleinen Raum, in dem wir an unseren Kunstwerken arbeiten, gibt es nur ein kleines Fenster, durch das kaum Licht hereinfällt. Daher nehme ich die Überraschung, die sich in diesem Raum für mich versteckt hält, erst wahr, als ich den Lichtschalter betätige.

»Was ist denn hier passiert?«, sage ich laut grinsend und drehe mich zu allen Seiten um. Offensichtlich bin ich nicht die Einzige, die gestern in Sachen Weihnachtsdekoration fleißig war. Obwohl nur ein paar Sonnenstrahlen durch das Fenster fallen, reflektieren sie sich an den vielen Weihnachtsbaumkugeln und dem goldenen Lametta, das um meine Staffelei herum, zusammen mit einer bunten Lichterkette angebracht ist. Durch das hereinfallende Licht glitzert die Dekoration von allen Seiten und strahlt weihnachtliche Stimmung aus, die sich sofort mitten in mein Herz schleicht.

»Oh Eduard, ich liebe dich über alles«, flüstere ich und stecke die Stecker der Lichterketten in die Steckdose, um den Raum noch mehr zum Leuchten zu bringen.

Die bunte Dekoration und die Wärme in meinem Herzen erinnern mich sofort an vergangenes Weihnachten …

 

Weihnachten 2018

Dieses Weihnachten war das erste, welches wir als verlobtes Pärchen miteinander verbrachten und hätte eigentlich auch das letzte sein sollen, da wir im nächsten Jahr bereits verheiratet sein wollten. Ich erinnere mich noch genau an die chaotischen Tage, die sich vor dem Fest der Liebe bei uns abgespielt haben.

»Hast du gelesen, was dieser Mercier über unseren Kunststil geschrieben hat?«, sagte Eduard empört, während ich damit beschäftigt war, die Plätzchen, die ich ein paar Minuten zu lange im Ofen gelassen hatte, zu retten.

Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf, als ich den Namen Mercier aus dem Mund meines Verlobten hörte. Neugierig streckte ich den Kopf ins Wohnzimmer, wo Eduard mit einer Zeitung auf dem Sofa saß.

»Was hat er denn geschrieben?«, fragte ich und bemühte mich, so neutral wie möglich zu klingen.

»Mina Blum und Eduard Durand sind ein Künstlerpaar der Extraklasse«, begann Eduard den Zeitungsartikel, über den er sichtlich empört war, vorzulesen.

»Das klingt doch gar nicht so schlecht«, sagte ich hoffnungsvoll, obwohl ich bereits ahnte, dass es kein gutes Ende nehmen würde.

»Das sollte man meinen, aber es geht noch weiter: Nahe der Pont Alexandre III im schönen Paris führt das Paar ihren eigenen kleinen Kunstshop. Doch wer meint, dort auf extravagante Kunst mit persönlichem Stil zu treffen, wird bitter enttäuscht. Während Mademoiselle Blum abstrakter Kunst jegliche Ästhetik nimmt und offenbar nur eine Handvoll Farben zu kennen scheint, konzentriert sich Monsieur Durand auf gewöhnliche Landschaftsmalerei, der es sowohl an Tiefgang als auch an ausreichend Professionalität mangelt. Kurzum, es handelt sich bei der sogenannten Kunst des Paares um die wohl größte malerische Enttäuschung des 21. Jahrhunderts. Fazit: Zwei Maler, denen der Begriff Künstler nicht gebührt.«

Ein paar lange Sekunden sagte keiner von uns beiden ein Wort. Beißende Stille war alles, was der Zeitungsartikel in unserem Herzen hinterließ. Während bei Eduard ganz offensichtlich noch eine Welle Wut und Hass mitschwang, waren es bei mir das schlechte Gewissen und das Gefühl, versagt zu haben. Ich hätte wissen müssen, dass mein Verhalten gegenüber Florent Mercier Folgen haben würde. Wenn Eduard wüsste, dass wir diese Kritik allein mir zu verdanken hatten, wäre er vermutlich so aufgebracht, dass er das Weite suchen würde.

»Eduard, das ist …«

»Einfach unverschämt!«, beendete er meinen Satz und klappte wütend die Zeitung zusammen, um sie anschließend auf den kleinen Couchtisch zu pfeffern. Bevor ich einen weiteren Versuch starten konnte, Eduard die Wahrheit anzuvertrauen, klingelte es an der Tür.

»Sie sind da«, sagte ich mit einem Lächeln. Die Freude über den Besuch meiner besten Freundin und ihrem Freund, die beide extra aus England für ein paar Tage hergeflogen waren, verdrängte die Kritik, die unserer Karriere vor ein paar Sekunden einen gewaltigen Makel verpasst hatte.

Ein Lächeln huschte auf meine Lippen und ich eilte schleunigst zur Tür, um sie nach so langer Zeit endlich wieder in die Arme schließen zu können.

Cate stand, die Hände voller Taschen mit einem breiten Grinsen vor mir. Nach allem, was gerade in meinem Leben los war und dem diese Kritik nun noch die Krone aufgesetzt hatte, hätte ich fast ein paar Freudentränen beim Anblick meiner besten Freundin vergossen. Das letzte Jahr war bereits finanziell so schwer für Eduard und mich gewesen, dass wir sie nicht hatten besuchen können, und nun stand sie endlich wieder vor mir.

»Ich bin so froh, dass du da bist«, sagte ich und fiel ihr in die Arme.

»Und ich erst«, lachte Cate und drückte mich noch ein bisschen fester.

»Ich freue mich übrigens auch, hier zu sein«, machte sich nun auch Ian hinter Cate bemerkbar.

»Wenn sich zwei Freundinnen nach über einem Jahr wiedersehen, kannst du dich schon mal hinten anstellen«, neckte sie ihn und löste sich von mir.

»Hi, Ian.«, sagte ich und umarmte ihn kurz. »Kommt doch rein. Eduard ist im Wohnzimmer.«

Im Herbst 2017 hatte uns Cate zum ersten Mal mit ihrem neuen Freund besucht. Es war die erste Beziehung, die sie nach dem Tod ihrer einst großen Liebe Finn eingegangen war und ich hatte damals ihr erstes Date für sie eingefädelt. Anfangs hatte sie mich dafür gehasst, zudem hatten die beiden einen nicht ganz so einfachen Start, aber letzten Endes hatte mein innerer Amor doch recht behalten und die beiden fanden zueinander.

Ein paar Stunden lang saßen wir alle vier zusammen in unserem kleinen Wohnzimmer und lauschten einem Weihnachtslied nach dem nächsten, während wir verschiedene Erlebnisse austauschten und dabei ein paar der Plätzchen, die ich noch hatte retten können, verputzten.

»Komm, wir bringen die restlichen Plätzchen in Sicherheit. Sonst sind sie morgen an Weihnachten alle schon weggefuttert«, sagte Cate und schnappte sich die Schale, in der die Plätzchen angerichtet waren.

»Wir leben im 21. Jahrhundert. Das können gern auch die Männer erledigen«, entgegnete ich ihr mit einem Seitenblick zu Eduard und Ian, die beide belustigt eine Augenbraue nach oben zogen.

»Ich weiß«, sagte Cate und sah mir tief in die Augen. Sie brauchte mir nicht zu erklären, was das hieß. Beinahe sofort stand ich auf und ging zusammen mit Cate in die Küche. Hinter mir hörte ich Eduard noch »Frauen« murmeln und verdrehte die Augen.

»Also, was ist los?«, fragte ich meine Freundin, kaum waren wir außer Hörweite unserer Männer.

»Das würde ich auch gerne wissen«, entgegnete mir Cate und musterte mich mit neugierigen Augen.

»Ich hatte wirklich gehofft, das verbergen zu können«, sagte ich mit einem Lächeln, aber ich konnte spüren, wie mir meine Sorgen ins Gesicht geschrieben waren.

»Was wäre ich für eine Freundin, wenn ich dir das nicht ansehen würde? Außerdem siehst du mir auch immer alles an. Was ist passiert?«

Bevor ich Cate erzählen konnte, was hier in den vergangenen Wochen passiert war, lehnte ich mich gegen die weiße Holztheke, um mir von ihr noch ein bisschen Rückendeckung zu erhoffen.

»Es gibt da einen Kunstkritiker. Er veröffentlicht in sämtlichen Tageszeitungen, als auch in Fachzeitschriften seine Kritiken. Die Leute verlassen sich auf das, was er über Kunst zu sagen hat«, erzählte ich.

»Das klingt, als hätte er euch eine schlechte Kritik verpasst«, befürchtete Cate und landete damit einen Volltreffer.

»Schlecht ist noch untertrieben«, gab ich zu und ließ traurig den Kopf sinken.

»Hey, das wird schon wieder«, sagte Cate und nahm mich in den Arm. »Wenn die Menschen eure Kunstwerke sehen, werden seine Worte schneller verblassen als du denkst. Ihr seid wundervolle Künstler.«

»Vorausgesetzt, es bleibt die einzige schlechte Kritik«, meinte ich.

»Du glaubst, andere Kritiker werden seine Meinung teilen?«

»Nein, nicht andere …«

Misstrauisch sah mich meine beste Freundin an. Sie wusste genau, dass ich ihr noch nicht alles erzählt hatte. »Was meinst du damit?«

»Diese Kritik ist nicht die erste, die Florent Mercier über meine Kunst veröffentlicht hat.« Erst zögerte ich, Cate die ganze Wahrheit anzuvertrauen. Ich hatte Angst, wie sie mich danach sehen würde. Eigentlich wusste ich, dass ich nichts dafür konnte und ich einfach nur großes Pech gehabt hatte, dennoch plagten mich große Schuldgefühle und ich hatte Angst, dass Cate diese für berechtigt halten würde. Schließlich erzählte ich ihr, weshalb Florent Mercier diese Kritik verfasst und veröffentlicht hatte und weshalb dies nichts mit Kunst zu tun hatte.

 

Heute

Die Kunstkritik, die damals nur einen Tag vor Weihnachten veröffentlicht wurde, katapultiert mich wieder zurück ins Hier und Jetzt. Selbst heute, fast ein Jahr später, ist Florent Merciers Kritik immer noch allgegenwärtig. Er hat mit seinen Worten dafür gesorgt, dass sich der Großteil der Kunstszene von uns abgewandt hat. Die Ausstellung im Schloss Versailles ist meine Chance, Wiedergutmachung zu leisten. Wenn ich es nicht schaffe, die Kunstwelt wieder auf meine Seite zu ziehen, wären wir gezwungen, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Finanziell werden wir in der momentanen Situation nicht mehr lange durchhalten. Eduard und ich müssten uns normale Jobs suchen, um so über die Runden kommen zu können. Die Kunst wäre nur noch ein Hobby und bestenfalls ein guter Nebenverdienst. So viel steht meinetwegen auf dem Spiel. Die weiße Leinwand vor mir setzt mich zusätzlich unter Druck. Plötzlich ist mir alles zu viel. Eduard, der meinetwegen mehr leistet, als er Kraft hat. Florent Mercier, der schon seit einer kleinen Ewigkeit mein Leben in falsche Bahnen lenkt. Und die weiße Leinwand, die einfach nicht so werden will, wie ich sie mir vorstelle.

Doch durchdrehen und in Selbstmitleid verfallen sind für mich keine Option. Schnell schnappe ich mir meine Jacke und flüchte nach draußen, um meine Lungen mit frischer Luft zu füllen und einen klaren Kopf zu bekommen.

Erst eine Stunde später setze ich mich erneut vor meine Leinwand und starte einen weiteren Versuch, meine Kreativität bildlich festzuhalten.

Sechs missglückte Gemälde und eine halbe Flasche Wein später sitze ich wieder vor einer nackten Leinwand.

Es dauert noch eine halbe Stunde, in der ich einfach nur ins Leere starre, bevor ich mich schließlich dazu entschließe, es für diesen Tag sein zu lassen. Stattdessen bereite ich mir erst ein schnelles Mittagessen vor, da ich bei all der Arbeit und Verzweiflung nicht daran gedacht habe, etwas zu essen. Danach widme ich mich etwas Erfreulichem und gehe in den Keller, um unsere restliche Weihnachtsdekoration in die Wohnung zu tragen. Da ich nicht ohne Eduard anfangen will, auch wenn er mir dies geraten hat, setze ich mich anschließend an den Schreibtisch und versuche mich an ein paar Entwürfen, aus denen vielleicht das finale Kunstwerk entstehen könnte. Tatsächlich habe ich nach einigen Stunden zwei Entwürfe, bei denen ich das Gefühl habe, aus ihnen könnte tatsächlich ein besonderes Gemälde entstehen.

Spät abends kommt Eduard schließlich nach Hause. Wie immer ist er müde und erschöpft von seinem Arbeitstag und ist nicht mehr motiviert genug, unsere Weihnachtsdeko mit mir zusammen anzubringen. Nachdem er versucht hat, einige Galeristen von sich und seinen Kunstwerken zu überzeugen, ist er bei allen auf Ablehnung gestoßen. Er muss nicht extra erwähnen, dass er sich danach in die Arbeit neuer Kunstwerke gestürzt hat, aber ich wünschte, er würde einen Gang zurückschalten. Ich bin ihm auch nicht böse, dass er das Dekorieren mit mir versäumt hat, weil ich weiß, wie anstrengend seine Tage momentan sind, aber die Enttäuschung, die ich in diesem Moment verspüre, kann ich dennoch nicht gänzlich unterdrücken.