Leseprobe Winterküsse im Gutshof zum Glück

1. Unerwarteter Besuch

„Morgen, Sonnenscheinchen“, grunzte ihr eine tiefe Stimme verschlafen ins Ohr und einen Augenblick später landete der schwere Arm von Getränke-Markus auf Natalies Hüfte. Dort blieb er liegen und hinter sich vernahm sie lautes, gleichmäßiges Ein- und Ausatmen. Er schlief wieder. Getränke-Markus lag nicht unerwartet in ihrem Bett, denn sie hatte ihn am Vorabend von der Rewe-Weihnachtsfeier mit nach Hause geschleppt. Aber es war doch eine ungewohnte Situation, denn bisher hatte Natalie ihn nur als ihren Arbeitskollegen gekannt – und das nicht mal besonders gut. Schließlich jobbte sie erst seit August bei Rewe, gerade drei Monate, und das auch nur ein paar Stunden pro Woche. Eine notwendige Maßnahme, um ihr Einkommen aufzustocken und einigermaßen selbstständig über die Runden zu kommen. Sie grinste vor sich hin. Getränke-Markus, unglaublich. Er hatte ihr die Feier im Kreis der Belegschaft mehr als gerettet und sie anschließend mit allem Drum und Dran nach Hause gebracht. Dafür war sie ihm überaus dankbar, denn er hatte sich in jeder Hinsicht als positive Überraschung entpuppt. Hätte ihr das jemand noch am gestrigen Morgen gesagt, hätte sie denjenigen wahrscheinlich augenrollend für völlig verrückt erklärt. Natalies Kontakt mit Getränke-Markus hatte sich in den vergangenen Wochen nämlich auf nicht mehr als Hallo und Schönen Feierabend beschränkt.

Bis auf den einen Tag, an dem sie ihm beim Kehren des Gangs die Glühweinflaschen aus dem Regal gekegelt hatte. Gerade an diesem Tag hatten sie den Termin für die Rewe-Weihnachtsfeier mitgeteilt bekommen und im Gegensatz zu allen anderen hatte sie keinerlei Vorfreude auf das Fest verspürt. Im Gegenteil, das Thema hatte ihr mächtig die Laune verhagelt. Anfang November sollte die Party in den Räumlichkeiten des Supermarkts steigen, bevor der eine Teil der Belegschaft in familiärem Weihnachtsstress ertrinken und der andere hoch motiviert in die Karnevalssession starten konnte.

Mit einem lauten Knall war sie aus ihren mürrischen Gedanken geholt worden. „Auch das noch!“ Sie hatte leise vor sich hin schimpfend dabei zugesehen, wie der Glühwein sich unweigerlich seinen Weg durch den Gang gebahnt und dabei seinen intensiven Geruch in der Getränkeabteilung verströmt hatte. Markus, unmittelbar zur Stelle, hatte zwei, drei Flüche gemurmelt, während Natalie ihn schuldbewusst angestarrt hatte. Dann hatte er ihr wortlos Wischmopp und Eimer in die Hand gedrückt. Er selbst hatte die Scherben zusammengekehrt und entsorgt. „Es tut mir leid“, war ihre Entschuldigung damals kleinlaut ausgefallen, in der Befürchtung, dass das Riesendonnerwetter noch ausstand. Doch seine Antwort und sein anschließendes Verhalten hatten sie mehr als irritiert.

„Muss dir nicht leidtun, ist ja nicht deine Schuld, dass hier jetzt schon der Weihnachtskram in den Regalen steht. Aufwischen und Mopp wieder auswaschen“, hatte er angeordnet. Dann hatte er sie im Gang stehenlassen und auch in der darauffolgenden Zeit war er Natalie aus dem Weg gegangen.

Gestern Abend war dann alles anders gekommen. Sie waren wie der Grinch im Doppelpack gewesen. Keiner der beiden hatte auch nur ansatzweise Weihnachtsstimmung verbreitet, was sie schnell zu Außenseitern oder – um es mit den Worten der Kollegen zu sagen – zu Spaßbremsen gemacht hatte. Den Partyspielen, die Elke und Anita für alle vorbereitet hatten, konnten sie beim besten Willen keinen Spaß abgewinnen, die Dauerschleife aus Last Christmas und Féliz Navidad war schwer zu ertragen. Natalie wäre liebend gern zu Hause geblieben und hätte sich diese Qual erspart. Aber es hatte einen triftigen Grund gegeben, an dieser Firmenveranstaltung teilzunehmen. Wie sich schnell herausstellte, war es der gleiche, der auch Markus motiviert hatte zu kommen. Neben einem ausgesprochen reichhaltigen Buffet und vielen alkoholischen Getränken wurden die Anwesenheitszeiten der Mitarbeiter nämlich als Arbeitszeiten erfasst. Noch leichter konnten sie kaum Geld verdienen, es hieß also durchhalten. So ergab sich für Natalie zum ersten Mal die Möglichkeit, sich intensiv mit Markus zu unterhalten, und im Laufe des Abends hatte sie mehr und mehr Gefallen an ihm gefunden. So sehr, dass sie den restlichen Abend in ihre Wohnung verlegt und die Nacht miteinander verbracht hatten.

Natalie fröstelte und öffnete widerstrebend die Augen. Ein Blick in Richtung Fenster bestätigte, was sie bereits vermutet hatte. Kleine Eisblumen rankten sich am Glas, die Heizung war schon wieder ausgefallen. Dieses Ding war nur in einer Sache verlässlich, nämlich darin, dass sie immer wieder den Dienst versagte. In einer besseren Wohnung wäre das wohl nicht passiert, aber eine solche konnte sie sich derzeit aus eigener Kraft nicht leisten. Und eine Wohngemeinschaft kam nicht in Frage. Sie brauchte ihren Freiraum, Raum für sich. Denn wenn sie nicht gerade Regale im Supermarkt befüllte, studierte Natalie an der Fernuniversität Literaturwissenschaften. Außerdem lektorierte sie Manuskripte für ihren guten Freund Dennis, der bei einem renommierten Verlag untergekommen war und sie wahnsinnig gern bereits fest als Lektorin eingestellt hätte. Aber dazu fehlte ihr bisher der erforderliche akademische Abschluss. „Da beißt die Maus keinen Faden ab“, hatte Dennis gesagt. „Die stellen dich erst fest ein, wenn du den Abschluss hast. Bis dahin darf ich dir nur überschaubare Auftragsarbeiten geben.“ Immerhin hatte sie damit eine Perspektive und das gab ihr Kraft. Der Fernunterricht brachte so manche Tücken mit sich und es kostete sie viel Energie, die notwendige Disziplin aufzubringen.

„Ganz schön kalt bei dir“, hörte sie Markus hinter sich grummeln. Seine Hand verschwand unter der Bettdecke und Natalie spürte, wie er über ihre Schenkel und den Rücken streichelte, etwas kalt, aber trotzdem sehr angenehm.

„Morgen.“ Sie seufzte und räkelte sich wohlig unter der Berührung. „Die Heizung ist mal wieder ausgefallen. Wir sollten einfach im Bett bleiben und dafür sorgen, dass uns richtig warm wird.“

Markus hielt inne und ließ die Hand auf Natalies Schulter liegen. „Was soll das denn bedeuten, mal wieder ausgefallen? Der Winter kommt, du musst da dringend was machen lassen.“

Natalie hörte seinen besorgten Ton, schwieg aber. Sie hatte keine Lust, jetzt mit Markus über ihre Wohn- und Lebenssituation zu sprechen. Es war nun mal so und es ging ihn, nebenbei bemerkt, überhaupt nichts an. Sie würde sich später schon darum kümmern.

„Natalie?“, fragte er, als wollte er sich vergewissern, dass sie ihn gehört hatte. „Der Winter steht vor der Tür.“ Seine Hand hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und streichelte ihren Rücken.

„Schon gut, Jon Schnee“, erwiderte Natalie seufzend und drehte sich zu ihm um „Es ist nur eine Kleinigkeit, das passiert hin und wieder. Gehört mehr oder weniger zu den Special Effects der Wohnung. Ich hinterlasse der Hausverwaltung eine Nachricht, wenn du weg bist, und nächste Woche kommt der Hausmeister vorbei. Der hat ein Händchen für die alte Heizung.“ Sie grinste verschlafen und schmiegte sich an seinen warmen, nackten Körper.

„Nächste Woche erst?“

„Ja, nächste Woche“, bestätigte sie und küsste seine Brust.

Doch Markus schien plötzlich wenig empfänglich für ihre Liebkosungen und deshalb suchte sie erneut seinen Blick. „Woran denkst du? Ist dir gerade eine feste Freundin eingefallen, die du mir bisher verschwiegen hast und die uns jetzt nach dem Leben trachtet?“

Er schüttelte den Kopf. „Quatsch, das nicht, aber ich muss gleich los. Hab Nachmittagsschicht.“

„Klar, wenn du gehen musst, musst du gehen.“ Sie sah ihn herausfordernd an und Markus setzte eine ernste Miene auf. Er musterte sie eine Weile. Wie sollte sie sein Schweigen deuten? „Verstehe“, ergriff Natalie wieder das Wort, „du hast Schiss vor dem Morgen danach. Keine Sorge, ich kann auf mich aufpassen. Jede Nacht ist irgendwann mal zu Ende. Geh ruhig, ich komme klar.“ Natalie sprach in ruhigem Ton, sachlich, keinen Augenblick zeigte sie sich gekränkt.

Er sah auf, zog die Augenbrauen hoch und schien seine Gedanken zu sortieren. Einige Sekunden verharrte er noch in dieser Haltung, dann fuhr ein Ruck durch seinen Körper. Er setzte sich auf und suchte seine Klamotten auf dem Fußboden zusammen. „Ich geh erst mal ins Bad“, sagte er dann leise.

Natalie zog die Decke bis zur kalten Nasenspitze hinauf und beobachtete ihn, bis er im Bad verschwunden war. So ein Morgen danach kam in ihrem eigenen Zuhause nicht so oft vor. Wenn, dann schlief sie auswärts und konnte sich aus der Affäre ziehen, wann immer es ihr beliebte. „Da ist ein elektrischer Lüfter im Bad, wenn du den anmachst, ist es nicht so schlimm, und Handtücher sind im Regal“, rief sie Markus nach, als er die Tür schon hinter sich geschlossen hatte. Einige Minuten verstrichen, bis sie entschied ebenfalls aufzustehen und Kaffee zu kochen. Aus dem Schrank zog sie einen großen Stapel frischer Wäsche, durchsuchte ihn und wurde fündig. Den Rest der Klamotten ließ sie auf dem Bett liegen. Zu guter Letzt warf sie ihren dicken Schlabberpulli aus Alpakawolle über und zog die Hüttenstiefel an. Dann brachte sie die Kaffeemaschine in Gang. Die Menge des Kaffeepulvers, die sie hineingeschaufelt hatte, versprach wach zu machen, denn auch auf sie wartete heute noch ein Wust an Arbeit. Dennis hatte sich bereits vor einigen Tagen nach dem Bearbeitungsstatus des aktuellen Manuskripts erkundigt und es war in ihrem eigenen Interesse, schnell zu sein. Erst nach vollständig geleisteter Arbeit landete die Kohle auf ihrem Konto. Dort musste sie auch unbedingt hin, denn die nächste Miete hatte sie noch nicht zusammen. Das Einzimmerappartement mit Kochnische und angrenzendem Bad war zwar günstig, aber nicht umsonst, und bis auf das Dauerthema mit der Heizung kam Natalie einigermaßen klar. Ihre Ansprüche waren bescheiden und so kalt wurden die Winter in Köln sowieso nie. Die Nächte hier waren im Vergleich zu mancher Winternacht auf Gut Beeken, die sie als Kind erlebt hatte, vergleichsweise lau. Markus sollte sich nicht so anstellen.

Während die Kaffeemaschine röchelte, stand Natalie mit verschränkten Armen an den Küchenschrank gelehnt und rieb sich über die Arme, um sich aufzuwärmen. Sie betrachtete Munchs Gemälde Der Schrei, ein überdimensionales Poster in einem ansprechenden Bilderrahmen. Natalie mochte das Gemälde sehr. Das Poster und der passende Rahmen hatten zusammen mehr gekostet als der faltbare Kleiderschrank, der ebenfalls dort an der Wand stand. Sie sah auf ihr Bett und den Stuhl, auf dem sich Schmutzwäsche türmte, und entschied, dass es nun wirklich an der Zeit war, dieses Chaos zu beseitigen. Schon bevor sie am Vortag gegangen war, hätte sich ihre Wohnung über eine Reinigung gefreut, aber Saubermachen und Aufräumen gehörten nun einmal nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Nun, nach dem ausgelassenen Abend mit Markus, war es definitiv an der Zeit, einen Putzmarathon zu starten. Wenigstens würde ihr dabei etwas warm werden. Sie schnaufte lustlos und während Markus im Bad geräuschvoll hantierte, nahm sie die leeren Flaschen und Gläser von dem kleinen Tisch. Sie sah sich suchend um und stellte alles in die Spüle.

„Ach“, entfuhr es ihr und Natalie ließ ihren Blick durch das Zimmer gleiten. Wo hatte sie denn die Handtasche vergraben? Das gute Stück lag unter dem Schreibtisch. Sie zog sie hervor und ihr Gewicht verriet sofort, dass sich darin nicht nur Handy und Portemonnaie befanden. Mit einem verschmitzten Lächeln öffnete sie den Reißverschluss und zog eine halbvolle Flasche Schnaps hervor. „Guten Morgen, Williams Christ.“

Sie stellte die Flasche Birnengeist demonstrativ auf den kleinen Tisch neben die Kaffeebecher und blickte wieder zur Badezimmertür. Was machte Markus denn so lange da drin? „Hey“, rief sie forschend, „alles in Ordnung bei dir?“

„Ja“, antwortete er und schon einen Augenblick später rauschte die Dusche.

Na schön, dachte sich Natalie. Dann trinke ich den ersten Kaffee eben allein. Sie setzte sich in den Sessel, schaltete den kleinen Fernseher an und wärmte sich die Hände an der heißen Tasse. Das Programm war wenig unterhaltsam. Sie zappte und blieb auf einem Musikkanal hängen, bis Markus endlich aus dem Bad kam. „Und, erfrischt?“, fragte Natalie mit spöttischem Gesichtsausdruck. Er tat ihr ein wenig leid, denn im Gegensatz zu ihr war Markus die unangenehm kalte Dusche nicht gewohnt. „Du kannst dir einen Kaffee zum Aufwärmen holen, Glühwein gibt es hier nicht.“

„Ja, danke vielmals. Aber mir ist nicht mehr kalt“, erwiderte er und grinste. „Du hast warmes Wasser, wenn du willst, und hier drinnen dürfte es auch gleich angenehmer werden.“

Natalie sah ihn skeptisch an. „Du hast die Heizung repariert?“, fragte sie dann ungläubig.

„Wie man’s nimmt. Ich habe mir die Therme angesehen, ein bisschen dran gewackelt. Es sah für mich auf den ersten Blick alles okay aus und da habe ich sie auf Verdacht eingeschaltet. Läuft vorerst wieder, scheint nichts Wildes dran kaputt zu sein. Ich hoffe, du bist nicht böse, dass ich dich nicht vorher gefragt habe.“

„Kein Stück“, entgegnete Natalie zufrieden und wartete, bis er mit seiner Kaffeetasse auf dem gegenüberliegenden Sessel saß.

„Es gibt da noch etwas, was ich dir sagen wollte“, begann Markus, machte dann aber eine Pause und sah Natalie mit klarem Blick an.

Was jetzt wohl kommt, ging es ihr durch den Kopf. Welchen Grund gab es, so herumzudrucksen? „Was denn?“ Sie musste einen Moment auf die Antwort warten, denn Markus hatte gerade einen ersten Schluck aus der Tasse genommen und verzog augenblicklich angewidert das Gesicht.

„Wie viel Kaffeepulver hast du denn da reingetan?“

Natalie hob unschuldig die Augenbrauen, gab aber keine Antwort.

„Hast du Milch und Zucker da?“, wollte er wissen, aber sie schüttelte den Kopf. „Dann hoffe ich, dass du es mir nicht übel nimmst, dass ich dein fabelhaftes Gebräu nicht austrinke.“ Er stellte die Tasse auf den Tisch und Natalie grinste amüsiert.

„Wenn du jetzt mit dem rausrückst, was du ursprünglich sagen wolltest, nehme ich dir gar nichts übel.“

Er sah sie ernst an und sein Blick ließ etwas Nervosität in ihr aufkeimen. Er stutzte noch einen Moment, dann sprudelten die Worte aber geradezu aus ihm hervor: „Ich … also, ich habe kein Problem mit dem Morgen danach und auch wenn ich jetzt gehen muss, fände ich es schade, wenn du schon einen Haken hinter uns beide machen würdest.“

Natalie verschluckte sich an ihrem Kaffee und musste husten. „Was?“, fragte sie, als sie wieder Luft bekam, und sah ihn irritiert an.

Er lächelte. „Du weißt genau, was ich meine.“

Natalie wusste nicht, wie ihr geschah. Getränke-Markus hatte sich gerade auf recht charmante Art und Weise ihre Aufmerksamkeit gesichert. Er zog sich Jacke und Schuhe an, während sie noch immer etwas überrumpelt ihre Tasse abstellte und die drei Schritte zur Tür ging, um ihn dort zu verabschieden.

Markus umarmte sie zum Abschied zärtlich und küsste sie auf die Wange. „Denk wenigstens mal drüber nach, ob das mit uns irgendwohin führen könnte.“ Intensiv spürte Natalie jetzt seine Nähe und der Moment des Abschieds hätte von ihr aus ruhig länger dauern können, aber da wandte er sich schon ab. Zügig, ohne sich umzusehen, lief er die Stufen hinab. Natalie blieb noch einen Augenblick auf dem Absatz stehen, so lange, bis sie das Schnappen der Haustür hörte. Dann schloss sie nachdenklich die Wohnungstür und beschloss den dicken Pulli loszuwerden. Ihr war warm geworden und das lag nicht nur daran, dass die Heizung wieder funktionierte.

 

Die ausgiebige warme Dusche an diesem späten Morgen war eine unerwartete Wohltat. Natalie genoss die Wasserstrahlen auf ihrer Haut und musste immer wieder an Markus denken. Wie hatte er das vorhin wohl gemeint? Hatte er sich etwa spontan in sie verliebt? Gab es vielleicht tatsächlich so etwas wie eine Zukunft für sie beide? Natalie wickelte sich in ihr Handtuch. Wirklich in den Sinn gekommen war ihr diese Möglichkeit bisher nicht. Wohin sollte das auch führen? Potenziell dorthin, wohin alle ihre Beziehungsversuche führten, auch wenn sie sich noch so große Mühe gab: Sie würde ihm spätestens nach ein paar Wochen den Laufpass geben, weil ihr der unumgängliche Beziehungskram auf die Nerven und auch viel zu sehr unter die Haut ginge. Weil unweigerlich die alte Wunde wieder aufreißen würde. Vorher würde sie sich ständig rechtfertigen müssen, warum sie die Gefühle des anderen nicht ausreichend erwidern konnte. Ein Teufelskreis. Nach allem, was damals mit ihm – mit Nick – geschehen war, musste sie sich einfach schützen. Für sie war klar, dass sie nie wieder so stark für einen anderen Menschen empfinden könnte, es vielleicht auch gar nicht wollte. Bisher hatte sie niemanden gefunden, dem genügte, was sie bereit war zu geben. Oder wollte Markus vielleicht gar keine Beziehung und meinte etwas anderes? Eine Freundschaft mit besonderen Vorzügen? Unverbindlicher Sex unter Kollegen?

Das durchdringende Geräusch der Wohnungsklingel riss Natalie aus ihren Gedanken. Wer konnte das sein? Besuch erwartete sie nicht. Markus? Hatte er etwas vergessen? Wie gut, dass sie noch nicht wieder angezogen war. Vielleicht konnte sie ihn dazu bewegen, doch noch etwas zu bleiben. Barfuß ging sie zur Tür und blickte durch den Spion. Überrascht sog sie die Luft ein. Es war nicht Markus. Im Hausflur wartete ihre ältere Schwester Carolina. Mit ihr hatte sie am allerwenigsten gerechnet. Welchen Grund konnte sie haben, der diesen spontanen Überfall rechtfertigte? Ohne zu zögern, öffnete Natalie die Tür. „Mensch, Caro, was machst du denn hier?“ Mit verwundertem Gesichtsausdruck schloss sie die Tür, als ihr Überraschungsgast eingetreten war, und umarmte sie vorsichtig. „Ist was passiert?“, fragte sie und fügte in Gedanken hinzu: Muss ja, ohne Grund kreuzt du doch hier nicht auf.

Caro zog die Schultern leicht nach oben. Sie hatte einen kleinen Trolley dabei, den Natalie argwöhnisch zur Kenntnis nahm. Wollte sie etwa länger bleiben? Doch Carolina schien die Gedanken ihrer Schwester zu erahnen. „Keine Sorge, ich bleibe nicht lang, sondern bin schon auf dem Sprung nach Hause. Die letzten zwei Tage habe ich hier in Köln bei Olaf verbracht.“

Natalie runzelte die Stirn. „Immer noch der Arzt?“ Ihre Schwester war bestimmt nicht nur hier, um über ihre Affäre zu plaudern. „Na, dann mach’s dir mal bequem, ich ziehe mich schnell an und wir können quatschen. In der Maschine ist Kaffee, bedien dich. Milch und Zucker sind aus.“

 

„Also, was verschlägt dich hierher, wenn ich fragen darf? So ganz ohne Ankündigung“, wollte Natalie einige Minuten später wissen, als sie nun, wie nur kurz zuvor mit Markus, ihrer Schwester gegenübersaß.

Carolina knetete nervös ihre Finger. „Natalie, ich muss dich um etwas bitten. Aber ich weiß nicht, ob es richtig ist.“ Sie sah an ihrer Schwester vorbei aus dem Fenster. „Es geht um Olaf. Wir sind jetzt schon eine Weile zusammen. Und ich hätte jetzt endlich die einmalige Möglichkeit, unsere Beziehung zu festigen und offiziell zu machen. Aber dafür benötige ich deine Hilfe.“

Natalie kniff nachdenklich die Augen zusammen. „Du weißt, dass du meinen Segen dafür nicht brauchst. Du bist eine erwachsene Frau, kannst tun und lassen, was du willst, das geht mich nichts an.“ Natalie klang nüchtern. „Du musst mir auch nichts vormachen. Soweit ich das beurteilen kann, hast du keine Beziehung mit Olaf, sondern er betrügt mit dir seine Frau. Wenn er sie nicht bereits verlassen hat, frage ich mich, wie ich dir dabei helfen kann.“ Sie stockte plötzlich und starrte Carolina mit großen Augen an. „Du willst doch nicht etwa, dass ich sie aus dem Weg räume!?“

„Quatsch!“ Carolina seufzte, lehnte sich zurück und sah sich mit einem geringschätzigen Blick in der Wohnung um.

„Ich weiß, wie es hier aussieht“, warf Natalie ungeduldig ein und setzte mit einem Augenzwinkern hinzu: „War ’ne wilde Nacht. Erzähle ich dir später, jetzt bist du dran. Du wirst dich nicht wegen einer Lappalie auf den Weg zu mir gemacht haben.“

Carolina seufzte erneut. Es fiel ihr sichtlich schwer, die richtigen Worte für ihr Anliegen zu finden. „Schon in ein paar Tagen findet eine Fortbildung für Ärzte statt. Olaf nimmt daran teil und wenn ich ebenfalls dorthin fahre, dann könnte ich die große Chance haben, ihn endlich für mich zu gewinnen, und ihn davon überzeugen, sich von seiner Frau zu trennen.“

Natalie sah ihre Schwester stirnrunzelnd an. „Das ist doch das, was ihr immer macht. Ihr besucht dieselben Seminare, teilt euch das Hotelzimmer und dann geht es wieder nach Hause. Wie kommst du darauf, dass es jetzt anders werden könnte und er sich plötzlich trennt?“

Carolina kauerte auf dem Sessel. Aus großen, schmachtenden Rehaugen blickte sie ihre Schwester an. Ein merkwürdig demütiges Verhalten, das Natalie an ihrer Schwester nicht kannte, und sie fragte sich, was in den vielen Jahren der Trennung noch zwischen ihnen beiden verloren gegangen war.

„Also“, begann Carolina dann zögernd und mit leiser Stimme. „Dieses Mal ist es etwas anderes. Das Seminar dauert ganze zwei Wochen und findet auf einem Kreuzfahrtschiff statt. Olaf und ich könnten uns eine Kabine teilen und würden die meiste Zeit miteinander verbringen. So würde Olaf sicher unweigerlich begreifen, dass er nur noch mit mir zusammen sein will. Ich bin die Frau, die ihn glücklich macht.“

„Eine Kreuzfahrt“, wiederholte Natalie anerkennend. „Wo soll’s denn hingehen?“

„Kanarische Inseln“, antwortete Caro etwas bedrückt.

„Nicht schlecht, Frau Doktor. Aber wie kann ich dir dabei helfen?“

Carolina knetete wieder nervös die Hände und Natalie ahnte, dass das wirkliche Problem jetzt erst zur Sprache kam. „Du sollst für zwei Wochen auf Lucas aufpassen,“ ließ sie schließlich die Bombe platzen.

Natalie blieb vor Überraschung der Mund offen. „Wie bitte? Schau dich mal um, wo soll ich denn hier ein Kind unterbringen?“, fragte sie, als sie ihre Sprache wiederfand.

„Das ist es ja, worum ich dich bitten möchte. Du sollst nicht hier auf Lucas aufpassen, sondern zu Hause bei Papa und Irina. Lucas muss schließlich auch zur Schule gehen.“

Wie erschlagen sank Natalie in ihrem Sessel zusammen. Sie starrte fassungslos vor sich hin und wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. „Weißt du eigentlich, was du da von mir verlangst?“, fragte sie schließlich kopfschüttelnd.

Eine Weile schwieg Carolina, dann ergriff sie mit Tränen in den Augen erneut das Wort. „Natalie, ich würde dich nicht fragen, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe. Bitte, tu es für mich. Ich muss um Olaf kämpfen, ich will ihn nicht verlieren. Er ist die Liebe meines Lebens.“

Nur langsam löste Natalie sich aus der Starre. Ihr Herz schlug heftig. Es war ein wildes Pochen, lang verdrängt und unterdrückt, aber noch genauso stark wie früher. Es tat weh und sie konnte kaum atmen. „Das kann unmöglich dein Ernst sein.“ Sie sah Caro aus schmerzerfüllten Augen an, doch die nickte. „Wie lange war ich nicht mehr dort? Fünfzehn Jahre? Selbst wenn ich wollte, wie soll das bitte funktionieren? Guten Tag zusammen, da bin ich?“ Natalie schüttelte entschieden den Kopf. „Caro, ich bin doch nicht verrückt“, wehrte sie mit zitternder Stimme ab. Ihr Magen meldete sich und sie hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. „Hast du irgendwem auf dem Gut von deiner Idee erzählt?“, wollte sie wissen, als ihre Schwester offensichtlich nicht von allein weitererzählen wollte.

„Nein.“ Sie blickte zu Boden. „Ich wollte zuerst mit dir sprechen, bevor ich zu Hause nachfrage.“

„Zu Hause“, Natalie sprach es sanft, fast wehmütig aus. „Es klingt sehr sonderbar, wenn du es so nennst. Gut Beeken ist schon lange nicht mehr mein Zuhause.“

Caro schniefte leise und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. „Bitte, Natalie, ich hatte gehofft, dass gerade du weißt, was es heißt, die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Olaf ist meine große Liebe und ich muss um ihn kämpfen. Natalie, ich bitte dich, ich flehe dich an, komm nach Hause und pass die zwei Wochen auf Lucas auf. Papa ist ständig als Hundetrainer unterwegs und Irina bloß mit ihrem eigenen Kram beschäftigt. Bitte, ich habe keine Ruhe, wenn Lucas beinahe auf sich allein gestellt ist.“

Natalie zog eine Packung Tempos aus ihrer Handtasche. Eines nahm sie für sich selbst, den Rest warf sie in einer müden Bewegung zu ihrer Schwester hinüber. „Und du findest, dass es fair ist, gerade jetzt auch noch Nick ins Spiel zu bringen?“, fragte sie eintönig und spürte, wie sich ihr Hals zusammenzog, als sie den Namen aussprach.

„Nein“, antwortete Carolina. „Nein, das ist nicht fair. Aber vielleicht hilft es dir, mir zu helfen. Gerade du kennst den Schmerz der verlorenen Liebe und weißt, wie sehr ich leide. Ich … bezahle dich auch.“

„Als ob du das mit Geld aufwiegen könntest.“ Natalie seufzte niedergeschlagen, spürte aber, wie ihr Widerstand bereits in sich zusammenfiel. „Und was ist mit Lucas? Der spricht ja noch nicht einmal mit mir.“

2. Ankunft auf Gut Beeken

Der Bus nach Weidingen fuhr pünktlich im belgischen Städtchen Sankt Vith ab und würde Natalie in weniger als dreißig Minuten an ihr Ziel gebracht haben. Wie im Traum hatte sie sich auf den Platz am Fenster gesetzt und starrte nun, vom gleichmäßigen Motorengeräusch begleitet, aus dem Fenster. Die Landschaft hätte sich an diesem Vormittag im Herbst nicht traumhafter zeigen können. In malerischer Schönheit breiteten sich die farbenprächtigen Wälder und Äcker vor ihr aus. Verträumt käuten die Rinder auf den Weiden wieder und schienen die letzten wärmenden Strahlen der goldenen Herbstsonne zu genießen. Die Provinz zeigte sich in einträchtiger Idylle, aber Natalie wusste, dass dies nur der schöne Schein war. Schmerzhafte Erinnerungen und lang verdrängte Gefühle bahnten sich augenblicklich ihren Weg an die Oberfläche. Gedanken an eine friedliche Kindheit, ein Leben auf dem Land umhüllt von Geborgenheit, die ihr jähes Ende gefunden hatte, als die Ehe der Eltern in die Brüche gegangen und Natalie von einem Tag auf den anderen abgereist war. Diese Gedanken rangen um Aufmerksamkeit und konkurrierten mit den Gedanken an Nick, in den sich Natalies junges, unerfahrenes Herz so unsterblich verliebt hatte. Immer wieder drängten sich sein hübsches Gesicht, seine warme Stimme und seine tiefblauen Augen in ihre Vorstellung.

Mit einer unwirschen Kopfbewegung versuchte sie die Erinnerung an ihn abzuschütteln und sah sich stattdessen im Bus um. Mit ihr fuhren ein älterer Herr, elegant gekleidet mit einem auffällig karierten Hut, zwei Frauen, vielleicht Mitte vierzig, die eine Wanderkarte studierten, und eine Frau mit zwei Kleinkindern, die sich lautstark über ein Bilderbuch austauschten. Wehmütig beobachtete Natalie die beiden, die noch so sorglos und naiv im Leben standen. Sie waren gut beraten, wenn sie auf der Hut blieben und sich in Acht vor den Menschen nahmen. Zu gut wusste sie, welches Leid einer arglosen Seele hier widerfahren konnte.

So viele Jahre waren bereits vergangen, seit sie Gut Beeken mit ihrer Mutter und Jochen verlassen hatte. So vieles war mittlerweile geschehen. Sie hatte eine neue Familie bekommen, ein neues Leben in Deutschland begonnen, die Schule in Köln beendet und auch die neue Familie verlassen. Dieser Abschied war ein freiwilliger gewesen – ganz anders als damals –, um sich zurückzuziehen. Das neue Leben mit den Stiefschwestern, den vielen Reisen und dem Konsum hatte sie wenig erfüllt. Ganz im Gegenteil hatte es den Wunsch nach Ruhe in ihr geschürt. Natalie hatte Zeit gebraucht, um zu sich zu finden. Der mittlerweile spärliche Kontakt hatte die junge Frau nachsichtig mit ihrer Mutter werden lassen. Sie konnte es inzwischen leichter ertragen, dass Norma nicht die Mutter gewesen war, die Natalie gebraucht hätte. Nun wohnte sie schon einige Jahre in ihrer kleinen, mehr als bescheidenen Wohnung. Dort hatte Natalie endlich die schlimme Zeit der Trennung – der ihrer Eltern und ihrer eigenen von Nick – vergessen können. Sie hatte ihr Leben wieder in den Griff bekommen und mit dem Lektoren-Job bei Dennis ein attraktives Ziel vor Augen. Niemals hatte sie in Erwägung gezogen wieder nach Ostbelgien zu kommen. Nun, in dem Augenblick, da die Rückkehr in die Vergangenheit bevorstand, waren die schrecklich traurigen Erinnerungen wieder allgegenwärtig. Natalie fühlte ihr Herz in der Brust schlagen, so als wehrte es sich heftig und versuchte davonzueilen, um nicht erneut verletzt zu werden. Hier hatte es die süße Leidenschaft der ersten Liebe erfahren und war kurz darauf rücksichtslos gebrochen worden. Die Erinnerung an Nick, der ihrem Herzen die schönste und schlimmste Erfahrung beschert hatte, die schmerzende Wunde, die er hinterlassen hatte, schien in diesem Augenblick so frisch wie nie. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und atmete schwer. Ihr Brustkorb schien zum Bersten gespannt, urplötzlich fühlte sie sich wieder wie die fast fünfzehnjähre Natalie und es war, als wäre sie nie fortgewesen.

Auch sonst schien hier in der Provinz alles beim Alten geblieben zu sein. Der Bus hielt noch immer an der kleinen Holzbrücke, die über den Bach führte. Noch immer standen dort Bänke, die zum Verweilen und Träumen einluden und von üppigen Goldrutenbüschen eingefasst waren. Die imposanten Büsche, welche im Spätsommer und Herbst ihre gelbe Blütenpracht stolz zur Schau stellten, trugen bereits ihr Winterkleid. Die weißen Samen sahen aus, als hätte jede der kleinen Blüten einen Pelz übergestreift, um der nahenden rauen Kälte des Winters zu trotzen. Als Natalie aus dem Bus stieg, fühlte sie sich wieder wie ein kleines Mädchen. Sie setzte die weinrote Wollmütze auf und zog die passenden Handschuhe über, dann blickte sie die Straße hinauf, die sich aus dem Ort schlängelte und zum etwas außerhalb gelegenen Gut Beeken führte. Ihrem ehemaligen Zuhause, dem Zuhause ihres Vaters und seiner neuen Frau, ihrer Schwester Carolina und deren Sohn Lucas, um den sie sich nun kümmern sollte. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen?

 

Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Carolina erstmals seit ihrer Jugend unerwartet den Kontakt zur jüngeren Schwester gesucht. Die Trennung der Eltern hatte auch für einen Bruch zwischen ihnen gesorgt. Das Verhältnis zwischen den beiden Mädchen war bereits im heranwachsenden Alter schwieriger geworden. Der Weggang aus Weidingen hatte das Schweigen zwischen ihnen besiegelt und Natalie hatte sich damit abgefunden. Dann war Caro aus heiterem Himmel wieder aufgetaucht. Nach anfänglichem Sträuben Natalies hatten sie sich vorsichtig aneinander herangetastet und damit begonnen, sich neu kennenzulernen. Das Pflänzchen der wiedererwachten Geschwisterliebe war noch sehr zart und von Zurückhaltung geprägt. Wobei Natalie diejenige war, die weiterhin auf die Bremse trat. Wenngleich unregelmäßige Treffen mit Carolina – bisher ausschließlich in Köln – stattfanden, hatte sie sowohl den Kontakt zu ihrem Vater und Irina, seiner neuen Frau, als auch das Gespräch über die beiden tunlichst vermieden. Ganze zweimal hatte sie Lucas getroffen. Damals war er fünf Jahre alt gewesen und hatte sich auf die Schule gefreut. Er schien ein bisschen verzogen, hatte kein Wort mit ihr gewechselt, aber wer konnte es ihm verdenken. Carolina hatte erzählt, dass sie ihn allein großzog, und hüllte sich über Lucas’ Vater in Schweigen. Sie kam ihren mütterlichen Aufgaben nach, so gut sie konnte. Alleinerziehend zu sein und gleichzeitig im Schichtbetrieb eines Krankenhauses zu arbeiten war bestimmt nicht einfach. Klar, dass Lucas hin und wieder über die Stränge schlug, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu erlangen. Ihm gegenüber durfte sich Natalie keinesfalls anmerken lassen, dass sie von der Idee seiner Mutter, für zwei Wochen seinen Babysitter zu spielen, wenig begeistert war. Sie war sich sicher, wenn sie Angst oder Unsicherheit zeigte, würde das Zusammenleben mit dem Jungen eine einzige Quälerei werden. Auch für Lucas war die Entscheidung seiner Mutter eine kurzfristige Überraschung gewesen. Ganze sechs Tage hatte er gehabt, um sich darauf einzustellen, dass eine Frau, die er nur flüchtig kannte, auf ihn aufpassen sollte. Ach, Carolina, was tust du uns an? Ich hoffe inständig, dass dein Olaf-Arzt das auch alles wert ist.

Natalie ging langsam die Straße entlang und betrachtete die Häuser. Die Bäckerei zu ihrer Rechten war geöffnet und verströmte den angenehmen Duft von frischen Backwaren. In ihrem Brustkorb verkrampfte es sich und die Erinnerungen daran, wie sie hier als Kind Brötchen geholt hatte, brachen sich Bahn. Wie unbeschwert damals alles gewesen war und wie glücklich. Nicks Gesicht tauchte wieder vor ihrem inneren Auge auf. Vorsichtig wagte sie einen Blick durch das Fenster, doch die Frau hinter dem Verkaufsstand war nicht Martina, Nicks Mutter. Es war eine Fremde, vielleicht in Natalies Alter, vielleicht auch etwas jünger. Sie nahm sich nicht die Zeit, genauer hinzusehen, denn urplötzlich überkam sie die Angst, Nick könnte ihr genau hier und jetzt über den Weg laufen. Das wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Natalie beschleunigte ihre Schritte und sie sah ihren Atem in großen Wolken vor ihrem Gesicht aufsteigen. Fast gehetzt blickte sie sich um. Das Blumengeschäft auf der gegenüberliegenden Straßenseite war geschlossen. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Mit bangem Herzen sah Natalie in die fremden Gesichter und fragte sich, ob es überhaupt noch irgendjemanden in Weidingen gab, der sie kannte. Noch vier weitere Wohnhäuser passierte sie, dann lag der Dorfkern hinter ihr und sie verlangsamte ihren Schritt wieder. Vor Natalie breiteten sich die Felder von Gut Beeken aus. Zwischen Acker und Wiese führte die Straße nun die Anhöhe hinauf zum pompösen Gutshaus, einem kastenförmigen Bau aus Sandstein mit hohen Fenstern, die links und rechts von blauen Holzläden geziert wurden. Von ihrem Kinderzimmer im ersten Stock aus hatte Natalie als Kind das ganze Dorf überschauen können. Viele Stunden hatte sie hier am Fenster verbracht, wie auf einem Beobachtungsposten. „Kind, du stehst uns in den Füßen. Geh nach oben und halte Ausschau, wann die ersten Gäste kommen“, hatte ihre Mutter damals gesagt und sie aus der Küche oder dem Saal verbannt, während die ältere Carolina schon bei den Vorbereitungen helfen durfte. Die Sommerfeste auf Gut Beeken waren unvergessen. Damals hatte Natalie die Feiern, bei denen sich sämtliche Dorfbewohner in ihrem Zuhause eingefunden hatten, für selbstverständlich gehalten. Sie hatte die Aufregung und die Vorbereitungen, die bereits mehrere Tage zuvor die ganze Familie beschäftigt hatten, geliebt. Wenn dann die Gäste nach und nach eintrudelten und noch mehr Leben ins Haus brachten, war sie eingetaucht in die heitere Gesellschaft und immer hatte Papa ihr ein neues Kleid geschenkt. Papa, Natalie seufzte. Als sie mit ihrer Mutter zu Jochen und seinen beiden Töchtern gezogen war, hatte sie die Feste vermisst. Jochen hatte für das Landleben nicht viel übrig. Stattdessen hatte er mit seinen vier Frauen, wie er sie immer nannte, Städtetrips unternommen und die Patchwork-Familie in luxuriöse Cluburlaube entführt. Es gab keine Bemühung, die Verbindung nach Gut Beeken zu halten. Natalies Schritte wurden noch langsamer, bis sie endlich stehenblieb und sich suchend umsah. Carolina wollte mit Lucas gegen zwölf von der Schule kommen. Damit sie noch ein wenig gemeinsame Zeit verbringen konnten, bevor ihre Schwester schon heute Abend aufbrechen würde. Sie blickte auf die Uhr, es war erst halb zwölf. Was sollte sie tun, wenn sie oben ankam. Etwa klingeln? Gehörte sie noch immer dazu oder war sie inzwischen eine Fremde? Was, wenn ihr Vater die Tür öffnete? Wie sollte sie reagieren? In den vergangenen Tagen, in denen sie sich auf die Fahrt und die bevorstehenden zwei Wochen vorbereitet hatte, waren ihre Gedanken bei Lucas gewesen und bei der Frage, wie sie sich ihm irgendwie annähern könnte. Es war anstrengend genug gewesen, sich darüber zu informieren, welche Interessen und Vorlieben sechsjährige Jungs hatten. Was das Zusammentreffen mit ihrem Vater und seiner neuen Frau Irina anging, war sie ratlos. Natalie hatte sich tunlichst dagegen gewehrt, auch nur darüber nachzudenken, zumal ihr Verhältnis zu letzterer schon immer mehr als unterkühlt gewesen war.

Natalies Eltern hatten trotz der Trennung noch eine Weile zusammen auf Gut Beeken gewohnt. Ihre Mutter war immer häufiger allein fortgefahren, um sich mit Jochen zu treffen, und dann war Irina manchmal über Nacht geblieben. Eine schreckliche Situation, zumal sich weder Carolina noch Natalie vorstellen konnten, dass das Ganze etwas Dauerhaftes und sie somit tatsächlich ihre Stiefmutter werden könnte. Ganze zwanzig Jahre jünger als ihr Vater war die gebürtige Polin. Die beiden Schwestern hatten ihr ganz unverblümt ihre Ansichten über die mutmaßlich ausschließlich finanziellen Interessen an ihrem Vater vorgeworfen. Franz Beeken hatte zu Irina gehalten und die Anmaßungen seiner Töchter stillschweigend ertragen. Zwei Jahre nachdem Natalie und ihre Mutter fortgegangen waren, hatte er sie dann geheiratet und schien, sofern man Carolina glauben konnte, immer noch glücklich. Die Einladung zur Hochzeit hatte Natalie unbeantwortet gelassen und war selbstredend nicht dort aufgetaucht. Carolina hatte berichtet, dass auch ihr Verhältnis zu Irina immer noch distanziert war, obwohl sie schon jahrelang gemeinsam auf Gut Beeken lebten. Dass Irina so viele Jahre jünger als der Vater war, ließ sie, obwohl oder vielleicht gerade weil er dieser so gutherzige und liebenswerte Mensch war, immer noch an Irinas Aufrichtigkeit zweifeln. Vielleicht ist es ein Fehler gewesen, ihr damals so widerspenstig entgegenzutreten, dachte Natalie. Wenn Irina dem Vater guttat, waren ihre Beweggründe möglicherweise egal. Es war letzten Endes sein Leben und er entschied, wie und mit wem er glücklich sein wollte. Natalies Mutter war diejenige gewesen, die das Beziehungsende beschlossen hatte. Sie war diejenige, die sich zuerst einen neuen Mann gesucht hatte und unbedingt das Gut hatte verlassen wollen. Sie hatte ihre Tochter damals gegen ihren Willen mitgenommen, aus ihrer Umgebung gerissen. Natalie hatte sich zwar gewehrt, aber letztlich entschieden nicht zurückzukehren. Nicht, weil sie einem Sinneswandel folgend die Entscheidung ihrer Mutter plötzlich gutgeheißen hätte. Nicht etwa, weil sie ihren Vater oder Carolina nicht liebte und auch nicht, weil sie Irinas Gegenwart gescheut hätte. Nein. Die beiden hatten den störrischen Teenager damals loswerden wollen, die zweite Zurückweisung innerhalb weniger Stunden. Es hatte ausreichend furchtbare Gründe gegeben, ihr einstiges Zuhause zu verlassen und alle Erinnerungen daran zu verwerfen. Und so war sie an einem warmen Tag im März kurz vor Ostern mit einem gebrochenen Herzen und ihrer Reisetasche zu ihrer Mutter und Jochen ins Auto gestiegen. Verloren in ihrem Gefühlschaos und der Schmach der Ablehnung, der unerwiderten Liebe, hatte sie auf dem Rücksitz des blankpolierten schwarzen Mercedes gesessen. Während der Wagen langsam die Straße hinuntergerollt war, das Haus in immer weitere Entfernung rückte, hatte sie suchend aus dem Fenster geblickt und bis zuletzt gehofft, Nick würde auftauchen und ihre Abreise, in welcher Form auch immer, verhindern. Doch er war nicht gekommen und als sie das Ortsausgangsschild passiert hatten, hatte Natalie das erste Mal darüber nachgedacht, alle Brücken hinter sich abzubrechen und nie wieder zurückzukommen.

„Hat ja gut geklappt“, flüsterte sie und quälte sich weiter mit schweren Schritten die Straße hinauf. Das große schmiedeeiserne Tor unter dem Rundbogen aus Sandstein stand weit offen, links und rechts davon verliefen die mannshohen Mauern um den Hof. Natalie blieb unter dem Torbogen stehen, zögerte und lauschte. Ihr Vater hatte schon früher sehr erfolgreich Belgische Schäferhunde gezüchtet. Was sie in diesem Augenblick ihrer Rückkehr nach Gut Beeken am wenigsten gebrauchen konnte, war, dass ein Rudel wildgewordener Hunde ihre Ankunft laut kläffend in Szene setzte. Nein, sie wollte die Begegnung mit ihm und Irina so lange wie möglich hinauszögern und vor allem wollte sie dabei ihre große Schwester Caro an ihrer Seite wissen, denn sie war es schließlich, die ihr diese Suppe eingebrockt hatte. Caro hatte ihr schon bei ihrem Überraschungsbesuch in Köln den Zweitschlüssel zu ihrer Wohnung übergeben und von der Neuaufteilung des Hauses erzählt. Der rechte Teil des Obergeschosses, welcher einst die Kinderzimmer der beiden Mädchen und das ehemalige elterliche Schlafzimmer beherbergt hatte, war von Franz zu einem gemütlichen separaten Wohnbereich umgebaut worden und war nun von außen über eine Metalltreppe zu erreichen. Den Rest des Hauses bewohnten Franz und Irina. Sie hatten immer noch mehr Platz, als sie brauchten, und der Saal, der als Ort für feierliche Anlässe gedient hatte, war zu einem Wohnzimmer in Normalgröße geworden. Der Tradition folgend fand das Sommerfest auf Gut Beeken immer noch statt. Wie Caro erzählt hatte, hatten sich die Feierlichkeiten in den letzten Jahren jedoch ins Freie verlagert. Natalie spähte über den Hof, doch sie konnte niemanden entdecken. Alles in allem sah es hier sehr aufgeräumt aus. Der Platz vor dem Haus war wohl vor einiger Zeit neu gepflastert worden. Graue und rote Steine verliefen kreisförmig von innen nach außen. Auf der linken Seite, dort wo einst die alte Scheune gestanden hatte, erblickte sie einen großzügigen, modernen Neubau, ein Carport und weitere Stellplätze. Zwei Autos standen dort. Es war also gut möglich, dass jemand zu Hause war. Das flaue Gefühl in ihrer Magengegend schwoll an. Beklommen setzte sie einen Fuß vor den anderen, hielt sich rechts und überquerte den Hof. Die Rollen ihres Trolleys bewegten sich geräuschvoll über die Pflastersteine. Der Lärm wurde durch die hohen Mauern zurückgeworfen und noch verstärkt. Er fuhr Natalie durch Mark und Bein. Glücklicherweise entdeckte sie schon nach wenigen Metern die beschriebene Metalltreppe. Darunter standen ein Tisch und eine Bank aus massivem Holz, eingefasst von ebenfalls hölzernen Pflanzkästen, in denen kleine Nadelbäumchen wuchsen. Zwergfichten vielleicht, mutmaßte Natalie im Vorbeigehen und wunderte sich, dass ihr so etwas ausgerechnet in diesem Augenblick durch den Kopf ging. Sie hatte den Hof eilig überquert und blieb nun neben dem Tisch stehen. Sie blickte sich erneut um. Weit und breit war niemand zu sehen. Die Zeiger ihrer Uhr standen auf kurz nach zwölf. Oben in der Wohnung zu warten erschien ihr besser, als hier unten wie auf dem Präsentierteller zu sitzen. Es würde drinnen wahrscheinlich auch wesentlich wärmer und gemütlicher sein. Eine dicke Wolke hatte sich gerade vor die Sonne geschoben und kalter Wind wehte ihr ins Gesicht. Natalie zog die Handschuhe aus und suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Dann stieg sie langsam und mit zitternden Knien die Treppe hinauf. Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, hörte sie plötzlich ein knirschendes Geräusch. Ein Auto! Verschreckt hielt sie inne, dann drehte sie sich um und schlich die Treppe wieder hinunter. Vorsichtig lugte Natalie um die Hausecke. Ein grüner Kleinwagen war auf den Hof gefahren und hielt auf dem Parkplatz. Kurz darauf stiegen ihre Schwester und Lucas aus. Gott sei Dank!