Leseprobe Wie verführt man eine Lady?

Kapitel 1

Colin Byrd, Viscount Ratcliffe, war auf der Jagd nach einer Braut. Er hatte es auf die reichste Erbin dieser Ballsaison abgesehen.

Mitten in der nachtschwarzen Gasse brachte er das Pferd zum Stehen und richtete den Blick auf das Herrenhaus hinter den Bäumen.

Leise Walzermusik tönte durch die offenen Fenster, die sich als golden erleuchtete Vierecke von dem schwarzen Wohnhaus abhoben. Wie ironisch, dass Colins Eroberung sich direkt vor den Augen des Dukes of Albright abspielen würde.

Glühender Eifer packte Colin. Nur zur gern würde er dem langjährigen Familienfeind von Angesicht zu Angesicht begegnen. Es wäre ihm ein großes Vergnügen, diesen Mistkerl mit einem Schlag zu Fall zu bringen.

Aber nicht heute.

Heute Abend war Colin auf der Pirsch. Und sein Opfer war eine Dame – eine ganz bestimmte Dame. Sie war jung, verletzlich und obendrein bloß eine Bürgerliche, weshalb sie für den ausgeklügelten Charme eines Edelmannes umso zugänglicher wäre.

Für seinen Charme.

Er stieg vom Pferd und landete auf dem schmalen Pfad, der zu den Ställen führte. Die Stute schnaubte, als er die Zügel in der Dunkelheit an einem Pfosten befestigte, und stupste die Nüstern in der Hoffnung auf einen Zuckerwürfel gegen Colins Hände.

Zärtlich streichelte er ihr über den Schopf. Schon lange wäre es an der Zeit gewesen, das alte Tier aus seinen Diensten zu erlassen. Doch ein anderes Pferd konnte er sich nicht leisten. Noch nicht.

„Halte durch, meine Gute“, flüsterte er. „Bald schon darfst du dich auf eine große Menge Hafer freuen.“

Er ließ das Pferd im Schatten zurück und eilte zu der Steinwand, von wo aus er in den dunklen Garten spähte. Bei den Stallungen war es ruhig, ganz im Gegenteil zum Vorgarten. Im Hof standen zahlreiche Zwei- und Vierspänner in einer langen Reihe und einige Kutscher versammelten sich an einem notdürftigen Feuer, um der Kühle der Aprilnacht zu trotzen. Der Ball bei Albright eröffnete die neue Saison. Alle aus der feinen Gesellschaft Londons waren anwesend und das wäre Colin zum Vorteil. Es sollte ein Einfaches sein, sich unter die Horden von Aristokraten zu mischen. Er gehörte auch zu dem Kreis – doch sein befleckter Ruf verwehrte ihm den Zutritt zu den Abendgesellschaften.

Aus diesem Grund stand er auch nicht auf der Gästeliste und konnte das Haus nicht durch den Haupteingang betreten. Doch von solch einer Kleinigkeit ließ Colin sich nicht aufhalten.

Ohne Schwierigkeit entriegelte er das Hintertor zum formalen Garten mit den halbdunklen Pfaden in geometrischen Formen. Er hatte nur eine Absicht: Seine Beute finden und von der Menge abspalten. Und Albright umgehen. Colin wusste genau, wenn der Duke ihn entdeckte, würde er ihn vor die Tür setzen. Damit wären Colins Pläne ruiniert. Doch er durfte nicht – würde nicht – scheitern.

Es hing zu viel von seinem Erfolg heute Abend ab.

***

In dem Augenblick, als die Worte ihren Mund verließen, wusste Miss Portia Crompton bereits, dass sie das Falsche gesagt hatte. Und die entsetzten Blicke der Aristokraten an ihrem Tisch bestätigten die Unbesonnenheit ihres Kommentars.

Lady Whittingham hob eine dünne, graue Augenbraue. Mrs Beardsley zeigte eine finstere Miene und umklammerte die Gabel, auf der ein Stück gebratenes Rebhuhn lag, mit ihren plumpen Fingern. Und ihre Tochter, Miss Frances Beardsley, eine blonde Porzellanpuppe in einem zartrosa Kleid, stieß ein erschrockenes Quietschen aus.

Zügle deine Zunge hörte Portia im Innern die tadelnde Stimme ihrer Mutter. In den letzten Wochen hatte Portia eine Vielzahl ähnlicher Zurechtweisungen ertragen, während sie sich auf diesen Abend vorbereitete – der Ball des Dukes of Albright war ihre Einführung in die feine Londoner Gesellschaft. Höfliche Unterhaltung sollte sie führen und nur über das Wetter, die Pracht des Ballsaals und andere, ähnlich stumpfsinnige Themen reden.

Und keine ihrer Erfahrungen aus Indien erwähnen, wo sie aufgewachsen war.

Sie haben einen Tiger erlegt?“, fragte der Marquess of Dunn und streckte seine hoch aufgeschlossene Gestalt auf dem Stuhl. „Wie außergewöhnlich.“

Unverwandt sah der rotgesichtige Lord Wrayford sie mit seinen zartblauen Augen an. „Großer Gott, Miss Crompton – Sie müssen ja eine ausgezeichnete Schützin sein. Unsere Geschichten von der Fuchsjagd klingen harmlos daneben.“

„Wenn ich doch nur da gewesen wäre“, warf der Honorable Henry Hockenhull inbrünstig ein. „Ich schwöre, ich hätte Sie mit meinem Leben beschützt!“

Zum ersten Mal fiel Portia auf, dass bloß die feinen Damen sie missmutig ansahen. Die drei Edelmänner am Tisch bewunderten sie. Dennoch weigerte Portia sich, sich von ihrer kriecherischen Aufmerksamkeit geschmeichelt zu zeigen. Wenngleich sie selbst im Spiegel in ihrem Schlafgemach eine erfreuliche Verwandlung gesehen hatte, wusste Portia, dass es nur die unverschämt hohe Mitgift war, die diese Männer faszinierte. Ohne den Reichtum ihres Vaters – gewonnen im Überseehandel – wäre sie niemals in ihren erhabenen Kreis aufgenommen worden. Bloß aus einem einzigen Grund waren sie gewillt, über ihr gewöhnliches Blut hinwegzusehen: Reichtum.

Was sie jedoch nicht wussten, war, dass Portia nicht die Absicht hegte, einen englischen Adligen zu heiraten. Gedankenverloren fingerte sie an dem kleinen Goldschlüssel an ihrem Armkettchen. Portia hatte einen anderen Plan für ihre Zukunft. Einen gewagten Plan, den sie selbst vor ihren geliebten jüngeren Schwestern geheim hielt.

„Erzählen Sie uns mehr von dieser Jagd“, bat Lord Dunn. „Sie haben sicher schreckliche Angst verspürt.“

Mit einem Mal fühlte Portia sich in die feuchte Hitze des Dschungels zurückversetzt, sah den Tiger aus dem dicken Unterholz hervorspringen, hörte sein kehliges Fauchen und nahm den beißenden Geruch von Moschus und Schießpulver wahr. Ihrem Instinkt folgend hatte sie geschossen, alle Sinne geschärft, wie sie es von Arun gelernt hatte. Erst im Nachhinein hatte sie ihr laut klopfendes Herz und die wackligen Knie gespürt. Erschüttert und gleichzeitig jubelnd hatte sie den prachtvollen Tierkadaver angeblickt. Sie hatte den mörderischen Tiger erlegt, der mehrere Dörfer in Angst und Schrecken versetzt hatte.

„Für Angst hatte ich keine Zeit“, erklärte sie. „Es ging alles sehr schnell. Aber das ist schon eine ganze Weile her.“ Zwei Jahre. Eine gefühlte Ewigkeit. Eine ganze Welt weit weg von diesem vergoldeten Speisesaal mit der gewölbten Decke und den elegant gekleideten Gästen. Doch die Nostalgie verflog, als Portia ihre Mutter an einem Ecktisch sah, die wütend in ihre Richtung blickte. „Also … hm. Es ist eher kühl heute Abend, nicht?“

Ihr Versuch, das Thema zu wechseln, scheiterte jedoch kläglich.

„Nach Tigern jagen“, schnaubte Mrs Beardsley. Mit ihrer molligen Statur und eingehüllt in braune Seide sah sie der Wurst auf ihrem überfüllten Teller erstaunlich ähnlich. „Wie wundersam, dass Ihre Eltern solch ein Benehmen geduldet haben.“

„Meine Eltern trifft keine Schuld“, fühlte Portia sich genötigt einzuwenden. „Sie wussten ja nicht, wo ich war.“

„Hört, hört! Sie durften sich unbeaufsichtigt im Land bewegen?“

„Und bei solch einer Hitze!“, merkte die betagte Lady Whittingham mit bebender Stimme an.

„Nicht einmal im Traum hätte ich mich so unangemessen verhalten“, fügte Frances Beardsley hinzu. „Denn ich bin gut erzogen“, sagte sie und blinzelte den Männern zu, deren Aufmerksamkeit jedoch weiterhin Portia gehörte.

„Indien klingt außerordentlich spannend“, sagte Henry Hockenhull wehmütig. „Wenn ich nicht in den Dienst der Geistlichen berufen worden wäre, hätte es mir sicher gefallen, das Land selbst zu erkunden, vielleicht als Kavallerist. Ich würde gewiss einen erstklassigen Kommandanten abgeben.“

Etwas aufdringlich lehnte sich der Marquess of Dunn vor, um den anderen jungen Mann aus Portias Blickfeld zu rücken. „Dieser exotische Ort hat Ihnen eine strahlende Schönheit verliehen, Miss Crompton. Vielleicht würden Sie mir nach dem Essen einen weiteren Tanz …“

„Haben Sie je eine Kobra gesehen?“, unterbrach ihn Lord Wrayford in der Absicht, seinen Rivalen zuvorzukommen. „Wie ich hörte, gibt es in Indien Magier, die mit ihrem Flötenspiel eine Schlange aus einem Korb beschwören.“

Portia hatte noch viel mehr als das gesehen. Stundenlang könnte sie den Herren Geschichten von wild gewordenen Hunden, heiligen Männern mit Turbanen und Frauen in farbenfrohen Saris erzählen. Oder wie sie selbst einmal auf dem Rücken eines Elefanten durch den Dschungel geritten war. Von ganzem Herzen sehnte sie sich danach, dorthin zurückzukehren. „Ja, mehrmals habe ich Schlangenbeschwörer auf dem Basar gesehen. Sie sitzen mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und spielen auf einer pungi – einer Flöte, die aus Flaschenkürbis gemacht wird. Wie durch einen Zauber erhebt sich die Schlange langsam aus dem Korb, sie schwingt vor und zurück, als würde sie tanzen.“

„Wie schrecklich barbarisch!“, erklärte Mrs Beardsley. „Bitte nehmen Sie doch Rücksicht auf unsere feinfühlige Natur.“

„Ja“, stimmte Miss Frances Beardsley zu und ahmte das Schaudern ihrer Mutter nach. „Ich fürchte, ich falle in Ohnmacht!“

Amüsiert von dem Gedanken, wie das Mädchen vornüber mit dem Gesicht auf ihren Teller fällt, mitten hinein in den Hummersalat und den gebratenen Kapaun, musste Portia ein Lächeln unterdrücken. Die Neigung der britischen Damen, sich unsinnig theatralisch zu geben, konnte sie nicht nachvollziehen.

Beruhigend tätschelte Mrs Beardsley ihrer Tochter die Hand. „Ruhig, ruhig, mein Liebling, wir müssen mit Miss Crompton Nachsicht üben. Schließlich haben Ihre Eltern es nicht für nötig gehalten, Sie und Ihre Schwestern für eine gute Erziehung nach England zurückzuschicken.“

„Oh, wir hatten ganz ausgezeichnete Lehrer“, wandte Portia ein, um ihre Geschwister zu verteidigen. „Fragen Sie mich etwas über Geometrie oder Astronomie oder auch Literatur, irgendetwas. Ich antworte auch gern auf Griechisch, Französisch oder auf Hindi.“

Finster blickte Mrs Beardsley sie an. „Klugheit ist nicht das, was eine feine Dame ausmacht. Meine Frances hat natürlich Gesang und das Spiel auf dem Pianoforte gelernt, nicht Mathematik oder Jagen.“

„Ich fürchte, wir sind dazu verdammt, die Qualität meiner Erziehung unterschiedlich zu beurteilen“, erwiderte Portia und lächelte, um ihren Worten den Stachel zu nehmen. „Denn das Tigerfell, das auf dem Boden meines Schlafgemachs liegt, werde ich niemals bereuen.“

Zeitgleich lehnten sich alle Herren mit begierigen Augen vor. „In Ihrem Schlafgemach?“, wiederholte der Marquess of Dunn.

„Das ist sicher ein einzigartiger Anblick“, fügte Lord Wrayford hinzu.

„Nur zu gern würde ich sehen …“, brach Henry Huckendoll seinen Satz mit tiefrotem Gesicht ab.

Zu spät erinnerte Portia sich daran, dass eine Dame das Schlafgemach in der Öffentlichkeit niemals erwähnte. Eine von vielen lächerlichen Regeln der hochnäsigen britischen Gesellschaft, zu der sie niemals gehören wollte.

Mit einem seidenen Taschentuch wehte Mrs Beardsley sich Luft zu. „Das ist einfach zu viel. Bitte, schließ deine Ohren, Frances Liebling, bevor du noch mehr unziemliche Kommentare hörst.“

„Ja, Mutter.“ Gehorsam hob Miss Beardsley die Hände ans Gesicht, wenngleich ihre aufmerksame Miene davon zeugte, dass sie nichts dieser Konversation überhören wollte. Zweifelsohne wäre es ihr ein großes Vergnügen, Wort für Wort vor ihren Freundinnen zu wiederholen. Und Portia würde den bösen Zungen zum Opfer fallen.

Damit geriete sie in große Schwierigkeiten mit ihren Eltern. Denn die wünschten sich inniglich, dass Portia eine gute Partie machte und die Crompton-Familie auf diese Weise als vollwertige Mitgliedern der Gesellschaft etablierte. Im Moment wurden sie lediglich aufgrund ihres unermesslichen Reichtums anerkannt. Es waren jedoch nicht ihre eigenen Aussichten, um die Portia sich sorgte. Vielmehr hatten ihre Eltern sie gewarnt, dass ihr Versagen auch den Ruin ihrer Schwestern bedeuten würde.

Das konnte sie nicht zulassen.

Reuevoll lächelte sie. „Ich habe mich unpassend ausgedrückt. Bitte vergeben Sie mir, wenn ich jemandem zu nahe getreten bin.“

Die drei Gentlemen sprachen alle gleichzeitig.

„Sie haben nichts falsch gemacht.“

„Niemand nimmt Ihnen das übel.“

„Sie tragen keine Schuld.“

Mrs Beardsley presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. „Sehr gut gesagt, Miss Crompton. Und doch fühle ich mich an das alte Sprichwort erinnert: ‚Man kann aus einem Ackergaul kein Rennpferd machen.‘“

Diese Beleidigung traf Portia wie ein Schlag ins Gesicht. Wenngleich sie mit Missmut gerechnet hatte, hätte sie niemals solch ungezügelte Gehässigkeit erwartet. Obendrein hatte Mrs Beardsley so laut gesprochen, dass selbst einige der Gäste an den Nachbartischen die Köpfe in ihre Richtung streckten und lauschten.

Sie sind ein fieser Ackergaul!

Das hätte Portia gern erwidert, doch noch bevor sie die Worte aussprechen konnte, flog ein kleiner Gegenstand durch die Luft.

Er traf Mrs Beardsley am Dekolleté und sprenkelte rote Tröpfchen auf die teigigen Hügel nackter Haut.

Verblüfft blinzelte Portia. War das etwa … eine Erdbeere?

Mrs Beardsley schrie auf. Sie drückte sich gegen die Stuhllehne und die Locken neben ihrem pummeligen Gesicht hüpften. Für den Bruchteil einer Sekunde lag das saftige Häppchen auf ihrem Berg aus Haut. Dann glitt die Erdbeere den weißen Hang in das tiefe Tal ihres Busens herab und ward nicht mehr gesehen.

Erneut schrie Mrs Beardsley auf. Überall im Speisesaal sprangen Männer auf die Beine. Auch eine Schar Damen eilte zu Hilfe. Frances jedoch stellte sich als nutzlos heraus, denn sie fiel beinahe ohnmächtig in die Arme des unglückseligen Lord Dunn. Lord Wrayford bemühte sich, die Frucht mithilfe des Silberbestecks herauszufischen, weshalb Mrs Beardsley nur noch lauter kreischte und schließlich gegen seine Hand ankämpfte.

Wieder musste Portia sich ein ungezogenes Lachen verkneifen. Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.

Doch die Erdbeere war wohl kaum vom Himmel gefallen. Auch von einem Versehen konnte hier nicht die Rede sein. Jemand musste sie geworfen haben. Nur wer würde das wagen?

Neugierig ließ Portia den Blick durch die Menge wandern. Menschentrauben versammelten sich um den Tisch, wodurch es schwierig war, über sie hinwegzusehen. Da verließ Portia ihren Stuhl und bahnte sich einen Weg durch das Gedränge. Ihr Blick blieb an einem sehr ansehnlichen, dunkelhaarigen Mann hängen, der an einer Säule neben dem Buffet lehnte. Sein burgunderfarbener Frack und die weiße Krawatte unterstrichen seine äußerst maskuline Statur.

Sofort wusste sie, dass er der Schuldige war. Vielleicht aufgrund der Art, wie er dort stand und sie ansah, mit seinen auffallend grünen Augen und dem von der Sonne geküssten Gesicht. Vielleicht auch wegen des verräterischen Grinsens, das noch an seinen Mundwinkeln zu erkennen war. Oder vielleicht einfach deshalb, weil er genau wie die Art Schlingel aussah, die Vergnügen daran fand, den feinen Damen der Gesellschaft einen Streich zu spielen.

Seine nächste Handlung bekräftigte ihn als Schuldigen. Den Blick weiterhin auf Portia gerichtet, nahm er sich eine Erdbeere vom Büfett und aß sie genüsslich, anschließend leckte er sich sogar die Finger ab.

Tief in ihr drinnen löste das eine heiße Wallung aus. Bei der aufsteigenden Wärme sehnte Portia sich nach ihrem Fächer, den sie auf dem Tisch hatte liegen lassen. Diese spontane Reaktion auf ihr Gegenüber konnte Portia allerdings nicht einordnen. Er rüttelte an ihrer Fassung und rief nicht unterdrückbare Fragen hervor.

Eigentlich war ihr die Gesellschaft von Männern, die ihr nicht ordnungsgemäß vorgestellt wurden, strengstens verboten. Aber die Neugierde siegte. Portia machte sich den Trubel zum Vorteil und marschierte direkt auf den Fremden zu.

Er war sehr groß, weshalb sie den Kopf anheben musste, um seinen Blick zu erwidern. Trotz seiner legeren Haltung strahlte er Selbstbewusstsein aus, und noch etwas mehr, das Portias Puls in die Höhe schnellen ließ. Merkwürdigerweise verschlug es ihr den Atem.

Um nicht eingeschüchtert zu wirken, widerstand sie dem Drang, einen Schritt zurückzutreten. „Sir“, sagte sie mit leiser Stimme, „Sie waren es, der eben die Erdbeere geworfen hat, nicht? Aber warum?“

„Ich habe es für eine effektive Methode gehalten, um die Dame abzulenken.“

Hatte Mrs Beardsley so laut gesprochen? „ Sie können unsere Konversation unmöglich über den halben Saal hinweg verfolgt haben.“

„Soll ich jetzt behaupten, dass ich ein sehr gutes Gehör habe?“, begann er und hielt inne, um sie mit bemerkenswerten Augen anzusehen. „Nein, ich sehe schon, dass Sie viel zu intelligent sind, um solch einer Prahlerei zu glauben. Also sagen wir einfach, ich kenne die Alte – und das Gift, das sie versprüht.“

Seinen Worten folgte ein Lächeln und Portias Herz machte einen Satz. Doch natürlich hatte dieser ungewollte, lästige Effekt keinerlei Bedeutung. Der Mann hatte ihr nur einen Gefallen getan – wenngleich in unziemlicher Weise. „Nun“, erwiderte sie und ließ einen Hauch Hochnäsigkeit in ihren Worten mitschwingen, „die Ablenkung weiß ich zu schätzen. Sie haben mich davor bewahrt, sie in aller Öffentlichkeit zu demütigen.“

„Heuchler verdienen es, gedemütigt zu werden“, entgegnete er bloß, nahm die Schale mit den roten Früchten vom Buffet und bot sie ihr an. „Wollen Sie auch eine Erdbeere?“

Mit großen Augen blickte sie über ihre Schulter. Dankbarerweise hatten sich die meisten der Gäste noch immer um Mrs Beardsley geschart, der gerade von einem tief rotgesichtigen Henry Hockenhull auf die Beine geholfen wurde.

Eilig nahm Portia ihm die Schale aus der Hand und stellte sie wieder auf dem Büfett ab. „Sind Sie etwa verrückt geworden? Gleich wird jeder hier wissen, dass Sie der Grund für diesen Aufruhr sind.“

„Sie haben völlig recht. Es wäre eine Schande, jetzt an den Ohren vor die Tür gezogen zu werden, wo ich doch gerade die schönste Dame im Saal kennengelernt habe.“

Dieses Kompliment war viel zu direkt, um angebracht zu sein. Dennoch hatte die Ehrlichkeit dieses Mannes etwas an sich, das Portia nicht kalt ließ. „Danke sehr, aber wir haben uns nicht kennengelernt. Ich sollte nicht einmal mit Ihnen sprechen. Also, wenn Sie mich entschuldigen würden.“

Er machte einen Schritt zur Seite, um ihr den Weg zu versperren. „Viscount Ratcliffe, zu Ihren Diensten. Unter Freunden nennt man mich Colin Byrd. Sehen Sie – schon bin ich kein Fremder mehr.“

Von einer angemessenen Vorstellung war das weit entfernt. Aber schließlich war er ein Adliger, demnach hätte Mutter gewiss nichts dagegen, wenn Portia die Regeln etwas beugte. Und sie lechzte beinahe nach seiner Gesellschaft. Viscount Ratcliffe hatte eine unwiderstehliche Ausstrahlung, mit der er sie förmlich in seinen Bann zog. „Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mylord.“

Unschuldig streckte sie ihm die Hand entgegen, damit er sie schütteln konnte, doch stattdessen setzte er einen Kuss darauf. Als seine Lippen Portias nackte Haut berührten, bekam sie eine Gänsehaut. Wiederum raubte er ihr den Atem.

„Die Freude ist ganz meinerseits“, erwiderte er. „Und Sie sind …?“

Sie zögerte, nur ungern wollte sie ihre Anonymität aufgeben. „Miss Portia Crompton.“

„Ah, die Neuankunft aus Indien. Die Gerüchte über ihre Schönheit sind also keine Übertreibung“, sagte er und fingerte spielerisch an dem keinen Goldkettchen um Portias Handgelenk. „Ist das der Schlüssel zu ihrem Herzen?“

Irritiert zog sie die Hand zurück. Wenn er wüsste …

Sein schmeichelnder Tonfall und das warmherzige Lächeln zeugten jedoch von keinerlei Überraschung darüber, dass er sich mit der reichsten Debütantin auf dem Heiratsmarkt unterhielt. Wusste er bereits die ganze Zeit, wer sie war? Hatte er die Erdbeere vielleicht sogar mit Absicht geworfen, um sie von seinen Rivalen abzulenken?

Dieser Gedanke enttäuschte Portia. Dem Anschein nach war Lord Ratcliffe genau wie die anderen Edelmänner, die sie nur mit Komplimenten umgarnten, um ihre hohe Mitgift einzustreichen. Sie sollte sogleich auf dem Absatz kehrtmachen, doch sie blieb und führte die Unterhaltung fort. „Weshalb haben Sie Mrs Beardsley eine Heuchlerin genannt?“

„Weil sie Sie von oben herab behandelt hat. Und das ist eher ironisch, wenn man das dunkle Geheimnis ihrer eigenen Vergangenheit bedenkt.“

„Geheimnis?“

„Damit meine ich keine Gerüchte, sondern unumstößliche Fakten“, begann Lord Ratcliffe und zwinkerte ihr schelmisch zu. „Kommen Sie näher und ich erzähle es Ihnen.“

Ohne nachzudenken, ging Portia einen Schritt auf ihn zu, stellte sich leicht auf die Zehenspitzen und nahm den würzigen Duft seines Rasierwassers wahr. Die Neugierde prickelte in ihr. Es war völlig widersinnig, diesen Mann zu bestaunen, als sei er ein Schlangenbeschwörer, der auf seiner pungi spielte. Und doch machte Lord Ratcliffe sie … neugierig. „Nun?“

Er beugte sich ein Stück vor, um ihr ins Ohr zu flüstern. Sein Atem auf ihrer Haut fühlte sich warm an. „Mrs Beardsley hat kein so blaues Blut in sich, wie sie es gern hätte. Ihr Großvater war ein Fischverkäufer am Billingsgate Market.“

Da platzte die Heiterkeit aus Portia hervor, die sie den ganzen Abend zu unterdrücken versuchte. „Ist das wahr? Oh, darüber sollte ich nicht lachen. Mein Vater ist auch ein Händler.“

„Das habe ich gehört. Aber ich kann nur gut von einem Mann denken, der seine Tochter zu einer so lebhaften jungen Dame erzogen hat.“ Entschieden nahm er Portia am Arm und sagte: „Es ist doch viel zu laut hier, finden Sie nicht auch? Kommen Sie, wir suchen uns eine ruhigere Ecke, wo Sie mir alles über sich erzählen können.“

Und schon führte er sie in Richtung der gewölbten Tür. Seine Nähe belebte sie und Portia verspürte ein brennendes Verlangen danach, über ihn zu reden. Womit beschäftigte er sich gern? Wo lebte er? Wer war seine Familie? Wie schnell sich ein Gefühl von Kameradschaft zwischen ihnen eingestellt hatte – dabei wusste Portia noch so gut wie nichts über ihn.

Aber sein Sinn für Humor gefiel ihr. Und er war klug, charmant und sah sehr gut aus. Da sie wohl eine ganze Ballsaison in der Londoner Gesellschaft ertragen musste, kam ihr ein unterhaltsamer Partner gelegen. Diese Aussicht erfüllte Portia mit einer kindlichen Vorfreude.

Aus dem Ballsaal ertönten disharmonische Klänge des Orchesters, das die Instrumente stimmte. Das große Drama um Mrs Beardsley schien beendet und allmählich verließ die Menschenmenge den Speisesaal, um sich der nächsten Tanzformation anzuschließen.

Als der Viscount Portia an den Rand des Gedränges führte, bemerkte sie, wie die anderen ihnen nachsahen – wie Männer die Stirn runzelten und Damen hinter ihren Fächern tuschelten. Ohne ihr Gespräch zu unterbrechen, nickte Lord Ratcliffe einigen von ihnen zu. Und Portia kam nicht umhin zu glauben, dass er jedermanns Aufmerksamkeit auf sich zog, nicht sie.

Oder bildete sie sich das bloß ein?

Da festigte sich sein Griff um ihren Arm und Lord Ratcliffe brachte sie abrupt zum Stehen. „Verdammt, fluchte er kaum hörbar.

„Wie bitte?“

Schon erspähte Portia ihre Mutter, die gegen den Strom der anderen auf sie zueilte. Mrs Edith Crompton war eine kleine Frau mit zierlicher Figur, an der die Zeit spurlos vorüberzugehen schien. Sie trug ein Kleid in strahlendem Königsblau mit tief geschnittenem Rücken und kurzen Ärmeln. In ihrem hochgesteckten rostroten Haar wippte und schwang eine pfirsichfarbene Feder. Mit unermüdlicher Tatkraft und Strenge regierte Mrs Crompton das ganze Haus. Portias Vater nannte sie zärtlich seine Tigerin. Und in diesem Augenblick erkannte Portia bereits am Gesichtsausdruck ihrer Mutter, dass sie verärgert war. Sehr verärgert.

„Das ist meine Mutter“, erklärte sie Lord Ratcliffe und bereitete sich auf den Kampf vor. „Sie wird darauf bestehen, Sie kennenzulernen.“

„Nicht, wenn Albright etwas zu sagen hat.“

Erst da fiel Portia der Mann an der Seite ihrer Mutter auf. Das Meer an Gästen teilte sich vor ihm, um den Weg freizumachen. Der Duke of Albright war ein Mann mittleren Alters und hatte an den Schläfen bereits einen leicht silbernen Haaransatz. Doch in seinem grauen Anzug aus Seide, der schwarzen Weste darunter und der Diamantnadel in der weißen Krawatte war er das Ebenbild von Kultiviertheit. Sein Gang strahlte eine Autorität aus, die erkennen ließ, dass er sich seines hohen Rangs bereits von Kindesbeinen an bewusst war.

Ihn gemeinsam mit ihrer Mutter zu sehen, verblüffte Portia. Bei ihrer Ankunft hatten sie sich dem Duke im geräumigen Empfangsbereich in der langen Reihe von Gästen pflichtbewusst vorgestellt – eine Qual für Portia, ein Triumph für ihre Eltern. Nur oberflächlich hatte auch der Duke gegrüßt und schien die Ehrerbietung einer weiteren Debütantin nicht einmal wahrzunehmen.

Weshalb sah er sie jetzt so ernst an?

Lord Ratcliffe bückte sich, um Portia etwas ins Ohr zu flüstern. Wieder ließ die Wärme seines Atems sie köstlich erschaudern. „Morgen um zehn Uhr im Hydepark“, sagte er eilig. „Ich werde im kleinen Tempel in der Nähe der Serpentine auf Sie warten. Kennen Sie den Ort?“

„Ja, aber …“

„Bitte, ich muss Sie unbedingt wiedersehen. Versprechen Sie mir, dass Sie es wenigstens versuchen werden.“

Seine Dringlichkeit war Portia ein Rätsel. „Also gut“, willigte sie ein.

Im nächsten Augenblick blieben der Duke und ihre Mutter vor ihnen stehen. Die übrigen Gäste hielten einen gebührlichen Abstand, warfen aber sehr wissbegierige Blicke in ihre Richtung.

Von den Schaulustigen ließ sich Lord Ratcliffe nicht aus der Ruhe bringen. Er nickte kühl. „Albright. Und Mrs Crompton, wie ich hörte. Darf ich Ihnen mitteilen, was für eine charmante Tochter Sie haben.“

„Das reicht, Ratcliffe“, wandte Albright ein. „Ich kann mich nicht daran erinnern, Ihren Namen auf die Gästeliste gesetzt zu haben.“

„Sicherlich ein Versehen.“

„Wohl kaum. Sie sind hier nicht erwünscht. Ich lasse nicht zu, dass meine Gäste mit Mördern verkehren.“

Der Atem brannte in Portias Lungen. So sehr sie sich auch bemühte, sie bekam kaum Luft. Einige der Beistehenden schnappten überrascht nach Luft, andere verfielen in ein wildes Geflüster. Portias Blick haftete weiterhin an Lord Ratcliffe. Auf seinen Lippen lag noch immer ein Lächeln, wenngleich sie nun zu einer schmalen Linie zusammengepresst waren.

Er hob eine Augenbraue. „Immer schon wussten Sie, wie man eine Feier ruiniert. Nun, ich finde selbst zur Tür.“

Der Viscount verbeugte sich vor den Damen und ging. Aber sein Schritt war gemächlich, so als spazierte er durch den Park. Portia rührte sich nicht. Sie war fassungslos, dass er sich nicht gegen den unerhörten Vorwurf des Dukes verteidigt hatte.

Lord Ratcliffe ein Mörder?

Unvorstellbar.

Auf Versöhnung bedacht, hakte Mrs Edith Crompton sich bei Portia ein. „Bitte verzeihen Sie meiner Tochter, Euer Gnaden. Sie wusste nichts von dem unheilvollen Ruf dieses Mannes.“

Albright nickte scharf. „Sie wäre nicht die Erste, die sich von diesem Halunken hinters Licht führen lässt. Er ist ein unverbesserlicher Wüstling.“ Dann wandte er sich direkt an Portia. „Als Ihr Gastgeber muss ich mich für Ratcliffes ungebetenen Besuch entschuldigen. Und fortan empfehle ich Ihnen, sich von ihm fernzuhalten.“

„Dafür werde ich sorgen“, versicherte ihm Mrs Crompton rasch. „Und ich möchte hinzufügen, dass wir Ihnen für Ihr Eingreifen sehr verbunden sind, Euer Gnaden. Nicht, Liebes?“

Leicht drückte ihre Mutter Portia am Arm, doch sie brauchte keine Ermutigung, um etwas zu sagen. Sie sehnte sich nach Antworten auf die Fragen, die ihr unter den Nägeln brannten. „Wenn Lord Ratcliffe des Mordes schuldig ist, weshalb befindet er sich dann nicht hinter Gittern?“

„Es ist diesem Feigling gelungen, das Gericht davon zu überzeugen, dass das Ganze nur ein Unfall war – wenngleich er ein sehr schwerwiegendes Motiv hatte.“

„Und wen hat Lord Ratcliffe umgebracht?“

„Pscht, Liebes. Wir sollten den Duke besser nicht weiter ver…“

Mit einem Wink der beringten Hand brachte der Duke Mrs Crompton zum Schweigen. „Das ist in Ordnung. Das Wissen wird Ihrer Tochter zugutekommen“, sagte er und wandte sich wieder an Portia, seine eleganten Gesichtszüge ernst und unerbittlich. „Seine Spielschulden drohten Ratcliffe in den Ruin zu treiben. Also hat er seinen eignen Vater erschossen, um frühzeitig an sein Erbe zu gelangen.“