Leseprobe Wie Feuer und Eis

Prolog

ELLEN

Der Wind trieb dicke Schneeflocken durch die eisige Landschaft. Es war ziemlich kalt, doch Ellen wusste, dass sie ihren Mann endlich aufsuchen musste. Schließlich hatte er sie am Vortag sowieso schon gesehen. Eigentlich wollte sie sich mit ihrem Brief an ihn endgültig verabschieden. Doch dann war alles anders gekommen. Sie konnte ihn nicht loslassen. Dass es in Amons Leben inzwischen vielleicht eine neue Frau gab, konnte Ellen einfach nicht akzeptieren. Denn ihre Gefühle für ihn waren, seit sie ihn gesehen hatte, stärker als je zuvor. Er war der erste Mensch, der ihr nach ihrer Amnesie wieder in Erinnerung kam. Der Mann, der ihre erste große Liebe war. Der Mann, dem sie vor Gott das Ja-Wort gegeben hatte. Der Mann, der sie freiwillig niemals aus seinem Leben gelassen hätte. Der Mann, der sie garantiert nicht aufgegeben hätte, wenn er gewusst hätte, dass sie noch lebte. Der Mann, von dem sie hoffte, dass er sie immer noch lieben würde. Amon.

Ihre Nasenspitze war schon ganz taub vor Kälte. Sie hatte in einer der Nachbarstraßen geparkt, um sich die Option offenzuhalten, wieder umzukehren. Doch sie kehrte nicht um. Mit klopfendem Herzen stapfte sie durch den Schnee. Als sie die Abbiegung in ihre alte Straße erreichte, blieb sie stehen. Ihr Puls ging schnell, als sie auf das eingeschneite Straßenschild blickte. Die Unsicherheit in ihr wuchs.

Soll ich ihm das wirklich antun? Noch kann ich umkehren. Noch ist nichts passiert.

Ellen schüttelte den Kopf. „Nein!“, sagte sie leise, aber entschlossen zu sich selbst.

Tapfer stapfte sie vorwärts und sah schon aus der Ferne das rote Klinkerhaus. Bei dem Anblick wurde ihr ganz mulmig. Erinnerungen an alte Zeiten tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Bilder von ihrem Einzug in ihr erstes eigenes Haus, von Tagen, an denen sie mit Leon im Garten gespielt oder mit Amon dort ein Zeltlager aufgebaut und Marshmallows gegrillt hatte. Sie sah sich mit Amon auf der Terrasse sitzen und die Sterne beobachten. Der ungläubige Blick, als sie den abscheulich hässlichen Schaukelstuhl ein paar Straßen entfernt vom Sperrmüll geklaut und mit nach Hause gebracht hatte, bereitete ihr immer noch ein innerliches Schmunzeln. Sie hatte ihn eigentlich neu lackieren wollen, doch der alte, schäbige Vintage-Look verlieh dem Stuhl einen gewissen Charme, sodass sie ihn einfach so gelassen und sehr gerne in ihm gesessen hatte.

Inzwischen waren es keine zwanzig Meter mehr. Zwanzig Meter bis zu einem Ziel, von dem sie nicht wusste, ob sie dort überhaupt willkommen war. Was Amon wohl nach dem Brief von ihr dachte? Vielleicht war er sauer und wollte sie überhaupt nicht sehen?

Abrupt blieb sie stehen.

Ich kann das nicht!

Tränen schossen ihr in die kristallblauen Augen. Dann dachte sie an Leon, der die letzten Jahre ohne sie aufwachsen und unter dem Verlust seiner Mutter leiden musste.

Was muss er für Qualen durchgestanden haben?

Ellen stellte sich Amon und Leon an ihrem Grab vor. Wie sie geweint hatten und welche unbändige Trauer sie durchleben mussten.

Und das alles nur wegen dieses blöden Ausfluges.

Sie fasste sich an den Kopf und spürte eine beklemmende Enge in ihrem Hals. Ihr schlechtes Gewissen schien sie zu erdrücken. Doch die Sehnsucht nach ihrem Mann und ihrem Sohn gewannen schließlich die Oberhand.

Ellen setzte ihren Weg fort. Ihr Blick schweifte an den Nachbarhäusern vorbei zu ihrem alten Zuhause. Die Haustür des roten Klinkerhauses geriet immer näher in ihr Sichtfeld. Je näher sie der Tür kam, desto schneller ging ihr Puls.

Dann hatte Ellen ihr Ziel erreicht. Sie zitterte. Vor Kälte, aber auch vor Angst. Da half auch der dicke Mantel nichts. Langsam streckte sie den Arm aus und legte ihren Finger auf den Klingelknopf. Ihr Herz pochte wie wild.

Letzte Chance, abzuhauen … Nein!

Vorsichtig drückte sie den Kopf. Schweiß brach ihr aus, als ein lautes Läuten hinter der Glastür erklang. Nervös verlagerte Ellen ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ob das wirklich die richtige Entscheidung war?

Ein großer Schatten näherte sich der Tür und Ellen fuhr vor Schreck zusammen.

Als die Tür geöffnet wurde, erblickte sie einen großen, dunkelhaarigen jungen Mann. Seine Augen erkannte Ellen sofort, denn sie waren ihren sehr ähnlich. Es war Leon.

Sein Mund stand offen und er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

Ellens Aufregung stieg weiter an. Hitze schoss ihr in den Kopf und zeitgleich fuhr ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

„Wer ist da?“, hörte sie eine ihr sehr vertraue Stimme im Hintergrund rufen.

Doch Leon, der sie immer noch regungslos anstarrte, sagte nichts.

Ellen brachte ebenfalls kein Wort heraus. Als sie hörte, wie sich Schritte näherten, hatte sie das Gefühl, einer Ohnmacht nahe zu sein.

Hinter Leon tauchte plötzlich Amon auf. Dieser starrte sie ungläubig an. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, wer da vor seiner Tür stand.

Ellen konnte ihre Tränen nicht weiter zurückhalten, als Amon vor ihr zusammensackte und ihre Knie fest umklammerte. Sie hatte zwar gehofft, mit offenen Armen empfangen zu werden, doch diese Reaktion übertraf ihre schönsten Vorstellungen.

Endlich löste sich auch Leon aus seiner Schockstarre. „Mama?“

Ellen schluckte schwer, als sie dieses Wort aus Leons Mund hörte, es erfüllte sie gleichzeitig mit großer Leichtigkeit und Liebe.

„Endlich habe ich euch wieder!“, sagte sie leise, jedoch überglücklich und nahm ihren Sohn in den Arm.

Kurz darauf erhob Amon sich wieder und stellte sich vor Ellen, nachdem Leon ihm Platz gemacht hatte. Er umfasste ihr Gesicht und zog es zu sich. Dann sah er ihr tief in die Augen.

Ellen spürte deutlich die große Liebe zu ihr, die sich in seinen Augen widerspiegelte. Sie sah ihm an, wie dankbar er war, dass sie endlich wieder vor ihm stand.

„Ich kann es gar nicht glauben. Bist du es wirklich?“

„Amon“, schluchzte sie los. „Es tut so mir leid. Ich wollte mich schon viel früher melden.“

Er drückte sie ganz fest an sich. „Das ist jetzt nicht wichtig. Du bist da und das ist alles, was zählt.“

1. Kapitel

IVA

Als Amon und Leon, jeweils rechts und links in den Arm der blonden Frau eingehakt, wieder das Wohnzimmer betraten, wusste Iva sofort, dass es sich bei dieser Frau um Ellen handelte.

Diese blieb erstaunt vor ihr stehen, denn offenbar hatte sie Iva wiedererkannt.

„Darf ich dir meine Freundin vorstellen?“ Leon wies stolz auf Iva.

Ellen lächelte sanft. „Wir kennen uns schon. Und wo ist mein Enkelkind?“

Amon sah seine Frau irritiert an.

„Wir sind uns in der Post schon einmal über den Weg gelaufen. Ist schon ein Weilchen her“, erklärte Ellen und sah in Richtung der kleinen Mia.

„Ellen?!“, hörte Iva Martin und seine Frau Vanessa ungläubig rufen.

Die beiden stürmten ins Zimmer und blieben abrupt vor Ellen stehen.

„Ich fasse es nicht“, sagte Vanessa und rieb sich die Augen. Kurz darauf lagen sie sich in den Armen.

 

Später saß Iva mit der gesamten Familie am großen Esstisch und ließ sich das Festmahl schmecken.

„Ellen, du musst jetzt mal der Reihe nach erzählen, was in Spitzbergen passiert ist.“ Martin sah seine Schwägerin erwartungsvoll an.

Diese nickte und legte ihr Besteck beiseite. „Also, wir haben wegen technischer Probleme einen Zwischenstopp in Spitzbergen machen müssen. Wie du vielleicht weißt, liegt das mitten in der Pampa und es ist ziemlich gefährlich dort alleine herumzulaufen. Da ich aber neugierig war und etwas von der Gegend sehen wollte – du kennst mich ja – habe ich mir einen einheimischen Touristenführer gesucht und um eine kleine Tour gebeten.“ Sie nahm einen Schluck Wasser.

„Und was ist dann passiert?“, fragte Martin.

 

„Zusammen mit einer Frau, die sich uns angeschlossen hatte, sind wir durch ein paar kleine Gletscherhöhlen geklettert und wurden in einer davon von einem Eisbären überrascht. Von denen leben in Spitzbergen mehr als Menschen.“

„Sind die nicht irre gefährlich?“, warf Vanessa ein.

„Ja, sind sie. Wir wollten sofort umkehren, doch der Eisbär griff plötzlich den Touristenführer an. Ich habe zusammen mit der anderen Frau versucht, zurückzulaufen, aber in unserer Panik sind wir an einem Abhang in der Höhle ausgerutscht und abgestürzt.“

Iva hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Sofort hatten sie sich Ellens Erzählungen bildlich vorstellen müssen.

Was für ein Horror.

 

Sie blickte zu ihrer Schwiegermutter in spe, die weitererzählte.

„Als ich dann im Krankenhaus wieder aufgewacht bin, wusste ich nicht mehr, wer ich war und wie ich ins Krankenhaus gekommen war. Einzig allein, dass ich Deutsche war, wusste ich. Denn das war die einzige Sprache, die ich verstand, als mich eine der Schwestern testete. Sie redete mich in verschiedenen Sprachen an, doch ich verstand nur Bahnhof. Als sie dann deutsch sprach, war ich heilfroh, wenigstens das von mir zu wissen.“

„Oh mein Gott! Warst du schwer verletzt?“, fragte Leon und blickte dann zu Amon, dessen Augen plötzlich glasig wurden.

„Ja, ich hatte ein schweres Schädelhirntrauma und Prellungen am ganzen Körper. Aber die andere Frau, die sich der Führung angeschlossen hatte, die hatte es noch viel schlimmer erwischt.“ Ellen musste kurz pausieren und durchschnaufen.

Amon ergriff ihre Hand. „Ist schon okay. Du kannst das auch ein anderes Mal erzählen.“

„Nein, ist schon gut.“ Ellen nickte ihm tapfer zu. „Also, die Frau hatte wohl sehr schwere, innere Verletzungen und ist kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus verstorben. Da sie mir ein wenig ähnelte und mein Gesicht durch den Sturz ziemlich lädiert war, war es dann später zu dieser Verwechslung gekommen. Eine der Stewardessen hat eine Beschreibung von mir bei der örtlichen Polizeistelle abgegeben, als sie mich als vermisst gemeldet hatte. Die Beamten hatten dann irrtümlicherweise angenommen, dass es sich bei der Frau um mich handelte. Ich sah ja nicht mehr aus wie sonst. Meine Wangenknochen waren derart angeschwollen, dass ich mich selbst im Spiegel nicht hätte erkennen können. Aber das hätte ich auch so nicht. Ich wusste ja nicht einmal, wie ich zuvor ausgesehen hatte.“

Iva spürte einen Kloß in ihrem Hals. Die Vorstellung, was Ellen erlebt hatte, war schrecklich.

„Als ich dann genesen war, zog ich nach Deutschland, um herauszufinden, wer ich war. Ich habe mir eine Landkarte genommen und mir jeden Städtenamen durchgelesen. Dann bin ich dorthin gezogen, wo mir der Name am vertrautesten vorkam und das war nur ein paar Kilometer von hier entfernt.“

„Krass!“, warf Amon ein und sah seine Frau entgeistert an.

Iva sah ihm an dem Ausdruck seiner Augen an, wie sehr ihn Ellens Erzählung mitnahm.

„Und wie ging es dann weiter? Seit wann bist du wieder hier?“, fragte Vanessa.

„Nun ja …“ Sie zögerte kurz. „Seit zweieinhalb Jahren.“

„Was?“ Leon riss die Augen auf.

„Meine vollständige Erinnerung habe ich noch nicht lange zurück. Bevor ich nach Deutschland zog, habe ich mithilfe einer der Krankenpfleger, der ein paar Spezialkontakte hatte, neue Papiere bekommen. Zwar nicht ganz legal, aber ich wusste, dass ich ohne Dokumente aufgeschmissen war. Wie sollte ich denn auch sonst ein Bankkonto eröffnen oder Sozialleistungen beantragen und mir eine Wohnung nehmen? Arbeiten konnte ich aufgrund des Traumas schließlich erst einmal nicht.“ Ellen griff nach ihrer Handtasche, die über der Lehne ihres Stuhles hing und griff nach ihrem Portemonnaie. Dann holte sie den Ausweis heraus und legte ihn in die Mitte des Tisches. „Offiziell heiße ich Elena Steiner.“

Amon nahm den Ausweis in die Hand und sah ihn sich ganz genau an. „Na, die Initialen stimmen schon mal. Wie kamst du auf den Namen?“

„Ich weiß es nicht. Er kam mir einfach in den Sinn.“

„Nah dran“, fügte Iva hinzu.

Ellen wandte sich Amon zu und sah ihn an. „Irgendwann habe ich angefangen, alle Straßen der Stadt abzufahren, weil ich wissen wollte, ob mir irgendetwas bekannt vorkam. Zufällig bin ich am großen Fitnessclub vorbeigefahren und habe dich zusammen mit einer Frau in den weißen Mustang steigen sehen. Ich weiß nicht warum, aber du und auch der Wagen kamen mir so vertraut vor. Ich bin dir also hinterhergefahren. Als du in unsere Straße abgebogen bist, wurde mir merkwürdigerweise ganz anders. Und als du dann vor unserem Haus geparkt hast, war plötzlich alles wieder da. Ich konnte mich wieder an alles erinnern. Es war im ersten Moment wie ein Schock für mich.“ Sie schaute traurig zu Boden. „Doch dann habe ich gesehen, wie du diese Frau geküsst hast und dann war mir klar, dass in deinem Leben kein Platz mehr für mich war.“ Ellens Augen füllten sich mit Tränen.

Iva blickte zu Amon herüber, der ebenfalls ganz glasige Augen hatte. Zum Glück hatte Ellen nicht sie, sondern Yasmina mit Amon zusammen gesehen.

Ellen tut mir so leid. Hoffentlich findet sie niemals heraus, was mit mir und Amon war. Sie ist mir so sympathisch. Ich ihr wahrscheinlich auch und ich wünsche mir, dass das so bleibt.

Nach einer kurzen unangenehmen Stille ergriff Amon das Wort. „Das war Yasmina. Es war nichts Ernstes und ist längst passé.“ Er ergriff die Hand seiner Frau. „Niemand hätte je deinen Platz einnehmen können“, sagte Amon und küsste Ellens Handrücken.

Iva fühlte sich nach diesen Worten ziemlich mies. Schließlich hatte sie einmal die Frau an Amons Seite sein wollen. Doch das war vorbei.

„Ich bin froh, dass du wieder da bist, Mama“, sagte Leon und lächelte Ellen an. „Aber weißt du, was das Positive an dem ganzen Unglück ist?“

Ellen sah ihren Sohn fragend an. „Was denn?“

„Jetzt, wo du Elena Steiner bist, kannst du Amon ja noch einmal heiraten.“ Leon grinste. „Wo wir gerade dabei sind, Iva und ich wollen im kommenden Jahr heiraten.“

Iva sah Leon überrascht an. „Wann hast du das denn beschlossen?“

„Gerade. Also …“ Er ging vor Iva auf die Knie. „Willst du mich heiraten?“ Erwartungsvoll sah er sie an und lächelte.

Meint er das jetzt ernst? Ich meine, klar, wir haben schon ein paar Male über dieses Thema gesprochen und waren uns auch einig, dass wir diesen Schritt gehen wollen … aber einen Antrag habe ich mir eigentlich anders vorgestellt. Andererseits kann ich ihn jetzt auch nicht bloßstellen.

Iva sah Leon erstaunt an. „Ja, natürlich!“, sagte sie dann und lächelte verlegen.

Leon stand auf und küsste sie innig.

Ellen sah Amon an und strahlte. „Herzlichen Glückwunsch.“

„Wie romantisch“, warf Vanessa schwärmend ein.

Amon strahlte ebenfalls über beide Ohren. „Freut mich für euch.“ Dann nahm er Ellen liebevoll in den Arm, küsste sie anschließend und sah seiner Frau tief in die Augen. „Mein Weihnachtsengel. Und, wann ziehst du wieder ein?“

„Am liebsten sofort“, entgegnete Ellen.

„Super, dann holen wir morgen deine Sachen“, schlug Leon vor.

„Aber das mit dem Heiraten lassen wir mal. Ich hätte lieber wieder meine alte Identität zurück. Denn ich möchte wieder die Frau sein, die du damals geheiratet hast.“ Ellen tätschelte Amons Hand.

„Na schön. Ob das so leicht geht?“, fragte Amon.

„Wir werden uns erkundigen, Mama. Das bekommen wir schon hin“, warf Leon ein.

„Das wäre toll“, sagte Ellen lächelnd.

„Sollen wir dich bis dahin Elena nennen?“, fragte Iva.

Ellen wich empört zurück. „Nein!“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin Ellen Steinbach. So wahr ich hier sitze.“

2. Kapitel

IVA

Nach dem schweißtreibenden Bauchkurs setzte Iva sich an die Theke, um sich ein erfrischendes, isotonisches Getränk zu bestellen.

Bianca freute sich sichtlich, als Iva sich zu ihr gesellte. „Mensch, Iva! Dich habe ich ja ewig nicht gesehen! Wie geht es dir?“

„Gut, danke und dir, Bianca? Bist du nicht normalerweise auf der Fläche?“, japste sie.

„Schon, aber heute springe ich für Claudia ein.“

Iva war immer noch völlig außer Atem, ließ sich auf einem der Barhocker nieder und wischte sich mit ihrem Handtuch, dass sie zuvor locker über die Schultern gelegt hatte, die Schweißperlen von der Stirn. „Und was gibt es Neues bei dir?“

„Ich habe jetzt ein Studium angefangen. Architektur.“ Bianca lächelte stolz.

„Wow! Das klingt toll. Wolltest du das nicht damals schon machen?“

„Ja, aber ich war mir noch nicht sicher, an welche Uni ich gehen sollte.“ Bianca wischte mit einem Lappen die Theke ab.

„Na, das ist doch schön, dass du jetzt eine gefunden hast.“

Auf einmal sah Bianca Iva fragend an. „Warum bist du nach dem Mutterschutz nicht wieder arbeiten gekommen?“

„Ich möchte noch ein bisschen die Zeit mit meinen Töchtern genießen. Die zwei werden viel zu schnell groß. Ich verpasse einfach zu viel, wenn ich wieder in dem Umfang arbeite, wie vorher. Vielleicht fange ich nächstes Jahr in Teilzeit wieder an. Darüber muss ich mal mit Mali sprechen.“ Sie lächelte.

„Aber ab und zu brauche ich auch mal eine Auszeit. Zum Beispiel um den Schwangerschaftsspeck loszuwerden.“

„Welcher Speck? Du bist doch schlank wie damals.“

Iva verdrehte spielerisch die Augen. „Dann will ich meinen Körper eben ein wenig straffen. Besser?“

Bianca nickte zufrieden. „Was ich nie verstanden habe, warum bist du vom Service in den Wellnessbereich gewechselt? Sorry, dass ich so neugierig bin, aber ich hatte mich damals schon gewundert, mich aber nie getraut, genauer nachzufragen. Wir kannten uns da ja auch noch nicht so richtig.“

Iva blickte auf die Theke herab. „Es gab Gründe …“, antwortete sie und stoppte dann. Ihr war das Thema sehr unangenehm.

„Hm.“ Bianca sah sie eindringlich an und presste die Lippen zusammen, als schien sie ein Lächeln unterdrücken zu wollen.

„Die Sache ist etwas kompliziert. Das erzähle ich dir ein anderes Mal.“

„Also ein Mann?!“, stellte Bianca frech fest, hob eine Augenbraue und grinste.

Iva konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, denn Bianca hatte es auf den Punkt gebracht.

„Wenn es kompliziert wird, ist es meist wegen eines Kerls“, fügte Bianca altklug hinzu. „Ich hoffe, es hat sich wenigstens gelohnt.“

Iva gab einen Seufzer von sich. „Nicht wirklich. Der Kerl war ein einziger Reinfall. Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. So, jetzt gib mir mal einen Isodrink, bitte. Ich verdurste.“

Bianca reichte ihr den Drink und wandte sich kurz ab, denn ein weiteres Mitglied hatte sich zu ihnen an die Theke gesellt.

„Einen Espresso“, sagte eine männliche Stimme.

Iva lief ein kalter Schauer über den Rücken, denn diese Stimme kam ihr sehr vertraut vor. Zu vertraut. Als sie sich reflexartig zur Seite drehte, entdeckte sie Amon neben sich.

Er schaute sichtbar erschrocken. Offenbar hatte er Iva ebenfalls nicht direkt bemerkt. „Oh, Hallo“, entglitt es ihm leise. Er sah sie ein wenig verlegen an. Offenbar wusste er nicht, was er sagen sollte.

„Hallo“, antwortete Iva schüchtern und wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Hoffentlich hat er das eben nicht gehört.

„Soll ich mich lieber woanders hinsetzen?“ Amon wirkte verunsichert.

Oh nein! Er hat es garantiert gehört.

Irgendwie tat er ihr leid. „Nein, ist schon okay. Ich bin eh gleich fertig“, sagte sie deshalb, nahm anschließend noch einen Schluck ihres Isodrinks und schaute wieder in Biancas Richtung.

„Und wie geht es dir so?“, versuchte er sich im Small Talk und nahm seinen Espresso entgegen.

Sie bemerkte, wie er sie flüchtig ansah. Dabei konnte sie nicht einordnen, ob ihr das unangenehm war oder nicht. „Ganz okay. Und wie geht es dir?“, fragte sie. Doch eigentlich wollte Iva das gar nicht wissen. Doch nun war sie tatsächlich in einem Gespräch mit Amon. Am gleichen Ort, genau wie vor knapp zwei Jahren.

Trotz der Versöhnung hatten die beiden noch nicht sehr oft miteinander gesprochen. Und wenn, dann nur in Ellens oder Leons Gegenwart. Doch nun waren sie allein. Abgesehen von Bianca.

„Mir geht es gut. Ich habe einen neuen Job in einem großen Betrieb als Sales Manager.“

„Ist doch super.“ Iva lächelte ein wenig verlegen.

Amon trank den Espresso leer, zeigte mit dem Finger darauf und gab Bianca damit zu verstehen, noch einen trinken zu wollen.

Diese nickte und betätigte den Kaffeeautomaten.

„Macht der Gewohnheit“, schmunzelte er und fuhr sich durch das dunkle Haar, dass ihm bis zum Nacken reichte.

Iva lächelte und bereute es im selben Moment gleich wieder. Nervös zupfte sie an ihrer Fitnessleggings und zog damit offenbar Amons Aufmerksamkeit auf sich. Sie erwischte ihn dabei, wie sein Blick von ihren Beinen hoch über ihren wieder ziemlich flachen Bauch bis hin zu ihrem Sportbustier wanderte.

„Hey!“, sagte sie in einem ermahnenden Ton und sah ihn ein wenig schockiert an.

Amon zuckte ertappt zusammen.

„Das habe ich gesehen!“, mahnte sie. Dabei kam ihr schelmischer Schlitzohr-Blick zum Vorschein. Das hätte Iva nicht passieren dürfen. Sie wusste, dass Amon diesen Blick ganz genau kannte.

„Sorry!“, beteuerte er dann, jedoch mit einem verschmitzten Grinsen.

Iva presste schnell die Lippen aufeinander, um nicht schon wieder zu lächeln.

Bianca hob eine Augenbraue. „Verstehe“, sagte sie, als hätte sie eine Erleuchtung gehabt und grinste ebenfalls.

Iva packte sich verärgert an den Kopf. „Jaja …“ Ihr entglitt ein lauter Seufzer. „Ich muss los. Was kriegst du für den Drink?“ Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie.

Amon hielt sanft ihren Arm fest. „Das übernehme ich.“

Iva erschauerte, als sie bei seiner Berührung ein Kribbeln am ganzen Körper verspürte.

Hoppla! Was war das denn?

Er ließ ihren Arm los und sah sie fragend an, als hätte er das Kribbeln ebenfalls gespürt.

Iva stockte kurz. „Nein, ist schon gut.“ Sie machte eine ablehnende Handbewegung.

„Doch, das ist Blickgeld.“ Amon grinste.

„Blick-was?“ Irritiert sah Iva ihn an und stellte fest, dass die Wärme in seinen kakaobraunen Augen immer noch so intensiv war wie früher. Sie zuckte zusammen, als sie sich dabei ertappte, wie sie sich darin verlor.

„Blickgeld“, wiederholte er und bemühte sich um eine ernste Miene. Seine Mundwinkel zuckten sichtbar. Dann grinste er spitzbübisch.

Iva musste lachen. „Du spinnst.“

Er drückte Bianca einen Fünf-Euro-Schein in die Hand.

Iva verdrehte die Augen und legte Amon die Hand auf die Schulter. „Danke. Aber das wäre nicht nötig gewesen.“

„Wie gesagt, Blickgeld.“

Iva schmunzelte und stand kopfschüttelnd von ihrem Hocker auf. „Nicht, dass das zur Gewohnheit wird.“ Sie zwinkerte ihm zu und verließ die Theke. Hatte sie da gerade mit ihrem Schwiegervater in spe geflirtet?

Mensch Iva, wie peinlich! Was machst du da wieder? Nachdenken, Mädchen! Hast du schon vergessen, was Amon dir angetan hat?

Bilder ihrer Liaison schossen in ihr Gedächtnis, als sie die Treppen zu den Umkleiden hinabstieg. Erinnerungen vom Schlosspark, ihrem Ausflug in die Großstadt, dem Gehstock werfenden Rentner auf Kelly-Suche, dem Baby … Sie versuchte diese Gedanken, die ein beschämendes Gefühl in ihr auslösten, wieder zu verdrängen.

Du bist mit Leon zusammen und du bist glücklich. Amon hat dir nur Unglück gebracht. Sei froh, dass alles im Lot ist mit Ellen und dir. Sie darf niemals erfahren, was mal mit dir und Amon gewesen war. Setz das nicht aufs Spiel, Iva!

Als Iva vor einer Woche beschlossen hatte, sich wieder etwas Gutes zu tun und Sport zu machen, war ihr klar, dass sie dort auf Amon treffen könnte. Jedoch hatte sie sich fest vorgenommen, dort nicht mit ihm zu sprechen. Allerhöchstens zur Begrüßung ein Nicken oder kurzes „Hi!“. Mehr nicht. Doch nun hatte sie nicht nur mit ihm gesprochen, schlimmer noch – sie hatte mit ihm geflirtet.

 

Auf dem Weg zum Auto ärgerte sich Iva immer noch über ihr inkonsequentes Verhalten. Sie fragte sich, warum sie nicht standhaft geblieben und wieder auf seine charmant-dreiste Art angesprungen war. Um den Parkplatz des Clubs zu erreichen, spazierte Iva an der Stelle vorbei, an der vor zwei Jahren mit einer simplen Handynummer alles angefangen hatte. Sie erblickte den weißen Mustang und schmunzelte in sich hinein. „Macht der Gewohnheit“, hallten Amons Worte in ihren Gedanken nach.

Manche Dinge werden sich nie ändern. Auch nach zwei Jahren parkt Amon immer noch an derselben Stelle.

Die warmen Sonnenstrahlen schenkten Iva ein wohliges Gefühl und erinnerten sie an den vorletzten Sommer. Bonnie und Clyde.

Iva kniff geblendet die Augen zusammen, als sie um die Ecke trat.

„Vorsicht!“, rief eine Stimme. Durch das Flimmern in ihren Augen konnte Iva nur vage einen Schatten vor sich erkennen. Dann stieß sie mit der Person zusammen, die vom Parkplatz aus in Richtung des Clubs geeilt war. „Sorry, sorry …!“, stammelte sie und rieb sich die Augen. „Ich war von der Sonne geblendet. Tut mir echt leid. Ich wollte Sie nicht umlaufen.“

„Oh nein! Der Kaffee. Mein Hemd!“, schimpfte die Stimme, die langsam einen Körper und ein Gesicht bekam.

Ivas Augen hatten wieder ihre Funktion aufgenommen und erblickten einen großen Mann, den sie auf Ende vierzig schätzte. Dieser bückte sich nach seinem Handy, das ihm bei dem Zusammenstoß heruntergefallen war.

„Oh nein! Ist es kaputt?“ Schuldbewusst schaute Iva auf das gerissene Display.

Verärgert biss sich der Mann auf die Lippen.

Iva blickte beschämt zu Boden. Dabei entging ihr der piekfeine Anzug und das mit Kaffee überschüttete Hemd des Mannes nicht.

Auch das noch. Ein reicher Schnösel und ich zerstöre sein Hemd und sein Handy. Das wird teuer.

„Ich werde es Ihnen natürlich ersetzen. Tut mir echt leid“, beteuerte sie.

„Das sagtest du bereits. Da kann man nicht einmal seinen Latte to go trinken, ohne dass man umgerannt wird?!“ Sein Ton war streng und herablassend.

„Lassen Sie uns am besten Namen und Kontaktdaten austauschen. Dann werde ich Ihnen den Schaden ersetzen“, schlug Iva vor.

Der Fremde sah auf seine Armbanduhr und verdrehte dann genervt die Augen. „Na schön! Dann gib schnell her, ich muss zum Training.“

Iva kramte hektisch in ihrer Sporttasche nach Stift und Papier. Doch sie erhaschte nur einen zerknüllten Kassenzettel.

Der Mann hielt ihr einen goldenen Kugelschreiber hin.

Iva zögerte zunächst, ihn anzunehmen aus Angst, sie könnte wieder etwas Wertvolles kaputt machen, doch dann kritzelte sie damit Name, Rufnummer und Anschrift auf den Kassenzettel. Aus Reflex schrieb sie ihren zukünftigen Nachnamen darauf.

Der Mann verzog leicht irritiert das Gesicht, als Iva ihm den zerknitterten Kassenbon hinhielt. Souverän zog er eine Visitenkarte aus der Tasche seines Jacketts und tauschte sie gegen den Schmierwisch seiner Unfallgegnerin.

Peinlich berührt nahm Iva die Karte entgegen und steckte sie ein.

Der Mann nickte, ließ Iva stehen und setzte seinen Weg fort.

Oh Gott Iva, wie peinlich! Heute ist aber auch echt nicht dein Tag. Erst die Sache mit Amon, dann läufst du den Schnösel um, zerstörst sein Handy und gibst ihm deine Nummer auf einem Kassenbon. Ein Kassenbon! Er zückt die feine Visitenkarte und du hast nur einen popligen Kassenbon! Ach du Scheiße! Was habe ich da eigentlich noch gleich gekauft? Oh nein! Bitte nicht die Damenbinden und Tampons! … Es waren die Tampons! Japp, super Iva! Wozu ins Fettnäpfchen setzen, wenn man auch darin baden kann?!

Ihr persönlicher Blamage-Highscore war geknackt. Hektisch lief sie in Richtung Auto und blickte starr nach unten. Am liebsten wollte Iva im Boden versinken. An ihrem Wagen angekommen, blieb sie stehen und zog die Visitenkarte aus ihrer Tasche hervor. Vorsichtig stierte sie auf die Karte, um zu erfahren, vor wem sie sich so blamiert hatte. Der Name stand in goldener Schrift geschrieben: Andreas Schermann.