Leseprobe Wie ein Leben ohne dich

Charlotte

„Nehmen Sie sofort diesen bescheuerten Mistelzweig wieder von meiner Tür!“, rief der Mann mit lauter und erzürnter Stimme.

Charlotte stieß ein leises Seufzen aus, während sie sich langsam der Tür näherte, aus der das Geschrei kam.

„Und wagen Sie es ja nicht, auch nur eine Christbaumkugel oder einen Tannenzweig in meinem Zimmer zu drapieren. Wie oft soll ich noch sagen, dass ich Weihnachten wie die Pest hasse? Kann man sich das denn so schwer merken?“, schimpfte der Mann weiter, während sie eintrat.

„Guten Morgen, Adrianne, dieses Zimmer bitte nicht dekorieren, es ist Mr Woolseys ausdrücklicher Wunsch. Wir haben das sogar in seiner Akte vermerkt.“

„Entschuldigung, das wusste ich nicht“, entgegnete die junge Frau verunsichert und beeilte sich, alle Weihnachtssachen wieder in einen Karton zu packen.

„Adrianne ist noch neu bei uns und hatte Ihre Akte nicht gelesen, Mr Woolsey, sie wird sofort alles mitnehmen“, sagte Charlotte zu dem alten Mann, der immer noch aussah, als wollte er der armen Adrianne den Kopf abreißen.

Während die junge Pflegerin eilig den Raum verließ, seufzte Charlotte innerlich abermals auf. Sie konnte sich wirklich Schöneres vorstellen, als direkt am Morgen mit so einem Spezialfall wie Mr Woolsey zu tun zu haben. Eigentlich bemühte sich das Altenheim, das sich gerne Seniorenresidenz nannte, um einen familiären und lockeren Umgang, dazu gehörte auch, dass die Bewohner die Pflegerinnen alle mit Vornamen ansprachen. Aber Mr Woolsey war knurrig, unfreundlich und siezte jede der Schwestern bis heute, und das, obwohl er mittlerweile schon dreieinhalb Jahre hier lebte. Er schien auch vorher schon kein besonderer Menschenfreund gewesen zu sein, denn in all der Zeit war ihn nie jemand besuchen gekommen, weder von der Familie noch von Freunden.

Sie hatte im Laufe der Zeit schon viele verbitterte ältere Menschen kennengelernt, aber bei Mr Woolsey hatte sie das Gefühl, dass er auch früher nicht anders gewesen war.

Gerade zur Weihnachtszeit war er ganz besonders unerträglich, als würde ihn all die gute Laune und friedliche Atmosphäre um ihn herum noch verdrießlicher machen. Sie wusste, dass er bei den anderen Pflegerinnen längst den Spitznamen „Scrooge“ weghatte und sie ihm gerne auf seine knurrigen Antworten ein „Humbug“ entgegneten. Wohlweislich aber so leise, dass er es nicht hörte.

Da sie ihn vom ersten Tag an mit ausgesuchter Höflichkeit und Respekt behandelte, war er zu ihr noch mit Abstand am freundlichsten und sie drang wenigstens hin und wieder zu ihm durch, aber „freundlich“ war für ihn ein relativer Begriff. Deshalb verbrachte sie die Morgenstunden doch lieber mit den netteren Patienten.

„Es tut mir leid, Mr Woolsey, es wird nicht wieder vorkommen. Ich werde die anderen Pflegerinnen noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen“, meinte sie zu ihm.

„Und nicht nur das ganze Weihnachtszeug im Zimmer, ich will auch nicht zum Weihnachtsbasteln, Plätzchenbacken, Liedersingen oder sonst einen Schwachsinn eingeladen werden“, schnappte er.

„Natürlich, ich werde all das noch einmal betonen.“

Ein wenig besänftigt lehnte sich der alte Mann in seinem Sessel zurück, in dem er immer nach dem Frühstück saß, und starrte aus dem Fenster.

Sie hatte keine Ahnung, warum der alte Mann Weihnachten so sehr hasste, und sie hatte es aufgegeben, ihn danach zu fragen. In den ersten zwei Jahren hatte sie herausfinden wollen, welcher Grund dahintersteckte und mit den anderen Pflegerinnen versucht ihm Weihnachten und all die schönen Dinge, die dazugehörten, schmackhaft zu machen, aber er hatte sich jedes Mal so aufgeregt, dass sie fast einen Arzt rufen mussten. Deshalb hatte sie irgendwann beschlossen, das Thema einfach nicht mehr anzusprechen. All die anderen Feiertage mochte er sehr gerne, egal ob es Ostern, Thanksgiving oder der Unabhängigkeitstag war. Ihr war klar, dass es irgendeinen Grund dafür geben musste, aber solange Mr Woolsey nicht darüber sprechen wollte, musste sie das akzeptieren.

Nachdem sie sich noch ein paar Minuten mit ihm unterhalten hatte, verabschiedete sie sich von ihm, um nach den anderen Patienten zu sehen. Aber als Allererstes machte sie einen Abstecher in den Aufenthaltsraum und schenkte sich einen großen Becher Kaffee ein. Ohne Kaffee war morgens nichts mit ihr anzufangen, besonders nicht, wenn sie so eine nette Begrüßung wie von Mr Woolsey erwartete. Danny und sie hatten sich heute Morgen schon wieder in die Haare gekriegt, und ehe sie sichs versah, musste sie los und hatte keine Zeit mehr für ihren Morgenkaffee. Sie nahm seufzend einen Schluck und hing ihren Gedanken nach.

So hatte Charlotte sich ihr Leben wirklich nicht vorgestellt. Sie war jetzt Mitte dreißig, hatte einen Job, den sie eigentlich nie hatte ausüben wollen, und wenn sie nach einem stressigen Tag nach Hause kam, wartete da ein Mann, mit dem sie sich in letzter Zeit nur noch in den Haaren lag. Dabei hatte sie einmal große Pläne gehabt, hatte studieren und anschließend Schriftstellerin werden wollen.

Was war nur passiert?

Das Leben war passiert! Rechnungen mussten bezahlt werden, der Alltag war in ihre Beziehung eingekehrt, und auf einmal, waren all ihre Träume nur noch das gewesen: Träume!

Ihre Mutter hatte ihr damals über eine Bekannte einen Job in diesem Pflegeheim vermittelt und sie hatte ihn übergangsweise angenommen, nur so lange, bis sie ihren ersten erfolgreichen Roman geschrieben hätte. Aber dann stellte sie schnell fest, dass der Stress auf der Arbeit zu groß war, um abends noch die Energie aufzubringen, daran zu schreiben. Sie fing an zu arbeiten und schwor sich jeden Abend und am Wochenende, weiter daran zu arbeiten und wenn es nur eine Seite pro Tag war, Hauptsache sie schrieb und der Roman wuchs. Aber schon nach kurzer Zeit fand sie immer neue Ausreden, warum keine Zeit mehr zu schreiben blieb … eine Geburtstagsfeier, ein wichtiger Anruf, ein neues spannendes Buch oder einfach nur ein Film, bei dem sie schon nach der Hälfte einschlief.

Und nun war sie schon fast zehn Jahre in dem Heim, hatte mittlerweile eine Altenpflegeausbildung abgeschlossen und der Roman kam ihr so gut wie gar nicht mehr in den Sinn, es kam ihr vor wie der Traum einer anderen.

Aber dann hatte sie Mrs St. Claire, eine alte Dame aus dem Nebengebäude, auf eine Idee gebracht, wie sie Arbeit und Roman miteinander verweben könnte. Anders, als viele der Pflegerinnen hier, die nur gestresst ihr Pensum abarbeiteten, wollte Charlotte sich wirklich um die Bewohner kümmern. Auch wenn es nie ihr Traumberuf gewesen war, waren ihr die alten Leute ans Herz gewachsen. Viele von ihnen hatten keinen Ehepartner mehr, die Freunde waren gestorben und die Kinder und Enkel ließen sich nur noch selten blicken, um ihren Pflichtbesuch zu absolvieren. Charlotte fand das unglaublich traurig, und deshalb war es ihr wichtig, sich wenigstens ein wenig mit jedem Patienten zu unterhalten, nachdem sie ihn versorgt hatte. Manchmal waren es nur zehn Minuten, die ihr blieben, bis sie zum nächsten Bewohner musste, aber sie hatte das Gefühl, dass den alten Leuten die Zeit, die sie sich für sie nahm, unglaublich wichtig war und dass ihr Besuch traurigerweise der Höhepunkt des Tages für sie darstellte.

Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum so viele Pflegerinnen genervt waren, wenn die alten Leute mit ihnen plauderten, denn sie genoss die Zeit, wenn sie ehrlich war, genauso wie ihre Bewohner.

Ihre Kolleginnen würden den Mund nicht mehr zukriegen, wenn sie wüssten, was für schillernde und besondere Persönlichkeiten die zerbrechlichen, von Falten überzogenen und auf Gehhilfen angewiesenen Personen einst gewesen waren.

Zirkusartisten, Filmschauspieler, Kriegshelden, es schien wirklich alles vertreten zu sein, aber für ihre Kollegen zählte nur die alte Hülle und automatisch gingen sie davon aus, dass ein ebenso alter Geist in diesen Körpern steckte.

Aber genau diese Gespräche hatten sie dazu gebracht, wieder ein Buch zu schreiben. Es sollte ein Buch über die Liebe werden. Über die Unvergänglichkeit, darüber, dass die Liebe das Einzige war, das auch nach unzähligen Lebensjahren noch so in der Erinnerung der Menschen verankert war, als wäre es erst gestern geschehen.

Angefangen hatte alles mit Mrs St. Claire, die ihr einen winzigen Einblick in ihr Leben und in die Liebe gewährt hatte. Sie hatte bisher nur eine Zusammenfassung von ihr gehört, aber das hatte ausgereicht, um sie nachts nicht mehr schlafen zu lassen, weil die Idee des Romans sie immer mehr beflügelte.

Sie hatte gedacht, dass sie diesen Roman schreiben wollte, um die Erinnerungen der alten Leute nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und um der jüngeren Generation zu zeigen, dass diese unscheinbaren Senioren oft zwei oder mehr aufregende Leben gleichzeitig geführt hatten. Aber wenn sie tief in sich hineinhorchte, dann wollte sie das Buch auch für sich selbst schreiben. Nicht um berühmt zu werden; von diesem Gedanken hatte sie sich schon lange verabschiedet, nein, sie wollte etwas über die große Liebe erfahren. Ob es sie wirklich gab, wie es sich anfühlte, und ob man auch mehrmals im Leben die große Liebe finden konnte.

Ihre Beziehung mit Danny war so trist und alltäglich geworden, dass sie sich einfach nach dem Ritter auf dem weißen Pferd sehnte. Sie wollte erfahren, ob er nur eine Märchengestalt war oder ob er diesen alten Leuten im Laufe ihres langen Lebens tatsächlich begegnet war.

Am Anfang war sie sich komisch vorgekommen, den Bewohnern von ihrer Idee zu erzählen und zu fragen, ob sie bereit wären, aus ihrem Leben zu erzählen, aber ihre Angst war vollkommen unbegründet gewesen. Sie waren begeistert von der Aussicht, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, und davon, dass sie vielleicht sogar in einem Buch gedruckt wurde und ihr Leben so unsterblich gemacht werden würde.

Und so hatte sie angefangen, bei der Arbeit ein Notizbuch mit sich herumzutragen. Sie hatte mehrere Personen ausgesucht, und immer wenn sie mit der Versorgung der anderen Bewohner fertig war, setzte sie sich zum ihm und hörte ihm zu, wie er von seinem Leben erzählte. Manchmal, wenn Danny lange arbeiten musste, ging sie auch kurz nach Feierabend zu ihnen, trank einen Kaffee und lauschte den Geschichten.

Sie wusste noch nicht, wen sie in den Roman aufnahm, denn sie konnte nicht einschätzen, ob die Personen, die sie sich aussuchte, auch wirklich interessante Geschichten zu erzählen hatten. Sie würde einfach nach und nach die Bewohner fragen, sich ihre Lebens- beziehungsweise Liebesgeschichte anhören und dann entscheiden, welche es wert war, in das Buch aufgenommen zu werden.

Die Bewohnerin, die sie überhaupt erst auf die Idee des Buches gebracht hatte, schien allerdings perfekt geeignet zu sein, allerdings wusste Charlotte bisher so gut wie keine Einzelheiten, sondern hatte nur eine grobe Zusammenfassung. Aber diese reichte schon aus, um zu wissen, dass Mrs St. Claire ein erfülltes Liebesleben gehabt hatte.

Agnes St. Claire

Da sie heute personell recht gut besetzt waren, musste Charlotte nur drei Personen versorgen, bis sie zum Nachbarhaus hinübergehen konnte, in dem Mrs St. Claire untergebracht war. Während sie über den Kieselsteinpfad ging, rieb sie sich fröstelnd die Arme und wünschte sich, sie hätte sich trotz des kurzen Weges ihre dicke, gefütterte Jacke mit der Pelzkapuze übergezogen. Es war noch ungefähr ein Monat Zeit bis Weihnachten, aber schon jetzt überzog der Schnee das ganze Anwesen wie mit Puderzucker. Die Gehwege waren für das Personal und die Bewohner natürlich gestreut, aber die Rasenflächen, die kahlen Bäume, der große Springbrunnen mit den Bänken ringsherum, waren von einem wunderschönen Weiß überzogen, sodass das Pflegeheim von Weitem eher an ein verwunschenes Märchenschloss erinnerte. Charlotte liebte den Winter und Weihnachten war mit Abstand ihr allerliebster Feiertag und sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihn einmal weniger lieben würde, wenn sie alt war, so wie Mr Woolsey es tat.

Sie beschleunigte ihre Schritte, bemühte sich dabei, nicht auszurutschen und stieß ein wohliges Seufzen aus, als sie die warme Empfangshalle des Nebengebäudes betrat. Dort schenkte sie Annie, die am Empfang saß, ein breites Lächeln und machte sich dann auf den Weg in den zweiten Stock zu ihrer heutigen Interviewpartnerin. Während sie den Korridor entlangging, strich sie sich ein paar Mal über ihre blonden Locken, die trotz der kurzen Strecke vom Schnee ein wenig feucht waren.

Als sie das Zimmer betrat, saß Mrs St. Claire schon in ihrem Sessel am Fenster, sodass Charlotte ihr genau gegenüber Platz nehmen und den kleinen Kaffeetisch als Schreibfläche benutzen konnte.

„Guten Morgen, Mrs St. Claire, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen“, sagte Charlotte, als sie den Stuhl zurechtrückte und sich setzte.

„Wie immer, meine Liebe. In meinem Alter ist das mit dem Schlafen nicht mehr so einfach. Der Körper scheint ihn nicht mehr so sehr zu brauchen, wissen Sie. Aber das hat den Vorteil, dass ich schon den ganzen Morgen in Erinnerungen schwelgen kann, um zu überlegen, wo ich am besten mit meiner Geschichte anfange.“

Mrs St. Claire lächelte breit und Charlotte musste unwillkürlich zurücklächeln. Agnes St. Claire hatte eines dieser Lächeln, die sich über das ganze Gesicht ausbreiteten und bei denen auch die Augen wie zwei Diamanten strahlten. Egal wie niedergeschlagen man war, Mrs St. Claire schaffte es mit einem einfachen Lächeln, dass die Welt, die vorher grau und düster wirkte, plötzlich gar nicht mehr so hoffnungslos aussah.

„Wenn man plaudert, gehört auch ein anständiger Kaffee und Süßes dazu, finden Sie nicht auch, Charlotte?“, meinte Agnes St. Claire und schob Charlotte eine Thermoskanne und einen Becher hin, während sie nach einem Plätzchen griff und genüsslich kaute.

„Sie sind ein Geschenk des Himmels, wissen Sie das?“, entgegnete Charlotte. „Aber wo haben Sie denn die Thermoskanne her?“

„Meine Schwiegertochter war so lieb, sie mir vor Kurzem mitzubringen und ich habe so meine Beziehungen, wie ich sie morgens auffüllen lassen kann, damit ich auch zwischendurch mal einen schönen Kaffee trinken kann“, antwortete Agnes und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Charlotte griff nach der Thermoskanne, goss sich einen Becher voll ein und schloss dann die immer noch klammen Finger um die warme Tasse. Dann nahm sie genüsslich einen großen Schluck des heißen Getränks und merkte augenblicklich, wie sich eine wohlige Wärme in ihr ausbreitete.

Nun öffnete sie ihr Notizbuch, griff zum Stift und ermunterte Mrs St. Claire zum Erzählen.

„Haben Sie einen bestimmten Wunsch, ab wann ich erzähle, oder gibt es etwas, das Sie besonders interessiert, für Ihr Buch?“, fragte die alte Dame schüchtern. „Ich will Sie ja nicht langweilen.“

„Das tun Sie bestimmt nicht, Agnes. Erzählen Sie die Geschichte bitte genau so, wie Sie es möchten, und von dem, was Ihnen wichtig erscheint.“

„Na gut“, sagte Agnes lächelnd, goss sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein und umklammerte den Becher, als brauchte sie etwas, an dem sie sich festhalten konnte.

Während sie aus dem Fenster schaute und ihre Gedanken zu ordnen versuchte, betrachtete Charlotte sie eingehend. Auf den ersten Blick unterschied sich Agnes St. Claire nicht von vielen anderen älteren Damen, die sie im Pflegeheim betreute. Agnes war klein und so dünn, dass sie unglaublich zerbrechlich wirkte. Zusammen mit ihrer feinen durchscheinenden Haut wirkte sie fast wie eine Elfe. Das Alter hatte mithilfe unzähliger Fältchen und Runzeln eine Landkarte ihres Lebens in ihr Gesicht gezeichnet, und wenn sie ging, tat sie es mit den kleinen, vorsichtigen Schritten, die vielen älteren Leuten eigen sind, aber all das verblasste, wenn man Agnes in die Augen sah und sie reden hörte. Agnes hatte unglaubliche blaue Augen, die an einen kalten, funkelnden Bergsee oder an Saphire erinnerten. Wenn man hineinsah, gerade wenn diese von einem Lächeln erfüllt waren, dann hatte man das Gefühl, in das Gesicht eines jungen lebenssprühenden Mädchens zu blicken. Auch Agnes’ Stimme war unbeschreiblich. Sie war ungemein kräftig, aber sie war gleichzeitig auch weich und voller Wärme. Wenn man ihr lauschte, kam man sich vor, als würde man an einem warmen Kamin sitzen.

Agnes St. Claire räusperte sich und riss Charlotte aus ihren Beobachtungen. „Ich hatte überlegt, dass ich meine Geschichte damit anfange, dass ich Ihnen von unserem ersten Treffen erzähle, aber dann habe ich mich dagegen entschieden, denn unser Abenteuer hat eigentlich schon viel früher begonnen, auch wenn meine große Liebe es noch nicht wusste. Er dachte immer, wir hätten uns dort kennengelernt, aber in Wirklichkeit hatte ich ihn schon ein halbes Jahr zuvor gesehen.

Es war gerade Jahrmarkt in der Stadt und ich freute mich schon die ganze Woche darauf. Ich hatte eine kleine Ewigkeit all mein Geld gespart, um zusammen mit meinen Freundinnen dort hinzufahren. Ich liebte einfach alles am Jahrmarkt. Den wunderbaren Geruch nach kandierten Äpfeln, Zuckerwatte und Hotdogs, die Karussells, Losbuden und natürlich das Riesenrad. Der drohende Krieg lastete schon schwer auf uns allen und schwebte wie eine düstere Wolke über uns. Man hatte schon fast ein schlechtes Gewissen, wenn man lachte oder fröhlich war. Aber auf diesem Jahrmarkt war alles unverändert, er sah genauso aus wie jedes Jahr und alle Menschen lachten und genossen die Unbeschwertheit. An diesem Abend dachte ich nicht an den Krieg oder daran, wie meine Zukunft aussehen würde. Ich warf all diesen Ballast von mir und genoss diese unvergesslichen Stunden. Ich aß einen Hotdog, als Nachtisch einen kandierten Apfel, teilte mir mit meiner Freundin einen wunderbar cremigen Milchshake und wir fuhren auf den Karussells, bis uns ganz schwindelig war.

Dann machten wir uns auf den Weg zur Schießbude. Eigentlich nur, um zuzuschauen, denn keine von uns traute sich zu, die Wand statt des Verkäufers zu treffen.

Und dann sah ich ihn! Ich will nicht lügen, deshalb gebe ich zu, dass er mir zuerst wegen seines tollen Äußeren aufgefallen war, auch meine Freundinnen hatten ihn bemerkt, tuschelten und kicherten aufgeregt. Er sah wirklich umwerfend aus, seine Haare waren so schön, dass ich augenblicklich das Verlangen verspürte, mit meinen Händen hindurchzufahren, und er hatte unglaublich intensive braune Augen. Er trug eigentlich gar nichts Besonderes, nur ein einfaches Hemd und eine Hose mit Hosenträgern, dazu eine der Mützen, die damals modern gewesen sind, aber alles an ihm strahlte für mich etwas Besonderes aus.

Ich weiß, es klingt albern, gerade für so ein altes Weib wie mich, aber es war Liebe auf den ersten Blick. Sobald ich ihn gesehen hatte, vergaß ich alles um mich herum, die Stimmen meiner Freundinnen schienen plötzlich wie aus weiter Ferne zu kommen und mein Herz raste, als wäre ich gerade Hunderte Meter gerannt.

Ich merkte, wie meine Wangen heiß und rot wurden und meine Hände anfingen, zu schwitzen und zu zittern.

Ich stand wie angewurzelt mitten auf dem Platz und konnte nichts tun, als ihn anzustarren.

Meine Freundinnen wollten sich noch ein Eis holen, aber als sie mich weiterziehen wollten, sagte ich ihnen, dass ich gleich nachkommen würde. Sie lachten und machten sich über mich lustig, aber ich konnte meinen Blick einfach nicht von diesem Jungen abwenden. Es ging nicht!

Er war wirklich ausgesprochen talentiert, was das Schießen anging, und er gewann einen der Hauptpreise, einen riesengroßen Teddybären. Er freute sich ausgelassen wie ein kleiner Junge darüber und nahm den Preis freudig entgegen.

Dann wandte er sich ab und winkte rechts von mir in die Menge. Ich vermutete, dass dort seine Freunde auf ihn warteten … Oder ein Mädchen, dem er diesen Teddybären schenken würde? Ich merkte, wie mich ein Stich der Eifersucht durchfuhr, und schüttelte den Kopf über meine Verrücktheit. Ich kannte den Jungen überhaupt nicht, wie konnte ich da eifersüchtig sein?

Er drehte sich von der Losbude weg und wieder konnte ich einen Blick in diese unglaublichen Augen erhaschen, dann bahnte er sich einen Weg durch die Menge.

Als er ein Stück weit gegangen war, erblickte ich einen Vater, mit einem kleinen Mädchen, das mit offenem Mund und sehnsüchtig den riesengroßen Teddybären anstarrte. Sie zog an der Hand ihres Vaters und deutete begeistert darauf. Da beugte sich der Junge zu dem Mädchen hinunter, schenkte ihr ein warmes Lächeln und drückte ihr den Teddybären, der fast so groß war wie sie selbst, in die Arme und streichelte ihr sanft über den Kopf.

Als er das fassungslose und strahlende Gesicht des Kindes sah, lachte er aus vollem Hals und verschwand plötzlich in der Menge.

Dies war der Moment, in dem ich nicht nur ein Kribbeln bei seinem Anblick erlebte, sondern mein Herz von einer unglaublichen Liebe überflutet wurde. Diesen Jungen, der so selbstlos ein kleines Mädchen glücklich machte, musste man einfach lieben, er war etwas ganz Besonderes und er weckte Gefühle in mir wie noch nie jemand in meinem siebzehnjährigen Leben zuvor.

Endlich überwand ich meine Schockstarre und eilte ihm hinterher, doch sosehr ich auch suchte, er blieb in der Menge verschwunden. Als ich später mit meinen Freundinnen über ihn sprach, stimmten alle zu, dass er wirklich unglaublich süß gewesen war, aber bei keiner hatte er solche Gefühle erzeugt wie bei mir. In der Nacht nach dem Jahrmarktsbesuch träumte ich sogar von ihm und seinen einzigartigen karamellbraunen Augen. Es ist mir peinlich und bis heute habe ich es nie jemandem erzählt, aber an den darauffolgenden drei Tagen, an denen der Jahrmarkt noch in unserer Stadt war, ging ich jeden Nachmittag dorthin und durchstreifte stundenlang die Gänge und die Schießbuden auf der Suche nach ihm. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass dies schon alles gewesen sein sollte, ich wollte wenigstens einmal seine Stimme hören und seinen Blick auf mir spüren. Ich zweifelte an dem Schicksal und vergrub mich, nachdem der Jahrmarkt abgereist war, nur noch in meinem Zimmer. Meine Freundinnen fanden mein Verhalten verrückt und konnten es beim besten Willen nicht nachvollziehen.

Ständig versuchten sie mich aufzuheitern, nahmen mich ins Kino oder zu anderen Veranstaltungen mit, aber ich hatte keine Freude mehr daran, blieb still und wartete darauf, wieder nach Hause zu kommen und von ihm zu träumen.

Aber dann, auf einer Veranstaltung, sah ich ihn plötzlich wieder. Ich hatte das Gefühl gleichzeitig in Ohnmacht zu fallen und einen Herzinfarkt zu bekommen, weil mein Herz so raste. Meine Beine gaben unter mir nach, aber zum Glück stand in der Nähe ein Stuhl, auf den ich mich im letzten Moment sinken lassen konnte.

Aber dort blieb ich nicht lange, denn noch einmal wollte ich diesen Jungen nicht verlieren.

Lange Rede, kurzer Sinn, es funkte unglaublich zwischen uns und auch er musste wohl gespürt haben, dass das zwischen uns etwas ganz Besonderes war. Ich war vorher eigentlich nie ein besonders rührseliger und romantischer Mensch gewesen und hatte mich über meine Freundinnen lustig gemacht, aber nun war ich diejenige, die plötzlich auf rosa Wolken schwebte und von großer Liebe und Seelenverwandtschaft sprach. In den folgenden Monaten waren wir unzertrennlich und verbrachten jede freie Minute miteinander. Und je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto klarer wurde mir, dass ich mit diesem Jungen mein ganzes Leben verbringen wollte. Nichts war mir jemals so wichtig gewesen, nichts in meinem Leben hatte ich jemals so sehr geliebt.

Ein halbes Jahr nachdem wir uns kennengelernt hatten, verlobten wir uns und nahmen uns vor, kurz danach zu heiraten.

Unser Glück war wirklich perfekt; wenn wir zusammen waren, fühlte es sich an, als wären wir eins, als hätten wir vorher als zwei unfertige Hälften gelebt, die nun endlich vereint waren, und im Gegensatz zu vielen anderen Beziehungen zu jener Zeit hatten wir beide den Segen von unseren Eltern. Meine Eltern vergötterten Fred förmlich und sie freuten sich für uns, und bei seinen Eltern fühlte ich mich schon beim ersten Besuch wie zu Hause.

Unsere Liebe war wirklich wie ein Traum, doch eines Tages zerplatzte dieser Traum auf grausamste Weise.

Es war letztendlich nur ein Blatt Papier, das unsere Liebe für immer zerstörte: der Einberufungsbefehl in die Army. Mein Fred musste in den Krieg ziehen!

Wir waren nicht dumm gewesen, der Krieg rückte immer näher, immer mehr Männer mussten weg, aber für uns war das alles bis dahin nicht real gewesen … so als ob unsere große Liebe ausreichen würde, damit Fred den Dienst nicht antreten musste.

Wir weinten, wir stritten uns zum ersten Mal im Leben, weil wir uns so hilflos fühlten und wir klammerten uns in der kurzen darauffolgenden Zeit wie zwei Ertrinkende aneinander.

Und dann, in der allerletzten Nacht, die uns blieb, trafen wir uns und liebten uns zum allerersten Mal. Die Sterne schienen auf uns herab und das Gras war noch warm von der Hitze des Tages. Wir hatten eigentlich bis zur Hochzeit damit warten wollen, doch jetzt wussten wir plötzlich nicht mehr, ob diese Hochzeit je stattfinden würde.

Würde Fred zu mir zurückkehren?

Unsere Liebesnacht glich unserem Gefühlsleben in dieser schwierigen Zeit. Erst war sie sanft und zärtlich, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, aber dann erwachte die Hitze und schien uns plötzlich zu verzehren. Wir versuchten uns durch diese Nacht alles zu geben, was wir uns vielleicht nie wieder würden sagen können.

Als ich mich am nächsten Morgen am Bahnhof von meiner großen Liebe verabschiedete, versprach er mir, dass er mir, sooft es ging, schreiben würde und ich drohte ihm, dass ich furchtbar böse auf ihn werden würde, wenn er es zuließ, dass er nicht wieder wohlbehalten zu mir zurückkehrte.

Als der Zug mit all den neuen frischgebackenen Soldaten schließlich außer Sichtweite war, brach ich mitten auf dem Bahnsteig zusammen. Ich sank auf die Knie und weinte um mein Lebensglück, das mir dieser furchtbare Krieg für immer genommen hatte. Denn selbst wenn ein Wunder geschah und Fred lebendig und sogar unverletzt zu mir zurückkehrte, wusste ich, dass er nicht mehr der Junge sein würde, in den ich mich verliebt hatte. Ich fürchtete, nein, ich wusste, dass dieser Krieg ihm sein Lachen und sein vor Liebe und Güte überfließendes Herz für immer rauben würde. Und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.

Fred hielt Wort, er schrieb mir wirklich, sooft er konnte, und ich spürte aus jedem seiner Briefe die Liebe, die er mir gegenüber empfand. Wenn ich ihm schrieb, versuchte ich stets fröhlich und optimistisch zu wirken, denn ich wollte stark für ihn sein. Ich sandte ihm Fotos von mir mit, damit er mein Gesicht nicht vergaß, getrocknete Blumen, damit er den Geruch von zu Hause in der Ferne roch. Und ich versicherte ihm in jedem Brief, wie unendlich ich ihn liebte und dass ich auf ihn warten würde.

Aber je länger der Krieg dauerte, desto mehr veränderten sich Freds Briefe. Sie wurden kürzer, bitterer und schon längst handelten sie nur vom Schrecken des Krieges. Er schilderte mir immer öfter, welche Kameraden er im Gefecht verloren hatte, wer schwer verwundet war und wie sehr er diesen Krieg hasste.

Es brach mir das Herz, dass er so litt und ich nicht da war, um ihm beizustehen. Was konnten meine Briefe schon groß bewirken, bei den Grausamkeiten, die er erlebte?

Und dann eines Tages passierte das, wovor ich mich immer schon am meisten gefürchtet hatte: Seine Briefe blieben aus.

Der Krieg war nun überall zu spüren und zuerst vermutete ich nur, dass er im Gefecht war, einfach keine Zeit zum Schreiben blieb oder sie zu einem neuen Standort hatten aufbrechen müssen, aber je mehr Zeit verging, desto mehr umklammerte die Angst mein Herz.

Was war passiert? War er tot oder schwer verwundet? Kaum zum Atmen fähig, wartete ich darauf, dass Soldaten bei uns schellten, um mir die schreckliche Nachricht zu überbringen, oder dass ich einen Brief oder einen Anruf von der Army oder seinen Eltern erhielt. Ich verließ das Haus nicht mehr, aus Angst, eine Nachricht von ihm zu verpassen, ich konnte nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, ich konnte nur an Fred denken … meine große Liebe, den anderen Teil meiner selbst. Wäre er tot, dann könnte ich nie wieder ein Ganzes sein.

Aber als keine Todes- oder Verwundeten-Nachricht eintraf, nahm eine Erkenntnis in meinem Kopf Gestalt an. Vielleicht ging es gar nicht darum, dass er nicht mehr schreiben konnte, sondern, dass er es nicht mehr wollte!

Vielleicht hatten der Krieg und die Entfernung unsere große Liebe zerstört, vielleicht war er durch die Schrecken, die er erlebt hatte, nicht mehr fähig, Liebe zu empfinden.

Ich schrieb ihm noch lange, aber ich bekam auf keinen meiner Briefe eine Antwort. In den folgenden Wochen wuchs in mir die Überzeugung, dass meine Liebe zu ihm einfach stärker und größer gewesen war als seine zu mir. Vielleicht hatte er in irgendeiner Stadt ein Mädchen kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt, so wie es ihm einst mit mir ergangen war.

Meine Gefühle fuhren Achterbahn: An dem einen Tag liebte ich ihn und vermisste ihn so sehr, dass es mir körperlich wehtat, aber am nächsten Tag hasste ich ihn dafür, dass er unsere einzigartige, wunderbare Liebe einfach so weggeworfen hatte. Und dass er nicht Manns genug gewesen war, mir dies zu schreiben, damit ich aufhören konnte, in Ungewissheit zu leben, und versuchen konnte, ein neues Leben ohne ihn zu beginnen.

Und zwischendurch nagte doch der Zweifel an mir: Was, wenn ich ihm unrecht tat? Wenn er schwer verletzt oder gar getötet worden war. Diese Ungewissheit brachte mich schier um den Verstand und meine Eltern litten mit mir, da es nichts gab, was sie für mich tun konnten.

Ein paar Wochen später hatte der Krieg auch unsere Stadt erreicht und meine Eltern entschlossen sich dazu, alles zurückzulassen und nur mit dem Nötigsten zu weit entfernten Verwandten auf das Land zu flüchten.

Eigentlich hätte es mich schmerzen müssen, mein Elternhaus zu verlassen, aber so wie ich mich fühlte, wusste ich, dass ein Neuanfang genau das war, was ich brauchte.

Eine neue Umgebung, neue Freunde, nichts, was mich mehr an meine große Liebe erinnern würde.

In den ersten Monaten nach dem Umzug war meine Gesellschaft keine große Freude, ich war verbittert und zynisch geworden und vermutete hinter jeder netten Geste gleich einen Verrat. Aber die fast gleichaltrigen Töchter meiner Verwandten gaben nicht auf und nahmen mich überallhin mit, damit ich ihre Freunde kennenlernte und aus dem Haus kam.

Bei einem Kinobesuch lernte ich dann schließlich Noah kennen. Er war das genaue Gegenteil von Fred. Noah war ein stiller, nachdenklicher junger Mann, der nie viel sagte. Er warb schüchtern und liebevoll um mich, aber ich machte ihm das Leben am Anfang ganz schön schwer. Ich war einfach zu verletzt und der Meinung, nie wieder einen Menschen lieben zu können. Aber Noah gab nicht auf und mit der Zeit wurden auch meine Gefühle für ihn unmerklich stärker. Es war nicht so wie bei meiner ersten großen Liebe. Diese war wie ein all verzehrendes Feuer gewesen, das mich in dem Moment, als ich Fred zum ersten Mal sah, in Brand steckte. Als ich im ersten Augenblick gespürt hatte, dass er mein Seelenpartner war.

Bei Noah ging das Ganze langsamer, fast schleichend vonstatten. Er war stets für mich da, sorgte sich um mich und hörte mir zu. Irgendwann empfand ich Zuneigung zu ihm und noch ein wenig später fühlte ich mich in seiner Nähe wohl und geborgen. Wir beschlossen zu heiraten, und obwohl es nicht die große Liebe war und ich nicht diese allumfassende Leidenschaft für ihn empfand, führten wir eine sehr glückliche und ausgefüllte Ehe. Noah hat mir zwei wundervolle Kinder geschenkt und bis zu seinem Tod hat er mir jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Es kam so gut wie nie vor, dass er laut wurde, und er hat mich niemals geschlagen.

Er war ein guter Mann und ich bin Gott unglaublich dankbar für die Ehejahre, die er uns zusammen geschenkt hat.

Aber jetzt, da Noah schon so lange tot ist und ich hier in diesem Pflegeheim sitze, muss ich oft über mein Leben nachdenken.

Hatte ich zwei große Lieben in meinem Leben, die einfach nur anders waren, sich von ihrer Beschaffenheit komplett unterschiedlich anfühlten, oder war nur Fred meine einzige Liebe und die Liebe, die ich für Noah empfand, in Wirklichkeit nur Vertrautheit und Gewohnheit?

Außerdem frage ich mich, wie anders mein Leben verlaufen wäre, hätte mich Fred nicht verlassen. Hätte unsere Liebe auch so eine lange Zeit überdauert, hätten wir uns nach dreißig, vierzig Jahren immer noch so unglaublich geliebt, oder wäre der Alltag einkehrt und hätte unser beider überschäumendes Temperament zu Streitigkeiten geführt?

Hatte mich das Schicksal bestraft, indem es mir die Zukunft mit meiner großen Liebe wegnahm, oder hatte es mir etwas anderes geschenkt? Zwei große Lieben, eine Fülle an wunderbaren Erinnerungen und die Chance zwei ganz unterschiedliche Leben in einem einzigen führen und erleben zu dürfen?

Die meiste Zeit bin ich glücklich über das, was mir vom Leben geschenkt wurde, aber manchmal, wenn ich sehr einsam bin, dann gehen meine Gedanken zurück zu Fred und ich frage mich, was aus ihm geworden ist.

Lebt er noch, ist er glücklich verheiratet, so wie ich es gewesen war, oder hat er nach mir nie wieder die große Liebe erlebt? Direkt nachdem er mich verlassen hatte, war ich verbittert und habe ihm gewünscht, dass er sein Leben lang einsam ist und dass ihm dann klar wird, wie wertvoll und wie einzigartig unsere Liebe gewesen ist, die er so einfach weggeworfen hat. Aber jetzt … jetzt wünsche ich mir einfach nur, dass er glücklich geworden ist, dass er ein erfülltes und zufriedenes Leben gehabt hat. Denn tief in meinem Inneren und in meinem Herzen wohnt immer noch dieser Mann, der mich einst so glücklich gemacht hat, und ich wünsche ihm nur das Beste. Aber ich gebe zu, ich würde mich freuen, wenn auch er mich trotz der langen Zeit nicht vergessen hat, wenn auch ich in seinem Herzen noch einen kleinen Platz besitzen würde, sorgsam verwahrt, in einer Art inneren Schatztruhe, die er von Zeit zu Zeit öffnet und deren Innerstes betrachtet. Das würde ich mir wünschen.“ Mit diesen Worten schloss die alte Dame leise ihre Erzählungen ab und nahm einen großen Schluck des inzwischen längst kalt gewordenen Kaffees.

Charlotte blinzelte und fing so schnell sie konnte an, sich Notizen zu machen. Agnes’ Geschichte hatte sie so in ihren Bann gezogen, dass sie sich wie ein Zuschauer in einem Liebesfilm vorgekommen war oder als hätte ihr jemand einen wunderschönen Liebesroman vorgelesen. Sie war so in die Geschichte eingetaucht, so von ihr gefangen genommen worden, dass sie ganz vergessen hatte, mitzuschreiben. Sie bedauerte es, dass sie keinen Digital-Rekorder hatte, auf dem sie alles aufnehmen konnte, denn Agnes’ Erzählung war perfekt gewesen, so wie sie war, Wort für Wort. Sie wollte sie am liebsten genau so in ihrem Roman wiedergeben. Allerdings bezweifelte sie, dass es ihr gelingen würde, die Geschichte so lebendig zu erzählen, wie Agnes es getan hatte. Bei der Erzählung der alten Frau hatte sie das Gefühl gehabt, in die Vergangenheit zu reisen und all das selbst zu erleben. Sie hatte das Glück, die Freude und Liebe des jungen Paares empfunden, aber auch Agnes’ Schmerz nach der Zerstörung ihrer großen Liebe. Außerdem die tiefe Zufriedenheit, die Agnes mit Noah als Ehefrau und Mutter erlebt hatte.

Und eins wurde Charlotte jetzt ebenfalls bewusst, während sie so schnell wie möglich Stichpunkte auf das Blatt schrieb, um ja nichts Wichtiges zu vergessen: wie langweilig und bedeutungslos ihr eigenes Leben dagegen war!

Wenn man sie vor einigen Jahren gefragt hätte, hätte sie ohne zu zögern gesagt, dass Danny ihre große Liebe war, aber jetzt? Jetzt war sie sich dessen gar nicht mehr so sicher und sie fragte sich, ob sie nicht vielleicht Verliebtheit mit Liebe verwechselt hatte. Denn solche Gefühle, wie Agnes St. Claire geschildert hatte, waren ihr fremd. Ihr Mann las ihr definitiv nicht jeden Wunsch von den Lippen ab und mit der großen Leidenschaft war es zwischen ihnen beiden auch nicht mehr weit her.

Nachdem sie die wichtigsten Fakten notiert hatte, wandte sie sich wieder an Mrs St. Claire: „Ich danke Ihnen sehr, dass Sie all diese Erinnerungen mit mir geteilt haben. Ich bin mir sicher, die Leser des Romans, werden Ihre Lebensgeschichte genauso spannend und rührend finden wie ich.“

Agnes legte den Keks, an dem sie geknabbert hatte, zur Seite und antwortete: „Ich danke Ihnen, denn Sie sind es, die mein Leben und meine beiden großen Lieben unsterblich macht. Ich freue mich, dass ich diese Erinnerungen mit anderen Menschen teilen kann, denn ich liebe jede einzelne davon.“

„Auch den Verlust Ihrer ersten großen Liebe? Obwohl er Ihnen so viel Schmerz und Kummer bereitet hat?“, fragte Charlotte verwundert.

„Ja, denn ich wollte keine dieser Erfahrungen und Erinnerungen missen. Natürlich hat es mir damals das Herz zerrissen, aber die Alternative, ihn niemals kennengelernt zu haben und diese große, einzigartige Liebe niemals erleben zu dürfen, das wäre für mich nie vorstellbar gewesen. Sicherlich war es schmerzhaft, aber davor, war es die schönste Zeit meines Lebens. Es war ein unglaubliches Geschenk, das Gott mir gewährt hat und ich bin glücklich für jeden Moment, den ich mit ihm erleben durfte. Ohne den Schmerz in meinem Leben hätte es die Freude nicht gegeben. Also ja, ich liebe jede meiner Erfahrungen, denn sie haben mich zu der gemacht, die ich heute bin!“

Charlotte betrachtete die alte Frau fassungslos. Genau solche Menschen wie sie waren der Grund, warum sie sich dazu entschlossen hatte, einen Roman zu schreiben. Sie lebten still und leise im Pflegeheim, wirken unscheinbar und langweilig. Aber wenn man ihnen zuhörte, dann offenbarten sich manchmal, wie in Agnes’ Fall, Liebesdramen, die jeden Film in den Schatten stellten, und Weisheiten, die auch vom Dalai-Lama stammen könnten.

Und anstatt man diesen Menschen zuhörte, von ihnen lernte oder sich einfach von ihren Geschichten gefangen nahm, schob man sie in Pflegeheime ab, kümmerte sich um ihre Grundbedürfnisse und sagte leichthin: „Ach, das ist doch nur eine alte Frau! Was soll ich mit der schon reden?“

Wie viele dieser Menschen hier hatten einst ein ereignisreiches, erfolgreiches und besonderes Leben geführt und waren nun hier, ohne Familie und Freunde und bekamen vielleicht allerhöchstens ein Guten Morgen und Gute Nacht zu hören.

Charlotte wusste, dass ihr kleiner Roman nicht die Welt verändern würde, aber für die alten Leute, deren Lebensgeschichte sie für immer verewigte, würde es ein großer Unterschied sein. Sie würden sich wertgeschätzt fühlen und ihre Geschichten würden die Leute vielleicht zum Nachdenken anregen.

Charlotte war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass Agnes St. Claire aufgestanden war. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten war sie zu einer Kommode gegangen und hatte ein kleines Kästchen aus Nussbaum geholt. Es war aufwendig mit Intarsien verziert, glänzte und verströmte einen sanften Zitronengeruch von einer Möbelpolitur.

Mit zittrigen Fingern öffnete Agnes das Kästchen und kramte eine Weile darin herum, bevor sie etwas hervorzog und es Charlotte über den Tisch entgegenstreckte.

„Hier ist noch etwas für Ihr Buch. Ich dachte, es würde für die Leser vielleicht noch interessanter sein, wenn sie sich die Figuren besser vorstellen können.“

Als Charlotte die beiden Fotos betrachtete, verstand sie zunächst den Zusammenhang nicht, aber dann plötzlich dämmerte es ihr.

„Sind Sie das?“, fragte sie erstaunt.

Agnes strahlte übers ganze Gesicht. „Ja, ich war schon ein heißer Feger, oder?“, meinte sie augenzwinkernd.

„Sie waren wunderschön. Wie ein Filmstar“, antwortete Charlotte sprachlos und sie meinte jedes Wort ernst.

„Auf dem linken Foto sehen Sie mich zusammen mit Fred, kurz bevor er in den Krieg ziehen musste und auf dem rechten befinde ich mich mit Noah im Restaurant an unserem ersten Hochzeitstag.“

Charlotte betrachtete die beiden Fotos eingehender. Agnes war wirklich eine Schönheit gewesen, sie erinnerte an alte Leinwandstars wie Audrey Hepburn.

Und obwohl das Foto schon Jahrzehnte alt war, meinte Charlotte immer noch die Liebe und Wärme zu spüren, die Agnes auf diesen Fotos ausstrahlte.

Auch wenn die alte Dame ihr nicht gesagt hätte, auf welchem Foto welcher Mann war, hätte sie es instinktiv richtig erraten.

Fred wirkte lustig, abenteuerlich und draufgängerisch und sein Lächeln wirkte ansteckend, während Noah etwas Bodenständiges, Ruhiges ausstrahlte.

Hätte sie beide mit ein, zwei Wörtern beschrieben müssen, hätte sie gesagt: „Leidenschaft und Feuer gegen Geborgenheit und ein Zuhause.“

Aber trotz ihrer ganz unterschiedlichen Charaktere hatten beide etwas gemeinsam, sie waren unglaublich attraktiv und sie schienen Agnes aus vollstem Herzen zu lieben. Beide hatten diese Körperhaltung und diese funkelnden Augen, die sagten: Du gehörst zu mir!

„Die dürfen Sie gerne für Ihr Buch haben, denn ich finde, erst Bilder machen die Geschichten richtig lebendig“, sagte Agnes St. Claire.

„Ich danke Ihnen vielmals, Agnes, sowohl dafür, dass Sie Ihre wunderbare Geschichte mit mir geteilt haben, als auch für die Bilder“, entgegnete Charlotte.

Vorsichtig schob sie die Bilder zwischen die Seiten ihres Notizbuchs, dann warf sie einen beiläufigen Blick auf ihre Uhr und sog erschrocken die Luft ein. „Sitze ich wirklich schon seit fast zwei Stunden hier?“, fragte Charlotte entsetzt.

Agnes nickte breit grinsend.

„Oh mein Gott, die anderen Schwestern denken bestimmt, ich bin verschollen. Es tut mir leid, dass ich so überstürzt losmuss, aber ich war so von Ihrer Geschichte gefangen, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie die Zeit verflogen ist.“

„Ist nicht schlimm. Ich hatte einen sehr schönen Vormittag und ich freue mich, dass Sie so lange hiergeblieben sind, um sich die langatmigen Geschichten einer alten Dame anzuhören.“

Charlotte schüttelte den Kopf und antwortete: „Ich hatte bestimmt mehr Spaß als Sie, glauben Sie mir. Ihre Lebensgeschichte ist etwas ganz Besonderes und sie bekommt einen Ehrenplatz in meinem Roman.“

Dann verabschiedete sie sich von Agnes St. Claire und beeilte sich, wieder zurück zu der anderen Station zu kommen. Mittlerweile hatte es zu schneien aufgehört, sodass sie zwar durchgefroren, aber wenigstens nicht durchnässt war, als sie im anderen Gebäude ankam.

Zum Glück war heute Morgen relativ viel Personal da, sodass ihr Fehlen zwar bemerkt worden war, aber nicht dramatisch gestört hatte.

„Was hast du denn so lange im Saphirhaus gemacht? Hast du dich wieder festgequatscht?“, fragte ihre Kollegin Ellen lächelnd.

Als Ellen den Namen des Hauses nannte, musste Charlotte sich mal wieder bemühen, nicht zusammenzuzucken. Irgendein Bürohengst war vor unzähligen Jahren darauf gekommen, die Gebäude mit wohlklingenden Namen zu belegen, da er der Meinung gewesen war „Haus 1,2,3“ würde den Bewohnern zu klinisch klingen, aber Charlotte bezweifelte, dass diese Leute sich jetzt wohler fühlten, wenn sie in Edelsteinen wohnten. Da hätten sie sich doch gleich auf die Märchenwelt stürzen können … Das Pfefferkuchen-Haus, die Aschenputtel-Villa, die Dornröschen-Residenz. Was wohl ihr hochgeschätzter Bewohner Mr Woolsey, sagen würde, wenn er in so einem Haus untergebracht wäre.

Charlotte biss sich auf die Lippe, aber so sehr sie sich auch bemühte, ernst zu bleiben, es ging nicht. Als Ellen sie auch noch vollkommen verwirrt und stirnrunzelnd ansah, war es um ihre Selbstbeherrschung ganz geschehen und sie bekam einen unglaublichen Lachanfall und konnte vor lauter Prusten nicht mehr sprechen.

„Na, das muss ja ein ganz besonderer Vormittag gewesen sein“, meinte Ellen trocken und drehte sich um, um sich wieder um die Bewohner zu kümmern.

Das einzig Gute an diesem Lachanfall war, dass Charlotte so um die Beantwortung der Frage herumgekommen war, denn sie wollte bei ihren Kollegen nichts über ihr Buchprojekt verlauten lassen. Zumindest vorerst nichts. Das hatte mehrere Gründe: Sie würde die meisten Interviews innerhalb ihrer Arbeitszeit führen und sie hatte Angst, dass sie deswegen eine Abmahnung bekommen würde. Sie sagte sich, dass es eigentlich vollkommen egal war, ob sie einfach so mit ihren Patienten plauderte oder sich Notizen dazu machte, denn dies machte doch überhaupt keinen Unterschied für ihre Arbeitszeit. Aber sie wusste, dass ihre „Arbeitsweise“ einigen Pflegerinnen ein Dorn im Auge war, denn diese wollten nur ihren Dienst nach Vorschrift absolvieren und sich nicht mehr als nötig mit den Patienten auseinandersetzen. Sie konnten nicht verstehen, warum Charlotte sich immer wenigstens ein paar Minuten Zeit nahm, um sich nach dem Befinden der Patienten zu erkundigen, und mit ihnen zu reden. Und sie befürchtete, dass genau diese „Kollegen“ sie bei der Heimleitung anschwärzen würden, sollten sie herausfinden, was Charlotte vorhatte.