Leseprobe Wie ein Funke im Herzen

1

Mara

Ich atmete den unvergleichlichen Duft des Ozeans ein, hielt die Augen geschlossen und genoss das sanfte Schaukeln. Unter meinen Handflächen spürte ich die von der Sonne erwärmten Planken des Kutters. Das Geschrei der Möwen näherte sich. Ich hob die Lider, schaute in den blauen Himmel, den nur einige Wolkenfetzen durchzogen. Die Meeresvögel zogen über dem kleinen Trawler ihre Kreise.

„Einige haben noch nicht begriffen, dass es hier nichts mehr zu holen gibt.“

Als ich die Stimme meines Vaters hörte, richtete ich mich ein wenig auf. Dad saß in meiner Nähe und paffte eine Pfeife. Er zeigte damit hoch zu den Sturmmöwen und lächelte mit wehmütigem Ausdruck.

„Oder es liegt daran, dass du ihnen immer mal wieder heimlich was zuwirfst“, konterte ich.

Er lachte leise. „Das mag wohl sein.“

Ich spielte mit einer meiner dunkelbraunen Haarsträhnen, drehte sie um den Zeigefinger und betrachtete meinen Dad. Eine graue Mütze bändigte seine Kurzhaarfrisur, der Bart war frisch gestutzt. Sein Blick folgte dem Flug einer Möwe, die sich nun herabsinken ließ und sich auf die alte Winde setzte, auf der früher das Fischernetz aufgerollt worden war. Der Vogel tippelte in seine Richtung und gab einen glucksenden Ton von sich.

Dad kam der Aufforderung nach und erhob sich. „Ja, ja, ich hol dir was.“

Mit einem Schmunzeln beobachtete ich meinen Vater, wie er unter Deck ging, nach etwas kramte, und mit einem Eimer wiederkam. Er blieb in der Fahrerkabine stehen, um seine Pfeife abzulegen.

„Komm her, Missy, hol es dir hier ab, sonst kommen noch zwanzig andere.“

Er holte einen kleinen Fisch aus dem Eimer, wedelte damit herum. Die Möwe musste das Spielchen kennen, denn sie hüpfte zu ihm hin. Er warf ihr dreimal Fressen zu und schloss dann den Behälter.

„Jetzt ist es genug.“ Eine Handbewegung scheuchte sie hinaus. Missy flatterte auf, ließ sich vom Wind tragen, um wieder umzukehren und sich auf das Dach der Fahrerkabine zu setzen.

„Du hast also eine kleine Freundin gefunden“, sagte ich lächelnd.

„Na ja …“ Er schaute aufs Meer, über dem noch andere Möwen kreisten. „Erinnerst du dich, als die Maid Marian letztes Jahr in der Werft war?“

„Ja, sicher.“

Der Kutter hatte generalüberholt werden müssen und Dad war in dieser Zeit bei mir in meiner Wohnung geblieben. Früher hatte er als selbstständiger Berufsfischer gearbeitet, was ihn fast in den privaten Ruin getrieben hätte. Der Verkauf seiner Wohnung tilgte schließlich die Schulden und seitdem lebte er auf seinem Kutter, den er liebevoll hergerichtet hatte. Jetzt bot er für Touristen Bootstouren ebenso wie Hochseeangeln an und zumindest reichte dies zum Leben. Aber der Gedanke, dass er nicht mehr wie früher aufs hohe Meer rausfuhr, stimmte mich jedes Mal traurig, denn Dad hatte seinen alten Job wirklich geliebt.

„Als ich meine Marian wiederbekam, entdeckte ich ein Möwennest am Heck.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich blieb also noch eine Weile im Hafen, weil die Jungen fast flügge waren. Und Missy ist eine von ihnen. Wo die anderen sind, weiß ich nicht, aber sie kommt manchmal noch her.“

„Warum habe ich davon denn nichts mitbekommen?“

Er zögerte einen Moment und zupfte an seinem Bart, als könne er so die Antwort hinauszögern, ehe er sagte: „Mara, das war in den Wochen, als du bei Carla angefangen hast.“

„Oh …“ Diesen Zeitraum verdrängte ich meist aus meinem Gedächtnis, nicht zuletzt wegen Shane, der mich betrogen und mir damit einen ordentlichen Riss ins Herz getrieben hatte.

„Warum hat dir deine Mutter heute freigegeben?“, fragte Dad, als ich nichts weiter sagte.

„Du glaubst, das hat sie freiwillig gemacht?“

Dad schnaufte belustigt auf.

Ich hingegen seufzte leise. „Ich habe sie drum gebeten, weil ich einfach mal einen Tag Ruhe haben wollte. Diesmal hat sie nachgegeben.“ Ich erhob mich, lehnte mich auf die Reling und schaute auf die Küste. „Das hier machen wir viel zu selten.“

„Wem sagst du das.“ Dad nahm sich seine Pfeife wieder und zog genüsslich an ihr. „Ich tuckere mal ein bisschen weiter, wir treiben zu nah ans Land.“

Der Motor startete mit lautem Knattern, die Maid Marian setzte sich wieder in Bewegung. Ich genoss die Aussicht auf die Isle of Wight. Hier auf der Insel war ich geboren worden. Und ich liebte jeden Zipfel davon.

Wir fuhren an Sandstränden und kleinen Waldstücken vorbei, die bis nahe ans Meer kamen. Hohe Klippen ragten dazwischen auf. Einmal sah ich Palmen auf einem Hotelgelände, das sich wie eine große Villa in die Landschaft schmiegte.

Die Insel im Süden Englands, die durch ihr mildes Klima mediterrane Züge besaß, beheimatete eine vielfältige Natur. Woanders zu leben konnte ich mir nicht vorstellen. Wenn doch nur die beruflichen Zukunftschancen besser stünden. Mittlerweile half ich bei meiner Mutter in der Boutique aus und teilte frühmorgens zusätzlich Zeitungen oder Werbeprospekte aus. Ich hatte zwar im Chessell Pottery Café eine Ausbildung im Gastgewerbe abgeschlossen, aber es gab viele junge Leute, die auf der Insel bleiben wollten, und die Arbeitsplätze waren rar. Ach, ich vermisste den Geruch nach Kaffee und Gebäck, das leise Gemurmel der Gäste, den Trubel, wenn sich die vier Kinder von Ms McGallagher einen Snack holten.

Ich verdrängte die Überlegungen und genoss lieber die Schiffstour mit meinem Vater. Erneut sog ich den Geruch der Küstenregion ein, sah einem Segelschiff zu, das sich elegant mit dem Wind drehte. Die Sonne tupfte bereits auf die Hügel auf, ihr Schein färbte sich in ein helles Orange, in das sich feuerrote Schlieren mischten. Die Isle of Wight wirkte wie von Gold umhüllt.

Viel zu früh für meinen Geschmack steuerte Dad den Hafen an, denn ich hätte noch ewig weiterfahren können. Wir näherten uns dem Anleger und ich hängte die Fender nach außen. Gekonnt lenkte Dad die Maid Marian an den Steg. Ich sprang von Deck und vertäute den Kutter auf der einen Seite, mein Vater kam dazu und erledigte den Rest.

Ich drehte mich zum Meer und schloss kurz die Augen. Lauer Wind umwehte mich. Immer noch umkreisten uns einige Möwen und ein Krabbenkutter fuhr aus dem kleinen Hafen.

„Kommst du noch runter auf einen Tee, Mara?“, unterbrach Dad meine Beobachtungen.

„Ja, gerne.“

Dad stieg zurück auf den Kutter und ging über die Fahrerkabine unter Deck, wo sich sein kleiner Wohnbereich befand. Ich folgte ihm, kletterte die engen Stufen runter und setzte mich auf die Eckbank an den Tisch aus lackiertem Holz. Jedes Möbelstück war auf irgendeine Weise mit dem Schiff verbunden, damit bei Seegang nichts durch die Gegend rutschte.

Mein Vater kochte Wasser auf und stellte mir eine dampfende Tasse hin. Ich zupfte an dem Band und bewegte den Teebeutel hin und her, damit sich der Darjeeling schneller entfaltete. Am liebsten trank ich ihn ohne Milch und süß. Allerdings war ich auch Halbspanierin, was ich im Scherz oft betonte, wenn man mich auf diese Vorliebe ansprach. Mit einem Lächeln reichte Dad mir die Schachtel mit den Zuckerwürfeln und setzte sich zu mir. Ich ließ zwei der Zuckerstücke in meine Tasse fallen.

„Du bist heute so still“, bemerkte Dad.

Ich blickte auf. „Findest du?“

Mein Vater nickte und ich sah Besorgnis in seinem Blick.

„Alles gut, ich bin nur ein bisschen müde. Mr Richards hatte einen Haufen Prospekte für mich. Ich glaube, ich war heute Morgen mit dem Rad schon auf der halben Insel unterwegs.“

Sein skeptischer Blick sagte mir, dass er mir nicht abnahm, dass alles in Ordnung war.

„Und wie geht’s deiner Mum?“, fragte er. Wahrscheinlich, weil die meisten meiner Probleme mit meiner Mutter zu tun hatten.

Ich hob kurz die Schultern an. „Ach, du kennst sie ja. Mamá triezt mich in der Boutique herum und schwelgt in ihren Hippie-Outfits.“

Ich umklammerte die Teetasse, wärmte meine Hände an der Keramik. Gedankenverloren lauschte ich auf die seichten Wellen, die mit einem plätschernden Geräusch an die Seite des Kutters schwappten. Die Müdigkeit, die ich heute spürte, ging irgendwie tiefer.

„Rede mit mir, Mara.“

Ich seufzte leise, zog den Teebeutel aus der Tasse und rührte das Heißgetränk mit dem Löffel um, den Dad mit einem Unterteller auf den Tisch gelegt hatte. Bevor ich antwortete, nippte ich am Darjeeling.

„Es ist … Ich weiß auch nicht.“

Natürlich wusste ich genau, wo mein Problem lag. Ich wollte es nur nicht aussprechen, wich Dad aus und spielte wieder mit meinem Haar. Eine Angewohnheit, die ich einfach nicht sein lassen konnte, obwohl ich mir damit ständig die Strähnen verknotete.

„Es ist die Arbeit in der Boutique, oder?“

Wie so oft traf mein Vater ins Schwarze.

„Schon“, antwortete ich eher zögerlich. „Mamá ist manchmal … wirklich schwierig, und sie kann mir ja kaum was bezahlen. Ich wünschte, ich könnte wieder in einem Café oder so arbeiten.“

Dad reckte sich nach hinten und langte nach einer regionalen Zeitung. „Ich hab da gestern was entdeckt und musste direkt an dich denken.“

„Aha?“, erwiderte ich argwöhnisch, denn manchmal kam mein Dad auf seltsame Ideen.

Er blätterte in der County Press, suchte offensichtlich eine Anzeige. „Hier!“ Er schob mir das Blatt zu, den Finger auf eine Annonce gelegt. Ich warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn, als ich die Stellenanzeige sah.

„Dad, hier wird eine Person ab fünfunddreißig Jahren gesucht, mit Erfahrung in großen Haushalten. Beides trifft auf mich nicht zu.“

„Sieh dir die Bezahlung an.“

Ich schaute noch einmal hin und las das Inserat nun komplett durch.

„Oh … wow.“

Die Bezahlung war für meine Verhältnisse wirklich hoch und genau das brauchte ich gerade! Doch sofort nagten Zweifel an mir.

„Ich weiß nicht, Dad, das ist schon was anderes, als meine winzige Wohnung in Ordnung zu halten.“

Dad winkte ab. „Das schaffst du mit links!“

Ich schnaufte auf. „Ja, ich schaffe es mit links, Chaos zu verbreiten.“ Entschieden schob ich ihm die Zeitung wieder hin. „Außerdem werde ich wahrscheinlich nicht mal in Erwägung gezogen. Schau mal, da ist eine Vermittlerfirma zwischengeschaltet. Die sortieren meine Bewerbung direkt aus.“

„Dann fahr selbst hin und stell dich persönlich vor.“, überging Dad meinen Einwand.

Ich verzog skeptisch das Gesicht. „Ich weiß ja nicht mal, wer hinter der Anzeige steckt. Hier steht nur die Telefonnummer dieser Firma.“

„Du weißt schon mal, dass die Stelle oben in Godshill ist.“

„Und?“

„Mmh.“

Ich horchte auf und musste mir ein Schmunzeln verkneifen. „Dieses Mmh kenne ich.“

Er hob die Hand in einer Geste, die wohl bedeutete, dass ich kurz warten sollte. Kurzerhand nahm er sein altes Smartphone und zog die Zeitung zu sich heran. Anscheinend tippte er die Nummer der Vermittlungsfirma ein.

„Dad! Was hast du vor?“

Er legte den Zeigefinger an die Lippen und grinste schelmisch. Seine Mimik veränderte sich, als sich am anderen Ende der Leitung eine Frau meldete. Rasch stellte er den Lautsprecher an, damit ich mithören konnte.

„Ja, guten Tag, Tyler hier, von der County Press“, sagte mein Vater geschäftsmäßig. „Wir bräuchten für die Online-Seite noch eine Angabe zu der Stellenanzeige, die Sie in der Zeitung für Godshill ausgeschrieben haben.“

„Sie meinen die Annonce für Mr Thompson?“

„Wie viele Stellenanzeigen haben Sie für Godshill ausgeschrieben?“, fragte Dad in ironischem Tonfall, als wäre es selbstverständlich, wen er meinte.

„Nur eine.“

„Dann ist es wohl Mr Thompson.“

Ich sah ihm an, dass er sich ein Grinsen verkneifen musste.

„Neil Thompson möchte in der Anzeige nicht erwähnt werden.“

Dad lehnte sich an die kleine Küchentheke. „Auch nicht in der größeren Online-Variante?“

„Nein, deshalb händeln wir das ja für ihn.“

„Ach so, in dem Fall entschuldigen Sie. Dann hat ja alles seine Richtigkeit. Ich hatte hier diesbezüglich nur eine Anfrage.“

„Die Bewerbungen sollen ausschließlich zu uns gesendet werden“, sagte sie in unmissverständlichem Ton.

„Richte ich aus. Vielen Dank und einen schönen Tag noch.“

„Gleichfalls.“

Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck beendete er das Gespräch.

„Dad, du bist einfach unglaublich.“ Ich lachte auf. „Aber warum willst du so unbedingt, dass ich mich dort bewerbe? Wahrscheinlich jagt mich dieser Mr Thompson von seinem Anwesen. Er will ja nicht mal namentlich genannt werden.“

„Ich weiß auch nicht, ist so ein Gefühl.“ Er griff nach seiner erkalteten Tabakpfeife, säuberte sie und begann seelenruhig, sie neu zu stopfen.

„So wie damals, als du deinen persönlichen Jahrhundertfang gemacht hast?“

„Ja, so in etwa. Ausgelacht haben sie mich, weil ich bei dem Regenwetter rausgefahren bin.“ Ich sah ihm zu, wie er seine Pfeife anzündete und genussvoll daran zog. „Und dann haben sie große Augen gemacht.“

Er nahm sich seine Fischermütze vom Kopf, um sich das Haar zu zausen, und setzte sie wieder auf. Diese Mütze war sein besonderer Glücksbringer. Fuhr er aufs Meer hinaus, trug er sie stets, als könne sie ihn beschützen.

„Und was mache ich nun mit der Information?“

„Na, jetzt sollte man doch rauskriegen, wo er wohnt. Du fährst hin, haust ihn um und hast einen Job, bei dem du mal vernünftig verdienst.“

Ich gluckste amüsiert. „So einfach ist das, ja?“

„Schau dich an, Mädchen. Du bist wunderschön und hast das Feuer einer Spanierin. Dich kann er gar nicht ablehnen.“

„Ach, Dad, ich hab dich lieb.“ Ich beugte mich zu ihm und küsste ihn auf die bärtige Wange.

Mein spanisches Feuer musste ich hingegen erst wiederfinden. Vielleicht kam es ja zurück, wenn ich heute mal eher ins Bett ging?

Oder Kaffee, dachte ich. Kaffee geht auch.

 

Früh am Morgen des nächsten Tages stand ich im Nachthemd auf meinem kleinen Balkon und sah zu, wie die Sonne aufging. Eine heiße Tasse Kaffee wärmte mir die Hände und ich lauschte der Amsel, deren Gesang sich mit den Möwenrufen mischte. Nebel erhob sich über den Hügeln und das erste Tageslicht tastete sich langsam über die Landschaft. Ich nippte an meinem Getränk und wartete, dass die warme Helligkeit den Zipfel des Meeres, den ich von hier sehen konnte, beleuchtete.

Natürlich war ich gestern Abend nicht früher ins Bett gegangen. Wie so oft hatte mich meine Lieblingsserie wachgehalten. Demzufolge kämpfte ich gegen die Müdigkeit. Nach einem weiteren Schluck Kaffee gähnte ich hinter vorgehaltener Hand.

Dann sah ich es und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen.

Seitliche Strahlen trafen auf die Wasseroberfläche und tauchte sie in einen Schein, dessen Farbe mich an die wilden Malven denken ließ, die hier im Sommer oft an den Wegrändern blühten. Als die Sonne höher stieg, färbte sich die See azurblau.

Ich liebte den Sonnenaufgang, er barg für mich pure Hoffnung.

Mit einem Seufzen trank ich meinen Kaffee aus und sog noch einmal die milde Sommerluft ein.

„Na, dann los, Mara“, spornte ich mich an.

Nach dem Duschen stand ich vor meinem Kleiderschrank. Spontan zog ich ein kurzes Kleid heraus, denn das Wetter versprach schön zu werden. Wenn ich das allerdings auf dem Fahrrad anziehen würde, könnte ich auch gleich in Unterwäsche losfahren. Heute mussten noch eine Menge Werbeprospekte verteilt werden, bevor ich zu Mamá in die Boutique ging. Mr Richards hatte mir dafür zwei Tage Zeit gegeben, weil es wirklich ein großer Stapel war. Ich lugte auf die Tasche im Korridor, in der sich die Werbung für ein Restaurant nahe am Strand befand.

Daher entschied ich mich für eine schwarze Stretchjeans und ein eng anliegendes, dunkelrotes Top, das meine Oberweite ein bisschen im Zaum hielt, da es einen integrierten BH besaß. Ich warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Make-up war nicht so mein Ding. Wenn ich es vermeiden konnte, blieb ich ungeschminkt. Ich schüttelte mein langes Haar aus dem Turban-Handtuch, kämmte die dunkelbraunen Locken behutsam durch und beschloss, dass sie an der Luft trocknen konnten.

Im Flur schlüpfte ich in meine Sneakers und griff nach meiner Jeansjacke. Ich schnappte mir die schwere Tasche mit den Prospekten und schlich die Treppe zur Haustür hinunter. Es war kurz nach sechs. Mamá, die ihre Wohnung im Stockwerk unter mir hatte, war sicher schon wach und ich wollte sie nicht auf mich aufmerksam machen. Um neun Uhr wäre ich früh genug mit ihr konfrontiert. Sie erkannte nämlich jeden der Hausbewohner an der Art, wie er oder sie die Treppe runterging.

Draußen schloss ich mein Fahrrad auf, steckte die Tasche in den Korb auf meinem Gepäckträger und radelte in Richtung Meer. Mr Richards hatte mir eingebläut, dass ich die Werbung vor allem in die Touristengebiete bringen sollte. Ich fuhr also die Cottages ab, die man mieten konnte, steckte die Werbezettel in die Briefkästen und ging wie schon am Vortag auch in einige Hotels, um zu fragen, ob sie die Prospekte auslegen würden. Die meisten lehnten ab, nur bei einem hatte ich Erfolg.

Als ich mein Fahrrad wenig später um eine Biegung lenkte, machte ich kurz Halt und schaute auf den Strand von Ventnor. Um die Uhrzeit schliefen die meisten Touristen noch seelenruhig in ihren Betten. Ich sah einen Jogger, einen Mann, der seinen Hund spazieren führte und eine Frau, die mit einer Greifzange Müll aufsammelte.

Der Stapel in der Tasche schien nicht kleiner zu werden, also radelte ich oberhalb des Strandes entlang, am La Falaise Car Park vorbei, um auf die Westseite der Kleinstadt zu kommen.

Die Zeit schritt voran und die Werbeblätter wurden endlich weniger. An einer Straßenkreuzung hielt ich an, um auf meine Armbanduhr zu schauen. Es war fast halb acht. Als ich den Blick hob, fiel mein Augenmerk auf ein Straßenschild. Wenn ich nach links abbiegen würde, käme ich nach Newport und Wroxhall, aber auch nach … Godshill. Ich atmete tief durch. Der Ort, an dem der ominöse Neil Thompson wohnte und auf eine Haushaltshilfe wartete. Ich wusste, es wären von hier keine fünf Meilen und ich könnte es in weniger als einer halben Stunde schaffen.

Dads Stimme hallte in meinem Kopf wider. Du fährst hin, haust ihn um und hast einen Job …

Meine Mutter würde mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn ich zu spät zur Arbeit käme, also musste ich gut abwägen. In mir kribbelte alles, jeder Gedanke schrie förmlich nach einer Veränderung. Zwei Autos fuhren an mir vorbei, beide bogen in Richtung Godshill ab.

„Ach, was soll’s!“

Vielleicht fand ich diesen Mr Thompson gar nicht. Dann hatte ich wenigstens die verdammten Werbezettel bis über die Stadtgrenze gebracht.

Ohne weiter zu zögern, bog ich nach links ab und fuhr die schmale Straße entlang, bis ich auf die Zufahrtsstraße stieß, die mich ins Innere der Insel bringen würde.

Als ich in Godshill ankam, raste mein Herz. Ich war gefahren wie der Teufel und das Blut pulsierte durch meinen Körper. Ich stieg vom Fahrrad. Rechts von mir befand sich eine Mauer, an die ich mich kurz lehnte. Sträucher und niedrige Bäume schenkten mir Schatten, denn die Morgensonne kam mir heute irgendwie heißer vor als sonst. Das lag sicher daran, dass ich trotz des Aufstiegs am Anfang wie wild in die Pedale getreten hatte.

Als ich wieder zu Atem gekommen war, schob ich das Rad weiter die Straße rauf. Ich kam an reetgedeckten Cottages mit verwilderten Vorgärten vorbei. Blumen blühten an niedrigen Mauern, auf Fensterbänken oder wuchsen einfach an den Hauswänden empor. Das Dorf wirkte penibel sauber, nicht einmal ein Bonbonpapier lag irgendwo auf dem Boden. Von Zeit zu Zeit entdeckte ich kleine Cafés und Geschäfte neben der gut ausgebauten Straße, und da hier im Moment kein einziges Auto fuhr, wirkte alles idyllisch. Godshill schien noch zu schlafen.

Ich stieg wieder auf, radelte die Straßen ab, damit ich jemanden nach Mr Thompson fragen konnte. Ich wollte schon aufgeben, als eine Frau aus ihrem Haus kam, um den Müll rauszubringen. Bevor sie wieder im Haus verschwand, stoppte ich und schob mein Rad in ihre Richtung.

„Guten Morgen“, grüßte ich. „Können Sie mir vielleicht helfen? Ich suche einen gewissen Neil Thompson.“

Die ältere Frau grüßte zwar, zuckte aber mit den Schultern. Sie wirkte noch ziemlich schläfrig. „Fragen Sie mal im Post Office nach.“ Sie wandte sich bereits wieder ab.

„Wo finde ich das?“, setzte ich deshalb rasch hinterher.

„Im Godshill Village Store. Sie müssen zurück, das ist ein Stück die Straße runter.“

„Danke!“

Ich wendete mein Rad, fuhr zurück und hielt Ausschau nach dem Store, der mir schnell ins Auge fiel. Als ich jedoch die Öffnungszeit las, sank meine Laune erheblich.

„Qué mierda!“, fluchte ich leise.

Das Post Office öffnete erst in einer Stunde.

„Spanisch?“, fragte eine Stimme.

Ich wirbelte herum und sah eine Gestalt am Haus, die ich zuerst nicht wahrgenommen hatte, weil sie komplett im Schatten stand. Ein Mann in den mittleren Jahren sortierte Briefe und allerhand Prospekte. Er steckte sie nach einem ganz eigenen System in seine Tasche, die meiner ein bisschen ähnelte.

Entschuldigend hob ich die Hand zum Gruß in seine Richtung.

„Äh ja, halb, mütterlicherseits. Manchmal überkommt es mich einfach.“ Ich lächelte verlegen.

„Hörte sich nach einem Fluch oder so an“, sagte er, ohne aufzublicken.

„Da muss ich Ihnen leider zustimmen.“

„Wo liegt denn das Problem?“

„Ach, ich wollte im Postamt fragen, ob jemand … Moment! Sie sind der Briefträger!“

Nun grinste er mich schief an. „Da könnten Sie recht haben.“

„Oh, Gott sei Dank!“, entfuhr es mir erleichtert.

„Der hat Sie zu mir geführt?“

Ich lachte auf. „Nein, das war eine ältere Frau, etwas die Straße rauf. Kennen Sie einen Neil Thompson? Er soll hier in Godshill wohnen.“

„Was wollen Sie denn von ihm?“

Mein Gesicht hellte sich auf. „Sie kennen ihn?!“

Er zuckte mit den Schultern. „Nun ja, ich liefere hier die Post aus und wir sind ein Dorf. Ich kenn die meisten.“

„Ach, das ist prima. Er sucht eine Haushaltshilfe und ich möchte mich bei ihm vorstellen. Leider stand in der Annonce keine Adresse.“

Er zog skeptisch die Augenbrauen zusammen, schloss seine Tasche und hob den Halteriemen über den Kopf, sodass er auf der anderen Schulter zum Liegen kam. „Warum stand in der Annonce keine Adresse, wenn er jemanden einstellen will?“

„Na ja …“ Ich biss mir verlegen auf die Unterlippe. „Eigentlich managt das eine Firma für ihn. Ich fürchte, die würden mir aber nicht die geringste Chance geben, mich bei ihm vorzustellen.“

„Und wieso nicht?“

„Eigentlich erfülle ich nicht so ganz die Anforderungen der Anzeige“, antwortete ich kleinlaut.

Er musste mir ansehen, wie unwohl ich mich fühlte, denn er seufzte leise. „Hören Sie, Mr Thompson schätzt Besuch nicht sonderlich. Sicher hat er seine Gründe, wenn er so eine Firma beauftragt.“

„Ja, wahrscheinlich“, erwiderte ich mutlos und senkte den Blick.

„Sie könnten trotzdem die Hauptstraße ein Stück weiter rauffahren und am Ende des Dorfes nach links abbiegen.“

Ich sah ihn aufmerksam an.

„Mit den Feldern und Wiesen, an denen Sie dann vorbeiradeln, ist die Strecke eine wirklich schöne Tour.“ Er zwinkerte mir zu. „Achten Sie besonders auf die zwei alten, alleinstehenden Häuser auf der rechten Straßenseite. Ein Stück dahinter zweigt der Weg nach rechts ab. Hinter dem Wäldchen steht eine hübsche Villa, die wirklich einen Blick wert ist.“

Ich lächelte ihn freudestrahlend an. „Danke!“

Er winkte mir zum Abschied und ich stieg wieder auf mein Rad. Für den beschriebenen Weg würde ich noch einen Moment brauchen, also beeilte ich mich besser.

Die Wegbeschreibung führte mich schließlich in ein Waldstück, in dem unzählige Vögel zwitscherten. Eine Schar von Sperlingen flog auf. Sie flatterten über mich hinweg und verschwanden weiter hinten im Dickicht. Der Weg verschmälerte sich, der Asphalt verschwand und ich musste absteigen, weil der lose Schotter mein Rad zum Schlingern brachte.

Hier wohnte Mr Thompson?

Dann endete die unwegsame Straße mit einem Eisentor, das nicht verschlossen war. Vielleicht gab es irgendwo eine größere Auffahrt, hier aber passte höchstens mein Fahrrad durch, das ich allerdings erst einmal stehen ließ. Eine alte Trockenmauer umschloss das Gebiet und hinter dem Tor stand eine riesige Buche, die ihre knorrigen Zweige überallhin ausstreckte. Sonnenlicht schien hindurch und malte goldene Muster auf den Waldboden. Ich schlüpfte durch den Eingang und schaute in die Wipfel dieses uralten Baumes. Der Wind ließ die Blätter tanzen, als er leise durch das Laub rauschte.

Ein Pfad führte um die Buche herum und ich lief durch den lichtdurchfluteten Forst. Die Bäume lichteten sich und ich schaute auf ein herrschaftliches Anwesen, das mich sprachlos stehenbleiben ließ. An den weiß gestrichenen Fassaden rankten Bougainvillea-Gewächse. Das zarte Violett der Blüten verlieh der großen Villa einen besonderen Charme. Langsam näherte ich mich, betrachtete dabei die Farbenpracht der Wildblumen vor dem Haus. Es summte und zwitscherte überall und ich berührte sachte einige lange Grashalme, die sich in einer Brise wiegten.

Das Haus erinnerte mich an eine luxuriöse Finca. Ich holte mein Smartphone hervor. Das musste ich für Dad fotografieren.

Entschlossen begab ich mich zum Eingang, drückte auf die Türschelle. Als sich nichts rührte, wagte ich noch einmal zu schellen, bis ich erschrocken zurückwich, weil mir die frühe Uhrzeit ins Gedächtnis kam. Hatte ich Mr Thompson nun aus dem Bett geklingelt?

Dann hörte ich eine genervte Stimme aus dem Haus.

„Kommen Sie zum Wintergarten!“

Ich presste die Lippen aufeinander und ging ums Haus herum, indem ich mich durch die hohe Wiese kämpfte. Besagten Wintergarten fand ich hinter dem Gebäude.

„Hallo?“

Niemand antwortete mir, aber ich sah jemanden durch die Scheiben des gläsernen Anbaus. Zögerlich ging ich darauf zu. Der Mann wurde auf mich aufmerksam. Verwirrung spiegelte sich auf seinen Zügen wider. Mit gerunzelter Stirn ließ er von den Pflanzen ab und durchquerte das Gewächshaus, um durch eine Tür zu mir nach draußen zu kommen. „Ich dachte, Sie sind der Postbote. Was wollen Sie hier?“ Sein ablehnender Tonfall ließ mich zunächst verstummen.

Ich hatte mir Neil Thompson als alten Mann vorgestellt, aber er schien nur unwesentlich älter als ich zu sein.

Barfuß stand er vor mir, mit einer legeren Jeans, die er an den Knöcheln hochgekrempelt hatte und einem nur halb zugeknöpften, weißen Hemd. Das blonde Haar wirkte noch feucht, vielleicht vom Duschen, und wellte sich leicht. Es fiel ihm in die Stirn und er strich es unwirsch zurück. Seine Augen strahlten im Sonnenlicht wie aus Aquamarin.

Während meine Überraschung über sein attraktives Erscheinungsbild mich noch lähmte, warf er mir einen irritierten Blick zu, also ergriff ich rasch das Wort.

„Ich habe gehört, dass Sie eine Haushaltshilfe suchen“, sagte ich und versuchte mich an meinem schönsten Lächeln. „Nun, hier bin ich.“

2

Mara

Bei meiner Enthüllung schaute er mich misstrauisch an und mein Herz klopfte viel zu schnell.

„Man hat mir keinen Termin für heute Morgen mitgeteilt.“

„Ja … ähm, das liegt daran, dass ich ganz spontan vorbeigekommen bin.“ Ich lächelte verlegen. Am liebsten wäre ich auf und davon, denn es versprach wirklich peinlich zu werden.

Er sah mich nun prüfend an. „Wie alt sind Sie?“

Ich wusste sofort, worauf er anspielte. „Auf jeden Fall noch keine fünfunddreißig“, murmelte ich.

„Wie bitte? Ich habe kein Wort verstanden.“

Ich seufzte auf. „Ich weiß, ich passe absolut nicht in das Profil, das in der Zeitung angegeben ist, aber ich habe eine Ausbildung im Gastgewerbe, kann still wie eine Maus oder aufmunternd wie ein … ein Papagei sein.“

Er verschränkte die Arme und lehnte sich gegen einen der Blumenkübel, was die Erdflecken an seinem Hosenbein erklärte. „Papagei?“

Was, verdammt noch mal, redete ich da für einen Unsinn? „Das war wohl ein schlechter Vergleich.“

„In der Tat. Ich mag keine exotischen Vögel, die man in Käfigen hält.“

Ich presste die Lippen aufeinander, überlegte fieberhaft, wie ich die Situation retten könnte. „Ich wollte damit nur sagen, dass ich sehr flexibel und vielseitig bin“, sagte ich leise und drehte meinen Ring nervös immer wieder um den Finger. Das Schmuckstück war ein Erbe meiner Großmutter. Ein Silberreif mit zarten Blumen in Rosé. Ich liebte diesen Ring, denn er erinnerte mich immer an die humorvolle und gütige Frau, die viel zu früh gestorben war.

„Wo haben Sie bisher gearbeitet?“, fragte er in unterkühltem Tonfall.

Zumindest vertrieb er mich nicht sofort vom Grundstück.

„Ich habe eine Ausbildung im Chessell Pottery gemacht und arbeite zurzeit übergangsweise in einer Boutique.“

Ich konnte ihm vom Gesicht ablesen, dass er tatsächlich nach etwas in seinem Kopf kramte.

„Das Hotel kenne ich nicht.“

„Es ist in Shalcombe, aber es ist ein Café.“

„Ein Café“, wiederholte er, „ich suche aber keine Kellnerin.“

„Autsch, das hat gesessen“, konterte ich. „Ich habe dort keine Kellner-Ausbildung gemacht.“

Er begutachtete mich und ich hätte schwören können, dass er ein amüsiertes Lächeln zurückhielt.

„Sie kommen nicht von der Agentur, die ich für den Job engagiert habe, oder?“

Ich schüttelte leicht den Kopf, denn eine Lüge käme für mich nicht in Frage. „Nein, ich habe die Annonce in der Zeitung gelesen.“

„Dann frage ich mich, wie Sie von der Anzeige auf mich schließen konnten. Denn ich bin dort weder namentlich erwähnt, noch ist dort meine Adresse aufgeführt.“

„Nun ja …“ Ich grub eine kleine Furche in den fein gekiesten Weg. „Mein Vater hat es herausgekriegt.“

Er schnaufte leise auf. „Tut mir leid, für so etwas fehlt mir die Zeit. Es hat seine Gründe, warum ich spezielle Anforderungen angegeben habe. Bitte verlassen Sie mein Grundstück, ich kann Ihnen nicht helfen.“

Eigentlich war es nicht meine Art, so einfach aufzugeben, aber hier sah ich keine Chancen für mich. Es war einen Versuch wert gewesen und ich bereute nicht, es versucht zu haben, trotzdem …

Ein lautes Kreischen unterbrach jegliche Gedanken. Wir zuckten beide erschrocken zusammen.

„Das sind wieder diese Katzen“, murrte er.

„Dios mío! Das hörte sich wie ein Todesschrei an.“

Bei meinem spanischen Ausruf sah er mich aufmerksam an.

Nun entfachte in der Nähe ein lautstarker Kampf mit Fauchen und wildem Gekreische. Neugierig ging ich ein Stück in die Richtung, aus der die Geräusche kamen und wich erschrocken zurück, als die beiden Tiere plötzlich auf mich zu rannten. Ich wich schnell zur Seite aus und blickte ihnen verdutzt nach. Eine schwarz-weiß gescheckte Katze jagte eine rotgetigerte, die panisch zum Haus von Mr Thompson flüchtete. Der schnappte nach Luft, als die unterlegene Katze durch den Wintergarten in seiner Villa verschwand. Die Schwarz-weiße mied jedoch das Gebäude und trollte sich.

„Das darf doch nicht wahr sein“, brummte Neil Thompson.

„Ich gehe davon aus, dass das nicht Ihre Katze ist?“

Er schüttelte den Kopf. „Hier leben ein paar Streuner, die sich hin und wieder prügeln. Allerdings hat sich bisher keine ins Haus verirrt.“

„Sie schien ziemlich verängstigt zu sein.“

Mit einem tiefen Atemzug ging er zum Wintergarten und sah sich um. Ich folgte ihm, ohne darüber nachzudenken. Die Katze war nirgendwo zu sehen. Allerdings musste ich zugeben, dass mich die Schönheit des Hauses etwas ablenkte. Im Wintergarten blühten unzählige Orchideen in verschiedenen Farben, einige hingen sogar von der Decke. Durch einen offenen Zugang zur unteren Etage konnte ich ein wenig von der Einrichtung sehen. Helle Wände gaben dem weitläufigen Wohnzimmer etwas Sommerliches. Schlichte Möbel aus dunklem Holz bildeten einen Kontrast und verliehen dem Ganzen etwas Edles. Große Fotografien von unterschiedlichen Küsten schmückten die Wände und in fast jeder Ecke standen Palmen. Ein Bücherregal bedeckte eine komplette Seite. Vor einem Kamin stand eine große Couch, die einfach zum Verweilen einlud.

Als Neil Thompson ins Wohnzimmer ging, zögerte ich. Diese Schwelle wollte ich ohne Erlaubnis nicht betreten.

„Sehen Sie die Katze irgendwo?“, fragte ich und fürchtete schon, hochkant aus dem Wintergarten verwiesen zu werden. Ich konnte diesen Mann nicht einschätzen.

„Sie sind ja immer noch da“, murmelte er und lugte nun unter die Schränke.

„Ich gehe, wenn Sie es möchten. Ich könnte Ihnen aber auch helfen, die Katze wieder rauszubringen. Ich habe einen guten Draht zu Tieren.“

Er richtete sich auf und begegnete meinem Blick, schien über meine Worte nachzugrübeln. „Ich mag keine Fremden in meinem Haus.“

„Aber dies ist eine besondere Situation.“

Er verengte die Augen. „Warum glauben Sie eigentlich, dass ich wegen einer Katze Hilfe brauche?“

Ich hob kurz die Schultern an. „Ich denke, Sie kämen sicher allein zurecht, aber ich dachte, zu zweit ist es einfacher und schneller. Sicher wollen Sie keine Flöhe im Haus haben.“

„Flöhe?!“

„Es ist ein Streuner, oder nicht?“

Er fluchte leise. „Suchen wir die verdammte Katze. Aber ich warne Sie! Stelle ich fest, dass Sie hier etwas gestohlen haben, werde ich die Polizei benachrichtigen.“

„Sie wissen ja nicht einmal meinen Namen“, rutschte mir heraus. Sofort bereute ich meine Worte. Manchmal fiel es mir wirklich schwer, meine Zunge im Zaum zu halten. „Entschuldigung, das war wirklich unangemessen“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

Ich sah ihm an, dass er mit sich rang. Schließlich nickte er. Die Aussicht auf Flöhe drängte anscheinend alles andere in den Hintergrund. Er kam direkt auf mich zu und reichte mir auf einmal die Hand.

„Neil Thompson. Auch ich entschuldige mich für mein schroffes Verhalten.“

„Schon gut. Ich bin in Ihre Privatsphäre gedrungen und das tut mir wirklich leid. Mein Vater meinte es gut und der Job hier klang einfach zu verführerisch. Ich musste es versuchen.“ Ich hielt noch immer seine Hand fest und suchte Augenkontakt. „Ich heiße Mara Tyler Garcia.“

Er atmete tief durch und löste sich aus meinem Griff. „Können wir jetzt bitte diese Katze suchen?“

Wir verteilten uns in der unteren Etage. Ich robbte schließlich auf den Knien, um unter jeden Schrank schauen zu können.

„Ich hab sie!“, rief Neil.

Eilig richtete ich mich auf und ging zu ihm.

„Sie ist in der hintersten Ecke unter der Kommode hier.“

„Okay.“ Ich schaute mit der Taschenlampe meines Smartphones unter das Möbelstück und begegnete einem angstvollen Katzenblick. Das Tier fauchte und drängte sich noch weiter in die Ecke. „Ich sehe Blut an der Flanke.“

„Wie bekommen wir sie aus dem Haus?“

Ich erhob mich wieder und fixierte ihn mit festem Blick. „Sie können die Katze nicht einfach hinausjagen, sie ist verletzt. Solche Bisse können böse enden.“

„Was schlagen Sie stattdessen vor?“

„Haben Sie Wurst im Kühlschrank?“

Neil verzog verdutzt das Gesicht. „Äh, ja?“

„Damit könnten wir sie zum Beispiel ins Bad locken, um sie leichter einzufangen. Dann bringen wir sie erst mal zum Tierarzt.“

„Heißt es nicht, dass Katzen sich die Wunden selbst sauberlecken? Das heilt doch dann sicher von allein.“

Ich stemmte meine Hände auf die Hüften. „In Ordnung, drehen wir die Situation mal um. Sie werden übel von einem Hund gebissen und bluten. Dann lecken Sie sich die Wunde einfach sauber und alles wird gut?“

„Ich bin keine Katze!“

„Ah, und Katzen haben antibiotischen Speichel, der bis tief in die Wunde dringt?“

Neil seufzte auf. „Ich hol dann mal etwas Wurst.“

„Danke.“

Erneut kniete ich mich hin und sah unter den Schrank. „Hey, Süße, wir helfen dir, ja?“

Als er mit der Wurstpackung zurückkam und sie mir reichte, legte ich eine Spur von der Kommode, bis zum nahen Bad. Wir gingen zum anderen Ende des Zimmers, um Abstand zu halten. Die Tür zum Wintergarten schloss ich, damit das Tier nicht fortlief.

Nun mussten wir warten.

„Reicht es, wenn ich Sie mit Neil anspreche, oder muss ich Mr Thompson sagen?“, fragte ich leise, ohne den Schrank aus den Augen zu lassen.

„Neil reicht aus, so alt bin ich nicht.“

Ich gluckste verhalten. „So hatte ich das auch nicht gemeint.“ Unauffällig betrachtete ich ihn von der Seite. Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig. „Sie haben wirklich ein wunderschönes Haus.“

„Hmm.“

„Leben Sie schon lange in Godshill?“

Er nahm einen tiefen Atemzug, der irgendwie klang, als brauche er mehr Sauerstoff. „Seit etwa einem halben Jahr.“

„Ich wurde hier auf der Insel geboren“, plauderte ich. „Und bisher hab ich die Isle of Wight noch nicht oft verlassen.“

Weil er nichts darauf erwiderte, schwieg ich. Wahrscheinlich war er an keinem Gespräch interessiert. Doch ein unterdrückter Laut von ihm ließ mich zu ihm aufschauen. Er blinzelte und sein Gesichtsausdruck wirkte, als sei ihm schwindelig. Ihm brach der Schweiß aus und er musste sich an einer Kommode abstützen.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ich muss mich kurz setzen.“ Instinktiv fasste ich nach seinem Arm und half ihm, zum Sofa zu kommen.

„Ist nur das Wetter“, behauptete er und ich beobachtete besorgt, wie er sich auf die Couch fallen ließ. „Soll ich ein Glas Wasser holen?“

„Ja …“

Bei der Suche nach der Katze war mir die offene Küche nicht entgangen. Gläser fand ich rasch in einer Vitrine und im Kühlschrank befand sich eine angefangene Mineralwasserflasche. Ich kehrte zurück zu ihm und er nahm das Getränk mit einem dankbaren Nicken an.

„Die Katze“, sagte er gedämpft.

Ich schaute mich um und sah, dass das Tier geduckt unserer Wurstspur folgte. Vielleicht weil sich unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf sie fokussierte. Misstrauisch blickte sie sich zu uns um. Der Hunger trieb sie ins Bad und ich schlich auf Zehenspitzen in ihre Richtung. Sie bemerkte mich zwar, konzentrierte sich aber auf das Fressen, also schloss ich rasch die Tür.

„Die Frage ist jetzt, wie bekommen Sie die Katze in eine geeignete Transportmöglichkeit?“ Neil stellte das Glas auf den niedrigen Tisch. „Das wird sicher lustig.“

„Das bekomme ich hin. Und Sie könnten sich vielleicht noch mal Gedanken darüber machen, ob ich nicht vielleicht doch für den Job geeignet wäre“, sagte ich leichthin.

Er lachte leise auf. „Nein, ganz sicher nicht.“

„Das ist wirklich schade.“ Ich seufzte leise. „Haben Sie eine größere Tasche? Oder einen Korb, den man schließen kann?“

„Einen Picknickkorb? Eher nicht.“

Als ich die Tür zum Bad nur einen Spalt öffnete, um nach der Katze zu sehen, flitzte sie wie ein kleiner Dämon hindurch und verschwand wieder unter dem Schrank. Ich seufzte leise.

„Na, das hat ja perfekt geklappt“, sagte Neil trocken.

Mein Smartphone klingelte und als ich sah, dass Mamá mich anrief, rutschte mir das Herz in die Hose. Mir entwich ein spanischer Fluch und ich presste die Lippen zusammen. Ich hatte meine Mutter irgendwie verdrängt.

„Sie sehen aus, als würden Sie vom Gerichtsvollzieher angerufen werden“, bemerkte Neil.

„So ungefähr.“

Ich atmete tief durch und nahm das Gespräch an. „Mamá, lo siento“, entschuldigte ich mich rasch auf Spanisch, denn das besänftigte sie oft. „Ich verspäte mich etwas.“

„Ja, das habe ich schon bemerkt, du hättest vor zwanzig Minuten in der Boutique sein sollen.“

„So spät ist es schon?“ Ungläubig schaute ich auf meine Armbanduhr. „Ich komme so schnell ich kann, ja?“

„Und das heißt?“

„In … äh … 40 Minuten?“

„Cómo dice?!“

Ihr ärgerliches Wie bitte?! versetzte mich in Alarmbereitschaft. „Ich bin noch in Godshill, weil ich für Mr Richards so viele Prospekte verteilen musste. Ich fahre jetzt sofort zur Boutique, ja?“

„Lo espero … hoffentlich“, sagte sie in mürrischem Ton und legte prompt auf.

Ich sah Neil zerknirscht an. „Ich muss zurück, tut mir leid. Ich hätte Ihnen wegen der Katze gerne geholfen.“

„Kein Problem, ich werde im Animal Shelter anrufen.“

„Das ist eine gute Idee. Könnte ich mir noch kurz die Hände waschen? Ihr Boden ist nämlich ziemlich staubig.“

„Deshalb suche ich nach einer Haushaltshilfe.“

Ich schenkte ihm einen vielsagenden Blick, aber er lächelte nur, also gab ich es auf. Im Bad streifte ich meinen Blütenring ab, denn in die filigranen Verzierungen setzten sich oft Seifenreste ab. Während ich mir ausgiebig die Hände wusch, fiel mir eine gelbe Pfütze am Boden auf.

Die Katze hatte wohl aus Angst gepinkelt. Rasch wischte ich den kleinen Unfall mit Toilettenpapier auf. Mein Smartphone gab einen leisen Ton von sich. Mamá hatte mir ein ungeduldiges: „Beeil dich!“ als Nachricht geschickt.

Ich tat, was sie verlangte und verabschiedete mich rasch von Neil Thompson, rannte zu meinem Fahrrad und fuhr zurück nach Ventnor. Ich kam schließlich völlig außer Atem und verschwitzt in der Boutique an. Das Fahrrad schob ich in den Hinterhof und schloss es dort ab.

Mamá beriet gerade freundlich eine Kundin. Ihr dunkles Haar steckte in einem lockeren Dutt und sie trug ein knallbuntes Outfit, das aus den Sechzigern stammen könnte. Sie warf mir einen blitzenden Blick zu und wandte sich wieder der Frau zu. Mamá war fast einen Kopf kleiner als ich und sehr zierlich. Wie eine Fee huschte sie zwischen den Kleiderstangen umher, um weitere Outfits vorzustellen. Niemand würde sie auf Mitte fünfzig schätzen, sie wirkte eher wie meine ältere Schwester.

Ich bemerkte sofort den großen Karton, der neben der Kasse stand. Neue Ware musste etikettiert und einsortiert werden. Ich fragte nicht nach, sondern begann direkt mit der Arbeit. Vielleicht würde sie das milde stimmen.

Die Kundin entschied sich schließlich für ein Kleidungsstück und sie kamen damit zur Theke. Mamá kassierte bei ihr ab und wartete, bis die junge Frau aus dem Geschäft war.

Ich mied ihren strengen Blick und konzentrierte mich auf die Ware.

„Es tut mir wirklich leid, kommt nicht wieder vor.“

„Du bist völlig verschwitzt, Mara.“

„Ich habe mich eben beeilt.“

Im Augenwinkel sah ich, wie sie die Hände in die Hüften stützte. „Ich bezahle dich nicht fürs Zuspätkommen.“

Es war also noch nicht ausgestanden.

„Das weiß ich. Aber ich musste das noch erledigen. Ich hatte gehofft, es geht schneller.“

„Warum musstest du überhaupt bis nach Godshill?“

Wenn ich ihr jetzt sagte, dass ich wegen einer neuen Stelle dort gewesen war, flippte sie womöglich aus, als schwieg ich vorerst. Wie immer, wenn ich unsicher oder nervös wurde, griff ich an meinen linken Ringfinger, um meinen Blütenring zu berühren. Ich fasste ins Leere. Erschrocken sah ich auf meine Hand. Er war fort!

Mir rutschte das Herz in die Hose. Hatte ich ihn verloren?

Dann fiel mir ein, dass ich mir bei Neil Thompson die Hände gewaschen hatte. War es möglich, dass der Ring noch auf seinem Waschbecken lag, weil ich die Pfütze der Katze rasch weggewischt hatte?

Ich fluchte innerlich, denn ich hatte keine Telefonnummer von ihm, um nachzufragen.

Nervosität überspülte mich. Dieser Ring bedeutete mir viel. Durch ihn fühlte ich mich meiner verstorbenen Grandma nah, und es gab nichts Vergleichbares, das mich an sie erinnerte.

„Mara?“, hakte Mamá nach.

„Äh, nach Godshill? Ich hatte so viele Prospekte und sollte sie möglichst breit gefächert verteilen.“ Dass von den verflixten Werbezetteln immer noch welche übrig waren, verdrängte ich für den Moment.

Ich beobachtete, wie meine Mutter den Kopf schüttelte und begann, an der Kasse zu hantieren. Dann ging sie wortlos zu einem Kleiderständer und sortierte die Größen richtig ein.

Meine Mutter war schon immer distanziert zu mir gewesen und Dads Mum hatte das mit ihrer liebevollen Art aufgefangen. Ich hatte es so sehr geliebt, Grandma zu besuchen. Neben meinem Dad war sie die Person, bei der ich mich als Kind am Wohlsten gefühlt hatte. Ich hielt in meiner Arbeit inne und dachte mit einem Lächeln an früher.

Grandma hatte nicht den typisch gepflegten englischen Garten, sondern viel Wildwuchs hinter ihrem Cottage, wo sie Kräuter und Gemüse angebaut hatte. Dieses Fleckchen Natur kam mir immer ein wenig magisch vor. Überall zwitscherten Vögel und die Mauereidechsen sonnten sich auf den großen Steinen, die als Beetumrandung dienten. Diese kleinen Tiere liebte ich besonders und manchmal kletterten sie sogar auf meine Hand, wenn ich mich sehr ruhig verhielt.

In meiner Erinnerung las Grandma mir draußen Märchen vor, wir kochten zusammen Marmelade ein oder sie braute aus ihren Kräutern einen Arzneisud.

Ich vermisste sie in diesem Augenblick so sehr, dass ich mir die Tränen wegblinzeln musste.

„Träum nicht herum, die Etiketten befestigen sich nicht von selbst“, sagte meine Mutter und holte mich zurück in die Gegenwart.

Am liebsten hätte ich den Kleiderstapel liegen gelassen und wäre einfach aus dem Laden gegangen. Ich hasste es, wenn meine Mutter mich so kalt und unpersönlich behandelte. Ja, ich arbeitete für sie, wohlgemerkt für einen Hungerlohn. Trotzdem könnte sie manchmal durchblicken lassen, dass ich keine nervige Auszubildende war, und selbst da hätte mir ihr Verhalten wehgetan. Als ihre Tochter nahm ich dieses Gefühl jeden Abend mit ins Bett.

Ich schluckte den Schmerz hinunter und begann, die Etiketten zu befestigen. Wieder befühlte ich die leere Stelle meines Ringfingers. Wenn ich wenigstens die Telefonnummer von Neil Thompson hätte. Mir blieb nichts anderes übrig, als noch einmal nach Godshill zu fahren.

 

Der Arbeitstag in Mamás Boutique zog sich unendlich lange hin. Der Laden wurde an diesem Tag überdurchschnittlich gut besucht und wir hatten alle Hände voll zu tun. Meine Mutter und ich sprachen kaum ein Wort und eigentlich war ich ganz dankbar darüber.

Als mich endlich der Feierabend von dem Shop erlöste, verteilte ich noch die restlichen Werbeprospekte und verlor jegliche Lust noch einmal über eine halbe Stunde zu Neil Thompson zu fahren. Erschöpft und niedergeschlagen ließ ich mein Rad oben an der Straße an eine Laterne gekettet stehen, weil die Böen es sonst umwerfen würden, und lief den schmalen Weg zur Küste runter. Ich war mittlerweile an der Grenze von Ventnor und schaute auf hohe Wellen, die hier an die Klippen schlugen. Wind zerzauste mein Haar. Ich schaute nach rechts, wo schartige Felsen eine Barriere bildeten. Die Wände zum Meer hin waren voller Muscheln, aber ohne Pflanzenbewuchs. Oben hingegen wuchs Gras und Moos, das in der Sonne in einem satten Hellgrün leuchtete.

Ich kletterte einige halb zerbrochene Steinstufen herunter und lief ein Stück über dunklen Schotter, bis es nicht mehr weiterging, weil die Wellen den Rest des Strandes vereinnahmten. Weiter östlich befand sich zwar ein Sandabschnitt, aber dort war es mir nicht einsam genug. Ich wollte allein sein und nachdenken.

Ein Felsen mit einer besonders ebenen Oberfläche lud mich zum Sitzen ein und ich zog meine Beine an. Glitzernde Schemen tanzten auf der Wasseroberfläche und ich dachte an die Geschichten, die meine Grandma mir gerne erzählt hatte ‒ von einem Volk tief im Meer, die diese Sonnenlichter erscheinen lassen, um ihr Dasein zu verschleiern.

Mir huschte ein Lächeln über die Lippen.

Ich beobachtete die Brandung, lauschte dem Rauschen, beobachtete eine Möwe, die das Ufer nach Nahrung absuchte. Langsam kam ich zur Ruhe. Der Ärger flaute ab und die Müdigkeit ergriff regelrecht Besitz von mir. Die Augenlider fielen mir zu und ich musste mich zwingen, sie aufzuhalten. Ich sollte nach Hause gehen, dieser Ort hielt mich jedoch fest. Also blieb ich und sah zu, wie die Sonne unterging und alles in ihren rötlichen Schein tauchte.

Erst als der Feuerball im Meer versank, raffte ich mich auf und kletterte wieder hoch zu meinem Fahrrad. Ich fuhr nach Hause, in der Hoffnung, dass Mamá mich nicht hörte.

Lustlos goss ich meine Kräuter auf dem Balkon und legte mich auf die Liege, um etwas zu entspannen. Leider blieb es nicht dabei, denn ich schlummerte ein. Ein kühler Wind weckte mich, Gänsehaut überzog meine Haut und ich blinzelte in den Sternenhimmel über mir.

Wie spät war es? Hatte ich so lange geschlafen?

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es fast zwei Uhr nachts war. Ich fluchte, stemmte mich aus dem Liegestuhl und torkelte ins Bett. Sobald mein Kopf das weiche Kissen berührte, schien mein Gehirn auf die Idee zu kommen, eine Party zu veranstalten. Es fehlte nur die Sambamusik in meinem Kopf. Die wildesten Gedanken kamen mir in den Sinn.

Stöhnend drehte ich mich auf die Seite.

Ich dachte an den Tod von Grandma und musste an meinen Blütenring denken. Der Ärger auf meine Mutter keimte erneut auf, obwohl ich gar nicht mehr daran denken wollte. Dazwischen sah ich Neil Thompsons Gesicht und schwenkte gedanklich direkt zu der ängstlichen und verletzten Katze. Was war wohl geschehen, nachdem ich abgefahren war?

Dann dachte ich an Lauries Party von letzter Woche, auf der ich meinen Ex mit seiner neuen Freundin gesehen hatte, erinnerte mich an meinen fast leeren Kühlschrank und an alle möglichen deprimierenden Nachrichten, die ich in der letzten Zeit im Radio gehört hatte.

Völlig entnervt sprang ich aus dem Bett und stellte fest, dass ich nun hellwach war.

„Fantastisch“, brummte ich und griff nach meinem E-Book-Reader, der auf meinem Nachttisch lag.

Mit einer Tasse Tee verzog ich mich in mein winziges Wohnzimmer, in dem keine Couch, sondern nur ein alter Sessel stand. Ich konnte mich nicht einmal auf das Buch konzentrieren, so ruhelos fühlte ich mich.

Frische Luft beruhigte mich fast immer, deshalb ging ich mit einem Seufzen zurück auf den Balkon. Ich erwartete eine Meeresbrise, weil die Windrichtung von der See kam, nahm aber plötzlich Brandgeruch wahr. Alarmiert beugte ich mich vor und sah mich um. Da entdeckte ich das rötliche Leuchten im Haus gegenüber.

Mir rutschte förmlich das Herz in die Hose. Brannte es dort im Erdgeschoss?

Ich zögerte nicht und rannte runter auf die Straße, schaute bei dem Einfamilienhaus durch das Fenster. Flammen loderten an einer Gardine empor und hatten sich bereits weiter ausgebreitet. Und die alte Agatha saß in ihrem Ohrensessel und schlief!

Ich klopfte gegen die Scheibe. „Agatha!“ Sie reagierte nicht. Ich holte mein Smartphone hervor und rief sofort die Feuerwehr.

Im Augenwinkel sah ich Bewegung auf dem Balkon meiner Mutter. Sie rief meinen Namen, aber ich konnte jetzt nicht auf sie eingehen. Zuerst versuchte ich an der Türklingel zu schellen, doch als Agatha nicht reagierte, entschied ich, ein Fenster hinten auf dem Hof einzuschlagen, da ich noch keine Sirenen hörte.

Ich nahm ein altes Steingefäß, das eigentlich als Dekoration diente und schlug mit voller Wucht gegen die Scheibe. Das Gefäß zerbrach, das Fenster hatte gerade mal einen Riss. Ich fluchte und hörte auf einmal Schritte hinter mir. War die Feuerwehr vor Ort?

Nein, es war meine Mutter.

„Oh Dios! Was machst du denn da?“

„Agatha ist noch drin und die Feuerwehr ist noch nicht da.“

Ich sah mich hektisch um, doch Mamá hielt mich am Arm. „Mara, warte! Agatha hat immer einen Zweitschlüssel versteckt, weil sie sich so oft aussperrt.“

Meine Mutter schien genau zu wissen, wo er sich befand, denn sie ging zu einigen Pflanztöpfen und holte den Schlüssel darunter hervor. Ich nahm ihn an mich und schloss die Hintertür auf, schaute mich hektisch suchend um. Mein Blick fiel auf das Schultertuch meiner Mutter, das sie sich wohl gegen den Wind übergeworfen hatte.

„Mamá, gib mir dein Tuch!“

„Was?“

Ohne auf den Protest meiner Mutter zu hören, schnappte ich es ihr aus der Hand und wickelte mich darin ein, bedeckte meinen Mund, um wenigstens ein wenig vor dem Rauch geschützt zu sein. Ich stürmte in das brennende Haus. Da Mamá und ich der alten Frau manchmal ein wenig halfen, kannte ich mich einigermaßen aus.

Rauch strömte mir entgegen, nahm mir die Luft zum Atmen. Ich musste husten, ließ mich aber nicht aufhalten. Als ich die Tür zum Wohnzimmer berührte, zuckte ich zurück, die Türklinke fühlte sich so heiß an, dass ich meinen Ärmel über die Hand ziehen musste, um sie zu öffnen. Die Hitze des Feuers kam mir entgegen. Flammen hatten den Teppichboden erfasst und der Bereich am Fenster glühte wie Lava. Ich eilte zu Ms Cooper, rüttelte an ihrer Schulter. „Agatha!“

Blinzelnd öffnete sie die Augen, schien völlig verwirrt zu sein.

„Komm, wir müssen hier raus!“, rief ich drängend.

Sie sah mich Hilfe suchend an, öffnete dann die Hand und ich sah ihre Hörgeräte. Ich nahm sie an mich und half ihr auf. Agatha hustete gequält, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ich fasste sie unter den Armen und führte sie mühsam aus dem Zimmer.

Draußen näherten sich die Sirenen der Feuerwehr. Mamá half mir mit Agatha und wir liefen bis in ihren kleinen Kräutergarten, wo Agatha auf einem Gartenstuhl so zusammensackte, dass meine Mutter sie festhalten musste.

„Tu das nie wieder!“, zischte Mamá mich an.

„Ich musste …“

„Was, wenn du … wenn du umgekommen wärst!“ Meine Mutter schien außer sich zu sein, ihre Lider flatterten und sie hyperventilierte regelrecht.

Ich presste die Lippen aufeinander und legte beruhigend meine Hand auf Mamás Arm. „Mir geht es gut“, sagte ich beschwichtigend. „Ich muss Bescheid sagen, dass hinten die Tür offen ist.“

Sie nickte nur, ich reichte ihr Agathas Hörgeräte und rannte zurück zur Straße, lotste die Feuerwehr zur Hintertür. Ich hustete unterdrückt.

„Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Ist noch jemand im Haus?“, fragte einer der Männer und begutachtete mich besorgt.

„Mir geht es gut, ich habe die alte Ms Cooper herausgeholt. Sie war allerdings dem Rauch ausgesetzt.“

Der Mann gab seinen Kollegen ein Zeichen. Die begannen sofort mit den Löscharbeiten. Er kam mit mir in den Garten und Agatha wurde umgehend untersucht.

„Ich habe doch nur … für meinen William eine Kerze … ins Fenster stellen wollen“, erklärte sie hustend.

Da sich die alte Frau kaum auf dem Stuhl halten konnte, legten die Rettungshelfer sie auf eine Trage. „Wir bringen Sie zum Wagen, in Ordnung? Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie eine Rauchvergiftung haben.“ Er sah mich an. „Und Sie kommen bitte auch mit.“

„Aber ich war nur ganz kurz drinnen.“ Ich versuchte, ein Husten zu ersticken, konnte es aber nicht aufhalten.

„Der Rauch ist trotzdem hochgiftig“, entgegnete er. „Außerdem haben Sie sich verbrannt.“ Er zeigte auf meinen Unterarm. „Also lassen Sie sich bitte untersuchen.“

Irritiert sah ich an mir herab. Schmerz spürte ich noch nicht, was mich verwunderte, denn die Haut dort war stark gerötet.

Gemeinsam gingen wir durch die kleine Gasse zu einem der Rettungswagen. Agathas Blick, als sie auf ihr brennendes Haus schaute, traf mich tief ins Herz.

 

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit ich den Brand entdeckt hatte. Das Gefühl dafür war mir abhandengekommen. Mamá und ich saßen in ihrer Küche, der Morgen graute und sie bereitete einen Tee für uns. Agatha wurde ins Krankenhaus gebracht und mir schauderte, weil ich immer wieder daran denken musste, was hätte geschehen können, wenn ich eingeschlafen wäre. Zum ersten Mal war ich dankbar für meine Schlaflosigkeit.

„Wie geht es deinem Arm?“

Mamá holte mich aus meinen düsteren Überlegungen. Ich schaute auf das feuchte Tuch, das den brennenden Schmerz linderte, der mich mittlerweile befallen hatte. „Wird besser.“

Gedankenverloren nippte ich an dem Tee und schaute aus dem Fenster. Vom Erdgeschoss konnte ich meinen Meereszipfel, den ich von oben immer sehen konnte, nicht ausmachen, aber ich sah das weiche Licht der Morgensonne, was mich friedlich stimmte.

„Agatha wird vorerst hier bei mir wohnen“, bestimmte meine Mutter.

Es war eine gute Idee, denn die alte Frau hatte nicht mehr viel Verwandtschaft und diese Wohnung war größer als meine und besaß ein kleines Gästezimmer ‒ mein altes Kinderzimmer. Deshalb nickte ich nur.

Sie setzte sich mir gegenüber. „Möchtest du heute frei haben?“

Verdutzt sah ich sie an.

„Gestern hatte ich den Eindruck, dass du ganz schön erschöpft warst.“

Ich grinste schief. „Ja, nachdem du mich im Laden herumgescheucht hast.“

Sie schnaufte auf, berichtigte mich nicht.

„Wenn das für dich in Ordnung ist, würde ich gern frei haben. Ich muss nämlich noch was in Godshill erledigen.“

An ihrem Gesichtsausdruck sah ich ihr an, dass sie sich fragte, was ich schon wieder in diesem Städtchen wollte. Ich vermied jedoch jeden weiteren Hinweis. Da Neil Thompson mich so oder so abgelehnt hatte, brauchte sie auch nichts davon erfahren.

Mamá ließ es sich schließlich nicht nehmen, meinen Arm mit einer Salbe für Brandwunden zu verbinden. Ich genoss es, dass sie so fürsorglich war. Es kam selten genug vor.

„Jetzt ist es von Vorteil, dass ich mich beim Bügeln und Kochen so oft verbrenne“, sagte sie leichthin und lachte gekünstelt auf. Ich spürte, dass ihr das Erlebte noch in den Knochen steckte und ihre Sorge überraschte mich.

„Ja, du hast immer die richtige Salbe da.“

Ich küsste sie auf die Wange und ging hoch in meine Wohnung. Mit dem verbundenen Arm zu duschen erwies sich als schwierig, aber ich roch wie ein verbrannter Toast. Der Verband blieb halbwegs trocken und ich schlüpfte in bequeme Kleidung.

Dieses Mal fuhr ich gemächlich in die kleine Stadt Godshill und nach der Steigung bereute ich, kein Taxi genommen zu haben. Mein Arm tat weh und die fast schlaflose Nacht steckte mir in den Knochen. Ich musste den Rest der Anhöhe schieben.

Schließlich fand ich den offiziellen Eingang von Neil Thompsons Anwesen, weil ich den Schotterweg ignoriert und die Straße weiter rauf gefahren war. Ich stand vor dem hohen, verschlossenen Tor zur Auffahrt und betätigte die Klingelanlage, die daneben angebracht war. Doch niemand öffnete, obwohl ich Licht im Erdgeschoss sah.

Mir entwischte ein leiser Fluch. Nach dieser Nacht wollte ich nicht noch einmal hierher fahren. Außerdem wollte ich meinen Ring wiederhaben! Ich schob das Fahrrad zurück und schlüpfte wieder durch das kleine Tor, das ich schon gestern genommen hatte.

Ich strich der alten Buche über die Rinde und hörte das Rascheln ihrer Blätter. Lächelnd sah ich in ihren Wipfel. Ich mochte diesen Baum.

„Heute treffen wir uns wohl das letzte Mal“, murmelte ich ihm zu und lief den kleinen Pfad zum Haus entlang.

Seltsamerweise fühlte ich mich wie eine Einbrecherin. Ich verharrte, spielte nervös mit einer meiner Locken, die mir ins Gesicht geweht wurden. Trotzdem straffte ich mich und lief auf das Anwesen zu.

„Hallo?“, rief ich etwas zu zaghaft.

Sicher wäre Neil nicht begeistert, dass ich erneut unangemeldet auftauchte. Ich lugte in den Wintergarten, konnte ihn aber nicht sehen, also schaute ich mich um.

Die Sonne stand nun über den Anhöhen und strahlte durch die Kronen der vereinzelten Bäume. Felder und Wiesen breiteten sich vor mir aus und ich merkte, dass die Villa erhöht gebaut war, denn von hier hatte man eine wunderbare Aussicht. Pferde grasten in der Nähe. Schafe sah ich als kleine, weiße Flecken auf einem Hang, der durch das Morgenlicht smaragdgrün leuchtete.

Mit einem Lächeln auf den Lippen wagte ich mich auf die Terrasse und stockte. Ich hatte Neil Thompson gefunden. Zu meiner Überraschung lag er auf einer der Sonnenliegen und schlief. Auf seinen Beinen lag tatsächlich die rotgetigerte Katze. Sie bemerkte mich zuerst, sah auf und sprang augenblicklich davon. Dies wiederum ließ Neil aufschrecken.

„Es tut mir leid, ich wollte Sie und die Katze nicht erschrecken.“

„Die Katze?“, fragte er überrascht.

„Ja, sie lag mit Ihnen auf dem Liegestuhl.“

Er setzte sich auf und sah sich mit verwundertem Gesichtsausdruck um. „Sie muss zu mir gekommen sein, als ich eingeschlafen bin“, sagte er mehr zu sich selbst. Dann wandte er sich mir zu, verengte die Augen. „Was machen Sie überhaupt schon wieder hier?“

„Ich glaube, ich habe gestern meinen Ring hier vergessen. Er hat so roséfarbene Blüten.“

„Und ich habe mich schon gefragt, wem er gehört.“ Er stemmte sich auf.

„Hatten Sie nach mir so viel Damenbesuch?“, fragte ich mit hoch gezogener Augenbraue.

„Das hatte ich in der Tat.“

Er ging ins Haus und ließ mich verdutzt stehen, deshalb folgte ich ihm einfach. Ich überlegte, ob er vielleicht eine Party veranstaltet hatte, schüttelte den Gedanken jedoch rasch wieder ab. Das ging mich nichts an.

Er kam zu mir und reichte mir meinen Ring, den ich erleichtert an mich nahm und rasch wieder ansteckte. „Er ist von meiner verstorbenen Großmutter, deshalb ist er mir sehr wichtig.“

„Verstehe“, sagte er wortkarg.

„Wie geht es denn der Katze?“

„Die Frau vom Tierschutz meinte, es wäre ein Kater. Und wenn er schon heimlich auf mir schläft, scheint ihm der Arztbesuch wohl nicht so viel ausgemacht zu haben. Allerdings schleicht er seitdem um mich rum.“

Mir fiel der kleine Karton Katzenfutter auf, der auf der Terrasse stand. „Das mag an dem Futter liegen.“

Verlegen sah er kurz zu besagtem Karton. „Das habe ich vom Tierschutz bekommen.“

„Und es scheint ihm zu schmecken.“

„Was ist eigentlich mit Ihrem Arm passiert?“, wechselte er abrupt das Thema.

Ich sah kurz auf meinen Verband. „Bei unserer alten Nachbarin ist ein Feuer ausgebrochen und ich habe sie aus dem Haus geholt. Ich hab mich nur etwas verbrannt.“

Neil betrachtete mich, als würde er genau abwägen, ob ich ihm nicht vielleicht ein Märchen auftischte. Ich wollte das jedoch nicht weiter erörtern. Deshalb schenkte ich ihm ein Lächeln und verabschiedete mich. „Auf Wiedersehen. Und viel Glück bei der Suche nach einer Haushaltshilfe.“

Er schnaufte auf und ich fragte mich, ob die Vermittlungsfirma ihm schon einige Bewerber vorgestellt hatte. Begeistert schien er nicht zu sein. Ob ich ihm vielleicht doch meine Telefonnummer dalassen sollte? Ich sah mich um und fand Zettel und Kugelschreiber auf einer Anrichte im Flur. Spontan ging ich dorthin und kritzelte meine Handynummer auf.

Er beobachtete mich mit einem Stirnrunzeln.

„Nur für den Fall, dass Sie schlussendlich doch interessiert sein sollten“, sagte ich, winkte noch einmal und ging dann zu meinem Fahrrad zurück.

„Ihnen ist bewusst, dass ich auch einen Haupteingang habe?“, rief er mir hinterher.

„Ich weiß, aber Sie haben ja nicht geöffnet und außerdem wollte ich gern die alte Buche begrüßen“, konterte ich verschmitzt.

Sah ich da ein Schmunzeln auf seinen Lippen? Ich wandte mich ab und verschwand aus seinem Sichtfeld.