Leseprobe Wie dunkel die Schatten

Oldenburg, Niedersachsen

Nacht von Sonntag auf Montag

Bushaltestelle P+R Marschweg

Eine Nacht wie jede andere. Sie unterscheidet sich nicht wesentlich von denen zuvor. Der Mond thront am Himmel, wird immer wieder von Wolkenfetzen verdeckt. Das Marschwegstadion klebt über der Szenerie wie ein Mahnmal, während das Summen der Autobahn ein beruhigendes Gefühl von Normalität vermittelt.

Heute aber gibt es keine Normalität. Heute schleicht sich die Gefahr wie auf vielen Katzenpfoten heran, wird gleich ihre tödlichen Krallen ausfahren und sich dann genauso lautlos zurückziehen, wie sie gekommen ist. Verhüllte Gesichter tasten sich näher, sehen ihre Opfer, die im Schutz der Plastikwand der Haltestelle kauern. Die Köpfe der beiden sind auf die Brust gesunken. Sie liegen nicht, sie hocken, so als wagten sie nicht, sich dem Schlaf ganz hinzugeben. Trotzdem ahnen sie nichts von dem, was gleich auf sie zukommt. So wie zwei Schäfchen, die sich von der Herde entfernt haben, ohne die Gefahr zu kennen. Und das nur, weil die Frau auf das Almosen hofft, das sie hier Morgen für Morgen erhält. Heute sind sie zu zweit, am nächsten Tag wird sie allein sein, wie immer. Oder auch nicht. Dieses Dasein ist nicht planbar, es gleicht den ziehenden Wolken am Himmel.

Die Frau wird bezahlen für eine alte Schuld. Sie wollte sie wiedergutmachen und ist gescheitert, so wie sie mit allem, was sie begonnen hat, gescheitert ist. Der Preis dafür ist hoch: Es soll ihr Leben kosten.

Der Überfall kommt plötzlich, wie aus dem Nichts. Schwarze Gestalten tauchen aus dem Dunkel auf, umstellen die Haltestelle. Menschen mit maskierten Gesichtern, aber mit Hass in den Augen. Abscheu, der sich gleich über den beiden wehrlosen Personen entladen wird. Egal, ob der Alte Teil des Auftrags ist oder nicht. Er wird mitbeseitigt. Dann kann er nicht reden. Lautlos saust der erste Hieb nieder, trifft auf zerberstende Gesichtsknochen. Der Mann sackt sofort in sich zusammen. Die Frau aber ist jünger. Flinker. Wie ein Wiesel schießt sie durch die schmale Lücke zwischen den Beinen ihrer Widersacher und hastet in die schützende Dunkelheit, in Richtung der Büsche am Marschwegstadion. Einer von ihnen verfolgt sie, doch sie kennt die Nacht besser als er. Sie ist dort zu Hause, seit vielen Jahren ein Schatten der Straße, der es vermag, unsichtbar zu sein. Der nur zum Vorschein kommt, wenn er es für richtig hält. Der Frau sind Wege bekannt, die ihr Verfolger nicht einmal erahnt. Sie entkommt, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Die Wut entlädt sich nun ausschließlich gegen den Mann. Einer muss heute sterben. Die Alte holen sie später.

Er weint nicht, als Stiefel seinen Oberbauch treffen. Er wimmert nicht einmal. Nimmt die Schläge klaglos hin wie einen Schicksalsschlag, dem er ohnehin nicht entkommen kann. Es ist nicht das erste Mal, dass er »gestiefelt« wird.

Blut tropft auf das graue Pflaster, eine schmale rote Spur verläuft auf den Steinen und vermischt sich mit dem Fleck aus frischem Hundeurin. Oldenburg schläft um diese Zeit, und mit ihm jene, die dem Mann hätten zu Hilfe eilen können. Jetzt haben sie freie Hand.

Ein abschätzender Blick auf das zerfurchte Gesicht, auf die dreckigen Finger, die eben noch den Fetzen Lumpen umkrallt haben, sich nun aber nach und nach lösen. Der Alte öffnet die Augen. Klagt stumm an, versteht nicht, was geschieht. Ein dunkler Stiefel gräbt sich ein letztes Mal in seine Seite, entlockt ihm nun doch einen leisen Ton. Seine Lider zucken, auch das lässt von Sekunde zu Sekunde nach.

Einer der jungen Männer reibt sich die Faust. Die Knöchel seiner Hand haben menschliche Haut gespürt, die bei der Wucht des Aufpralls geplatzt ist. Jetzt klebt Blut an ihnen. Es hat geknackt wie morsche Äste, die unter Fußsohlen bersten. Egal, es ist kein Mensch, der dort liegt. Es ist Dreck. Abschaum. Müll. Der Typ quatscht nicht mehr. Nie wieder. Nicht über das, was war, nicht über das, was er weiß, nicht über das, was mit ihm geschehen ist. »Sollen wir ihn nicht wegbringen? Er kann woanders verrecken. Hier findet man ihn sofort.« Die Stimme klingt heiser, fast hysterisch, wie aus dem Off. Er muss sich zusammenreißen, darf keine Schwäche zeigen.

»Du hast recht. Besser, wenn der Typ nicht direkt auf dem Präsentierteller liegt. Je später sie ihn finden … Geben wir ihm dahinten den Rest.« Sie schleifen ihn weg. Der Kopf holpert über den Weg wie ein hüpfender Fußball, bis sie ihn in die Büsche hinter der Bushaltestelle gezerrt haben. »Habt ihr das Shirt?«

Einer zieht ein Messer. Ein anderer zerrt ein schwarz-pinkes Shirt aus der Tasche.

Plötzlich kommt Bewegung in die Gruppe. Aus der Ferne nähert sich ein Martinshorn. »Nichts wie weg!« Die Gestalten werden von der Dunkelheit verschluckt. Nur eine verharrt ein wenig länger, blickt auf das blasse Gesicht, das unter dem heraussickernden Blut kaum noch zu erkennen ist. Es wäre an ihm, dem Alten die Klinge ins Fleisch zu rammen und so ein Held zu sein. Seine Hand tastet sich in die Hosentasche, umfasst den Schaft, zieht das Klappmesser heraus. Es blitzt im Schein der Straßenlaterne kurz auf. Als er sich umsieht, wird der Himmel vom Blaulicht zerhackt. Er muss verschwinden. Ein Hieb mitten in die Brust. Er rutscht ab, hat nicht richtig getroffen. Er schnappt sich das Messer, rotzt dem alten Mann ins Gesicht, bevor er geht. Die Zweige der Büsche schnellen über dem Verletzten zusammen, verbergen gnädig, was keiner sehen will. Der Penner ist entsorgt. Wie das Taschentuch, mit dem sich einer von ihnen das Blut von den Händen gewischt und das er ein paar Meter weiter auf den Weg geworfen hat. Sie werden gleich irgendwo ein Bier trinken. Ausgiebig feiern. Auftrag ausgeführt.

Die Blaulichter biegen in den Sodenstich ab, kommen nicht an der Haltestelle Marschweg vorbei. Es wird ruhig am Stadion.

Als am frühen Morgen der erste Hund am Marschwegstadion vorbeikommt, schnüffelt der kurz am Gebüsch, kläfft, gehorcht seinem pfeifenden Herrn. Der aber sieht nur ein Papiertaschentuch, das auf dem Pflaster klebt und dessen Ecke vom seichten Wind hochgeweht wird.

Tag 1

Montagmorgen

Bushaltestelle P+R Marschweg

Die Frau war nicht da. Paula sah es schon, als sie mit dem Fahrrad auf die Haltestelle zufuhr. Das Bushäuschen und die Straße davor wirkten wie leer gefegt. Lediglich der schwarze Mantel und die fleckig-blaue Isomatte in der Ecke zeugten von ihr, der Obdachlosen, der Paula seit dem Sommer jeden Morgen ein belegtes Brot in die Hand drückte. Eine Obdachlose, eine von vielen, die in der Stadt lebten und die sich vor allem am Abend und in der Nacht an der Hunte unter der Autobahnbrücke am Westfalendamm trafen. Tagsüber saßen sie am Netto-Markt an der Nadorster Straße oder gingen um die Ecke zur Obdachlosenhilfe. Ein paar sah Paula auch immer an der Lambertikirche. Der Wind pfiff unangenehm über die Straße, dunkle Wolken türmten sich auf. Paula kam sich beobachtet vor. Hier stimmte etwas nicht. Sie stellte das Rad ab und sah hinter die Haltestelle, ging dann um das Bushäuschen, blickte in Richtung Stadion. Die Metalltüren waren wie immer, wenn kein Fußballspiel war, fest verschlossen. Die bunten Toilettenhäuschen waren die einzigen Farbtupfer. Paula umrundete auch das hinter der Haltestelle liegende Gebüsch, doch außer einer leeren Schnapsflasche, einem benutzten Kondom und einer weggeworfenen Tabakpackung bemerkte sie nichts Auffälliges. Alles war wie immer. Die Frau aber war wie vom Erdboden verschluckt.

Als Paula wieder bei ihrem Rad angelangt war, hatte sich das ungute Bauchgefühl noch verstärkt. Wo steckte die Frau, deren Namen sie nicht kannte, mit der sie noch nie im Leben ein Wort gewechselt hatte und die ihr doch irgendwie nahe war. Ich fühle mich verantwortlich, dachte Paula. Verdammt noch mal verantwortlich. Das Hupen eines Autos ließ Paula zusammenzucken und holte sie aus ihren Gedanken zurück. Sie sollte sich beeilen, die Vorlesung an der Uni begann gleich, und sie war ohnehin spät dran. Um die Frau musste sie sich später Gedanken machen.

 

Montagmorgen

Schlosspark Oldenburg

Sie war entkommen. Unter ihr war nur noch der Dreck auf dem Boden. Tiefer konnte man nicht sinken. Nicht mehr unterwegs, festgewachsen in der Stadt, die einen auch nicht haben will. So wie die Ratten. Frieda kauerte jetzt im Schlosspark hinter einer der Bänke, den Schal fest ins Gesicht gezogen. Besser, niemand sah ihr Gesicht. Falls sie kommen sollten. Sie holen. Noch einmal draufhauen. Sie töten wie den Mann gestern, der mit ihr an der Haltestelle die Nacht verbringen wollte, weil es unter der Brücke am Westfalendamm, wo sie in der Nacht meist auf Platte waren, Stunk gegeben hatte. Ein paar Berber, herumstreunende, die mal hier, mal dort in den Städten unterwegs waren, hatten Ansprüche angemeldet, weil sie in der Obdachlosenunterkunft keinen Platz mehr bekommen oder sie gar nicht erst gefunden hatten. Was auch immer. Frieda hatte nicht so genau hingehört. Jedenfalls war der Plastikkönig ausgetickt, hatte sich als Boss aufgespielt, und Frieda war gegangen.

Die Haltestelle erschien ihr eine gute Idee. Aber nach dem Angriff hatte sie ihre Habseligkeiten dort liegen lassen. Bis auf die Alditüte, die hielt sie stets fest umklammert. Darin befand sich alles, was sie zum Leben brauchte: ihre Taschenlampe, eine Kerze mit einer halben Packung Streichhölzer, ein Dosenöffner. Dazu ihre Waschsachen, wie eine abgewetzte Zahnbürste mit Zahnpasta und eine Haarbürste, an der die meisten Borsten aber schon abgebrochen waren. Viel mehr brauchte man nicht, um auf der Straße zu überleben. Der Rest ergab sich jeden Tag neu. Manchmal ging sie ins »Bunte Kaufhaus« zum »Shoppen«, manchmal in den Tagesaufenthalt. Aber ihre Besuche dort wurden seltener. Sie kam sich danach immer besonders klein und niedrig vor. Auch wenn es ihr widerstrebte, musste sie die Isomatte und den Mantel später holen gehen. Letzte Woche hatte ihr jemand den Schlafsack geklaut, wie sollte sie da ohne den Mantel die immer kälter werdenden Nächte überstehen? Um einen Schlafsack mit Isofunktion musste sie sich auch noch kümmern. Dazu würde sie wohl die Diakonie noch einmal aufsuchen und fragen müssen. Noch wagte sie aber nicht, die Deckung zu verlassen, war froh, wenn sich Spaziergänger in die Anlage verirrten und sie sich dadurch sicherer fühlte. Ihr war, als würde sie noch immer verfolgt, wobei der Übergriff gestern bestimmt nicht ihr und dem Mann persönlich gegolten hatte.

Sie kannte kaum jemanden. Die Menschen in ihrem Leben kamen und gingen. Ein paar blieben länger, andere nur einen Tag. Jeder mit einer Geschichte im Rucksack, die keiner kennen wollte, glichen sie sich doch zu sehr. Außerdem verbesserte es die Lage auch nicht. Sie war eine von denen ganz unten. Die anderen bezeichneten sich selbst als Stadtratten, aber das Wort mochte Frieda nicht, auch wenn es ihr eben selbst durch den Kopf geschossen war. Sie war ein Einzelgänger, ein Schatten. So wie die anderen auch. Aber keine Ratte. Dem Wort haftete so viel Negatives an. Obwohl Ratten intelligente Tiere waren. Ab und zu fütterte Frieda sie mit ein paar Krumen. Sie machten sogar Männchen. Trotzdem wollte sie keine von ihnen sein. Sie war ein Mensch.

Aber jetzt hatte sie Angst. Angst, dass sie wiederkamen, weil sie Leute wie sie suchten. Weil sie für viele einfach nur Dreck waren. Weil sie »Sitzung machten«, Pfandflaschen aus Containern sammelten und viele von ihnen zu viel tranken. Weil sie ihre »Bombe«, eine Zwei-Liter-Flasche Wein, brauchten, oft schon morgens als »Klapperschluck«, damit der Tremor in den Händen vertrieben wurde. Frieda trank nicht. Nur ab und zu, wie normale Sesshafte auch.

Frieda hatte nie gewagt sich hinzulegen, seit sie auf Platte war, also auf der Straße lebte. Im Freien nächtigte, weil sie keine Wahl hatte. Seit sich ihr Leben weit unter dem Nullpunkt abspielte. Mit den Jahren hatte sie das Schlafen in der Hocke gelernt. Tiefschlaf konnte tödlich sein. Auch unter der Huntebrücke. Jeder war sich selbst der Nächste. Das Sprichwort galt überall und in jeder Lebenslage. Es gab nur ein Wort, das sie durch den Tag trieb: überleben. Einfach irgendwie überleben.

Sie ärgerte sich oft über den Plastikkönig. Er spielte sich ständig als Boss auf, weil er ein »Lebenskünstler« war. Der Plastikkönig hielt sich für was Besseres, obwohl er genauso ein Stadtstreicher war wie sie alle hier. Die Haltestelle am Marschweg war für Frieda eine gute Alternative gewesen, denn dort bekam sie Morgen für Morgen ihr Almosen von diesem jungen Mädchen, das sie immer freundlich, wenn auch ängstlich ansah. Das Brot half ihr, über den Tag zu kommen. Vielleicht hatte der Mann neben ihr das beobachtet und gehofft, etwas abzustauben. Gesprochen hatten sie nicht miteinander, aber doch hatten sie sich gegenseitig das Gefühl gegeben, nicht völlig allein zu sein. Sie hatte seinen regelmäßigen Atemzügen gelauscht und selbst die Augen geschlossen.

Der Überfall kam plötzlich, wie aus dem Nichts. Dunkle, verhüllte Gesichter, mit Hass im Blick. Kein Schrei hatte ihre Lippen verlassen, als der erste Hieb auf sie niedergesaust war. Dennoch war sie entkommen. Der Mann nicht. Frieda rieb ihre schmerzende Schulter, wo sie getroffen worden war. Die Wunde an der Stirn war schon verkrustet.

 

Montagmorgen

Stadt Oldenburg

Weg zur Carl von Ossietzky Universität

Das Bild der Frau verließ Paula auch auf dem Weg zur Uni nicht. Sie überquerte die Bloherfelder Straße, als Reifen quietschten und ein Auto abrupt stoppte. »Mensch, Mädchen, pass doch auf! Das ist hier keine Spielstraße!« Der schwarze Audi entfernte sich mit durchdrehenden Rädern.

Paula stützte sich auf den Fahrradlenker und atmete langsam ein und aus. Das war ja gerade noch mal gut gegangen. Sie musste sich zusammenreißen, aber die Gedanken an die Frau schmerzten sie. Die Erinnerung daran, wie sie jeden Morgen an die Plastikumrandung gelehnt dagesessen hatte, den Kopf auf die Knie gesenkt und den Mantel leicht hochgezogen, damit er ihren hageren Rücken wärmte. Vor sich eine Untertasse und auf ein Almosen wartend. Sie bedankte sich auch für herabgeworfene zwei Cent. Sie trug Handschuhe, solche, an denen man die Fingerspitzen beiseiteklappen konnte. Sie hatte sie selbst im Sommer an. Ihre Habseligkeiten passten in eine Plastiktüte von Aldi, Lidl oder Netto.

»Sie hat ihren Mantel und die Matte liegen lassen. Ohne das würde sie doch nicht einfach so verschwinden«, murmelte Paula. Sie bestieg ihr rot bemaltes Hollandrad wieder und strampelte gegen den Wind an. »Das ist sicherlich fast alles, was sie hat. Merkwürdig.« Paula fröstelte, obwohl ihr der Schweiß über den Rücken lief. Sie hatte sich den Schal dreimal fest um den Kopf gewickelt, weil sie sich gegen den Wind schützen wollte. Doch diese Kälte kam von innen.

»Warum beschäftigt mich das so? Ich kenne ihren Namen nicht, gar nichts.« Sie hatten nie ein Wort miteinander gewechselt. Ein freundliches Lächeln, ein verlegenes Nicken, und das war es.

Mittlerweile war sie an der Kreuzung Ammerländer Heerstraße/Uhlhornsweg angekommen, und das Universitätsgebäude hob sich gegen den düster wirkenden Himmel ab. Die Studenten schoben sich in Strömen in Richtung Campus.

»Ich muss mich jetzt zusammenreißen. Die Vorlesung gleich ist wirklich wichtig«, murmelte Paula, fuhr zum Fahrradstand und schloss ihr Rad ab. »Ich als Studentin kann ohnehin nichts für diese Menschen tun. Außer ihr eben dieses Brot zu schenken oder immer mal was in ihre Hüte zu werfen. Immerhin ist das mehr, als andere tun. Sie wird schon wieder auftauchen. Oder sie ist wieder ihrer Wege gegangen. Neue Stadt, neues Glück.«

»Hallo«, wurde Paula angesprochen. »Redest du mit dir selbst oder lernst du laut?«

»Beides«, antwortete sie und sah auf die Uhr. Sie war fast eine Dreiviertelstunde später dran als sonst, hatte bereits die erste Hälfte der Vorlesung verpasst. Professor Wasserthür war zwar ein fairer Mann und hatte für alles Verständnis, für alle Verbrecher, Mörder und Totschläger dieser Welt, aber nicht dafür, dass man seine heilige Vorlesung verschlief. Die bissigen Bemerkungen kannte jeder seiner Studenten zur Genüge.

Paula hoffte, dass ihre Freundin Ines es pünktlich in die Uni geschafft hatte und sie ihr die Mitschrift von den ersten fünfundvierzig Minuten der Vorlesung geben konnte. Es war schwer genug, sich ständig durch die Paragrafen zu arbeiten. Das Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften verlangte den Studenten einiges ab.

Paula betrat die Uni, kam sich merkwürdig fehl am Platz vor. Die Flure lagen, im Gegensatz zum Forum, leer vor ihr. Paulas Schritte hallten auf den Fliesen, als sie sich durch das Gebäude arbeitete. Schließlich stand sie vor der richtigen Tür. Sie senkte ihre Hand auf die Klinke, zog sie aber rasch zurück. Es war besser, sich die ganzen Unterlagen von Ines oder einem anderen Kommilitonen zu holen und nachzulernen. Sie würde mit ihrem Zuspätkommen einen schlechteren Eindruck hinterlassen, als wenn sie gar nicht erst erschien.

»Ich gehe erst mal in die Mensa, nicht dass mich der Prof noch hier sieht.« Vielleicht würde sie ein Kaffee ablenken.

Paulas Gedanken kehrten zu der Frau zurück. Sie hatte Ines einmal von ihr erzählt. Ziemlich am Anfang, als es begonnen hatte. Ines fand das alles reichlich exotisch. »Dass du dich so etwas traust«, hatte sie gesagt, »dich mit so einer einzulassen. Mir sind die suspekt. Ich hätte echt Schiss.« Dennoch hatte sie Paula zunächst mit Fragen gelöchert. Wie die Obdachlose aussah und wo genau sie saß. Aber wie Ines eben war, hatte sie das Thema danach nicht mehr interessiert. Es war am Ende wohl doch nicht exotisch genug.

Das Brot hatte Paula noch immer in der Tasche. Es fühlte sich an, als gehöre es nicht dorthin.

 

Montag, später Vormittag

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Paula verließ das Hauptgebäude und überquerte die Straße. Der Campus lag jetzt ruhig vor ihr, nur wenige Studenten lümmelten rauchend herum. Paula öffnete die Glastür der Mensa, nahm den Schal ab und zog ihren nachlässig zusammengebundenen Pferdeschwanz zurecht. Ihr schlug eine Wolke abgestandener Luft entgegen.

Die Mensa war fast leer, keine Schlange am Tresen. Paula holte sich einen Becher Kaffee. Dann suchte sie einen Tisch in der Ecke und griff in die Jackentasche. Das belegte Brot roch frisch, aber dennoch schmeckte es fad, als Paula abbiss. Sie legte es auf dem Tablett ab. Warum zum Teufel hatte die Frau heute Morgen nicht an Ort und Stelle gesessen? So, wie sie es seit drei Monaten Morgen für Morgen tat? War es, weil sie, Paula, sich verspätet hatte? Wartete sie etwa immer nur auf das Almosen und ging anschließend ihren unbekannten Weg? Etwas in Paula sagte, dass es so nicht war. Diese Frau hatte Zeit. Den ganzen Tag. Und sie hatte Paula stets erwartungsvoll entgegengesehen. Es war wie eine stille Übereinkunft zwischen ihnen. Eine besondere Form der Freundschaft. »Quatsch, Freundschaft«, sagte Paula zu sich. »Ich weiß ja nicht mal, wie sie heißt. Was beunruhigt dich eigentlich, Paula?« Dass die Frau den Mantel, der sie stets wie ein Schutzschild umgab, zurückgelassen hatte. Er wärmte und schützte sie zugleich. Und genau den hatte sie nicht mitgenommen. Das war es, was Paula nicht zusammenbekam. »Es scheint so, als habe sie es schrecklich eilig gehabt, zu verschwinden.« Am gesamten Bild war etwas nicht stimmig. Ganz und gar nicht stimmig.

Paula seufzte auf und biss trotzig ein weiteres Mal ab. Das war wieder typisch für sie, über so etwas nachzusinnen und nicht über ihr Studium, was wirklich wichtiger war, als sich den Kopf über eine unbekannte Frau zu zerbrechen. Vermutlich war sie der einzige Mensch, der sie vermisste und sich Sorgen machte. Die Frau hatte stets allein dort gesessen. Vielleicht waren diese Leute immer für sich. Sie lebten mal hier und mal dort. Es gab sicher einen ganz harmlosen Grund für alles. Vielleicht war ein Bekannter vorbeigekommen, und sie waren gemeinsam weitergezogen. Ihre Sachen würde sie später holen. Wer sollte sie schon stehlen? Solche wertlosen Lumpen.

Die Mensa füllte sich, als ein paar Studenten hereinkamen.

»Jetzt einen Kaffee! Der wird helfen, unsere Sinne wach zu kriegen. Ganz schön chillig heute an der Uni, wenn zwei Profs krank sind!« Die weitere Unterhaltung wurde vom zunehmenden Geschirrklappern und den Gesprächen der anderen Studenten übertönt. Den einen der Jungs erkannte Paula sofort. Es war Arne, ein Angeber ohnegleichen. Er wirkte stets wie aus dem Ei gepellt, wusste durchaus, dass keine Studentin wegsah, wenn er sie mit seinen braunen Augen fixierte. Er war ein Kumpel von Piet, den sie letzte Woche bei ihrem Fakultätsgrillfest auf der Dobbenwiese näher kennengelernt hatte. Ein echt netter Typ, ein wenig schüchtern, aber ehrlich und auf eine sympathische Art anders als die übrigen Studenten, die ihre Finger in der Freizeit meist um Bierflaschenhälse krallten und sich häufig nicht benahmen, wie es zukünftige Wissenschaftler, oder was auch immer sie werden wollten, tun sollten.

Paula war klar, dass sie mit dieser Meinung alleine dastand, und meist hielt sie den Mund. Anecken kostete Nerven, die sie nicht hatte. Ihre Energie galt einzig ihrem Studium. Raus aus der Enge, was Besseres werden als ihre getrennt lebenden Eltern, die gar nicht merkten, wie eintönig ihr Leben war. Paula wollte was anderes, und dafür musste sie einen möglichst guten Abschluss hinlegen. Ines bezeichnete sie deshalb als Streberin. Ich will mein Studium ebenso rasch es geht durchziehen, dachte Paula. Ich muss schließlich Geld sparen. Dafür arbeitete sie zwanzig Stunden als studentische Hilfskraft. Ihre Freundin hatte das nicht nötig und konnte sich mit dem Studium Zeit lassen. Sie hatte es mit dem selbstbestimmten Leben nicht besonders eilig. Ihr Vater führte im Gerichtsviertel ein angesehenes Anwaltsbüro mit einem großen Mitarbeiterstab. Ein Platz, in welcher Form auch immer, war Ines dort sicher, egal, wie ihr Universitätsabschluss aussah. Sie würde ihren Neigungen entsprechend ein Büro mit Blick auf den Schlosspark bekommen, dazu einen schicken Firmenwagen und alles, was man sich für einen gut verdienenden Anwalt vorstellte. Für Paula aber waren gute Noten unabdingbar, denn wie sollte sie sonst später einen guten Arbeitsplatz finden? Darüber brauchte sich Ines keine Gedanken zu machen.

Arne hatte sich mit Freunden an einem der Nebentische niedergelassen, sie flegelten sich auf den Stühlen. Neben Arne saß ein Rothaariger, der eine bunt bestickte Weste trug. Mit seinen Locken fiel er auf. Sein Name war Tim. Aber seine Freunde nannten ihn der Frisur wegen Angel. Beim Grillfest auf der Dobbenwiese am Kaiserteich waren er und Arne allerdings so betrunken gewesen, dass Paula keine Lust gehabt hatte, sich mit ihnen abzugeben. Sie schienen sie jetzt nicht zu erkennen, worüber Paula erleichtert war. Es gab Typen, die kannte man besser nicht. Mit Piet hingegen hatte sie sich in der letzten Woche dreimal getroffen. Sie waren im Kino gewesen, zu einer Musikveranstaltung und einmal im Strohhalm in der Wallstraße, danach im Big Ben. »Vielleicht hat er ja nachher Lust, sich mal wieder mit mir zu treffen«, flüsterte Paula. Zum Glück saß sie hier alleine, denn ihre Art, Selbstgespräche zu führen, kam anderen oft eigenartig vor. Als ein paar Studentinnen vorbeikamen, ließ Arne sofort einen blöden Spruch ab. Dennoch fühlten sich die Frauen, ihrem aufreizenden Benehmen nach, offenbar geehrt. Die ersten Vorlesungen waren vorbei, und die Mensa füllte sich immer mehr. Gleich würde kaum mehr ein Durchkommen möglich sein. Paula suchte Ines, was im Normalfall keine Schwierigkeiten bereitete, weil ihre Freundin auffiel. Ganz anders als Paula, die mit keinen besonderen Äußerlichkeiten dienen konnte. Aschblondes, glattes Allerweltshaar, schlanke Figur, was sie ihrem regelmäßigen Volleyballtraining verdankte, grüne Augen und wenige versprengte Sommersprossen auf der kleinen runden Nase. Ines hingegen war anders. Sie hieß nicht nur Ines, sie sah auch aus, wie man sich eine Ines vorstellte: dunkler Teint mit dunklem Haar, ein Hauch von eleganter Hochnäsigkeit und ein Glimmen in den Augen, das unvergleichlich war. Genau wie das Lächeln, das immer wieder verschmitzt über ihr Gesicht huschte. Dazu perfekt sitzende Kleidung mit dazu passenden Schuhen. Sie verkörperte die Vorstellung, die man von einer Tochter aus gutem Hause hatte, in höchster Vollendung. Und doch war sie seit Kindertagen Paulas beste Freundin, obwohl die beiden unterschiedlicher nicht hätten sein können. Insgeheim bewunderte Paula sie, vielleicht lag da das Geheimnis.

Paula schreckte aus ihren Überlegungen auf, als kurze Zeit später ihre Freundin in die Mensa stolzierte. Sie trug eine knallenge Jeans, darüber ein tief ausgeschnittenes Top, in dem Paula schon lange erfroren wäre. Ines fror scheinbar nie. War ihr kalt, schlüpfte sie in eine Sweatshirtjacke, und das war es dann.

»Hallo, da bist du ja«, sagte Ines, als sie bei ihrer Freundin angelangt war. »Hast verdammt gut daran getan, die Vorlesung auszulassen. Es war ziemlich langweilig.« Sie umwehte ein Hauch von Dior.

Paula schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte nicht schwänzen. Ich hab verschlafen, und dann«, sie zögerte, weil sie nicht wusste, ob sie ihrer Freundin von der verschwundenen Frau erzählen sollte, »ist mir etwas sehr Merkwürdiges passiert.«

»Dir passiert ja immer etwas Merkwürdiges«, sagte Ines mit einem Grinsen.

»Du bist quasi das weibliche Wesen, dem Merkwürdigkeiten nur so zufliegen.«

Paula war nicht nach Lachen zumute. Sie erklärte ihrer Freundin mit ein paar Sätzen, was geschehen war, und schloss mit: »Ich weiß, es klingt albern, aber ich habe wirklich Angst, dass der Frau irgendetwas zugestoßen ist.«

»Du machst dir deshalb Sorgen? Weil sie heute nicht da war? Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Ines hob die Brauen. »Morgen sitzt sie bestimmt wieder da. Ganz gewiss. Wenn nicht, dann übermorgen. Sie will sicherlich weiter an deinem exklusiven Frühstück teilhaben. Ist schließlich alles umsonst. Warte, ich hole mir nur einen Kaffee.« Sie verschwand und kam kurze Zeit später zurück.

»Mach dir nicht zu viele Gedanken. Kann doch auch sein, dass sie einfach eine Stadt oder eine Straße weitergezogen ist.« Ines setzte sich Paula gegenüber und riss die Milchpackung auf. »Wir können ja mal an der Lambertikirche oder in dieser Suppenküche nach ihr Ausschau halten, wenn sie bis morgen nicht aufgetaucht ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Dass du dir über solche Tippelbrüder – oder in diesem Falle eher Tippelschwestern – Gedanken machst.« Dann wechselte sie sofort das Thema. »Kommst du am Samstag mit ins Twister nach Sande? Hätte mal wieder Lust, richtig abzutanzen.« Ines kippte sich drei Packungen Milch in den Kaffee und schleckte anschließend ihre vollgekleckerten Finger genüsslich ab.

Paula zuckte mit den Schultern, weil sie es jetzt noch nicht wusste. Das Wochenende war noch so weit weg. Außerdem musste sie lernen. Diese Diskothek lag sechzig Kilometer von Oldenburg entfernt. Man musste mit der Nordwestbahn dorthin fahren, die Nacht durchtanzen und konnte frühestens am nächsten Morgen mit dem ersten Zug zurück. Paula wusste nicht, ob ihr Durchhaltevermögen dafür ausreichte.

»Wenn du nicht so weit fahren willst, was meinst du zu einem Weiberabend bei dir in der WG? Wir laden Bille und Mia ein und …«

Paula war während Ines’ Gerede mit den Gedanken schon wieder abgedriftet. Ihre Freundin ging ihr mit ihrer superguten Laune auf die Nerven. Ohne auf Ines’ weiteren Vorschlag einzugehen, fragte sie: »Wir könnten auch gleich gemeinsam zur Polizei gehen und fragen, ob sie etwas über die Frau wissen.«

Ines schüttelte ärgerlich den Kopf. »Du bist unverbesserlich. Ich rede mit dir, und du hörst mir gar nicht zu. Da geh du besser allein hin, denn das halte ich für absolut übertrieben. Ich würde einfach ein paar Tage abwarten, ob sie nicht von selbst wieder an die Futterkrippe zurückkehrt.«

Paula mochte es nicht, wenn Ines so abfällig sprach. Obwohl sie recht hatte. Was sollte sie der Polizei schon erzählen?

 

Der Vormittag mit dem Tutorium perlte an Paula ab. Sie war einfach nicht bei der Sache. Es war, als braue sich über ihr eine dunkle Wolke zusammen. Paula hatte ein gutes Bauchgefühl, und wenn etwas unstimmig war, hatte sich das im Nachhinein immer bestätigt. Sie musste herausfinden, ob etwas mit der Frau passiert war. Ich gehe nach der Uni zur Polizei, beschloss sie. Egal, für wie unsinnig Ines das hält.

Noch während die anderen über Softskills debattierten, rief sie heimlich mit dem Smartphone alle Polizeiwachen in der Gegend auf. Schließlich entschloss sie sich für die am Friedhofsweg, auch wenn das ein Stück zu fahren war. Aber es war die größte, und Paula hatte das beste Gefühl dabei. Allerdings war sie nach dem Tutorium zunächst mit Piet verabredet, er hatte ihr eben eine WhatsApp geschrieben. Auf dem Campus und in der Mensa hatte sie ihn nicht gesehen, und auch seine Freunde waren verschwunden. Paula war unsicher, ob sie ihn einweihen sollte, so gut kannten sie sich schließlich nicht. Paula wollte keine Freundschaft zerstören, die vielleicht Zukunft hatte. Nicht dass er sie schon jetzt für abgedreht hielt. Das wäre schade, denn es gab einfach zu wenig Menschen, mit denen sie so ungezwungen reden konnte wie mit Piet. Es bestand aber natürlich auch die Möglichkeit, dass er verstand. »Du glaubst in deinem Alter wohl noch an Wunder«, flüsterte Paula und beschloss, die Sache spontan zu entscheiden.

 

Montagmorgen

Schlosspark Oldenburg

Frieda fror. Es half nichts, sie musste sich auf den Weg zum Marschwegstadion machen und ihre Sachen holen. Sie hätte ihren Mantel in der letzten Nacht anbehalten und sich nicht nur darin einwickeln sollen. Auf der anderen Seite wäre sie mit dem dicken Mantel längst nicht so schnell gewesen und würde vermutlich gar nicht mehr hier sitzen. Hauptsache, keiner hatte ihn gestohlen. Auch wenn er Löcher aufwies und an den Armen ausgefranst war, so wärmte er doch, und nicht jeder hatte ein solches Prachtstück. Dafür hatte Frieda in einer Nacht- und Nebelaktion bei einer Altkleidersammlung drei Tüten aufgerissen. An die Container kam man ja nur schwerlich heran, und im »Bunten Kaufhaus« war nichts Richtiges dabei gewesen. Es war wie Weihnachten, Ostern und Silvester an einem Tag gewesen, als sie das erste Mal in den Mantel hineinschlüpfte. Solche Schätze warfen andere Menschen weg! Er hatte sogar noch nach Reinigung gerochen, als sie ihn das erste Mal in den Händen gehalten hatte. Weicher, dunkelblauer Stoff auf rauer Haut. Immer wieder waren winzige Fäden an ihren schwieligen Händen hängen geblieben. Das hatte irgendwann aufgehört, als der Mantel nach und nach verfilzte. Sie hätte sich den Mantel gestern noch schnappen sollen. Welch ein Fehler, ihn zu vergessen.

Frieda rappelte sich auf. Streckte sich, ordnete alle Gelenke. Es knackte. Ihr Herz schlug unwillkürlich schneller, als sie sich auf den Weg machte. Es war ein Stück zu laufen. Aber jetzt, am helllichten Tag war die Gefahr sicher am geringsten, dass man sie angriff. Und wenn sie sich nicht beeilte, wäre der Mantel weg.

»Sie werden den toten Mann ja irgendwann finden«, flüsterte sie. »Und meinen Mantel, den vielleicht jemand erkennt, wenn sie einen von uns ausquetschen.« Wenn Frieda am Marschweg ankäme, galt es, sich zu sputen, damit niemand sie bemerkte und Fragen stellte. Sie hatte schließlich nichts gesehen, außer diesen Augen. Die Gesichter waren verhüllt, und es waren viele gewesen. Wenn die Polizei schon vor Ort war, musste sie verschwinden. So, als gäbe es sie nicht.

Frieda trat in die Gartenstraße, den Schal hatte sie vors Gesicht gezogen. Ob das Mädchen sie schon vermisste? Sicher war sie am Morgen dagewesen und hatte sich gewundert, warum Frieda nicht dort gesessen hatte, obwohl ihre Sachen dort lagen. Über den Mann wollte Frieda nicht nachdenken. Zu brutal hatten die Schläger auf ihn eingedroschen. Er war beileibe nicht so behände wie sie, und sie hatten all ihre Wut, woher sie immer auch kam, an ihm ausgelassen.

Frieda stand eine Weile am Tor und taxierte die Umgebung. Eine alte Frau führte ihren Pudel spazieren, beim Zahnarzt verließ ein Vater mit seinem Kind die Praxis. Eine junge Mutter schob den Kinderwagen über den Gehweg an ihr vorbei und würdigte sie keines Blickes. Dieses Bild versetzte Frieda einen Stich. Nicht nachdenken, nicht weiterdenken. Das durfte sie jetzt nicht beschäftigen. Sie musste funktionieren. Einfach funktionieren. Keine weiteren Fehler machen. Immer auf der Hut sein, sich durchs Leben schieben, als gäbe es kein Morgen. Weil es das vielleicht auch wirklich nicht gab. Es war sinnlos, den nächsten Tag zu planen. Jede Nacht könnte die letzte sein. Sie alle lebten im Jetzt, das Morgen war unklar, das Übermorgen unendlich weit weg. Und dennoch wusste Frieda stets, welcher Tag war. Sie wollte nicht völlig zerrinnen. Dann würde sie ihr Ziel aus den Augen verlieren. Dennoch galt es zu überleben. Auf der Straße, unter der Brücke. In Bushaltestellen. Meist allein. Jetzt musste sie sich das holen, was ihr gehörte. Es war wenig genug.

 

Montagnachmittag

Schlosspark Oldenburg

Piet wartete vor der Uni, hatte sich auf den Fahrradlenker geflegelt und hielt sein Gesicht in die Herbstsonne. Paulas Herz schlug unwillkürlich ein paar Takte schneller.

»Schön, dich zu sehen.« Piet richtete sich auf, als er sie erkannte. Seine warme Stimme ergoss sich wie Öl über ihre Haut. Einen Augenblick später gesellte sich Arne dazu und wollte unbedingt vorgestellt werden. Piet tat dies eher unwirsch, und sein Kumpel trollte sich rasch, als er merkte, wie unerwünscht er war. »Ich melde mich noch«, sagte er zum Abschied und grinste Paula breit an.

Piet nahm sie kurz in den Arm, und als sie seine Nähe spürte, wusste sie, dass sie ihm alles sagen durfte und auch sollte. Ganz abgesehen davon, dass sie ohnehin kein Mensch war, der gut schweigen konnte. Ihr lag das Herz stets auf der Zunge, was sich oft als Nachteil erwies, weil sie dadurch leicht angreifbar war.

»Lass uns abhauen!«, schlug sie vor und zog ihn fort. Sie holten ihre Räder und fuhren in den Schlossgarten, auch wenn der ein ganzes Stück von der Uni entfernt lag. Doch Paula mochte das Stück Grün in der Stadt, das auf sie wie eine Oase wirkte. Am Ufer des Sees befand sich eine halbrunde, helle Balustrade, dahinter erstreckte sich das Elisabeth-Anna-Palais. Auf der nahe gelegenen Wiese stand eine grüne Bank mit schön gestalteter Metalllehne. Gestiftet von Rechtsanwalt Dr. Cornelsen. Sie stammte also von Ines’ Vater, der sich gern als Wohltäter der Stadt gab. Er organisierte Benefizveranstaltungen, bei denen er allen möglichen Organisationen die dabei eingenommenen Summen zukommen ließ. Im letzten Sommer hatte er einer Obdachlosenhilfe schon zum dritten Mal etwas gespendet. Das stand natürlich immer ganz groß in der Zeitung, ein Dr. Cornelsen tat keine milden Werke, ohne dass es jemand bemerkte. »Tu Gutes und rede drüber«, war seine Devise. Dabei ließ er offenbar auch mal eine Bank zum Ausruhen springen.

Paula war es egal, ob seine soziale Ader gespielt war oder nicht. Er war Ines’ Vater, und somit wollte sie ihn nicht kritisieren. Sie würde ihre Freundschaft nicht gefährden, wobei sie zugeben musste, dass sie zu Ines’ Mutter ein wesentlich besseres Verhältnis hatte als zu ihrem Vater. Frau Cornelsen mochte Paula und motivierte sie immer wieder, genau das zu leben, was sie sich wünschte.

»Wollen wir uns kurz hinsetzen?«, schlug sie Piet vor, der das Schild ebenfalls entdeckt hatte und den Namen mit einem Schmunzeln registrierte. »Was gibt es denn so Wichtiges?«, fragte er.

Sein Blinzeln in den Augen ließ Paula zusammenzucken, ihr Herz stolperte, sie schnappte nach Luft; tatsächlich fehlten ihr für einen Moment die Worte. Sie war über ihre Reaktion selbst erstaunt und fühlte sich von ihren eigenen Gefühlen überrannt. Es wäre besser, sie behielt das im Griff. Komplikationen konnte sie nicht brauchen. Sie rückte ein Stück ab und zeigte auf einen Erpel, der sich ihnen in der Hoffnung näherte, ein Stück Brot abzustauben. Piet schob sich dennoch näher. Krampfhaft suchte sie nach einem unverfänglichen Thema, denn der Enterich war enttäuscht weitergewatschelt.

»Ist kalt geworden«, stieß sie schließlich hervor.

Piet grinste breit über das ganze Gesicht. »Das wolltest du aber nicht loswerden.« Er legte einen Arm um ihre Schulter. Dieses Mal wehrte Paula sich nicht. »Ja. Nein. Stimmt.« O Gott, was stammelte sie denn so? Was sollte Piet nur von ihr denken, wenn sie keinen klaren Satz herausbekam?

Piet sah sie abwartend an. »Leg los! So schlimm kann es ja nicht sein. Oder bist du zur Mörderin geworden? Ich könnte ja mal in der Zeitung nachsehen, ob ich was über dich finde.« Piet hatte einen Witz machen wollen, aber Paula war nicht in der Lage, darauf einzugehen. Weshalb war sie nicht selbst auf die Idee gekommen, sich eine Zeitung zu holen und nachzusehen, ob etwas passiert war? Oder wenigstens online zu schauen. Sie gab sich einen Ruck. Nun war es zu spät, sie musste Piet einweihen, sonst würde er sie tatsächlich für abgedreht halten.

Die ersten Worte fielen Paula verdammt schwer. Kaum aber waren sie ihr über die Lippen gekommen, sprudelte die ganze Geschichte aus ihr heraus. Piet wirkte beeindruckt. Er schob die Unterlippe anerkennend vor. »Du kümmerst dich seit Wochen um diese Frau? Wahnsinn.«

»Na, kümmern ist übertrieben«, wehrte Paula ab. Ein belegtes Brot zu schenken, hatte eher was von einem Almosen. Aber es war eine Art Beziehung, das schon.

»Und nun ist sie weg? Einfach so?«, hakte er nach.

»Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Merkwürdig«, sagte Piet. »Vor allem, weil sie so überlebenswichtige Dinge zurückgelassen hat. Ich meine, für die Frau wichtige Dinge.«

»Das finde ich nämlich auch. Ich werde gleich zur Polizei gehen. Da stimmt was nicht. Ich mache mir Sorgen.« Nun war es ausgesprochen. Paula war darüber sehr erleichtert. Es war wie ein Befreiungsschlag.

»Ist es nicht besser, ein paar Tage zu warten?«, fragte Piet.

»Es kann doch sein, dass sie morgen wieder da ist.« Paula zuckte mit den Schultern.

»Ich kann mir vorstellen, dass sie demnächst zurückkommt«, sagte er vorsichtig, dabei streifte seine Nasenspitze ihr Haar. »Sie wird ihre Sachen abholen. Wie soll sie sonst schlafen? Es wird doch immer kälter. Und ich glaube auch nicht, dass sie auf die liebgewonnene Angewohnheit verzichten wird, von dir beschenkt zu werden. Außerdem ist sie nicht sesshaft, ich denke, da ist es normal, dass sie nicht ständig zur gleichen Zeit am selben Ort ist, oder?«

Paula schüttelte entschieden mit dem Kopf. »Sie saß dort seit Wochen jeden Tag. Da stimmt etwas nicht. Ich will nur nachfragen, das ist doch nichts Schlimmes und schadet nicht.«

»Und wenn sie dich nicht ernst nehmen? Allzu viel hast du da nicht in der Hand. Dir ist nicht einmal ihr Name bekannt.« Piet runzelte die Stirn.

Enttäuscht rückte Paula von ihm ab. »Ich werde keine Nacht mehr ruhig schlafen können, wenn ich dem nicht nachgehe. Stell dir vor, es ist doch etwas passiert, und ich habe nichts, aber auch gar nichts unternommen! Ich will nicht weggucken, verstehst du das denn nicht?«

Piet stupste sie an. »Du bist ohnehin nicht umzustimmen. Dein Ruf als Sturkopf eilt dir schließlich voraus. Ich hätte es wissen müssen. Obwohl ich die Aktion für maßlos übertrieben halte.« Er stand auf. »Wo willst du es melden?«

»Ich dachte an die Wache im Friedhofsweg.«

»Die in der Innenstadt liegt aber viel näher«, gab Piet zu bedenken. »Was hältst du davon, wenn wir zuerst alle Treffpunkte der Obdachlosen abfahren und schauen, ob sie irgendwo ist? Finden wir sie nicht, begleite ich dich zum Friedhofsweg. Ist ja auch die größte Wache. Ob das von Vorteil ist, weiß ich nicht. Egal. Das Wetter ist gut, und noch eine kleine Tour durch die Stadt schadet ja nichts.«

Zunächst radelten sie zur Lambertikirche. Dort war es ruhig. Am Montagmorgen waren nur wenige Menschen in der Innenstadt.

»Hier ist niemand«, stellte Paula enttäuscht fest.

»Also auf zum Netto-Markt und zur Diakonie!« Piet setzte sich wieder aufs Rad. Nach zehn Minuten erreichten sie auch diese Punkte.

»Nichts, Piet. Es ist zwecklos.«

Piet aber gab nicht auf und sprach einen der Männer an. Der hielt den Kopf gesenkt und gab sich taub. Eine Frau suchte sofort das Weite.

»Das bringt wohl nichts.« Er zuckte enttäuscht mit den Schultern.

»Ob es sich lohnt, noch zur Brücke am Westfalendamm zu fahren?«, fragte Paula zweifelnd.

»Jep. Wir müssen erst alles versucht haben. Sonst brauchen wir nicht zur Polizei zu gehen.«

Sie radelten weiter, Piet schwitzte. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich an deiner Seite zu solch einem Sportprogramm komme«, sagte er grinsend, während sie durch das Gerichtsviertel und von dort zum Westfalendamm fuhren.

Die Hunte befand sich linker Hand, das Wasser lag in der Sonne glitzernd da. Schließlich erreichten sie den großen Platz unter der Autobahnbrücke. Über ihren Köpfen dröhnte der Verkehr. »Sieht nicht so aus, als wäre hier wer«, raunte Paula.

Sie umrundeten den dicken Pfeiler. Hier lagen nur halb leere Flaschen herum, ein Stück Butterbrotpapier tanzte in der Luft, als eine Böe es anhob. »Die sind nur nachts hier. Dann schlagen sie ihre Lager auf und rotten sich zusammen.« Paula kam ihr Vorhaben plötzlich so sinnlos vor. »Lass uns die Sache einfach vergessen«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, es ist einfach so, wie es ist.

Piet sah sie zweifelnd an. »Sicher?«

»Sicher!«

Paula ging mit gesenktem Kopf zurück zum Rad und wollte nur noch nach Hause. Sie fuhren unterhalb der Autobahnbrücke weiter, am OLantis-Bad vorbei, bis sie am Marschweg ankamen. Unschlüssig stoppte Paula. Noch ein kurzes Stück nach links, und sie wäre zu Hause.

»Was ist?« Piet wäre ihr fast ins Hinterrad gefahren.

Paula deutete nach rechts in Richtung Haltestelle. »Ich seh nur kurz nach, ob ihre Sachen da noch liegen.«

Schon von Weitem sah sie, dass der Mantel und die Matte weg waren. »Sie hat alles geholt«, sagte sie zu sich. »Ganz sicher hat sie das! Es geht ihr gut.« Paula betrachtete das Plastikhäuschen eingehend. Sie näherte sich, umrundete die Haltestelle noch einmal, als ob sie dort etwas finden würde, was sie weiterbrachte. Es war genauso wie am Morgen. Im Gebüsch hing allerdings ein gelber, ziemlich schmutziger Schal, den sie vorhin nicht bemerkt hatte. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Und was ist, wenn doch jemand anders die Sachen geklaut hat? Hier stimmt was nicht, ich weiß nur nicht was!«

Piet schwieg. Er hatte sein Handy herausgeholt und tippte auf der Tastatur herum.

Als Paula die Umgebung in sich aufsog, um nichts, aber auch wirklich gar nichts zu verpassen, wurde sie das mulmige Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Sie blickte sich um, suchte nach den Augen, die sie in ihrem Rücken zu spüren glaubte. Doch auf dem rückwärtigen Weg pickten nur zwei Spatzen an einem Brötchen herum, und eine Saatkrähe beäugte ein paar Meter daneben eine achtlos weggeworfene Pommestüte.

Sie betrachtete noch einmal die Werbewand, an der die Frau gelehnt hatte. Darum herum lagen Zigarettenkippen auf dem grauen Pflaster, einer der orangefarbigen Sitze war seit gestern völlig zerkratzt. Hinter ihr knackte es, dann ertönte das Krächzen der Krähe. Sie fuhr herum, doch der große Vogel hatte lediglich die beiden Spatzen vom Brötchen verscheucht. Dennoch glaubte sie eine Bewegung hinter dem weißen Häuschen am Tor zum Stadion bemerkt zu haben. Doch diese Befürchtung bestätigte sich nicht. Hier gab es nichts zu sehen, nichts herauszufinden. Die Frau war weg, der Mantel und die Matte ebenfalls, wer auch immer beides geholt haben mochte. Paula schnappte sich ihr Rad. Nun war sie es, die die Krähe verjagte.

Piet schien erleichtert und steckte das Handy in die Jackentasche. »Sie hat die Sachen abgeholt. Alles ist gut!«

Paula nickte. »Wahrscheinlich hast du recht, aber …«

»Was aber?«

»Hast du nicht auch eben gedacht, dass da jemand war? Einer, der uns beobachtet hat?«

Piet seufzte: »Ich habe eben die Online-Nachrichten gecheckt, aber nichts gefunden. Lass uns zur Polizei gehen! Dann bist du beruhigt. So bringt das doch nichts! Du machst dich ja verrückt!« Piet zupfte Paula am Ärmel. »Nun komm. Ich begleite dich.«

 

Montagmittag

Marschwegstadion Oldenburg

Frieda sah das Mädchen mit einem Jungen auf die Haltestelle zuradeln. Sie suchen mich tatsächlich, dachte sie und drückte die Isomatte fest an sich. Noch war es still an der Haltestelle, man hatte den Mann also noch nicht gefunden, wohin auch immer sie ihn verschleppt hatten. Frieda wollte bloß weg von hier, aber jetzt war dieses Mädchen dort! Sie entfernte sich Schritt für Schritt rückwärts und versteckte sich so, dass sie nicht gesehen werden konnte. Im Augenblick erschien es ihr besser, unsichtbar zu sein.

Nun kauerte sie ein Stück entfernt und beobachtete die beiden. Das Mädchen suchte die Umgebung ab. Warum tat sie das? Wusste sie davon, was in der Nacht passiert war? Der Junge tippte auf der Handytastatur herum und wirkte unruhig. Und dann erkannte sie ihn … Er war doch … Frieda war sich nicht sicher. Sie drehte sich um, rannte los und verschwand in der nächsten Seitenstraße. Sie hetzte durch die Straßen, als wäre der Teufel hinter ihr her. Sie hätte alles lassen sollen. Es wäre besser für alle gewesen. Viel besser. Doch nun war es zu spät. Es gab kein Zurück. Der alte Mann war schon tot, sie wäre die Nächste. Es war kein zufälliger Anschlag gewesen. Sie hatten sie töten wollen. Nur sie allein. Und sie ahnte, warum.

Frieda flitzte in Richtung Innenstadt, dort konnte sie am besten untertauchen, dort bemerkte man sie nicht, wenn sie zwischen den Häuserzeilen saß. Zuvor aber brauchte sie eine Toilette, sie wollte sich waschen. Es wurde immer schwerer, eine öffentliche zu finden, denn die meisten kosteten Geld, das sie nicht hatte. Aber wenigstens hatte sie ihren Mantel und die Matte wieder.

 

Montagnachmittag

Polizeidienststelle am Friedhofsweg

Paula und Piet radelten über den Theaterwall in die Auguststraße, bis sie den Friedhofsweg erreicht hatten. »Von der Uni aus wäre es näher gewesen«, keuchte Piet, als sie vor dem großen Waschbetonbau mit den braunen Fenstern standen, einem mehrgeschossigen Gebäude mit dem Charme der Siebzigerjahre. Die Flotte an blau-silbernen Einsatzfahrzeugen auf dem Gelände um das Haus herum wirkte einschüchternd. Sie stellten die Räder ab und liefen die Rampe vor dem Gebäude hinauf. »Willkommen in der Polizeiinspektion Oldenburg/Ammerland«, zitierte Piet.

Sie klingelten an der Wache und wurden sofort eingelassen. Piet schob Paula rechts zu einer Tür, wo sie sich anmelden mussten. Die Frau am Tresen war sehr freundlich, was Paula sichtlich entspannte. »Was führt Sie zu uns?«

Paula druckste herum, sah sich suchend nach Piet um, der sich aber schon wieder auf den Flur verkrümelt hatte. Mühsam brachte sie ihr Anliegen vor.

»Sie vermissen also eine Frau?« Paula nickte.

»Nehmen Sie einfach draußen in der Sitzecke Platz. Sie werden dann aufgerufen. Kann aber etwas dauern. Heute steppt hier der Bär!«

Paula ging hinaus und betrachtete die bunten Türen, die vermutlich Vertrauen signalisieren sollten. Sie stand unschlüssig vor den Stühlen, war nicht sicher, ob sie sich setzen sollte oder nicht.

Piet wies auf einen der Stühle. »Wie beim Doc«, grinste er.

»Jetzt heißt es abwarten und keinen Tee trinken.« Er sah sich nach einem Kaffeeautomaten um, doch Fehlanzeige. Eine Blume befand sich zur Zierde in der Ecke, an der Wand hing ein Stadtplan von Oldenburg. Lediglich die vielen Flyer mit Hilfsangeboten, die auf einem Regal gegenüber ausgelegt waren, lockerten den tristen Warteraum auf. Immer wieder eilten Polizisten an ihnen vorbei, nickten mechanisch zum Gruß, ohne jedoch die Menschen auf den Fluren zu beachten. Ein schwacher Duft von frisch gebrühtem Kaffee waberte durch die lichtarmen Gänge, wenn sich eine der Türen öffnete. Die anderen, größtenteils armseligen Gestalten, die geduckt auf den Stühlen kauerten, schienen keinerlei Veränderung ihrer Umgebung zu registrieren. Kaum einer hob neugierig den Blick, als Paula und Piet sich dann doch dazusetzten.

»Paula, ich streiche die Segel«, flüsterte Piet, als sie eine Weile herumsaßen und Löcher in die Luft stierten. »Das hier ist nichts für mich.« Bei seinen Worten drehte er sich immer wieder unruhig um und taxierte die Umsitzenden.

»Was heißt das? Haust du ab?«

»Nein«, beruhigte Piet sie. »Ich gehe aber nicht mit rein. Besser, ich warte auf diesem mit Bohnerwachs getränkten Flur.« Er warf sich rücklings gegen die Stuhllehne und erhob beide Hände.

Paula konnte ihm nicht böse sein. Die Polizei war nicht jedermanns Sache. »Kein Ding, du Feigling, dann mache ich das eben allein«, beruhigte sie ihn. Der Raum leerte sich, bis nur noch Paula und Piet dort saßen. »Sag ich doch: wie beim Doc«, flüsterte Piet. Er stand auf und holte sich einen der Flyer und blätterte lustlos in ihm herum.

Nach etwa einer halben Stunde wurde Paula von einem großen bärtigen Mann abgeholt, der sie erst über den Flur, dann links in einen schmalen Raum führte. Anzeigenaufnahme 1, sagte das Schild an der grün-gelben Tür. Der Polizist wies sie mit einer einladenden Handbewegung in das Zimmer und schloss die Tür. Paula stand etwas hilflos herum, betrachtete das im unteren Teil mit Milchglasfolie abgeklebte Fenster. Ein bisschen hatte dieser Raum etwas von einem zu klein geratenen Klassenzimmer, allein schon wegen der Fenster mit der darunterliegenden Steckdosenleiste.

»Bitte setzen Sie sich doch!«, forderte der Polizist sie auf. Sein Lächeln war freundlich und wirkte nicht aufgesetzt, sodass Paula etwas Mut für ihr ungewöhnliches Anliegen fasste.

Sie atmete tief ein. Der Raum war stickig, ein offenes Fenster wäre eine Wohltat gewesen. Doch sie wollte niemanden verärgern und beschloss, sich auf ihre Fragen zu konzentrieren.

Das Telefon klingelte. »Bitte entschuldigen Sie.« Der Polizist antwortete nur knapp mit einem gelegentlichen Ja oder Nein. Er hatte die Knie übereinandergelegt und schloss beim Antworten immer konzentriert die Augen. Auf dem Gang klangen Schritte und entfernten sich wieder. Von draußen ertönte ein Martinshorn.

Paula ließ ihren Blick über die Wand streifen, die in demselben gelblichen Grün wie die Tür gestrichen war und keinerlei Schmuck wie Bilder oder Ähnliches aufwies. Auf dem Flur war es mittlerweile still geworden. Es gab nur sie und diesen telefonierenden Polizisten. Und die verschwundene Frau, deren unbekanntes Schicksal Paula hierherverschlagen hatte. Je länger das Telefonat dauerte, desto unruhiger wurde sie. Es war dumm gewesen, jetzt schon die Polizei zu informieren. Schließlich hatte sie mit allem nichts zu tun. Die Sachen waren weg, wonach sollten die Polizisten suchen? Piet und Ines hatten recht: Es war blödsinnig, die Zeit hier zu verschwenden.

Da ihr Gegenüber abgelenkt war, stand Paula leise auf und ging rückwärts zur Tür. Sie hoffte, dass der Polizist es gar nicht bemerken würde, wenn sie genauso plötzlich verschwand, wie sie aufgetaucht war. Doch noch bevor sie die Klinke herunterdrücken konnte, beendete er das Gespräch.

»Bitte, setzen Sie sich wieder! Schröder mein Name. Was kann ich für Sie tun?« Er rückte seine Brille zurecht.

Paula kam sich unglaublich dämlich vor. Wie eine Schülerin vor der Prüfung.

»Wollen Sie sich nicht wieder setzen?«, forderte Herr Schröder sie ein weiteres Mal auf.

Paula quetschte sich auf die vorderste Kante des Holzstuhls. Ihre Hände waren schweißnass, sie wusste gar nicht, wie sie beginnen wollte. Wer kam schon mit einem so merkwürdigen Anliegen?

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Meine Kollegin sagte, dass Sie jemanden vermissen?«

Da Paula nicht gleich antwortete, tippte der Polizist auf der Tastatur des Computers herum und murmelte etwas davon, dass er zunächst ihre Personalien brauche. Als er alles aufgenommen hatte, lehnte er sich in dem schwarzen Bürosessel zurück und sah Paula abwartend an. Sie atmete einmal tief ein, erzählte, was sie wusste, und schloss mit den Worten:

»Und nun möchte ich einfach wissen, ob der Frau etwas zugestoßen ist.«

Der Polizist zog die Brauen hoch. »Es geht also um eine obdachlose Mitbürgerin, die Sie vermissen?«, wiederholte er.

»Und Sie haben schon alle Orte abgefahren, wo sie hätte sein können?«

Paula saß ein dicker Kloß im Hals, und sie verfluchte sich selbst, dass sie hergekommen war. Obwohl der Kommissar kein Wort sagte, brannte die Luft. Es war eindeutig, dass der Mann ihr Anliegen für äußerst suspekt hielt. Eine Weile herrschte Schweigen, das der Polizist brach, als die Situation unangenehm wurde. »Und Sie sind sicher, dass sie jeden Morgen dort saß?«, fragte er schließlich, wohl mehr, um überhaupt etwas zu sagen.

Vom Gang drangen wütendes Schreien und eine tiefe Stimme zu ihnen und durchbrachen die zuvor herrschende Stille. Von dem Augenblick an wirkte der Polizist gehetzt. »Nebenan randaliert offensichtlich ein Betrunkener. Sie müssen entschuldigen, aber da dreht einer völlig durch.«

Paula überhörte seine nächste Frage, weil ein weiterer Schrei ertönte.

Herr Schröder räusperte sich. »Ich fragte, wie die Dame heißt? Die, die Sie vermissen.« Seiner Stimme, die zu Beginn noch recht väterlich geklungen hatte, war der Unmut jetzt anzumerken.

Paula zuckte mit den Schultern. »Den weiß ich leider nicht.«

»Sie wissen also nichts über sie. Keinen Namen, nicht, mit wem sie zusammen war. Gar nichts, habe ich das richtig verstanden?«

»Ich kann ihnen nur sagen, warum ich mir Sorgen mache. Sie war seit Wochen jeden Morgen da. Nun ist sie fort und hat ihre Sachen zurückgelassen. Das ist doch merkwürdig.«

Der Polizist war mit seiner Geduld am Ende und stand demonstrativ auf. Er schüttelte den Kopf, während er Paula mit einer auffordernden Handbewegung zur Tür geleitete.

»Junge Frau! Ich glaube, wir verschwenden hier unsere Zeit. Was glauben Sie, sollte ich in so einem Fall tun?« Er legte den Kopf ein wenig schief. »Sie wissen nicht, wie die Frau heißt. Sie wissen nicht, warum sie abtauchen sollte. Erst sagen Sie, ihre Sachen liegen noch dort, dann sind sie doch verschwunden. Sie merken selbst, wie eigenartig ihre Aussage ist?«

Paula nickte. »Trotzdem mache ich mir Sorgen! Ist denn heute etwas geschehen? Ist einer obdachlosen Frau etwas angetan worden?«

Herr Schröder seufzte. »Sie wissen so gut wie ich, dass ich ihnen keine Auskünfte geben darf. Sie sind nicht verwandt oder verschwägert oder stehen sonst wie in einer Beziehung zu der Frau. Ich würde meine Kompetenzen überschreiten. Ich denke, Sie gehen jetzt besser.«

»Ich will nur wissen, ob in der vergangenen Nacht etwas am Marschweg passiert ist. Bitte!«

»Junge Frau …«, wiederholte er.

»Ich heiße Paula Eisenstein«, sagte sie.

»Finden Sie ihr Anliegen nicht selbst merkwürdig?«

Paula schüttelte energisch den Kopf.

Herr Schröder ging zurück zu seinem PC und tippte ein paar Angaben hinein. »Ich verstehe sogar Ihre Motivation. Aber Sie wissen selbst, dass mir die Hände gebunden sind. Selbst wenn ich etwas wüsste.« Er stand erneut auf und schob Paula zur Tür. »Tut mir wirklich leid.« Er verabschiedete sich und ging nach nebenan, wo der Lärm merklich zugenommen hatte.

»Gescheitert.« Paulas Stimme klang resigniert, als sie bei Piet angelangt war, der auf dem Stuhl vor sich hin döste.

»Lass uns was essen gehen!«, schlug der vor. »Ich lade dich zu einem Burger ein.«

Sie sagte zu, weil sie sich unbedingt beruhigen musste.

 

Montagnachmittag

Schnellrestaurant in Oldenburg

Nähe Polizeidienststelle Friedhofsweg

»Du isst ja gar nichts«, bemerkte Piet, als Paula die Salatblätter aus dem Burger sortierte, anstatt hineinzubeißen.

»Keinen richtigen Appetit. Bin zu nervös. Und verärgert.« Piet legte seine Hand auf ihre. »Ist wirklich dumm gelaufen.«

Sie erwiderte den leichten Druck seiner Finger. »Es ist so frustrierend, dass ich nicht weiterkomme. Als ich in der Wache war, kam ich mir so klein vor, als wäre ich aus dem Sandkasten ausgebrochen.« Sie machte eine Pause. »Und dummerweise habe ich mich offenbar auch genauso benommen.«

Hinter Piets Stirn arbeitete es. »Es klingt blöd«, sagte er schließlich, »und ich weiß, dass du es nicht hören möchtest, aber du musst die Sache ganz schnell vergessen. Sie wird wieder auftauchen oder auch nicht. Nur ändern kannst du es nicht. Du verschwendest deine Zeit.«

Paula hörte gar nicht hin. »Kommst du mit? Ich fahre noch einmal zur Haltestelle.«

»Paula! Ich habe dir gesagt, was ich von alldem halte, vergiss es einfach! Bitte!«

»Ich soll also allein fahren?«

Piet nickte entschieden. »Das musst du wohl. Kann ich deine Reste aufessen?« Er war mit dem Thema durch.

Paula war es egal. Sie deutete mit dem Kopf auf das auseinandergenommene Brötchen. Sollte er doch essen, was er wollte. Die vertraute Stimmung war ohnehin verflogen, und der Appetit war ihr endgültig vergangen. Piet verschlang den Burger mit wenigen Bissen, und sie verließen das Schnellrestaurant.

Im Gehen wandte er sich noch einmal um. »Sehen wir uns später? Nachdem du deine Detektivarbeit beendet hast? Ich werde mit Arne und den Jungs in die Umbaubar aufbrechen. Würde es gut finden, wenn du ihn und die anderen kennenlernst.«

Die Lust, etwas mit Piet zu unternehmen, war Paula nach der Pleite von eben vergangen. Und Arne zu treffen, war ebenfalls nicht das, was sie sich für heute noch als gelungen vorstellen konnte, nach allem, was sie bislang von ihm gesehen und gehört hatte. Aber allein zu Hause zu sitzen, war auch blöd. »Wo ist die Umbaubar denn jetzt? Die zieht doch alle zwei Jahre um, soweit ich weiß.«

»Immer dem Mietspiegel nach«, grinste Piet und nannte ihr die Adresse. »Heute ist ab einundzwanzig Uhr Mucke, ab zwanzig Uhr können wir rein.«

Paula versuchte ein missglücktes Lächeln, das Piet ihr tatsächlich abnahm. »Wer spielt?«

»Sushi Drive In. Cooler Punk-Rock. Die haben es echt drauf. Die haben neulich erst bei ›Rock gegen Rechts‹ auf dem Marktplatz an der Lambertikirche gespielt. Da ging die Post ab, und ich denke, auch heute rocken sie die Bude. Ich werde kurz nach acht da sein.«

»Ich überlege es mir. Klingt verlockend.«

»Ich spendier dir auch die ›Herrenhandtasche‹ und einen Schnaps. Kostet nur neun Euro.«

Paula knuffte ihn in die Seite. »Was soll ich mit einem Sixpack? Sechs Bier, brrr. «

Piet grinste sie an. »Nach dem Stress dachte ich, das würde dir guttun.«

»Blödmann«, entgegnete Paula. »Als ob ich deswegen zum Alkoholiker mutieren müsste. Ich mach mich dann jetzt mal auf den Weg.«

»Wir sehen uns dann spätestens um neun?«

»Mal sehen!«

Piet fuhr in Richtung Innenstadt, Paula machte sich auf den Weg zum OLantis-Bad.

 

Montagabend

Marschweg

Als Paula sich der Haltestelle näherte, überlegte sie, noch einmal allein zur Brücke am Westfalendamm zu fahren. Es war nun mal der Ort, wo sich ein paar der Obdachlosen gegen Abend in einer Art Lager versammelten, wenn es kühler wurde. Sie wurden stillschweigend geduldet.

»Ich könnte noch einmal hingehen und sehen, ob ich sie da finde«, murmelte Paula, wusste aber gleichzeitig, dass sie das nicht tun würde. »Ich muss die Sache vergessen. Ich kenne die Frau nicht, und ihr Leben geht mich nichts an.« Es wurde langsam Zeit, nach Hause zu gehen. Sie musste sich dringend ablenken. Es war eine blöde Idee gewesen, noch einmal hier vorbeizukommen. Schluss jetzt mit alldem! Paula bestieg ihr Rad und zuckte zusammen, als sie hinter sich eine Bewegung wahrnahm. Plötzlich war es still, nicht einmal die Autobahn dröhnte. Vorsichtig blickte sich Paula um und war froh, als der nächste Laster mit seinem Getöse die Stille zerschnitt. Der bedrohliche Augenblick war vorbei.

Paulas WG lag in der Nähe der Haltestelle, und kaum war sie dort angekommen, knurrte ihr Magen. Sie hatte richtig Hunger, ärgerte sich über den verschmähten Burger.

Ihre Mitbewohnerin Lisa hatte in der Küche einen Zettel hingelegt und Paula gebeten, doch bitte das Bad gründlich zu reinigen. »Vergiss vor allem die Toilette nicht! Ich habe Kloreiniger besorgt, und der ist nicht zum Angucken gedacht.« Immerhin prangte ein Smiley auf der Botschaft. Paula würde sie vorerst ignorieren und die Aufgabe später erledigen.

Missmutig öffnete sie den Kühlschrank, der nicht gerade vor Leckereien strotzte. Sie war noch nicht einkaufen gewesen. Es war an der Zeit, wenn sie nicht verhungern wollte. Lisas Seite hingegen war auf jedem Zentimeter mit Essbarem belegt. Paula schnitt sich ein Stück Brot ab und klaute Lisa etwas Gouda. Sie würde ihr den Käse später ersetzen. Ihre Mitbewohnerin hatte die Scheiben bestimmt gezählt, es war besser, wenn Paula alles auf einem Zettel dokumentierte und ihn auf den Kühlschrank legte. Paula streute ein paar getrocknete Kräuter über ihr Brot und biss hinein. Was war das heute für ein frustrierender Tag gewesen. Die Küchenuhr tickte überlaut und machte das Alleinsein deutlich. In solchen Momenten bekam Paula regelmäßig Heimweh. Es war besser, sich im Zimmer zu verkriechen, den Fernseher einzuschalten und sich berieseln zu lassen, als die Stille in der Küche auszuhalten.

Zuerst zappte sie durch die Programme, aber entweder lief gerade irgendwo Werbung oder ihr sprudelte eine dämliche Ami-Sendung mit eingespielten Lachern mit aufgesetzter Fröhlichkeit entgegen. »Also Instagram und Co. oder die Nachrichten auf T-Online«, seufzte Paula. Sie grub ihr Notebook unter einem Stapel Mappen hervor und fuhr es hoch. Zur Ablenkung arbeitete sie sich einmal durch die sozialen Netzwerke. Eigentlich war sie kein großer Fan davon, aber es war eine gute Möglichkeit, dieses unangenehme Gefühl zu verdrängen. Sie kannte etliche Leute, die ohne diese Communitys gar nicht mehr sein konnten. Paula hatte festgestellt, dass die beim Kennenlernen am häufigsten gestellte Frage »Was machst du so?« abgelöst worden war von »Bist du bei Insta?« Vielleicht war es für Piet deshalb leicht gewesen, schnell ihr Vertrauen zu erwerben. Er hatte nämlich genau das nicht gefragt. Der Computer dudelte sich mit seinem monotonen Singsang hoch, spuckte ihr entgegen, dass sie drei nicht gelesene Nachrichten hatte.

Drei Nachrichten, eine miese Ausbeute. Eine war von Ines, in der sie noch einmal nachhakte, was sie am Wochenende von einem Tänzchen im Twister hielt, die andere war ein Spam. In der dritten fragte Arne sie ernsthaft, ob sie ihn mal zu Hause besuchen wollte. Er hätte ein paar gute Ideen, wie man die Stunden herumbekam. Jetzt, wo sie doch mit Piet befreundet sei, könne sie ihn auch mal kennenlernen. Er musste sich ernsthaft die Mühe gemacht haben, von irgendwem die Mailadresse zu bekommen. Dennoch machte sie diese Unverfrorenheit wütend. Sie war kurz versucht, das Notebook in die Ecke zu pfeffern, doch dann beherrschte sie sich. Sie konnte sich kein neues leisten. Am Ende klappte sie nur den Deckel zu und atmete einmal tief durch.

Es war eine gute Idee, heute Abend in die Umbaubar zu gehen. Allein, um Arne den Marsch zu blasen. Ob er sich in diesem Fall über ihr Erscheinen freute, blieb dahingestellt.

 

Montagabend

Umbaubar

Konzert Sushi Drive in

irgendwo in Oldenburg

Kurz vor sieben hastete Paula los. Doch als sie auf den Marschweg trat, stoppte sie kurz. Ihr war, als hätte sie schon wieder einen Schatten gesehen. Paula schüttelte den Kopf, ging in den Hinterhof und schloss ihr Fahrrad auf. Es war wirklich gut, sich heute Abend mit etwas anderem zu beschäftigten. Sie sah ja schon Gespenster!

In der Umbaubar war es stickig und brechend voll. Oben war die Raucherebene, unten wippten schon die Ersten im Takt, während Sushi Drive In gerade dabei waren, die Instrumente aufzubauen und den ersten Soundcheck zu machen. Der dunkelhaarige Drummer legte richtig los, sodass Paula ihr eigenes Wort nicht verstand, als sie sich zu ihren Freunden durchfragen wollte. Sie kämpfte sich zum Tresen, wo sie Piet und seine Freunde vermutete. Vorsichtshalber hatte sie Piet noch eine WhatsApp geschickt, doch er hatte nicht geantwortet.

Als Paula den Lärm um sich herum wahrnahm, war ihr klar, warum nicht. Hier war es unmöglich, auch nur einen anderen Ton neben dem Musikgedröhne und dem Stimmengewirr herauszuhören. Am liebsten wäre sie wieder umgedreht.

Die Clique stand tatsächlich in einem dichten Pulk neben dem Tresen um einen Stehtisch herum. Wortführer war Arne, dessen Gestik so ausufernd war, dass kein Zweifel an seiner Rolle bestand. Er war der Anführer, er hatte das Sagen. Und er schrieb anzügliche Mails hinter dem Rücken seiner Freunde. Paula war noch nicht sicher, ob sie Piet davon erzählen sollte. Als Piet Paula sah, schälte er sich aus der Gruppe. »Geht es dir besser?«, schrie er ihr ins Ohr.

»Nein«, brüllte sie zurück. Wenn das weiter so ging, war sie binnen kürzester Zeit völlig heiser. »Aber das wird schon wieder.« Sie kämpfte sich zum Tresen und bestellte eine Apfelschorle.

Als Arne sie entdeckte, gesellte er sich sofort zu den beiden und fixierte Paula auf seine unnachahmliche Art. Es war ihr unangenehm, und gleichzeitig war sie eigentümlich fasziniert. »Paula, welche Ehre!« Er verneigte sich theatralisch.

»Ist ja richtig was los hier!«, kreischte sie gegen den Lärm an. Der Drummer war mit dem Soundcheck fertig, nun wurden Bass und Gitarre abgemischt. In Paula kam Freude auf den heutigen Abend auf. Die Musik klang vielversprechend.

Arne taxierte sie noch immer, und dann war es wieder da: dieses drohende Gefühl, das sie schon an der Haltestelle und eben vor dem Haus beschlichen hatte. Arne schien ihr Unbehagen nicht zu bemerken. »Willkommen in der Clique.« Er hob sein Bierglas und scannte jeden Zentimeter ihres Körpers ab. Paulas Knie wurden weich, ihr Gaumen trocken. Arne war ihr nicht geheuer.

Piet schien ihr Unbehagen zu bemerken, er wirkte ärgerlich. »Ich will mir das Konzert gern anhören, wollen wir weiter nach vorne gehen?«

Erleichtert nickte Paula und folgte Piet, ohne Arne noch eines Blickes zu würdigen. Mit dem Typen stimmte etwas nicht. Doch der gab nicht auf und folgte ihnen nach vorn. »Finde ich gut, dass du jetzt bei uns bist. Komisch, dass wir uns nicht eher kennengelernt haben.« Er musste Paula sehr nah kommen, damit sie ihn verstand. Seine Bierfahne umwaberte sie, als er die Hand besitzergreifend auf ihrem Hintern platzierte. Sie zuckte zurück. So etwas passierte sonst immer Ines, und die war schlagfertig genug, mit solchen Dingen umzugehen. Paula wollte sich abwenden, seinem durchdringenden Blick entfliehen, und doch kam es ihr vor, als wäre sie am Boden festgetackert. Vorsichtig drehte sie sich so, dass seine Hand von ihrem Po rutschte. In diesem Augenblick legten Sushi Drive In los. im Nu war die Tanzfläche voll und die Stimmung aufgeheizt. Auch Paula konnte nicht anders, wie von selbst begannen sich ihre Füße zu bewegen, und sogleich wurde sie von der Masse aufgesogen. Sie vergaß für eine Weile alles, was ihr heute durch den Kopf gegangen war. Ließ sich treiben inmitten der schwitzenden und zuckenden Leiber, schloss die Augen, wenn das Licht zu grell war. Paula schrak zusammen, als sie jemand von hinten antippte und von der Tanzfläche zerrte. Sie schnellte herum, und zwei grüne Augen lachten sie aus einem mit Sommersprossen übersäten Gesicht an, das von roten Rastalocken umrahmt wurde. »Ich bin Tim«, schrie er. Auch er roch nach Bier, nur lange nicht so schlimm wie Arne.

»Paula!« Sie grinste, denn Tim mochte sie sofort.

Sie sah, wie Piet winkte, und so zog sie sich zusammen mit Tim in den hinteren Teil der Umbaubar zurück, wo es nicht ganz so laut war. Eine Unterhaltung war wegen des Lärmpegels zwar weiterhin schwer, aber sie schafften es, sich mit Gestik und Mimik hervorragend zu amüsieren. Spielten Sushi Drive In einen ihrer bekannteren Songs, konnten sie aber auch hier hinten nicht umhin, sich rhythmisch zu bewegen. Es war richtig schade, als das Konzert vorbei war.

Zwischendurch checkte Paula ihre WhatsApps.

 

Wo steckst du? Wollte mit dir chillen. Könnte dich grad gut brauchen. Ines

 

Konzert Sushi Drive In, Umbaubar.

 

Dazu hab ich keine Lust. Hast du die Frau noch gesucht?

 

War sogar bei der Polizei.

 

Dir ist nicht zu helfen, barmherzige Samariterin. Schade, dass du nicht da bist. Hier herrscht echte Krise. Meine Eltern … Sch…

 

Was ist mit ihnen?

 

Ehekrise. Absolute Ehekrise. Erzähl ich dir morgen. Bis dahin! HDL Ines

 

Kann ich dir helfen??????

 

Keine Antwort.

»Hat Ines keine Lust zu kommen?«, fragte Tim, als er einen Blick auf Paulas Display warf.

»Ey, was bist du indiskret. Das ist ja wie in der Werbung«, lachte Paula. »Bitte, darf ich mal Ihre E-Mails lesen?« Sie steckte das Handy weg.

»So ist Angel eben. Indiskret bis zum Abwinken«, griente Arne, der wie aus dem Nichts wieder bei ihnen aufgetaucht war. »Probiere es besser mit mir! Ich kann schweigen!«

Paula stieß ihn weg. »Komm, Piet! Noch auf ein Bier!« Sie schleppte ihn zum Tresen und orderte ein Pils.

Als Piet Paula später nach Hause brachte, wehrte sie sich nicht, als seine Lippen ihre beim Abschied flüchtig streiften.

 

Montagabend

Dobbenwiese

Frieda wagte sich nicht zur Brücke. Wenn die Typen sie suchten, dann sicher als Erstes dort. Da, wo die anderen waren. Nur musste sie irgendwo schlafen. Sie war so müde, dass ihr beinahe die Augen zufielen. Jeder Schritt war eine Qual. Sollte sie doch ins Asyl gehen? Das Wochenende war vorbei, sie würde dort schlafen können. Außerdem konnte sie mal wieder schauen, ob Post gekommen war. Ach was, sinnlos: Es kam nie welche. Frieda schrieb man nicht. Wer auch?

Frieda hasste das Schlafen in Etagenbetten mit anderen Menschen. Es stank immer nach Qualm und Bier, nach den »Bomben« und oft nach Erbrochenem. Es war nirgendwo gut zu übernachten, weder auf Platte noch dort. Gar nichts war gut. Sie musste ihr Leben in den Griff bekommen. Irgendwie. Raus aus dem Sumpf.

Nachdem sie das Mädchen dort mit diesem Jungen gesehen hatte, war ihr so manches klar geworden. Es wäre am klügsten, aus der Stadt zu verschwinden. Bis Wilhelmshaven war es nicht weit, und doch würde es genug Abstand zu denen bringen, die ihr nach dem Leben trachteten. Ihr armseliges, kleines Leben, das nichts wert war. Nicht mehr, seitdem …

Frieda stapfte weiter. Wie sie es den ganzen Tag über getan hatte. Laufen, nicht stehen bleiben. Keine Aufmerksamkeit erregen. Nein, sie konnte Oldenburg nicht verlassen. Auf gar keinen Fall. Dann wäre alles umsonst gewesen. Und es gab vielleicht noch eine winzige Chance für sie, ihr Schattendasein zu verlassen. Sie war so weit gekommen. Der Herrgott würde sie nicht hängen lassen mit dem einen Wunsch, den sie sich noch vor ihrem Tod erfüllen wollte. Sie musste von jetzt an vorsichtiger sein.

»Der Herrgott ist nicht auf deiner Seite, Frieda«, murmelte sie. »Sonst wärst du nicht auf Platte. Der alte Mann ist nicht tot. Er hat nichts mit der Sache zu tun. Es ist deine Vergangenheit, um die es hier geht. Ganz allein deine!«

Sie erreichte die Dobbenwiese. Der See lag im Mondschein vor ihr, vereinzelte Straßenlaternen warfen Lichtkegel auf die Wiese. Der hintere Teil aber blieb im Dunklen. Vorsichtig sah Frieda sich um und betrat die Wiese. Im Sommer tummelten sich hier die Studenten und Familien zuhauf, jetzt aber lag sie einsam vor ihr. »Ich werde mir eine Bank suchen. Mit meinem Mantel ist es warm genug.«

Frieda näherte sich dem See. Aus einem Gebüsch ertönte Stöhnen. Ein Liebespaar gab sich seinen Gefühlen hin. Nichts Gefährliches. Frieda steuerte eine Bank an, doch die war schon mit einem Kollegen besetzt, der sie aber nicht bemerkte. Seinen Kopf hatte er auf seine Plastiktüte gebettet, auf dem Weg lag eine leere Weinbrandflasche. Auch eine Möglichkeit, die Realität zu vergessen und nicht zu frieren. Zu verdrängen, wenn man abgetakelt war und kein Geld mehr in der Tasche hatte.

Hinter dem nächsten Gebüsch aber war Platz. Bis hierher drang kein Lichtschein, hier war sie für sich, um wieder eine Nacht draußen zu überstehen. Eine Nacht, in der sie sich ihren Hoffnungen hingab, in denen sie von Zeiten träumte, die sie vermutlich niemals haben würde. Frieda breitete ihre Matte auf der Bank aus, stopfte die Alditüte, ihrem Kollegen gleich, unter den Kopf und kuschelte sich in den Mantel ein, der schon lange nicht mehr nach Reinigung roch.