Leseprobe Wer will schon einen Earl?

Kapitel 1

London, 1816

Wenn er ihn in die Finger bekäme, würde er seinen Cousin Rowland umbringen, das hatte sich Godric Fleming, der Earl of Visel, geschworen.

Er kam sich idiotisch vor, wie er so die Allee entlanglief in diesem lächerlichen Cape, das hinter ihm herflatterte, als wäre er eine Art Korsar. Natürlich sollte sein Kostüm genau das darstellen, zumindest das, was sich die Engländer unter einem Korsaren vorstellten.

Als er die Einmündung zur Allee erreichte, erschrak er. »Großer Gott!«

In der Straße vor dem Haus des Duke of Richland drängten sich Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Kutschen. Kein Wunder also, dass Rowland nicht wie geplant am Tor zum Garten des Dukes auf ihn gewartet hatte.

Godric betrachtete das Gedränge der stehenden Kutschen, und in seinem Kopf herrschte ein ähnliches Chaos wie hier vor seinen Augen. Vielleicht war dieses Durcheinander ein Omen, dass er seinen schlecht durchdachten Plan aufgeben sollte? Vielleicht war noch genug Zeit, um …

»Lord Visel?«

Godric wirbelte herum und entdeckte einen riesigen jungen Kerl, der wie ein Stallknecht gekleidet war.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Mr Rowland schickt mich, um Ihnen zu sagen, dass die Kutsche am hinteren Eingang wartet, Mylord.« Der junge Hüne zögerte. »Mr Rowland sagte, er muss mit Ihnen sprechen, bevor Sie die Frau holen.«

Godric biss die Kiefer so fest aufeinander, dass er Kopfschmerzen bekam; typisch für diesen Idioten Rowland, dass er weitere Mitwisser ins Spiel bringen musste. Als ob es nicht schlimm genug war, dass sie planten, die Frau zu entführen. Und jetzt musste er diesen Jungen in den Plan hineinziehen? Wen hatte der Trottel sonst noch eingeweiht? Die Times?

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Nein, er würde es nicht tun. Er konnte es nicht.

»Mylord?«, fragte der junge Mann und runzelte verwirrt die Stirn.

»Kommen Sie mit.« Godric ignorierte den Burschen und marschierte zum anderen Ende der Allee.

Ein höchst eigenartiges Gefühl durchströmte ihn, als wäre er aus einem dichten Nebel aufgetaucht, sein Kopf wurde mit jedem Schritt klarer und sein Blick schärfer. Zum ersten Mal seit Monaten, ja zum Kuckuck, seit über einem Jahr, konnte er klar sehen. Und was er sah, war verdammt erschreckend.

Godric stolperte und presste geräuschvoll die Luft aus den Lungen, während ihm die Tragweite dessen bewusst wurde, was er beinahe getan hätte.

Grundgütiger! Was zum Teufel habe ich mir dabei gedacht?

Du hast überhaupt nicht gedacht, Godric, alter Knabe, befand sein nach langer Abwesenheit wiedererwachtes Gewissen.

Nein, das hatte er tatsächlich nicht. Warum zum Geier hatte er so lange gebraucht, um festzustellen, dass er sich wie ein Wahnsinniger aufführte? Und warum war er erst jetzt wieder zur Vernunft gekommen, nachdem sie wochenlang intrigiert, geplant und sich vorbereitet hatten?

Spielt es eine Rolle, warum dir bewusst geworden ist, welche Katastrophe du heraufbeschwörst, Godric? Sei einfach dankbar, dass du es gemerkt hast, bevor es zu spät ist.

Vielleicht war es das Gespräch mit seinem geplanten Entführungsopfer, Drusilla Marlington, früher an diesem Abend gewesen, das ihn wachgerüttelt hatte? Die junge Frau hatte ihm nichts getan, sie kannten einander ja kaum, und doch hatte er sie erniedrigt und sie in die Ehe mit einem Mann gezwungen, der bereits einer Anderen den Hof machte.

Und diese ungewollte Ehe schien sich allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz zu einer Liebesheirat gewandelt zu haben? Nun, also hatte Godric entschieden, sie zu benutzen, um noch einmal dem Mann zuzusetzen, den sie geheiratet hatte: Gabriel Marlington.

Wenn er ganz ehrlich war, musste er eingestehen, dass ihm der Mann eigentlich auch nichts getan hatte. Und doch hatte Godric seit seiner Rückkehr nach Großbritannien all seine Kräfte darauf verwendet, ihn zu schikanieren.

Ich sage dir das seit Monaten, bemerkte die nüchterne Stimme in seinem Kopf.

»Verflixt und zugenäht«, schimpfte Godric leise. Das alles war ein verdammter Mist; es war absoluter Irrsinn.

Er würde in die Kutsche steigen, nach Hause fahren und versuchen, die vergangenen Monate des Wahnsinns zu vergessen. Die Erleichterung, die ihn bei dem Gedanken überfiel, hätte ihn beinahe auf die Knie sinken lassen.

Zweifellos stand ihm noch eine Menge Ärger mit seinem Cousin Rowland bevor. Der Kerl brauchte so dringend Geld, dass er seine eigene Großmutter verkauft hätte, doch Godric hatte keine Zweifel, dass er mit diesem Wurm fertigwerden würde.

Die gemietete Kutsche wartete am Ende der Allee, und im Inneren war es finsterer als die Nacht. Godric riss den Schlag auf.

»Wir verschwinden«, sagte er zu der Gestalt im rückwärtsgewandten Sitz. »Ich werde ni–«

Etwas Hartes krachte auf seinen Hinterkopf. Ein brennender Schmerz explodierte hinter seinen Augen, und er taumelte vorwärts. »Wa–«

»Schieb ihn rein, James!«

Grobe Pranken packten seine Schultern und stießen ihn vorwärts.

Godric fiel kopfüber ins Innere der Kutsche und konnte gerade eben noch den Kopf drehen, damit er nicht auf dem Gesicht landete und sich die Nase brach. Dennoch war der Aufprall so schmerzhaft, dass ihm übel wurde und sein Magen sich zusammenkrampfte, als ob er sich übergeben müsste. Er kämpfte gegen die aufsteigende Galle und biss die Zähne aufeinander.

Der Angreifer drehte ihn auf den Rücken und drückte seine Beine gegen die Brust. Jemand beugte sich über Godrics Gesicht: riesige veilchenblaue Augen blickten ihn an. Sein Gegenüber kniff die Augen zusammen und beäugte ihn kritisch. Rote, leicht geöffnete Lippen, eine seidige schwarze Haarlocke …

Er blinzelte. »S…sie …«

»Hallo, Lord Visel.«

Wer auch immer seine Knöchel festhielt gab ihm einen Schubs, und sein Kopf stieß an die gegenüberliegende Tür. Das Letzte, das er hörte, war: »Er ist ohnmächtig, James, aber du solltest ihm trotzdem lieber die Hände zusammenbinden.«

 

***

 

Eva de Courtney, die mittlere und am wenigsten geliebte Tochter des Marquess of Exley, kaute auf ihrer Unterlippe und betrachtete den Mann, der zusammengekrümmt auf dem Boden der Kutsche lag.

»Da ist er also. Was haben Sie jetzt mit ihm vor, Mylady?« James hatte darauf bestanden, mit ihr die Plätze zu tauschen, hatte sich mit einem störrischen Ausdruck in den rückwärtsgewandten Sitz gezwängt und die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt.

»Sie wissen, was ich vorhabe.«

Für seine Körpergröße gab der Mann ziemlich schwächliche Töne von sich.

»O Lady Eva, sind Sie sicher, dass Sie nicht vielleicht …«

»Ich bin ganz sicher.«

»Sie wissen doch überhaupt nicht, was ich sagen wollte.«

»Ich konnte bereits Ihre Gedanken lesen, als wir noch beide gekrabbelt sind, James Brewster. Sie wollten versuchen, mir meinen Plan auszureden. Zum wiederholten Male.«

Eva musterte den Earl und stieß mit der Spitze ihres Stiefels den bunten Turban von Lord Visels Kopf. »Sehen Sie sich das an«, sagte sie.

James beugte sich vor. »Was denn?«

»Der Trottel hat sogar seine Haare gefärbt.« Sie tauschte einen kurzen Blick mit ihrem Stallknecht und längsten Freund. »Wenn Sie das nicht überzeugt, dass er irgendetwas Übles im Schilde führte, weiß ich es auch nicht.«

»Ich habe nie behauptet, dass er nichts im Schilde führt, Mylady. Ich weiß, dass er etwas vorhatte. Ich denke bloß, dass dies nicht die einzige – und sicher nicht die beste – Art ist, das zu regeln.«

Eva stieß ein scharfes Zischen aus, das sie sich von ihrer Stiefmama, Lady Euphemia Exley, abgeschaut hatte. Sie fand, das Geräusch war die perfekte Reaktion auf die meisten saublöden Dinge, die Männer meinten, von sich geben zu müssen.

»Nun, jetzt ist es zu spät, darüber zu streiten oder sich anders zu entscheiden. Er hat mich gesehen, also können wir ihn wohl kaum bei seiner Unterkunft absetzen, als ob nichts geschehen wäre. Er würde uns die Konstabler auf den Hals hetzen.« Oder schlimmer noch, meinen Vater.

James dachte darüber nach, während sie beide den bewusstlosen Lord Visel betrachteten.

»Wir könnten ihm auch immer noch die Kehle durchschneiden und ihn in einen Graben werfen.«

»Mylady!« Erschrocken riss er die Augen weit auf wie Untertassen.

Eva lachte. »Himmel, James. Ihnen ist Ihr Humor wohl vollkommen abhandengekommen. Natürlich würde ich ihn nicht wirklich töten.« Ganz gleich wie sehr er ein solches Schicksal verdient hätte.

»Vielleicht sollten wir ihn aufsetzen, Mylady? Schließlich ist er noch immer ein Earl. Ich denke, wir sollten ihn vom …«

»Nein, es ist schon gut so«, meinte Eva. »Ich habe seinen Atem überprüft; er lebt noch.« Visel würde mächtig der Schädel brummen, wenn er aufwachte, aber das hatte er mit seinen miesen Machenschaften auf jeden Fall verdient.

James warf sich im Sitz zurück, und die abrupte Bewegung ließ die gesamte Kutsche beben. »Lord Exley wird mir das Fell über die Ohren ziehen.«

»Mein Vater wird es nie herausfinden, James. Wir werden höchstens eine Woche im Norden sein. Wir können für die Rückreise Pferde mieten, dann brauchen wir nur einen Bruchteil der Zeit.«

»Und was, wenn der Marquess nach Ihnen fragt, bevor wir zurück sind?«

»Warum sollte er? Er glaubt, dass ich zu meiner Schwester auf Lady Reptons Landsitz fahre, aber Melissa und Lady Repton erwarten meinen Besuch erst in frühestens zwei Wochen. Es ist perfekt.«

»Ja, eine perfekte Katastrophe«, murmelte James.

»Sie machen sich zu viele Gedanken. Mein Vater ist so mit meiner Stiefmutter und ihren anderen Umständen beschäftigt, dass er sich nicht einmal daran erinnert, dass ich existiere.«

James machte ein zweifelndes Geräusch, sagte aber nichts, vielleicht, weil er wusste, dass es die Wahrheit war. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte sehen, dass ihr Vater seine Frau vergötterte. Eva machte ihm deswegen keine Vorwürfe; sie liebte ihre Stiefmama ebenfalls.

»Wir können es uns noch immer anders überlegen, Mylady. Wir könnten …«

»Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden mit Visel fertig und sind zurück, bevor irgendjemand etwas bemerkt. Außerdem hat mein Vater mir Sie als Stallknecht zugewiesen. Genaugenommen wäre es also an mir, Ihnen das Fell über die Ohren zu ziehen, Sie können immer behaupten, dass Sie nur meine Befehle befolgt haben.« Die Kutsche fuhr an einer Straßenlaterne vorbei, was kurz einen Lichtstreif auf seinen beleidigten Ausdruck warf. Eva lachte. James lachte nicht mit, er zitterte. »Man wird mich eher nach Newgate bringen, wenn wir erwischt werden. Schließlich ist das der Erbe eines Dukes, verdammt.«

»Niemand wird uns erwischen.«

»Ha!«

»Ich sage Ihnen, mein Vater wird es nie erfahren. Melissa schreibt nicht gerne Briefe, und wir haben mindestens zwei Wochen, vielleicht sogar länger. In der Zwischenzeit haben wir genug Gelegenheit, seine belämmerte Lordschaft davon zu überzeugen, meinen Bruder in Ruhe zu lassen.«

»Und was, wenn er sich nicht überzeugen lässt?«

Daran hatte Eva auch schon gedacht. »Dann werden Sie bei ihm bleiben.«

»Und wie kommen Sie dann zurück nach London?«

»Ich könnte eine Kutsche mieten und jemanden, der mich begleitet, wenn es Sie so beunruhigt.«

»Was, wenn Lord Visel Ihrem Vater etwas sagt, wenn wir ihn freilassen? Ich glaube nicht, dass ein Mann wie er eine Entführung einfach so hinnimmt.«

»Kommen Sie schon, James. Denken Sie, er würde zugeben, dass ihn ein Mädchen entführt hat? Und dann noch ein übergeschnapptes? Er würde sich in ganz London zum Gespött machen. Vertrauen Sie mir, er wird ebenso ein Interesse daran haben, die Angelegenheit geheim zu halten wie wir. Sie werden schon sehen.«

»Woher zur Hölle wollen Sie wissen, dass er tun wird, was Sie wollen, Mylady?«

»Nun, James, wollen Sie damit sagen, mir fehlte es an Überzeugungskraft?«

Er stöhnte, und Eva lachte. »Lassen Sie Lord Visel meine Sorge sein. Ich denke, die Kutsche wartet bei uns im Swan

»Aye. Ich habe sie bereits bezahlt.«

»Und haben Sie sie auf den Namen seiner Lordschaft gemietet?«

James machte ein gequältes Gesicht. »Ja, Mylady.«

Eva grinste, lehnte sich zurück und stützte einen Fuß auf den reglosen Körper des Earls. Sie hatte keine Skrupel, ihn als Fußhocker zu benutzen. Seit seiner Rückkehr nach England hatte er Gabriel unablässig gequält. Außerdem hatte er höchst unschöne Dinge über sie gesagt. Alles in allem hatte er sich den meisten Mitgliedern des Hochadels gegenüber wie ein Schnösel benommen, obwohl ganz Großbritannien bereit gewesen war, ihn mit offenen Armen zu empfangen. Warum auch nicht? Er war außergewöhnlich attraktiv, er war der Erbe des Dukes of Tyndale, und ihm eilte der Ruf unvergleichlicher militärischer Tapferkeit voraus. Doch Godric Fleming hatte die Bewunderung der besseren Gesellschaft verschmäht und sich darauf konzentriert, Evas Bruder das Leben schwer zu machen.

Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht. Und Eva musste es wissen, denn sie hielt sich für so etwas wie eine Expertin in Sachen Visel – wenn auch unfreiwillig. Sie war bei ihrem dritten Ball dieser blöden Saison gewesen, als er hereinstolziert war und ausgesehen hatte wie ein vom Himmel gefallener Engel. Sie hatte bei all den anderen Mauerblümchen gesessen und die Vorgänge aus sicherer Entfernung beobachtet. Drusilla, ihre beste Freundin und nun die Frau ihres Bruders, hatte neben ihr gesessen. Dru hatte Visels Auftreten nicht bemerkt, denn sie hatte nur Augen für Gabe gehabt.

Eva musste bei dem Gedanken schmunzeln. Dru hatte geglaubt, sie hätte ihre Verliebtheit so gut getarnt. Doch Eva beobachtete die Menschen in ihrer Umgebung so genau, dass sie manchmal glaubte, ihre Gedanken hören zu können. Sie wusste, dass ihre Freundin sich bereits in dem Sommer, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, Hals über Kopf in Gabriel verliebt hatte. Gabriel war natürlich ein typischer Mann, ein ahnungsloser Holzkopf, der mit seinen Geliebten und der wunderschönen Miss Lucinda Kittridge so beschäftigt gewesen war, dass er die arme Dru kaum bemerkt hatte. Nun, wenn er sie nicht gerade quälte und ärgerte.

Doch nun waren sie verheiratet, und Eva fand, dass alles gut ausgegangen war. Sie musste Visel für die Hochzeit danken. Denn wenn er sich nicht wie ein Blödmann benommen hätte, hätte ihr Bruder sich nicht gezwungen gesehen, Drusilla einen Antrag zu machen, und das wäre eine Tragödie gewesen. Auch wenn weder Drusilla noch Gabriel es zugegeben hätten – jedenfalls noch nicht. Nein, sie waren zu stur, um zu merken, dass sie füreinander geschaffen waren. Eva schnaubte angesichts der Dummheit von Verliebten.

Die beiden würden ihre Probleme schon lösen. Sie knirschte mit den Zähnen und stupste Visels reglose Form mit der Hacke ihres Stiefels an. Ja, wenn Lord Visel nicht da war, um sich alle zehn Minuten in ihr Leben einzumischen, was er aus irgendeinem bizarren Grund offenbar einfach nicht lassen konnte, würden sie ihre Probleme schon lösen.

Ein leises Stöhnen kam vom Boden.

»Äh, Lady Eva …«

»Keine Sorge, James. Wenn er wieder zu sich kommt, können Sie ihn noch einmal schlagen. Er hat es gewiss verdient.«

Dieses Mal stöhnte James. »Es spielt keine Rolle, wie sehr er es verdient, Mylady. Es geht einfach nicht, einem Earl eins überzuziehen und …«

»Erinnern Sie sich daran, als Gabriel Ihnen gezeigt hat, wie man die Herzen von einer Spielkarte schießt?«

Schweigen folgte auf ihre Frage.

»Nun, erinnern Sie sich?«

»Ja.«

»Und daran, wie Gabriel Ihrem Vater sagte, Sie hätten ihn begleitet, um Pferde zu begutachten, anstatt ihm die Wahrheit zu sagen, nämlich dass Sie sich einen Boxkampf angesehen und sich so mit Cider besoffen haben, dass ich zwei Postillione bezahlen musste, um Sie in die Kutsche zu hieven?« James’ Vater war der Stallmeister auf dem Landgut ihres Vaters, und er fürchtete ihn fast ebenso wie seinen Herrn, den Marquess.

»Aber Sie wollten, dass ich zu dem Boxkampf gehe, Mylady. Und Sie haben mir dauernd Cider gekauft.«

Unwichtige Details. »Darum geht es nicht, James«, sagte sie in ihrem hochherrschaftlichsten Tonfall. »Ich möchte damit sagen, dass Gabriel Ihnen bei so vielen Gelegenheiten ein guter Freund war. Nun ist es Zeit, dass wir etwas für ihn tun. Wenn wir diesen Mann«, sie schubste Visel grob »nicht von Gabriel fernhalten, wird Visel ihn am Ende noch umbringen oder dafür sorgen, dass Gabriel ihn umbringt. Und dann müsste mein Bruder aufs Festland fliehen und sich aufs Glücksspiel verlegen, um zu überleben.«

Wieder passierten sie eine Straßenlaterne, und sie konnte sehen, wie James sich am Kopf kratzte.

»Warum sollte er ein Glücksritter werden? Er hat doch jede Menge Geld, und seine neue Frau schwimmt quasi –«

»Ja, ja, ja. Schon gut.« James musste immer alles wörtlich nehmen. »Nun gut, dann müsste er eben kein Falschspieler werden, aber darum geht es doch nicht. Wir ziehen Visel aus dem Verkehr, damit Drusilla und Gabriel seinen kleinen Jungen mit aufs Land nehmen und dort ein gemeinsames Leben beginnen können.« Sie musste Gabriels unehelichen Sohn vor James nicht verschweigen, denn sie hatten dessen Existenz gemeinsam entdeckt, als sie Visel bespitzelt hatten, der wiederum Gabriel und Drusilla bespitzelt hatte.

Die Kutsche wackelte, als sie über das ausgefahrene, holprige Kopfsteinpflaster in den Hof des Swan with Two Necks rollte. Eva zog den Kragen ihres Mantels hoch, setzte den Hut auf und steckte einige lose Strähnen ihres widerspenstigen Haars hoch. Sie hatte es für die Reise abschneiden wollen, aber James hatte Schnappatmung bekommen, als sie es vorgeschlagen hatte. Er konnte ein richtiges Mädchen sein.

»Da ist noch etwas über Ihrem rechten Ohr.« James deutete mit dem Finger darauf.

Eva erwischte die störrische Locke und steckte sie fest. Dann sah sie ihn an und schob den hohen Castorhut in die Stirn. »So, sehe ich jetzt aus wie ein junger Gentleman, der seinen betrunkenen älteren Bruder zu unseren Eltern zurückbringt?«

»Also, ich kenn’ keinen Jungen, der so aussieht«, murmelte er.

Eva ignorierte ihn und spähte aus dem schmutzigen Fenster. »Gehen Sie und sorgen Sie dafür, dass alles bereit ist, und sagen Sie, wir hätten einen betrunkenen Gentleman hier und möchten, dass unsere Kutsche direkt neben dieser hält, sodass wir ihn problemlos hineinbefördern können.«

James sah sie noch einmal traurig an und seufzte, dann öffnete er den Schlag und sprang hinaus, ohne sich mit dem Tritt abzumühen. Als er die Tür wieder geschlossen hatte, beugte sich Eva zu ihrem Gefangenen. Etwas Licht vom Inn fiel durch das Fenster und über sein Gesicht.

Er trug irgendein albernes Kostüm. Sie nahm an, dass es einen Piraten darstellen sollte. Der Turban war ihm vom Kopf gerutscht, und sein Haar kam zum Vorschein, für gewöhnlich engelsgleich und hellblond, nun aber schwarz wie Tinte. Er musste es selbst gefärbt haben, denn da waren schwarze Flecken an seiner Schläfe. Im Profil sah er aus wie viele andere Adlige, die sie kannte: eine gerade Nase, scharfgeschnittene Wangenknochen und dünne Lippen, die ihm einen arroganten Ausdruck verliehen. Doch die Art, wie sich diese Elemente in Visels Zügen vereinten, gab seinem Aussehen etwas Außergewöhnliches.

Eva fand nicht, dass es nur sein erschreckend gutes Aussehen war, das ihn von anderen seiner Standesgenossen unterschied, ebenso wenig wie die Tatsache, dass er ein Weiberheld, Säufer, Glücksspieler und Trottel war, denn das war in seinen Kreisen durchaus die Norm. Nein, es war etwas anderes. Sie vermutete, dass es etwas am Ausdruck seiner Augen war, oder vielleicht sein Auftreten: überlegen, selbstsicher und immer unter Spannung, genau wie ein gefährliches Raubtier im Dschungel. Sie hatte ihn die ganze Saison über wie der sprichwörtliche Falke beobachtet, und zwar nicht, weil sie ihn attraktiv fand. Sie hatte ihn beobachtet, weil er nicht aufhörte, ihren Bruder zu beobachten. Visel hasste Gabriel mit einer solchen Heftigkeit, dass es ihr Furcht einflößte. Er hatte es bereits fertiggebracht, ihn in ein Duell zu verwickeln; ein Duell, das er dann mit einer bizarren öffentlichen Entschuldigung verhindert hatte. Doch seine Entschuldigung war nicht das Ende seiner Feindseligkeiten gewesen, ganz im Gegenteil. Die wenigen Male, die sie ihm nahe genug gekommen war, um sein Gesicht zu sehen, hatte sie die aufgestaute Wut in seinen Augen sehen können. Und diese Wut hatte sich gegen Gabe gerichtet.

Daraufhin hatte Eva beschlossen, den Mann zu verfolgen, um zu sehen, was er im Schilde führte. Als sie es herausgefunden hatte, war es nur ein logischer Schritt gewesen, ihn zu entführen. Nun, jedenfalls ihrer eigenen Logik nach. Auch wenn sie es James gegenüber nicht gern zugab, würde ihr Vater sie vermutlich für den Rest ihres Lebens in einen der Türme von Exham Castle sperren, wenn er je erführe, was sie getan hatte.

Sie blickte auf den bewusstlosen Earl hinab und lächelte grimmig; sie musste nur sicherstellen, dass niemand je herausfand, was sie getan hatte oder noch tun würde.

Kapitel 2

Godric hatte überall Schmerzen.

Er öffnete die Augen und schloss sie rasch wieder, weil seine Augäpfel wie Feuer brannten, und das gleißende Licht den Schmerz direkt in sein Gehirn schießen ließ.

»Ach, guten Morgen, Langschläfer.«

Die Stimme schepperte in seinem Kopf, als schlüge jemand mit einem Hammer an einen Gong.

»Ich schätze, Ihr Kopf schmerzt ein wenig. Ich fürchte, da hilft nur, aufzustehen und den Tag zu begrüßen. Und ich habe das hier …«

Ein köstlicher Duft drang in seine Nase, und sein Magen gluckerte vorfreudig. »Ah! Kaffee.«

Er hörte leises Lachen. »Setzen Sie sich auf, und ich gebe Ihnen etwas.« Eine kleine Hand schob sich unter seine Schulter und zog. »Ich kann Sie nicht hochheben; sie müssen schon mithelfen.«

»Wenn ich mich aufsetze, hören Sie dann auf zu reden?« Seine Stimme klang, als hätte er mit Reißnägeln gegurgelt.

Es folgte mehr Gelächter. »Na, sieh mal einer an, der Grummelkopf wird wach.«

Godric sog scharf den Atem ein, zuckte vor Schmerzen zusammen und drückte sich zähneknirschend hoch.

O Gott. In seinem Kopf schwappte es. Es klang wie Flüssigkeit in einem Keramikkrug.

»Wenn Sie wieder brechen müssen, dann bitte in den Eimer zu Ihren Füßen.«

Er schauderte, schlang einen Arm um seine Mitte und tastete mit der anderen Hand nach dem Haltegriff. Eine kleine, behandschuhte Hand ergriff sein Handgelenk und dirigierte ihn zu dem ledernen Griff.

Godric hielt sich an dem Riemen fest wie ein Kind an seiner Nanny und zwang sich, die Augen zu öffnen. Und dann sah er sie.

»Sie.« Selbst er konnte die Verachtung hören, die in seiner Stimme mitschwang.

Sie grinste und entblößte eine Reihe perfekter weißer Zähne zwischen ihren vollen, wohlgeformten Lippen. »Jawohl, ich.«

»Aber … aber …« Ihm fehlten die Worte.

»Aber … aber …« Sie lachte. »Sie klingen wie eine Henne, die kurz davor ist, ein Ei zu legen.« Sie gab eine glaubhafte – und laute – Imitation einer gackernden Henne zum Besten und lachte noch mehr.

Godric drückte mit der freien Hand seine Schläfen. »Bitte, ich flehe Sie an.«

Wieder hörte er leises Lachen.

»Warum?«, fragte er.

»Warum ich Sie entführt habe?«

Er brachte nur ein Grunzen zuwege, aber es schien auszureichen.

»Warum glauben Sie denn, dass ich Sie entführt habe?« Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Sie hatten vor meine beste Freundin zu entführen, die darüber hinaus die Frau meines Bruders ist, Lord Visel. Muss ich Sie daran erinnern, dass diese beiden Menschen nur deswegen geheiratet haben, weil Sie sie dazu gezwungen haben? Doch das hat Ihnen nicht gereicht, nicht wahr?« Sie redete weiter, und ihre Stimme wurde lauter. »Nein, Sie konnten nicht ertragen, sie glücklich zu sehen, oder? Sie wollten Sie entführen. Und weiter? Was hatten Sie mit ihr vor? Sie erniedrigen? Ihn erniedrigen? Dafür sorgen, dass er sich mit Ihnen duelliert und Sie tötet?« Ihre Stimme wirkte, als malträtierte jemand seine Ohren mit einem Eispickel.

Sie lehnte sich über den Sitz, und das Wildleder ihrer Hose spannte sich fest über ihren Schenkeln. Erst da registrierte Godrics Verstand, dass sie wie ein Mann gekleidet war.

»Ich habe die Dinge selbst in die Hand genommen und Sie ganz aus der Gleichung herausgenommen.« Sie sah ihn böse an, und der Ausdruck auf ihrem schönen Gesicht war hart.

»Sie tragen H…hosen.« Das war nicht, was er hatte sagen wollen, und ihr Ausdruck verriet ihm, dass es auch nicht war, was sie hören wollte.

Sie lehnte sich im Sitz zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Blick war nun absolut vernichtend. Auch gut, fand Godric, denn ihre Stimme tat ihm in den Ohren weh, und er konnte offenbar nicht geradeaus denken oder sprechen. Stattdessen gönnte er seinen trockenen, brennenden Augen einen ausführlichen Blick auf ihre Aufmachung.

Neben den hautengen ledernen Hosen trug sie abgestoßene Stulpenstiefel – die kleinsten, die er je gesehen hatte – deren weiße Krempe so schmutzig war, dass es Brummell die Tränen in die Augen getrieben hätte. Ihr Frack wirkte dunkelblau, und die Weste darunter war gold und weiß gestreift. Ihre Krawatte hatte sie zu einem scheußlichen, vermutlich von ihr selbst frei erfundenen Knoten gebunden, und neben ihr auf dem Sitz lag ein schwarzer Kastorhut. Ihr Haar hatte sie nachlässig auf dem Kopf aufgetürmt und mit einer Menge Nadeln festgesteckt, in denen sich das von außen einfallende Licht brach und ihn schmerzhaft blendete.

»Kaffee.«

Sie presste die Lippen zu einem Strich zusammen, griff jedoch in die lederne Tasche zu ihren Füßen und zog den Tonkrug heraus, den sie zuvor unter seiner Nase geschwenkt haben musste.

»Sie werden ihn aus dem Krug trinken müssen.«

Godric ließ den Riemen los und streckte eine zittrige Hand danach aus, wobei er vom Sitz zu rutschen begann.

»Ach, verflucht«, keifte sie und legte ihre freie Hand auf seine Brust, als ob ihr schmächtiger kleiner Arm ihn vor dem Fall bewahren könnte. Godric angelte nach dem Riemen, und es gelang ihm, sich zu fangen, doch er konnte nicht verhindern, dass sie dabei in dem engen Raum zwischen ihnen auf die Knie ging.
»Gottverflucht!«, schimpfte sie. Bei dem Rempler war ihr Kaffee über die Hand gelaufen. Sie schüttelte die Hand, mit der sie den Krug gehalten hatte, lutschte an der Haut zwischen Daumen und Zeigefinger und bedachte ihn mit einem finsteren Blick.

»Ungeschickter Trottel! Wegen Ihnen habe ich den Kaffee verschüttet.«

Godric stellte fest, dass er unwillkürlich lächeln musste.

»Ach, Sie finden das wohl witzig, was?«

Sie hob den Krug hoch und schlürfte geräuschvoll. »Hmm.«

Dann setzte sie den Krug ab und wischte sich den Mund mit dem Handrücken. »Köstlich.«

Mit der Faust drückte sie den Stopfen zurück in den Krug und ließ den Kaffee in der Tasche verschwinden, bevor sie wieder ihren Platz einnahm. Dabei ließ sie ihn nie aus dem Blick.

Sein Magen rumorte so laut, dass man es über das Rattern der Räder noch hören konnte. In seinem vernebelten Hirn setzte sich ein Gedanke fest: eine Kutsche. Plötzlich war der Kaffee vergessen. »Wir befinden uns in einer Kutsche.«

»Ihnen entgeht auch wohl nichts, wie?«

»Wohin fahren wir?«

»Nach Liverpool.«

Godric blinzelte. Er musste sie falsch verstanden haben. »Wie bitte?«

»Ich habe Sie an einen berüchtigten und äußerst brutalen Kapitän der Handelsflotte verkauft.« Sie machte eine Pause und verzog auf eigenartige Weise den Mund. »Man nennt ihn Captain Blackclaw, und sein Schiff heißt ›Höllenqual‹.« Sie sog die Unterlippe ein, und ihre weißen Zähne gruben sich in das weiche, pinke Fleisch. Plötzlich platzte sie laut heraus und krümmte sich vor Lachen. »Gute Güte! Sie sollten Ihr Gesicht sehen, Visel.« Sie kugelte sich und grölte vor Vergnügen.

Diese Frau war haargenau so verrückt, wie alle behaupteten, dachte Godric.

 

Eva wusste, dass sie sich scheußlich aufführte, aber sie konnte einfach nicht anders. Den arroganten, gutaussehenden und sehr wütenden Lord Visel zu verspotten, machte einfach viel zu viel Spaß.

»Wenn Sie sich genug amüsiert haben, könnten Sie mich ja vielleicht wissen lassen, wohin wir wirklich unterwegs sind.« Sein Ton war wie ein eisiger Wind, und er fixierte sie mit einem finsteren Blick. Dabei stellte sie fest, dass seine Augen fast so hell waren wie die ihres Vaters.

Einen schrecklich langen Augenblick glaubte sie, dieselbe Enge in der Brust zu fühlen, die sie verspürte, wenn Lord Exley sie mit unverhohlener Enttäuschung ansah. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass dieser Mann ja nun in ihrer Gewalt war. Sie verschränkte die Arme. »Ich sage es Ihnen, wenn es nötig wird.«

Sein Gesicht verfinsterte sich auf eine Art, die ihr große Genugtuung verschaffte.

»Im Augenblick müssen Sie nur wissen, dass Sie sich benehmen sollen. Sie wären schlecht beraten, mich zu reizen. Im Gegenteil, es wäre zu Ihrem Besten, wenn Sie mich bei Laune halten – so wie bisher. Ansonsten landen Sie im Handumdrehen wieder gefesselt auf dem Boden.« Sie schenkte ihm ein hämisches Lächeln. »Mit einem Knebel im Mund.«

Er sah auf seine Handgelenke hinab, wo sich rote Striemen auf der gebräunten Haut abmalten. Eva war nicht wohl dabei gewesen, ihm solche Schmerzen zuzufügen. Und natürlich hätte James beinahe der Schlag getroffen, als er die Fesseln gelockert hatte. Deswegen hatte er darauf bestanden, sie vollständig zu lösen, anstatt sie nur wieder neu zu binden. Nach einer hitzigen Debatte hatte sie schließlich nachgegeben.

»Das war es dann, Mylady. Wenn er aufwacht, war es das. Ein Wunder, wenn wir nicht beide dafür hängen werden.«

»Ach was! Seien Sie ruhig«, hatte sie zornig entgegnet. Seine Schwarzmalerei war kaum auszuhalten. Vielleicht, weil sie wusste, dass er für alles, was sie vorbrachte, das passende Gegenargument hatte. »Sie können auf dem Bock mitfahren, wenn Sie solch eine Angst davor haben, was er tun könnte, wenn er aufwacht.«

»Es geschähe Ihnen recht, wenn ich das täte«, konterte James. »Was würden Sie wohl tun, wenn er aufwacht und Sie ganz allein vorfindet, hm?«

Eva griff in die große Ledertasche, die sie ihrem Bruder Gabriel gemopst hatte, und holte eine der Duellpistolen ihres Vaters hervor.

James jaulte auf, als wollte er die Toten erwecken, oder zumindest den bewusstlosen Adligen, der fest verschnürt zwischen ihnen auf dem Boden lag.

»Das ist eine der Duellpistolen seiner Lordschaft, nicht wahr?«

»Nun, sie gehört sicher nicht Ihrer Ladyschaft.«

James klopfte an das Kutschendach.

»Was tun Sie?«, fragte Eva.

»Ich fahre auf dem Bock.«

Sie runzelte die Stirn. »Das können Sie nicht. Ich verbiete es Ihnen.«

»Gerade haben Sie noch gesagt, dass ich es tun soll.«

Herrgott! Es gab nichts, was sie mehr hasste, als mitten in einem Streit ins Unrecht gesetzt zu werden.

Als die Kutsche hielt, öffnete James den Schlag.

»Ich befehle Ihnen, hier bei mir zu bleiben, James.«

Er schnaubte frech.

»Ich werde Sie wegen Gehorsamsverweigerung entlassen«, drohte sie und wedelte mit der Pistole.

James blickte skeptisch drein, und der Blick seiner ruhigen, braunen Augen wanderte zu der Pistole. »Die ist hoffentlich nicht geladen, so wie Sie damit herumfuchteln.«

»Ich bin eine hervorragende Schützin.«

Er verdrehte die Augen und sprang hinaus.

»Was soll ich mit ihm tun, wenn er aufwacht?«, fragte sie.

»Ihm eins überziehen, das haben Sie mir doch vorgeschlagen, oder nicht?« Er schlug die Tür zu, ohne ihre Replik abzuwarten.

»Sie sind der mieseste Handlanger, den die Welt je gesehen hat«, rief sie ihm nach.

Das war vor zwei Stunden gewesen, kurz vor Sonnenaufgang. Eva sah von ihrem Gefangenen zum Fenster und bemerkte, dass sie soeben ein paar kleine Häuser passierten, ein sicheres Zeichen, dass sie sich der Zivilisation näherten, also vermutlich einem weiteren Gasthaus. Es wurde Zeit, die Pferde zu tauschen.

Ihre Geisel musste dasselbe gedacht haben. »Wo sind wir?«

»Mit diesen Dingen müssen Sie sich nicht befassen. Ich habe mich um alles gekümmert, was Ihren Transport angeht. Sie müssen sich einfach wie ein Gentleman benehmen, während wir die Pferde tauschen. Wenn Sie brav sind, lasse ich Ihnen etwas Frühstück bringen.«

Er blähte die Nasenflügel und sah aus wie ein angriffsbereiter Stier.

»Und was sollte mich davon abhalten, Sie zu packen, Mylady? Ich bin vielleicht nicht in bester Form, aber meine Kraft reicht gewiss noch, um Sie zu schnappen.«

»Hmm.« Eva ließ ihn nicht aus dem Blick und griff in die Tasche. Als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie eine Pistole in der Hand.
»Was zum Teufel …?«

»Aber, aber, Lord Visel. Sie wollen doch nicht in Gegenwart einer Lady fluchen?«

Er kniff die rotgeränderten Augen zusammen. »Ich erinnere mich noch lebhaft an unseren Tanz auf dem Pentwhistle-Ball. Sie fluchen wie ein Bierkutscher.«

Sie empfand seine Worte eher als ein Kompliment und hatte den Verdacht, dass sie auch so gemeint waren. Eva erinnerte sich an den fraglichen Abend: Sie hatte ihn dazu gebracht, sie um den letzten Tanz vor dem Supper zu bitten, und er war schlecht gelaunt und grüblerisch gewesen.

»Ich erinnere mich auch an jenen Abend, Mylord. Sie waren kein besonders angenehmer Tischgenosse.«

Er schnaubte.

»Ich glaube, Sie hatten gehofft, mit dem ›Kätzchen‹ zu Tisch zu gehen.«

Er kniff die Augen zusammen, schwieg aber.

Das war auch gut so, allein der Gedanke an das ›Kätzchen‹ machte Eva wütend. So wurde Lucinda Kittridge allgemein genannt, die begehrteste Debütantin der Saison. Sie war perfekt, schön, reich und kultiviert. Und sie sah Eva immer an, als wäre sie irgendein ekliges Gewürm.

Das Kätzchen hatte seine Krallen in Evas Bruder geschlagen, bevor Gabriel sich gezwungen gesehen hatte, Evas beste Freundin zu heiraten.

Eva sah ihren Gefangenen an und schnalzte mit der Zunge. »Ich weiß, Sie haben nur so getan, als seien Sie hinter dem Kätzchen her, weil sie dachten, Sie könnten Gabriel damit ärgern.«

Der Earl zog die Brauen hoch.

»Ja, leugnen sie nur, ich weiß, dass ich recht habe. Es war offensichtlich, dass Sie nicht die Bohne auf das Kätzchen geben. Und selbst wenn Sie es täten, würde Ihr Großvater einer solchen Heirat nie zustimmen.«

Sie prustete. »Der Erbe des Dukes of Tyndale und die Tochter eines Metzgers? Das glaube ich kaum – ganz gleich, wie gerissen sie ist.«

Sein anhaltendes Schweigen machte sie allmählich wütend, und sie zwang sich, die Pistole locker zu halten und nicht direkt auf ihn zu richten, um zu verhindern, dass ihr Finger zuckte, wenn er sie noch weiter ärgerte.

»Ist die geladen?«, fragte er.

»Was denken Sie denn?«

»Ich denke, dass Sie tatsächlich so verrückt sind, wie alle sagen, habe ich recht?«

Seine Worte berührten Eva kaum. Kaum. »Und ich denke, Sie sind tatsächlich so lebensmüde, wie alle sagen«, konterte sie. »Warum sonst sollten Sie sich mit der Person anlegen, die eine geladene Pistole auf Sie richtet?«

Die Kutsche wurde plötzlich langsamer, und sie beide spähten aus dem Fenster.

Ein hölzernes Schild verkündete, dass sie das Crown and Antler erreicht hatten.

Er sah sie ungläubig an. »Großer Gott! Wir sind auf der Straße nach Norden.«

Sein skeptischer Tonfall ließ bei Eva Sorge aufflackern, und sie zwang sich, sie zu verdrängen. Vielleicht hätte sie seine Augen verbunden oder ihn zumindest gefesselt lassen sollen. Auch wenn es vermutlich keine Rolle spielte, ob er wusste, wo sie waren.

Die Kutsche hielt, wenig später fiel ein Schatten auf sie, und James’ Gesicht erschien im Fenster. Er riss übertrieben die Augen auf, als er die Pistole sah.

»Öffnen Sie den verdammten Schlag, James«, befahl sie.

Er zögerte, öffnete ihn dann aber einen winzigen Spalt. Visel nahm die Hand vom Halteriemen.

»So nicht, mein Lieber«, sagte sie, richtete den Lauf auf ihn und deutete nach oben. »Nehmen Sie die Hände hoch.«

James stieß einen mitleiderregenden Laut hervor. »Oh, Lady Eva, warum mussten Sie die Pistole herausholen?«

»Arbeiten Sie für diese Frau?«, fragte Visel.

James riss die Augen noch weiter auf, was sie kaum für möglich gehalten hätte.

Er öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch Eva sagte: »Das geht sie wohl kaum etwas an, Mylord. James, holen Sie uns etwas zu essen, während Sie die Pferde tauschen.« Sie behielt Visel im Blick.

»Sie helfen Ihrer Herrin dabei, ein Mitglied des Hochadels zu entführen, James. Wenn Sie jetzt aufgeben, könnte ich noch ein gutes Wort für Sie einlegen. Aber wenn Sie darauf bestehen, …«

»Tun Sie, was ich sage, James.« Ihr Tonfall war schärfer als beabsichtigt, aber wenigstens brachte er den jungen Mann dazu, sich in Bewegung zu setzen. Mit einem Klick schloss sich der Schlag, und Visel wandte sich wieder ihr zu.

Eva grinste ihn hämisch an. »Wenn Sie nächstes Mal darüber nachdenken, ihn auf Ihre Seite zu ziehen, sollten Sie vielleicht warten, bis ich Ihnen den Rücken zuwende, Sie … Sie Schurke.«

Die Schmähung schien ihn mehr zu amüsieren als zu verletzen.

»Es mag sie nicht interessieren, Ihren eigenen Hals zu retten, Mylady, aber es ist kein feiner Zug von Ihnen, Ihren loyalen Diener einem solchen Risiko auszusetzen.«

Eva ignorierte das schlechte Gewissen, das seine Worte hervorriefen. »Sparen Sie sich Ihre Sorge für Ihren eigenen Hals, Visel. Ich werde mich gut um James kümmern, keine Angst.«

Er lehnte sich in den Polstern zurück, und sein beunruhigender Blick wanderte über sie. »Wir sind also auf der Straße nach Norden. Lassen Sie mich raten, wir sind unterwegs nach Schottland? Angeblich entführe ich Sie und schleife Sie nach Gretna Green.«

»Was sind Sie doch für ein kluges Köpfchen. Wer hätte das gedacht, so dämlich wie Sie sich die vergangene Saison über benommen haben?«

Sein Lächeln wirkte vollkommen unbekümmert.

»Keine Sorge, Mylord. Wir fahren nicht wirklich dorthin. Ich habe nämlich noch weniger Interesse daran, Sie zu heiraten als umgekehrt.«

»Das bezweifle ich.«

Eva warf ihm einen bösen Blick zu. »Wenn das wahr ist, tun Sie besser genau, was ich sage, und ziehen keine Aufmerksamkeit auf ihre Lage. Wenn Sie sich vernünftig verhalten, kommen Sie ohne Fußfesseln aus dieser Angelegenheit heraus, weder die ehelichen noch die buchstäblichen.«

»Und was werden Sie tun, wenn ich mich nicht benehme? Werden Sie auf dem Weg irgendwo anhalten, mir eins über den Schädel ziehen und diesen riesigen Trottel für mich ein Loch graben lassen?«

»Sie sollten aufpassen, was Sie sagen, Mylord. James mag nur ein Knecht sein, aber er ist mein Freund, und ich schätze ihn weit mehr als Sie. Und Sie sollten sich außerdem vorsehen, mich nicht auf Ideen zu bringen. Allerdings würde ich Sie das Loch graben lassen und Ihnen dann eins überbraten.«

Seine Augen wurden groß, und dann lachte er lauthals und herzhaft los, was seinem Kopf offenbar nicht bekam, denn er zuckte zusammen. Eva wusste nicht, welche Reaktion sie auf ihre Drohung erwartet hatte, mit dieser hatte sie allerdings nicht gerechnet.

»Sie sollten Ihr Gesicht sehen«, sagte er als spöttisches Echo ihrer eigenen Worte.

Sie sah finster drein. »Warum. Was stimmt damit nicht?«

Er beugte sich vor, sein Blick plötzlich verhangen und seine Züge entspannt und sinnlich. »Nichts, Schätzchen. Absolut gar nichts.«

Eva hatte es die Sprache verschlagen, und das lag einzig an seinem heißen Blick, der ein erwartungsvolles Kribbeln durch ihren Körper jagte.

Was hatte er damit gemeint? Dachte er …

Sein Lächeln wurde spöttisch, und er streifte den sinnlichen Ausdruck schneller ab, als er die eng geschnittene Jacke hätte ausziehen können, die er unter seinem Korsarenumhang trug. Natürlich war dieser verliebte Blick nur geschauspielert gewesen; er hatte sie geneckt und mit ihr gespielt, nur um zu zeigen, dass er es konnte.

Eva hasste ihn. Und all die anderen Männer, die waren wie er, obwohl keiner davon je so schlimm gewesen war wie Visel. Allerding hatte sie während der Saison viele Männer kennengelernt, die ihm ähnlich waren. Arrogante Männer mit ihren überlegenen Blicken, ihrem verschwörerischen Lächeln, Männer, die dachten, sie könnte nicht hören, dass sie hinter ihrem Rücken Wörter flüsterten wie verrückt oder Wahnsinn. Visel war anders gewesen. Er hatte immer gewollt, dass Eva hörte, was er über sie sagte.

»Na? Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«, fragte er. Das Glitzern in seinen Augen war dasselbe, das sie in dieser Saison schon so oft gesehen hatte, besonders dann, wenn er ihren Bruder gequält hatte. Es war dasselbe Glitzern, das sie zu dem Schluss gebracht hatte, dass Visel an einer Art männlicher Hysterie litt. Schließlich war er über ein Jahrzehnt im Krieg gewesen. Was richtete das mit einem Mann an?

Das Thema würde sie sich allerdings für später aufheben.

»Warum haben Sie die Armee verlassen und sind zurückgekommen?«, fragte sie. »Ich nehme an, Sie mussten zurückkehren, da sie jetzt der Erbe des Dukes sind«, sagte sie, bevor er Gelegenheit hatte zu antworten. »Aber Sie hätten auf dem Land bleiben sollen. Es ist offensichtlich, dass Sie London hassen – die Saison, die Bälle, die hohlen, geistlosen Zerstreuungen. Sie geben sich nicht einmal die Mühe, zu verbergen, dass Sie die Gesellschaft hassen.«

Er veränderte seine Sitzposition und verzog schmerzvoll das Gesicht. »Dasselbe könnte ich über Sie sagen, Mylady. Auf Bällen sitzen Sie in der Ecke bei den Mauerblümchen, Sie legen ein Benehmen an den Tag, das Ihnen die Schelte der Matronen einbringt, Ihre einzige Verbündete ist eine Frau aus dem Kaufmannsstand mit einer klaren Verachtung für die Kreise, in die zu gelangen sie sich so bemüht. Warum also tun Sie es?«

»Eine derart blöde Frage hätte ich nicht einmal von Ihnen erwartet, Mylord. Ich tue es, weil mein Vater mich dazu nötigt; weil er glaubt, es sei das Schicksal und die Pflicht einer jeden Frau, zu heiraten. Wenn ich ein Mann wäre …«

Sie biss sich auf die Lippe, um zu verhindern, dass ihr etwas herausrutschte, das er gegen sie verwenden könnte.

Er zog die goldblonden Brauen hoch, was die dünne weiße Linie entblößte, die quer durch die rechte verlief, und der grausame Zug um seinen Mund wich einem freudlosen Lächeln. »Fahren Sie ruhig fort. Wenn Sie ein Mann wären, dann würden Sie …?«

»Halten Sie die Klappe.« Selbst Eva konnte hören, dass es ihrem Befehl an Feuer mangelte. Der Kerl war anstrengend und machte sie wütend, und sie würde ihr Bestes tun, ihn fortan zu ignorieren. Sie wandte sich ab und starrte durch das Fenster in den stahlgrauen Himmel. Es würde bald Regen geben.

»Ich hätte Sie nie für feige gehalten.«

Sie wirbelte herum und begegnete seinem amüsierten Blick. »Was soll das nun wieder heißen?«

»Sie wissen genau, was ich meine.«

Die Kutsche ruckelte, während sie einander anstarrten, und der geschäftige Lärm von draußen wirkte in der Stille nur noch lauter. Seine Augen schienen nun einen blasseren, eisigeren Blauton angenommen zu haben, auch wenn sie wusste, dass das unmöglich war. Sie kämpfte vergeblich gegen einen Schauer an. Seine Lippen waren leicht geöffnet und zeigten weiße, aber leicht unebenmäßige Zähne. Die Ecke eines seiner Vorderzähne war herausgebrochen. Dieses Detail stand im Kontrast zu seinen perfekten Zügen, ließ ihn aber nicht weniger attraktiv erscheinen. Stattdessen verlieh es seinem engelhaft guten Aussehen etwas Gefährliches.

»Ich frage mich, was wohl geschehen wird, wenn der Marquess uns erwischt«, überlegte er.

»Das wird er nicht.«

»Oh, meine Liebe, wenn Sie denken, er wird einen Mann mit seiner Tochter durchbrennen lassen, ohne ihm hinterherzujagen, sind Sie aber schief gewickelt.«

Sein besserwisserisches Grinsen ließ Eva unvorsichtig werden. »Er glaubt, dass ich mit meiner Schwester bei einer Hausparty auf dem Land bin. Er wird so schnell nicht nach mir suchen. Bis dahin bin ich zurück.«

Er zog die Brauen hoch. »Warum dann der Aufwand bis ganz hoch zur Grenze zu fahren? Warum lassen Sie mich nicht einfach hier heraus und fahren zu Ihrer Schwester?«

Eva war in Versuchung, es zu tun. Er war ein gefährlicher Mann, und sie wusste, dass er fliehen würde, sobald sich ihm eine Gelegenheit bot. Doch noch war es zu früh, ihn gehen zu lassen; sie wollte Gabe und Dru nach Möglichkeit ein paar Wochen geben. Bis dahin wären sie auf dem Land, und Visel könnte sie nicht mehr belästigen, zumindest nicht mehr so einfach.

»Ich sehe, die Idee gefällt Ihnen.«

Sie lächelte kühl. »Die Idee, dass Sie die Klappe halten, gefällt mir besser.«

Er lachte leise. Ihre Unhöflichkeit schien ihn ehrlich zu amüsieren. Sein angenehmes, tiefes Lachen traf ihre Brust und glitt abwärts, wo es sich tief hinter ihrem Nabel festsetzte. Eva weigerte sich zuzulassen, dass ihre körperliche Reaktion auf ihn sie ablenkte. Männer wie er – elegant, selbstbewusst und sexuell erfahren – hatten nun mal diese Wirkung auf Frauen wie sie, und zwar nicht, weil sie es darauf anlegten, sondern einfach durch ihre Lebenserfahrung.

Was zwischen Männern und Frauen geschah, war für Visel kein Mysterium mehr. Aber was den Bettsport anbelangte, behandelte man Frauen von Evas Stand wie Pilze: Man hielt sie im Dunkeln und fütterte sie mit Mist, bis schließlich die Nacht kam, in der man sie ihren Ehemännern opferte.

Ein Mann wie Visel hingegen hatte vermutlich schon in jungen Jahren seine Unschuld verloren, vermutlich, indem er sich irgendeiner unglücklichen Hausangestellten aufgenötigt hatte. Und dann hatte er seine sexuellen Fertigkeiten mit Huren und Witwen geschärft.

Ja, das war alles, was Visel Eva voraushatte: Erfahrung. Und er nutzte sie wie eine Waffe, die ihm den Anschein von Raffinesse verlieh.

Glücklicherweise hatte Eva ihre Stiefmama, die ihr in diesen Angelegenheiten mit Rat zur Seite stand. Lady Mia gab sich große Mühe, alle drei Stieftöchter darüber aufzuklären, was zwischen Männern und Frauen vor sich ging. Zwar war Eva auch vor der interessanten Aufklärung durch ihre Stiefmama nicht vollkommen unwissend gewesen. Schließlich hatte sie schon oft Tiere bei der Paarung gesehen. Die körperlichen Aspekte des Akts waren ihr bekannt. Und ihre Stiefmama hatte dieses Wissen natürlich noch erweitert. Doch selbst die besten Informationen konnten nicht die tatsächliche Erfahrung ersetzen, und davon hatte sie keine vorzuweisen. Höchstens mit sich selbst.

Sie hatte mehr als einmal darüber nachgedacht, sich ihrer lästigen Unschuld zu entledigen, einfach nur um zu sehen, warum alle so einen Wirbel darum machten. Der Verlust ihrer Jungfräulichkeit hätte den Vorteil, dass sie so für den Heiratsmarkt unvermittelbar würde, noch schwerer vermittelbar, als sie es durch die möglicherweise drohende Geisteskrankheit ohnehin schon war.

Der einzige Grund, warum sie noch nicht mit einem Mann geschlafen hatte, war die mögliche Folge: ein Kind. Der Skandal, den ein uneheliches Kind bedeutet hätte, bereitete ihr kein Kopfzerbrechen. Im Gegenteil, es würde sie der Pflicht entledigen, zu heiraten. Darüber hinaus hatte ihr Vater ihr Genug Geld vermacht, dass sie bequem und sicher ein Kind großziehen konnte, fast noch besser als der Prinzregent mit seinen unehelichen Nachkommen. Doch es gab etwas, das sie einem etwaigen Kind nicht würde kaufen können: eine Zukunft.

Sie konnte keine Kinder haben, weder eheliche noch uneheliche.

»Woran denken Sie, Mylady?«

Sie hatte beinahe vergessen, dass sie nicht allein war, und sah auf.

»Und was denken Sie?«, konterte sie.

Er grinste. »Ich denke, dass Sie in dieser engen Hose und der figurbetonten Jacke vielleicht noch hübscher sind als in einem Ballkleid.« Er beugte sich vor, und Eva zuckte zurück. »Ich denke, ich würde gerne sehen, wie Ihr Arsch in der engen Lederhose aussieht.«

Eva schnappte nach Luft und spürte Hitze ihren Hals hinaufkriechen. Ihr Körper, dieser Verräter ließ sie noch mehr mit ihrer äußeren Erscheinung hadern als sonst. Eva wusste, dass Visel recht hatte: Sie war eine schöne Frau. Nur ein Idiot hätte es abgestritten. Schon ihr ganzes Leben hatte sie ihr Spiegelbild gehasst, vor allem aber die Erwartungen, die mit diesem Aussehen einhergingen. Auch wenn es ihr egal war, niemand würde ihr glauben, dass sie sich von Herzen wünschte, ein pummeliges, schwerfälliges, schlichtes Mädchen zu sein, so wie eine der Küchenmägde im Schloss ihres Vaters, ein Mädchen namens Em, deren Haar und Augen die Farbe von Schlamm hatten. Sie hatte das Mädchen oft beobachtet, wie es mit den Knechten scherzte und lachte, als wäre es einer von ihnen. Jeder mochte Em, weil sie war, wie sie war, und nicht, weil sie wie eine geistlose Porzellanpuppe aussah.

So wollte Eva sein.

Der einzige Mann, der nie etwas auf ihr Aussehen gegeben hatte, war James. Und dafür gab es einen guten Grund, den sie nie verraten würde.

James hatte sich ihr gegenüber immer verhalten, wie er es auch einem jüngeren Sohn der Familie gegenüber getan hätte: respektvoll, aber nicht mit dieser ehrfürchtigen Ergebenheit, mit der andere Jungen sie behandelten. Jedenfalls so lange, bis sie erfuhren, wer sie war; danach wurde sie mit Abscheu und Furcht betrachtet.

Sie liebte James und respektierte ihn ebenso. Sie wünschte sich, wie er zu sein. Im Geiste war sie sogar wie er: groß, kräftig und stark. In Wahrheit allerdings war sie klein, schmal und zierlich: das genaue Ebenbild ihrer wunderschönen, verrückten, toten Mutter.

Beim Gedanken an ihre Mutter verfinsterte sich ihr Blick. Sie sah den Mann an, der sie an die schon lange verstorbene Countess of Exley erinnert hatte, und fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen.

»Sie sehen noch reizender aus, wenn sie so wütend sind.« Er ließ seinen Blick langsam von ihren Stiefelspitzen über ihre Beine und ihren Oberkörper gleiten, auf ihrem Gesicht verweilen und schließlich auf ihrem widerspenstigen Haar. »Sie können ihren süßen kleinen Körper in Kniebundhosen und Stiefel stecken, aber ich fürchte, nur ein Blinder würde Sie je für einen Mann halten, Schätzchen.«

Seine schockierenden Worte ließen sie scharf einatmen. Süß, klein, Körper und Schätzchen. Ihr Herz schlug wie eine Kriegstrommel in der Brust, und ihre Haut stand in Flammen – überall.

Er lachte leise über den Ausdruck in ihrem Gesicht.

Dieser abscheuliche, abscheuliche Kerl. »Sie wollten wissen, was ich denke, mein werter Earl?«

»M-hm?«

»Ich denke, Sie sollten lieber die Klappe halten, oder ich muss Sie knebeln.«

Er klopfte auf den Sitz neben sich. »Dafür brauchen Sie beide Hände. Kommen Sie, setzen Sie sich hier rüber, Herzchen. Ich halte die Pistole für Sie.«

Eva dachte daran, ihn zu erschießen, als sich der Schlag einen Spalt öffnete und James ihr einen weiteren Tonkrug und ein großes, in Wachstuch geschlagenes Päckchen reichte. »Das sind Sandwiches und Hausgebrautes, Mylady.«

»Geben Sie es Lord Visel.« Sie bedachte den hämisch grinsenden Earl mit einem schmallippigen Lächeln.

»Er kann es gebrauchen, um sein Maul zu stopfen.«

 

Godric hatte nicht geahnt, wie ausgehungert er war, bis er den ersten Bissen genommen hatte. Das Sandwich war nichts Besonderes, nur gutes, kräftiges Brot mit etwas Schinken und einer Scheibe Lincolnshire-Käse. Der Krug enthielt ein reichhaltiges, malziges Porter, das seinem schmerzenden Kopf wohltat. Eine Stunde nachdem sie den Gasthof verlassen hatten, fühlte er sich beinahe wieder wie ein Mensch. Mit sehr menschlichen Bedürfnissen.

»Ich müsste mal.« Die Worte klangen nach dem beharrlichen Schweigen im Innern der Mietkutsche übermäßig laut. Sie verzog die vollen Lippen und eine reizvolle Röte legte sich über ihre Wangen. Der kleine Wildfang hatte also ein vulgäres Mundwerk, aber noch nicht ganz jenseits von Gut und Böse.

»Ich würde gern vermeiden, dass es unangenehm wird«, sagte er, weil sie weiter schwieg und vor sich hinstarrte. »Nun, nicht noch unangenehmer.«

Sie stieß einen Seufzer aus und klopfte mit der freien Hand ans Dach. Die Trennwand hinter Visels Kopf wurde sofort zur Seite geschoben.

»Seine Lordschaft müsste einmal anhalten.«

»Hier, Mylady?« Es war die Stimme ihres ernsten jungen Helfers, der aussah als wünschte er, seiner Herrin den Befehl verweigert zu haben, als er es noch gekonnt hatte.

»Je eher, desto besser, James.«

»Äh, ja, sehr wohl, Mylady.«

Godric und die junge Frau starrten einander schweigend an, während die Kutsche langsamer wurde. Er stellte sich vor, wie die Postillione nach einer Stelle suchten, an der ein Vierergespann problemlos die Straße verlassen konnte.

»Ich sehe Ihnen genau an, dass Sie über eine Flucht nachdenken, Lord Visel.«

Er blickte vom Fenster zu ihr. Ihre Worte überraschten ihn nicht.

Sie war jung, aber sie war nicht dumm. Natürlich war sie auch vollkommen übergeschnappt, aber das schien ihrem Denken nur eine gewisse Gerissenheit zu verleihen.

Godric legte den Kopf schräg. »Lady Eva, Sie haben mir mein Geld abgenommen, und wir befinden uns auf einem Straßenabschnitt, auf dem es kilometerweise in jede Richtung absolut nichts gibt. Was würde ich hier ganz allein tun?«

»Sie sind doch ein erfinderischer Mann; ich möchte wetten, es würde Ihnen etwas einfallen.«

»Mir fällt nur ein, dass ich mich prächtig amüsieren werde, wenn Sie erwischt werden, Mylady. Glauben Sie mir: Ich werde wohl kaum zu früh ausbüxen und dieses Schauspiel verpassen wollen. Sie haben mein Ehrenwort als Gentleman, dass ich nicht versuchen werde, zu fliehen.«

Sie kaute auf ihrer Unterlippe, was sie seiner Beobachtung nach oft tat, wenn sie nachdachte. »Ziehen Sie die Stiefel aus.«

Godric glaubte, er hätte sie nicht richtig verstanden. »Wie bitte?«

Sie hob den Pistolenlauf.

»Warum?«, fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Auf Strümpfen werden Sie mitten in der Wildnis wohl nicht auf dumme Gedanken kommen.«

Er sah aus dem Fenster auf die aufziehenden Wolken. »Es wird bald regnen.«

»Nun, dann empfehle ich Ihnen, Ihr, äh, Geschäft so schnell wie möglich zu erledigen.«

»Ich habe Ihnen mein Wort als Gentleman gegeben.«

»Das ist mir schnuppe. Ich bin kein Gentleman.«

Die Kutsche hielt rumpelnd an und schwankte, als jemand vom Bock sprang. Die Tür öffnete sich, und er war nicht erstaunt, den jungen James zu sehen.

Er sah von Godric zu der jungen Frau und runzelte die Stirn. Seine angenehmen Züge verhärteten sich. »Hat er irgendetwas versucht, Mylady?«

»Nein. Ich warte nur darauf, dass er die Stiefel auszieht.«

Der junge Mann formte mit den Lippen stumm ihre Worte nach und blinzelte.

»Aber … warum?«

»Großer Gott, James! Damit er nicht türmt. Sehen Sie ihn an; das ist genau das, was ihm durch den Kopf geht.«

Godric lächelte. »Eigentlich denke ich mehr darüber nach, wie nötig ich pissen muss.«

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.

»Also wirklich, Eure Lordschaft«, sagte der junge Mann mit rotem Gesicht. »Diese Ausdrucksweise ist nicht …«

»Wenn Sie pissen wollen, dann ziehen Sie wohl besser die Stiefel aus.« Eva warf einen Blick auf die Uhr, die an einem schlichten ledernen Uhranhänger baumelte. »Sie haben eine Minute, um sie auszuziehen, bevor wir weiterfahren.«

Der Junge trat unruhig auf der Stelle. »Äh, Mylady …«

»Still«, sagte die kleine Hexe, wobei sie Godric nie aus dem Blick ließ.

Er trat gegen die Ferse eines Stiefels und tat, als müsse er sich anstrengen.

»Meine Füße sind geschwollen.« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Ich denke, ich kann die Stiefel nicht ausziehen, weil ich sie die ganze Nacht an den Füßen hatte.«

Sie deutete mit der Pistole. »Helfen Sie ihm, James.«

Godric drehte dem jungen Riesen die Beine zu. Und als er sich bückte, um nach den Stiefeln zu greifen, trat er ihm direkt in den Bauch.