Leseprobe Violet und der Earl

Kapitel Eins

London, November 1817

Noch bevor sie an diesem Abend über die Türschwelle schritt, hatte Violet Somerset schon gewusst, dass ihr Schmerzen bevorstanden. Sie hatte sich für klaffende Wunden im Brustkorb, ein oder zwei verletzte Gliedmaßen und mehrere mitleidheischende Schmerzensschreie gewappnet. Darauf würde eine gnädige Ohnmacht folgen, und darauf die Konvulsionen des Todeskampfes einer Liebe, die von Anbeginn hoffnungslos gewesen war.

Sie hatte nicht erwartet, dass etwas davon angenehm wäre, aber sie hatte doch gehofft, dass es schnell ginge.

Es ging nicht schnell. Es war ein Tod durch tausend Stiche.

Eine schreckliche Art zu sterben. Ungewöhnlich. Blutig.

Violet wusste alles über Blut. Sie hatte ein grausames Bild des Todes durch tausend Stiche in einem außergewöhnlichen Buch gesehen, das sie in der Bibliothek ihrer Großmutter versteckt gefunden hatte. Sein Titel lautete

Bestrafungen im Alten China (1),

und es war eine faszinierende Lektüre. Etwas grausig, gewiss, und keineswegs für die Augen einer unschuldigen jungen Dame geeignet, aber schließlich galt das für alles von Interesse. Was Violet betraf, so konnte sie nichts gegen die Faszination ausrichten, die eine solchermaßen überraschende, kreative Herangehensweise an das heikle Problem von Verbrechen und deren Bestrafung auf sie ausübte.

Allerdings war der Tod durch tausend Stiche nichts, was man bei einer Dinnergesellschaft erleben wollte.

Und doch saß sie hier, gefangen zwischen dem fünften und dem letzten Gang, und anstelle eines köstlichen Puddings sah Violet sich einer grässlichen Exekution gegenüber.

»Natürlich hatte ich mir eine glückliche Ehe gewünscht. Tut das nicht jede junge Dame? Aber sie ist so viel schöner, als ich es mir je erträumt hätte. Ich hatte mir nie ausgemalt, dass mein Ehemann mein Freund sein könnte, aber genau das ist Lord Derrick für mich. Mein bester Freund.«

Lady Honora sah an diesem Abend bezaubernd aus; ihre rosigen Wangen und die hellbraunen Augen strahlten vor Glück. Vor einigen Wochen war sie die Countess of Derrick geworden, und nach ihrem überirdischen Strahlen zu urteilen, tat ihr die Ehe gut.

Violet erwiderte das strahlende Lächeln ihrer lieben Freundin mit einer zweifellos säuerlichen Grimasse. »Wie wunderbar, Honora. Ich könnte mich nicht mehr für dich und Lord Derrick freuen.«

Honora strahlte sie an und drückte ihre schlaffen Finger, aber Violet konnte als Reaktion nur schwächlich mit der Hand zucken, wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel, der wegfliegen wollte.

»Ich will damit natürlich nicht sagen, dass er nur mein Freund ist. Er ist, ähm – nun, er ist viel mehr als das. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber es ist eher, als ob – als ob vor meinen Augen ein Traum zum Leben erwacht wäre, nur dass es noch besser ist als ein Traum, denn es ist viel lebendiger und farbiger, als ich es mir auszumalen gewagt hätte.« Die attraktive Rötung auf Honoras Wangen vertiefte sich. »Ich wage zu behaupten, dass Iris es versteht. Empfindest du so für Lord Huntington, Iris? Als wäre er ein wahrgewordener Traum?«

Violets ältere Schwester Iris, die selbst kürzlich geheiratet hatte, saß Honora am Tisch gegenüber. »Ich – das heißt, Lord Huntington und ich – sind recht … wir genießen des anderen …« Iris blickte zwischen Honora und Violet hin und her, biss sich auf die Unterlippe und verfiel in ein schmerzliches Schweigen.

Arme Iris. Es war eine Spur unangenehm, wenn die Schwester in den Ehemann der eigenen besten Freundin verliebt war. Violet riss sich zusammen, um die unangenehme Stille zu unterbrechen. »Das ist wirklich wunderbar, Honora. Ich könnte mich nicht mehr für dich freuen, und für Iris.«

Ich hätte nicht herkommen sollen.

»Ich habe Lord Derrick immer schon für attraktiv gehalten.« Honora warf ihrem Ehemann am anderen Ende des Tisches einen vernarrten Blick zu. »Aber erst, seit ich mit ihm verheiratet bin, halte ich ihn für den schönsten Gentleman der Welt.«

Violet folgte Honoras Blick nicht. Sie brauchte Lord Derrick nicht anzusehen, um zu wissen, dass er in der Tat der schönste Gentleman der Welt war. Und er war ebenso liebenswert wie gut aussehend. »Er ist unglaublich attraktiv, Honora. Wirklich. Ich könnte mich nicht mehr für dich freuen.«

»Ich glaube, es sind seine Augen. Sie sind von einem so zauberhaften Braun. Findest du nicht auch, dass er bemerkenswerte Augen hat, Violet?«

Stich.

Großer Gott. Im Vergleich zu Honoras unschuldiger Brutalität wirkten chinesische Foltermethoden wie das Hätscheln eines Dutzends schnurrender Kätzchen.

»Sie sind wundervoll, Honora. Wirklich. Ich könnte nicht glücklicher über seine Augen sein.«

Iris verschluckte sich am Wein, aber Honora schien die Eigenartigkeit dieser Antwort gar nicht zu bemerken. »Oh, ich empfinde es genauso. Ich bete seine Augen an. Nun, nicht nur seine Augen.«

Honora schlug sich die Hand auf den Mund, allerdings nicht schnell genug, um ein für sie untypisches, unartiges Kichern zu verstecken.

Stich.

Violet hob ihr Weinglas, doch ihre Hand zitterte so sehr, dass sie es nicht an ihre Lippen führen konnte. Honora war von ihnen dreien immer die schicklichste Dame gewesen, aber es schien, als hätte Lord Derrick ihre zurückhaltende Freundin in ein schamloses, liederliches Frauenzimmer verwandelt.

»Er hat die berückendsten Lippen. So fest und zugleich weich.«

Stich.

»Er ist immer zuvorkommend, sogar wenn er … sehr angeregt ist.«

Sie ist ein Monster. Eine Mörderin.

»Mit angeregt meine ich, wenn er …«

»Honora!« Iris’ Messer landete mit einem lauten Knacksen auf ihrem Teller. »Ich, ähm … entschuldige bitte, meine Liebe, aber wer ist der Gentleman, der gerade hereingekommen ist?«

»Gentleman? Welcher Gentleman?« Honora, die endlich abgelenkt war, sah auf. Ein großer Gentleman in einem dunkelblauen Mantel und einer aufwendig gestickten, scharlachroten Weste setzte sich an das andere Tischende. »Ach, das muss Lord Dare sein. Er ist ein Kindheitsfreund von Lord Derrick. Er ist gerade erst von einem langen Aufenthalt auf dem Kontinent nach London zurückgekehrt.«

»Oh? Wie lang?« Violet war es reicht einerlei, wie lang Lord Dare auf dem Kontinent geweilt hatte, aber sie stürzte sich verzweifelt darauf, um die Unterhaltung von Lord Derricks festen Lippen abzulenken.

»Zwei Jahre. Lord Derrick sagte mir, dass Lord Dare England verabscheut und nicht hier wäre, wenn er es hätte vermeiden können. Aber seht ihr seine schwarze Armbinde? Sein Vater ist vor einigen Wochen verstorben, deshalb musste er nach Hause kommen, um bei der Bestattung anwesend zu sein und den Titel anzutreten. Laut Lord Derrick ist Lord Dare von der ganzen Sache verärgert.«

»Tja, wie rüde von seinem Vater, Lord Dares ausgedehnten Ausflug auf den Kontinent zu verderben. Wie schade, dass er sich keinen passenderen Zeitpunkt zum Sterben aussuchen konnte.« Dieser pointierte Sarkasmus war eine Spur ungerecht, und die Worte versengten ihr auch ein wenig die Zunge, aber endlich hatte sie für ihr Elend einen Ausweg gefunden, und Lord Dare brauchte niemals zu erfahren, dass er an ihrer Stelle hingerichtet wurde.

Honora beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Soweit ich es verstanden habe, ist er tatsächlich ein sehr lebensfroher Mensch. Die Gerüchte sagen, dass er eine Furche voller gebrochener Herzen von Paris bis nach Rom hinterlassen hat.« Sie runzelte die Stirn. »Es ist furchtbar ungebührlich von ihm, so spät zum Dinner zu kommen. Meine Güte, wir sind bereits beim Nachtisch.«

Violet sah, wie Lord Dare den anderen Gentlemen am Esstisch ein charmantes Lächeln schenkte. Selbst von hier aus konnte sie sehen, dass er mit seiner großen, schlanken Gestalt, den ausgeprägten Wangenknochen und einer Fülle seidigen schwarzen Haares attraktiv war.

Zu attraktiv.

Nach Violets Erfahrung – die sich zugegebenermaßen auf eine einzige, schmerzliche Saison beschränkte, während der sie in ein straffes Korsett geschnürt und gezwungen worden war, an den Bällen im Almack’s teilzunehmen – verbargen attraktive Gentlemen hinter ihren charmanten Lächeln oft niederschmetternd unattraktive Vorstellungen.

Nein, attraktiven Gentlemen war nicht zu trauen, und besonders nicht diesem hier – das bewies schon allein die Weste. Lord Dares Kleidung entsprach der neuesten Mode, war von exzellenter Qualität und perfekt geschnitten, aber eine scharlachrote Weste, die mit einem verschlungenen Muster aus silbernen Weinreben und unzähligen Rosen bestickt war, trug ein Gentleman nur, wenn er aufzufallen wünschte.

Nicht, dass er dafür die Weste gebraucht hätte. Einen Gentleman wie Lord Dare zu übersehen war so unwahrscheinlich, wie zu vergessen, einen Atemzug auf den anderen folgen zu lassen.

Seine Bewegungen waren anmutig und selbstbewusst, sein Lächeln bereitwillig, und wenn er eine Spur zerzaust wirkte, so erhöhte das seinen Reiz noch. Sein wildes, schwarzes Haar war etwas zu lang, seine Wangen nicht ganz glatt rasiert, und seine Krawatte saß nicht exakt in der Mitte und war überdies nachlässig geknotet, als hätte es jemand eilig dabei gehabt. Trotz der extravaganten Weste sah er aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen, und Violet zweifelte nicht im Mindesten, dass es so war.

Obendrein nicht aus seinem eigenen Bett.

Nein, Lord Dare würde man nicht übersehen, erst recht, wenn man zufällig eine Lady war. Sie selbst natürlich ausgenommen, aber andere Ladys. Weniger aufmerksame.

Violet hob ihr Weinglas an die Lippen und nahm einen gesunden Schluck. »Er ist also ein Wüstling. Wie schockierend.«

Honora unterdrückte ein Lachen. »Aber Violet, wie kannst du das sagen? Du bist ihm ja noch nicht einmal vorgestellt worden.«

»Nein, und dabei soll es auch bleiben. Ich mache mir nichts aus Wüstlingen.«

Und die machten sich aus ihr noch weniger. Nichts verabscheute ein Wüstling mehr als einen Blaustrumpf, und umgekehrt. Sie waren natürliche Feinde, wie eine Manguste und eine Kobra. Letztendlich war Unfug das Geschäft der Wüstlinge, und Blaustrümpfe waren Unfug gegenüber immun, so wie eine Manguste gegen das Gift der Kobra immun war.

Ein Lächeln umspielte Violets Lippen. Ihre Hingabe, passende Analogien herzustellen, hatte ihr völliges Versagen auf dem Heiratsmarkt zwar nicht verhindert, hörte aber nicht auf, sie zu unterhalten.

»Nun, Violet, wie immer hast du recht. Er ist ein Wüstling, und zwar ein fürchterlicher. Wie es scheint, besitzt Lord Dare eine zauberhafte italienische Villa und eine noch bezauberndere italienische Geliebte, und zu beiden will er zurück.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lord Derrick mit ihm befreundet sein soll, wenn er so furchtbar ist, wie du sagst«, sagte Iris. »Sie können nicht viel gemein haben.«

»Nicht mehr, nein, aber Lord Derrick sagt, sie seien als Jungen unzertrennlich gewesen.« Honora spielte mit ihrem Weinglas, und ein nachdenklicher Ausdruck glitt über ihr Antlitz. »Es ist eine sehr traurige Geschichte. Lord Dare hatte einen älteren Bruder, weißt du, aber er wurde vor mehreren Jahren von einem Wegelagerer umgebracht. Solch ein tragischer Tod, und jetzt ist der jüngere Bruder gezwungen, einen Titel zu übernehmen, den er nicht erwartet hat, und den er nicht will.«

»Oh.« Violets Stimme wurde weicher. »Das ist sehr traurig.« Sie unterbrach sich und betrachtete Lord Dare genauer, der sein Weinglas hob, um seiner Tischnachbarin neckisch einen Toast entgegenzubringen.

Violets und Iris’ jüngerer Schwester Hyacinth.

Hyacinth hatte den Ehrenplatz zu Lord Derricks Rechten bekommen. Er mochte sie besonders, und wegen ihrer ausgeprägten Schüchternheit bestand er immer darauf, sich auf diese Weise um seine »kleine Freundin« zu kümmern. Das war lieb von ihm, brachte es manchmal jedoch mit sich, dass Hyacinth weit weg von ihren Schwestern saß.

An diesem Abend saß sie dem auf verruchte Art schönen Lord Dare gegenüber.

Er plauderte sehr lebhaft mit ihr, und sein anziehendes Gesicht strahlte vor Interesse. Hyacinth hörte ihm mit freundlicher Aufmerksamkeit zu, aber Violet sah die Röte der Verlegenheit auf den Wangen ihrer Schwester, und all ihre Beschützerinstinkte wurden aktiviert. »Führ die Damen hinaus, Honora.«

Honora warf ihr einen überraschten Blick zu. »Was, jetzt? Aber ich habe meinen Wein noch nicht ausgetrunken.«

Iris sah den Tisch hinunter, stieß Honora mit dem Ellbogen an und ruckte mit dem Kinn in Hyacinths Richtung. »Am besten jetzt gleich, Honora.«

Honora folgte Iris’ Blick und erhob sich sogleich.

Lord Derrick sprang auf, um für die Damen die Tür zu öffnen. Sein Gesichtsausdruck, als er seiner Frau entgegensah …

Violet schlingerte das Herz traurig in der Brust.

Sie wusste, dass Lord Derrick Honora liebte. Er war nicht die Sorte Mann, der eine Frau heiratete, wenn er sie nicht liebte. Aber ach, etwas zu wissen, war nicht das Gleiche, wie es zu sehen, und wenngleich Violets Herz sich vor Schmerz wand, konnte sie den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden, als er Honora ansah.

Sein ganzer Körper strahlte Freude aus, seine braunen Augen leuchteten geradezu. Honora schritt nur durch das Esszimmer, etwas Simples, das jeden Tag geschah, und er sah sie an, als ob … als ob jede einzelne Hoffnung, jeder einzelne seiner Träume, vor ihm zum Leben erwacht sei.

Weil es so war.

Er liebte Honora nicht nur, er betete sie an. Man brauchte ihn nur anzusehen, um zu erkennen, dass auch der kleinste Zipfel seines Herzens auf Honoras Stimme, ihr Lachen, ihr Lächeln antwortete.

Es war kein Wunder, dass Honora solch tiefe Liebe auslöste. Sie war schön und gut und anmutig, ein lupenreiner Diamant. Sie war die Art Frau, die auch den abgestumpftesten Gentleman in die Knie zwingen konnte.

Violet hingegen – war nicht so.

Sie hatte die gleichen dunkelblauen Augen und das helle Haar, derentwegen ihre Schwester die Schöne der letzten Saison gewesen war, aber Violets Lachen klingelte nicht wie Silberglöckchen. Sie wusste nicht, wie sie ihre Locken werfen oder richtig mit dem Fächer wedeln musste. Ihre Quadrille war erbärmlich, und ihre musikalischen Fertigkeiten – nun, selbst ihre Großmutter hatte sich vor Violets mangelndem musikalischem Gehör geschlagen geben müssen.

Es war nicht so, als gäbe es rein gar nichts, das für sie spräche, aber die Gentlemen der feinen Gesellschaft, des Tons, schätzten Klugheit nicht besonders. Sie verfielen einer Frau, die von chinesischen Foltermethoden fasziniert war oder die Besonderheiten des Immunsystems einer Manguste aufzählen konnte, nicht gerade in verzweifelter Leidenschaft. Nein, das Beste, was eine solche Dame erwarten konnte, war, dass man sich über sie mokierte und lustig machte.

»Violet? Ist dir unwohl? Du bist ganz weiß geworden.« Honora nahm ihren Arm und zog besorgt die Brauen zusammen, als sie Violets Gesicht betrachtete.

Zu Violets Entsetzen drohten ihr die Tränen zu kommen. Honora war ihr eine wahre Freundin, und anstatt ihre Verbitterung über Lord Derrick herunterzuschlucken, hatte Violet die letzten paar Wochen damit zugebracht, Honora ihr Glück zu neiden.

»Es geht mir gut, meine Liebe. Es ist nur ein plötzlicher Kopfschmerz.«

Honora tätschelte Violet die Hand. »Warum gehst du nicht in die Bibliothek und ruhst dich etwas aus? Du kannst in den Kleinen Salon kommen, wenn du dich wieder besser fühlst.«

»Aber Hyacinth …«

»Ihr geht es gut. Sie ist mit Iris in den Kleinen Salon vorausgegangen, und Lord Huntington und Lord Derrick werden sich bald zu uns gesellen.«

Violet zögerte. Sie sollte ihre jüngere Schwester nicht vernachlässigen, aber allein der Gedanke an einige Augenblicke einsamer Ruhe, um ihr verwundetes Herz zu hätscheln, weckte in ihr schmerzhafte Sehnsucht. »Wenn du dir sicher bist.«

»Gewiss bin ich das.« Honora lächelte, gab ihr einen sanften Schubs in Richtung der Bibliothek, wandte sich dann um und folgte den Damen in den Kleinen Salon.

Violet schlich den ruhigen Flur entlang und schlüpfte in die kühle Stille der Bibliothek. Der leicht muffige und ledrige Duft umfing sie wie ein alter Freund. Schon als Kind hatten sich Bibliotheken für sie wie ein Heim angefühlt, und sie zögerte nicht, sich in die wohltuende Umarmung des Raums sinken zu lassen.

Sie machte sich nicht die Mühe, ein Licht zu entzünden, sondern legte sich auf eines der Sofas vor dem Kamin. Dunkelheit verschluckte den Raum, als die Flammen kleiner wurden, bis zuletzt nur ein paar glimmende Funken in einem Haufen Asche übrig blieben.

Violet störte die Dunkelheit nicht. Sie hatte viele Abende allein in der Bibliothek ihrer Großmutter verbracht, staubige Bücher in den Händen, und von dem Gedanken fasziniert, welche Muster unsichtbarer Fingerabdrücke diese alten, knisternden Seiten wohl bargen. Und schließlich war es nicht gar so schrecklich, allein zu sein, nicht wahr? Mochte auch ganz London den unverheirateten Blaustrumpf verachten, so lag doch auch Freiheit darin. Vielleicht war sie manchmal einsam, aber Bücher stellten keine Forderungen an sie.

Im Gegensatz zu den Menschen.

Nein, sie war ganz glücklich, allein zu sein …

Klick.

Violet spannte sich an, als die Klinke der Bibliothekstür gedrückt wurde, worauf die Tür mit einen leisen Quietschen geöffnet und sacht klappernd wieder geschlossen wurde.

In der Annahme, dass Honora gekommen war, um sie abzuholen, öffnete Violet den Mund, um ihre Anwesenheit bemerkbar zu machen, aber bevor sie ein Wort sagen konnte, unterbrach sie ein tiefes, männliches Knurren, auf das ein helles Keuchen folgte.

»Hört auf, Mylord! Ihr zerreißt es noch.«

Violet hörte ein Geräusch, das nach einem spielerischen Klaps klang, dann ein unmissverständliches weibliches Kichern, und instinktiv ließ sie sich noch tiefer ins Sofa sinken, damit sie von der Tür aus nicht zu sehen war.

»Nein, für das Mieder haben wir keine Zeit, Mylord. Hebt einfach meine Röcke hoch und macht hastig, bevor wir vermisst werden.«

Hebt meine Röcke hoch? Das war nicht Honora.

»Entschuldige, Liebes, aber ich kann nicht das Mieder auslassen. Nicht, wenn der Inhalt so berauschend ist. Und ich bin nie hastig.«

Die Dame mit den berauschenden Brüsten stieß ein kehliges Lachen aus. »Ja, daran erinnere ich mich, aber wir haben nicht genug Zeit, um … oh. Oh, mein …

Ein leises, verruchtes Glucksen erklang, Stoff raschelte, dann hörte es sich an, wie wenn ein Mantel auf den Boden fiel. Konnte eine Dame nicht einmal ein paar ungestörte Augenblicke genießen, ohne dass gezwungen ward, Zeugin eines liederlichen Stelldicheins zu werden? Grundgütiger, das war eine Bibliothek und kein Bordell.

Aber sicherlich würden die beiden nach ein paar harmlosen Küssen aufhören? Das war schamlos genug – vom abgrundtief schlechten Geschmack gar nicht zu reden –, aber selbst Menschen mit derartig geringer Selbstbeherrschung würden es doch nicht wagen, die, ähm, Angelegenheit mitten in Lord und Lady Derricks Bibliothek zu vollziehen …

»Oh ja. Leg deine Hand … ja, dahin. Schneller …«

Die Worte der Lady verklangen in einem langen, leisen Stöhnen, das Violets ganzen Körper vor Scham in Flammen aufgehen ließ.

»Halte deine Röcke für mich hoch, Liebes … ja, genau so. Ah, Schatz, du bist so … lass mich nur …«

Violet bekam nicht zu hören, was er vorhatte, doch was es auch war, die Lady musste es erlaubt haben, denn im nächsten Augenblick erklang ein Grunzen, dann ein scharfes Keuchen und ein leiser Aufprall, als wäre jemand rückwärts gegen die Tür gestoßen worden.

Und würde dann wieder gestoßen, und wieder und wieder, in einem gleichmäßigen, gewollten Rhythmus.

Violet presste die Lippen aufeinander, dann drückte sie sich rasch die Hand auf den Mund, um zu verhindern, dass sie … indigniert aufschrie? Liefen ihr die Tränen herunter? Weinte sie? In Anbetracht der Umstände würde das durchaus Sinn ergeben, und sie spürte, wie sich in ihren Augenwinkeln die Feuchtigkeit sammelte und über ihre Wangen rann …

Bloß füllte sich ihre Brust nicht mit aufsteigenden Tränen. Es waren nicht Schluchzer, die ihre Kehle hinaufstiegen und drohten, aus ihr hervorzubrechen.

Es war vielmehr Lachen. Lautes, unschickliches, närrisches Lachen.

Oh je. Vielleicht war sie schon hysterisch, aber all das Gestöhne und Gekeuche, das atemlose Gespräch über Mieder – nun, es war einfach absurd, nicht wahr? Und dieses rhythmische Stoßen … was um alle Welt war das? Es klang, als würde man jemandem den Kopf immer wieder gegen die Tür schlagen …

Der Dame. Es war der Kopf der Dame. Zumindest war das die wahrscheinlichste Erklärung nach allem, was Violet über die Sache wusste. Zugegeben, sie persönlich verfügte über keine intimen Erfahrungen, aber den Informationen, die man in Büchern finden konnte, waren keine Grenzen gesetzt.

»Oh. Oh. Oh.«

Bumm, bumm, bumm.

Ein neuer, gewaltiger Lachanfall drohte, und Violet drückte sich die Hand noch fester auf den Mund und biss sich auf die Lippe, bis sie aufplatzte. Großer Gott, es wäre ein Wunder, wenn die arme Frau ohne eine Kopfverletzung davonkäme. Violet konnte nur hoffen, dass die Aktivitäten des Gentlemans das wettmachten.

Daraus zu schließen, wie die Dame immer weitermachte, klang es, als täte er etwas, das sie genoss, aber das konnte sie nur auf eine einzige Art herausfinden.

Nein. Das kann ich doch nicht. Das ist ein schändliches Eindringen in die Privatsphäre.

Andererseits hatten die beiden sich dazu entschlossen, ihre Zuneigung ausgerechnet in Lord Derricks Bibliothek auszuleben. Verdienten sie unter diesen Umständen wirklich Privatsphäre? Überdies war sie zuerst hier gewesen. Sie hatten Violet gestört, und außerdem würde sie auch kaum je wieder eine Gelegenheit bekommen, es zu sehen.

Sie konnte nicht widerstehen, einen kleinen Blick zu riskieren, rein zu Zwecken der Bildung.

Violet drehte sich und kniete sich, wohlbedacht, den Kopf unten zu behalten, hin, dann hielt sie den Atem an und spitzte über die Rückenlehne des Sofas. Sie sah einen Augenblick zu, blinzelte in der Dunkelheit, dann ließ sie in einem stillen Seufzer die Luft entweichen.

Na. Es war nicht ganz, was sie erwartet hatte.

Tatsächlich sah es, um ehrlich zu sein, nicht annähernd so interessant aus, wie es immer hieß. Andererseits war das zwangsläufig so, nicht wahr? Aus dem Grund bevorzugte Violet Bücher – sie enttäuschten einen nie so wie das echte Leben.

Und das war … nun, ein bisschen enttäuschend.

Sie hatte gedacht, die Dame würde sich in kopfloser, verzweifelter Leidenschaft an den Gentleman klammern, aber diese Lady war viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Röcke zur Seite zu halten, um noch groß klammern zu können. Der größte Teil des unteren Körpers des Gentlemans war von den voluminösen Röcken der Dame verdeckt, nur ein Bein hatte sie ungeschickt um seine Hüfte gehoben, und Violet konnte sehen, dass er das Becken bewegte und rhythmisch gegen die Lady stieß. Sie standen gar nicht an der Tür, sondern daneben an einem der hohen Buchregale, und bis auf seinen blauen Mantel, der auf dem Boden zu seinen Füßen lag, war er noch völlig bekleidet. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu sehen, aber unter dem Türschlitz drang gerade genug Licht herein, um die Silberfäden auf seiner scharlachroten Weste zum Glitzern zu bringen.

Lord Dare.

Natürlich. Violet spürte nicht einmal den Hauch von Überraschung darüber, dass er ganz und gar der Wüstling war, den Honora beschrieben hatte.

»Oh, fester. Bitte, Mylord … fester.«

Lord Dare zögerte nicht, dieser Bitte nachzukommen, sondern stieß noch fester gegen sie – so fest, dass er das Regal zum Wackeln brachte und ein Buch von seinem Platz heraus und auf den Boden fiel.

Violet unterdrückte ein entrüstetes Keuchen, und es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, ihm nicht ein Kissen gegen den breiten Rücken zu werfen. Grundgütiger, sie könnten wenigstens auf die Bücher achten.

Die Dame seufzte und flehte ihn an, nicht aufzuhören, dann stieß sie plötzlich einen Klagelaut aus, der Lord Dare veranlasste, ihr die Hand auf den Mund zu drücken. Ihr Leib erbebte an seinem, und wenige Augenblicke, nachdem sie ruhig geworden war, hielt Lord Dare die Hüften still und grub das Gesicht in die Brüste der Dame, um ein gutturales Stöhnen zu ersticken.

Violet wartete darauf, dass noch etwas geschähe, aber sie hielten nur still, bis sie wieder bei Atmen waren, dann begannen sie damit, ihre Kleidung zu richten.

Sie blinzelte. Das war alles? Die ganze Sache ließ sie eigenartig unberührt. Das Ganze wirkte irgendwie so unpersönlich – eigentlich grob, und es sah ebenso absurd aus, wie es klang, ausgenommen der eine Augenblick am Ende, als Lord Dare sein Vergnügen gefunden hatte. Etwas an diesem unterdrückten Stöhnen klang tief in ihrem Bauch wider und hinterließ ein fremdes, sehnsüchtiges Gefühl.

Wenn etwas daran sie wirklich schockierte, dann war es die Nonchalance, mit der Lord Dare die Röcke der Dame wieder an Ort und Stelle brachte, nachdem sie fertig waren. »Ein Vergnügen, wie immer, Lady Uplands. Ich wusste, es gab zumindest einen guten Grund, nach England zurückzukehren.«

Er tätschelte ihr die Wange, was für Violet wie eine Entlassungsgeste aussah, aber die Dame – offenbar Lady Uplands – griff nach seinem Arm. »Kommt später noch zu mir in die Harley Street, Mylord.«

Er zuckte achtlos mit den Schultern. »Vielleicht. Nun auf in den Kleinen Salon. Ich folge in wenigen Augenblicken.«

Die Türklinke klackerte, und Violet duckte sich wieder weg, als Lady Uplands die Bibliothek verließ. Als die Tür geschlossen war und der Raum wieder im Dunkeln lag, spitzte sie über die Sofalehne, neugierig zu sehen, was Lord Dare noch täte.

Tatsächlich tat er nicht viel. Er nestelte geheimnisvoll an seinem Hosenlatz herum, hob seinen Mantel vom Boden auf und zog ihn über. Er griff in die Tasche und zog eine Uhr hervor, sah darauf, ließ sie wieder zuschnappen und schlenderte zur Kommode hinüber, um sich ein Glas von Lord Derricks Whisky zu genehmigen. Als er fertig war, sah er erneut auf die Uhr, richtete mit einem schneidigen Zug seinen Mantel und verließ die Bibliothek.

Nun. Lord Dare hatte diesen Abend ordentlich etwas geleistet, nicht?

Violet blieb, nachdem er gegangen war, noch auf dem Sofa sitzen, solange sie es wagte. Sie verspürte nicht mehr den Wunsch, nun noch im Kleinen Salon aufzutauchen, aber ihre Schwestern würden sich wundern, wo sie bliebe, und Hyacinth musste bereit für den Aufbruch sein.

Auf dem Weg zur Tür blieb Violet stehen, um das Buch aufzuheben, das Lord Dares begeistertes Gestoße aus dem Regal befördert hatte. Er musste regelrecht darüber gestolpert sein, hatte sich aber nicht darum geschert, es zurückzustellen. Aus irgendwelchen Gründen störte das Violet mehr als alles andere, was sie an diesem Abend gesehen hatte.

Sie drehte das Buch in ihrer Hand um. Es war eine Sammlung von Kupferstichen, die in Leder eingebunden waren. Ihre Mundwinkel zogen sich missbilligend herunter, als sie sah, dass der Rücken gebrochen war, aber dann bemerkte sie den Titel in handgesetzten Lettern, und ein leises Lachen entrang sich ihr, als sie das Buch umsichtig ins Regal zurückstellte.

Der Wüstling.

Wie passend.

Kapitel Zwei

Irgendein Dämchen hämmerte auf dem Pianoforte herum, und jeder falsche Ton rammte sich in Nicks Kopf, als wäre sie ein Schmied, und ihr Nagel würde in seinen Schädel getrieben.

Lärm war nun einmal kein Ersatz für Können.

Nick seufzte. Er war diesen Abend in der Hoffnung auf Zerstreuung hergekommen, aber nichts in diesem Haus konnte ihn unterhalten. Weder in diesem Haus noch in ganz London. Das alles hatte er schon Dutzende Male gesehen. Er war dieser verfluchten Stadt zwei lange Jahre ferngeblieben, und das war bei Weitem nicht lang genug.

England war genauso kalt und nass wie eh und je, Abendgesellschaften waren nach wir vor sterbenslangweilig, und er hätte geschworen, dass die junge Lady, die gerade ihre zweifelhaften musikalischen Fähigkeiten zum Besten gab, dieselbe war, die bei der letzten englischen Abendgesellschaft gespielt hatte, der er vor zwei Jahren beigewohnt hatte.

Natürlich war das unmöglich, aber es war schon bemerkenswert, wie sehr ein blasses englisches Dämchen dem anderen glich.

Oder ein britischer Lord dem anderen, was das anging.

Nick sah Lord Derrick quer durch den Raum auf sich zu schlendern. Er setzte sich neben Nick auf das Sofa und lächelte ihm herzlich zu. Eines musste man Derrick zugutehalten: Er war auch unter den peinlichsten Bedingungen der vollendete Gentleman.

»Willkommen zu Hause in England, Balfour. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, und doch hast du dich seit dem letzten Mal, als ich dich gesehen habe, überraschend wenig verändert.«

Es war eine schlichte Feststellung, und in Lord Derricks Ton klang keine Spitze, trotzdem spannte Nick unwillkürlich den Kiefer an. Als er Derrick das letzte Mal gesehen hatte, war er so besoffen gewesen, dass er kaum aufrecht hatte stehen können. Damals war er in einer räudigen Spielhalle im West End gewesen und hatte sein Bestes getan, sein Erbe auf den Kopf zu schlagen, und Derick hatte sich gezwungen gesehen, ihn mit einem gezielten Fausthieb ins Gesicht niederzustrecken, um ihm hinauszerren zu können.

Vergebliche Müh, wie sich herausstellte, denn sein Vater hatte es längst selbst auf den Kopf geschlagen.

Das war etwa sechs Monate nach Grahams Tod gewesen. Nick hatte da aufgehört, den Lord des Herrenhauses zu spielen und war aus dem Anwesen in West Sussex nach London geflohen, wo ihm die Flüche seines Vaters immer noch in den Ohren gellten.

»Etwas hat sich dennoch geändert«, stieß Nick hervor. »Ich bin kein Balfour mehr, Derrick. Ich bin jetzt Lord Dare.«

Aber so sollte es nicht sein, und Derrick zuckte unwillkürlich bei der Erinnerung zusammen. »Natürlich. Entschuldige.«

Ein Schuldgefühl versetzte Nick einen Stich in die Brust, und er sog tief den Atem ein, um Haltung zu wahren. Es ergab keinen Sinn, es an Derrick auszulassen. Früher waren sie mal enge Freunde gewesen, und Derrick war so anständig, ihn an diesem Abend eingeladen zu haben. Und schließlich hatte Derrick nicht Unrecht. Nick war inzwischen vielleicht Lord Dare, aber er war immer noch der gleiche nichtsnutzige Schuft wie zu Grahams Lebzeiten.

Es war deprimierend, wie wenig die Dinge sich änderten. Zwei Jahre waren vergangen, und doch saß er hier mit enggebundener Krawatte und noch engerem Mantel, und in seinen Ohren hallte die geballte Tragik musikalischer Inkompetenz, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen.

»Wie ist das Befinden von Lady Westcott?«, fragte Lord Derrick, offensichtlich bemüht, das Thema zu wechseln. »Sie geht nicht mehr viel aus in die Gesellschaft. Ich habe sie seit Monaten nicht gesehen. Ich hoffe, sie ist wohlauf.«

»Oh, um Lady Westcott brauchst du dich nicht zu sorgen. Ihr geht es sehr gut, und sie ist ebenso ungeduldig und anspruchsvoll wie eh und je. Sie ist noch ganz und gar dieselbe Tyrannin, an die du dich erinnerst.«

Und zwar nicht irgendeine Tyrannin, sondern diejenige, die Nick die Zügel anzog.

Seine Tante war alles, was ihm noch an Familie geblieben war, und Nick betete sie an, doch das hielt ihn nicht davon ab, gelegentlich zu wünschen, er könne ihr den Hals umdrehen. Sie hatte darauf bestanden, dass er Derricks Abendeinladung annehmen müsse, zweifellos in der Hoffnung, sein alter Freund würde ihn auf magische Weise davon überzeugen, dass irgendwo tief unter seiner Abscheu gegenüber London der brennende Wunsch lag, für immer hierzubleiben.

Sollte Nick einen Hauch dieser Hoffnung selbst gehegt haben, so war sie verschwunden, sobald er den Speisesaal betreten hatte. In selben Augenblick, in dem er Derrick erblickt hatte, befiel ihn die altvertraute Hoffnung, die ihn auch zum ersten Mal bereits aus London hatte fliehen lassen. Es hätte ihn trösten sollen, seinen Kindheitsfreund wiederzusehen, tat es aber nicht. Es ließ ihn Grahams Abwesenheit nur noch schmerzlicher spüren.

Wie es schien, gab es keine Heimkehr. Nicht für ihn.

Das war nicht wirklich eine Überraschung. Er hätte es erwarten müssen, und Lady Westcott ebenfalls. Sie waren beide etwas zu alt, um an Zauberei zu glauben.

Lord Derrick schmunzelte. »Aha. Ihre Ladyschaft verlangt, dass du in London bleibst, oder?«

»Was auch immer sie davon hat, ja.« Nick hatte lediglich einem sechswöchigen Aufenthalt zugestimmt, und er wollte verdammt sein, wenn er auch nur einen Augenblick länger bliebe. »Es ist November, Himmel noch mal. Niemand verlässt im November Italien, um nach England zu gehen.«

Er stieß einen bedauernden Seufzer aus, als er an Catalina dachte, die üppige, dunkelhaarige italienische Geliebte, die er kürzlich erst in seiner Villa am Meer aufgenommen hatte. Er hatte kaum die Gelegenheit gehabt, ihre Röcke zu lüften, bevor er gezwungen war, ins feuchte, kühle, schmutzstarrende London zurückzukehren.

»Es sei denn, der Vater stirbt im November, wie es bei dir geschehen ist.«

Diesmal lag ein entfernter Anklang von Tadel in Lord Derricks Stimme, doch Nick tat ihn mit einem Schulterzucken ab. Sein Vater hatte fast drei Jahre lang einen Weg zu sterben gesucht. Dass es ihm schließlich gelungen war, schien kaum Anlass zur Trauer zu sein.

»Der Tod ist eine ziemlich gute Möglichkeit, dem englischen Winter zu entkommen, oder nicht? Vielleicht sollte ich es in Betracht ziehen, in meiner Zeit hier eine Schwindsucht zu entwickeln, einen Reizhusten oder eine mysteriöse Lungenentzündung. Woran man auch immer in England stirbt. Vielleicht Langeweile.«

»Ach, ich bin mir sicher, du wirst hier schon etwas finden, um dich zu unterhalten, Dare. Du warst immer sehr gut darin, Zerstreuung zu finden, und London bietet eine Fülle an Möglichkeiten, um deinen Lastern nachzugehen.«

London und Lord Derricks Bibliothek, wie der Zufall es gewollt hatte.

Nun gut. Jeder musste sich mit etwas abheben, und Nick hob sich damit ab, dass er sich besonders gut verwöhnte.

Er sah mit hochgezogener Augenbraue zu Lady Uplands, die auf der anderen Seite des Kleinen Salons saß, mit einem behandschuhten Finger über ihre geschwollenen Lippen rieb und ihn hungrig ansah, wie sie es beim Abendessen bereits getan hatte.

Sie verfügte immer noch über spektakuläre Brüste – sie hingen keine Spur mehr als vor zwei Jahren, als er sie letztes Mal liebkost hatte. Aber er hatte sie schon so oft erforscht, und ein Mann brauchte die Abwechslung. Er konnte genauso wenig immer wieder dieselbe Lady rammeln, wie er immer wieder dasselbe Buch lesen oder bei jeder Mahlzeit dasselbe Essen vertilgen konnte.

Übrigens hatte die Begegnung mit Lady Uplands ihn deprimiert. Die dunkle Bibliothek, ihre Röcke, die er mit den Fäusten umklammert hatte, ihr wogender Busen – es war alles zu vertraut. Wie auch alles andere an diesem Abend, es vermittelte ihm das Gefühl, England nie verlassen zu haben.

Lady Uplands fing seinen Blick auf und ließ die Zungenspitze über ihre Oberlippe gleiten.

Nick bedeckte den Mund mit der Hand, um ein Gähnen zu verbergen.

Wie subtil.

Mochte sie auch ihre Lippen lecken, so viel sie wollte, und mochte sein Schwanz so hoffnungsvoll zucken, wie er wollte, aber es wäre am besten, wenn er der Versuchung, ihr in Harley Street diese Nacht noch einen Besuch abzustatten, widerstand. Auch wenn es ihn reizte, ein paar abgeschiedene Stunden mit ihr zu verbringen, so würde eine Tändelei mit Lady Uplands seine Stellung bei seiner Tante nicht gerade verbessern. Er hatte es bereits geschafft, Lady Westcott in den wenigen Wochen seit seiner Rückkehr nach England an den Rand ihrer Geduld zu bringen, und Lady Uplands war genau die Art von Laster, die seine Tante heulend über diesen Rand hinwegführen würde.

Leider hatte Lady Westcott für ihn keineswegs im Sinn, dass er jeden Abend seinem Liederleben frönte oder die Tage schlafend in seinem Bett verbrachte, um sich von besagtem Liederleben zu erholen. Ihrer Meinung nach war das nicht der richtige Zeitvertreib für den Earl of Dare.

Das Dämchen am Pianoforte quälte die letzten Töne von Moores »The Minstrel Boy« aus dem Pianoforte, dankte mit einem Knicks für den Applaus und ließ sich wieder auf ihrem Platz auf dem Sofa nieder.

»Ich dachte, sie würde nie fertig«, murmelte Derrick. »Ich weiß nicht, ob ich noch länger einem nicht enden wollenden Gehämmer …«

»Miss Somerset, spielen Sie für uns?«

Nick folgte Lady Derricks Blick zu einer gelben Seidencouch im hinteren Teil des Raums, auf der eine junge Frau bei der Bitte wie ein verängstigtes Kaninchen erstarrte.

Es war seine süße kleine Tischdame mit den dunkelblauen Augen, dem hellen Haar und den hübschen Lippen. Als er sich auf seinen Platz am Tisch ihr gegenüber gesetzt hatte, war sie errötet wie eine Pfingstrose und hatte es nicht geschafft, seinen Blick zu erwidern.

»Ah, siehst du, wie klug meine Frau ist?« Die Art und Weise, wie Lord Derrick die Worte ›meine Frau‹ besitzergreifend in die Länge zog, war unmissverständlich. »Es wäre tatsächlich ein großes Glück für uns, wenn Lady Derrick Miss Somerset zum Spiel überzeugen kann. Sie zeigt ihre musikalischen Fähigkeiten nur selten, aber sie sind außergewöhnlich.«

Nick unterdrückte erneut ein Gähnen. Ihn scherte es nicht besonders, ob das Dämchen spielte oder nicht. »Somerset sagst du? Den Namen kenne ich nicht. Wer ist sie?« Eigenartigerweise konnte er sich nicht erinnern, dass Derrick sie beim Dinner einander vorgestellt hätte.

»Hyacinth Somerset. Sie ist eine von Lady Chases Enkelinnen.«

Nick beobachtete aus zusammengekniffenen Augen Miss Somerset, die sich auf den Schemel vorm Pianoforte setzte und innehielt, die Finger selbstsicher über den Tasten haltend. »Lady Anne Chase? Mir war nicht bewusst, dass sie Enkelinnen hat.«

Lady Chase gehörte zu einer Gruppe von etwa einem Dutzend Matronen, die trotz ihres vorangeschrittenen Alters in Londons feiner Gesellschaft eine beträchtliche Macht innehatten. Sie wurde entweder wegen ihres aufbrausenden Gemütes gefürchtet oder für ihren makellosen Charakter und ihr beträchtliches Vermögen respektiert, doch ganz gleich, was man von ihr hielt, war sie unbestreitbar eine der großen alten Damen Londons.

»Sie sind erst vor zwei Jahren nach London gekommen, um bei Lady Chase zu wohnen, nachdem ihre Eltern in einem tragischen Unfall ums Leben gekommen sind. Hyacinth Somerset ist ein süßes kleines Ding und eine liebe Freundin von Lady Derrick. Sie spielt wundervoll, aber ich fürchte, sie ist sehr schüchtern.«

Nick unterdrückte ein Schnauben. Schüchtern? Sie sah aus, als wollte sie gleich in Schockstarre fallen vor Angst. Das zarte Rosa hatte ihre Wangen wieder verlassen, und sie war so blass, dass es grau wirkte. Ihre Hände zitterten. Um Himmels willen, was war mit dem Dämchen los? Sie hatte doch sicher schon in Dutzenden anderen Salons ihre Musikkünste vorgeführt? Nick unterdrückte ein Seufzen, als ihre Finger auf die Tasten sanken, und er wappnete sich für eine weitere langweilige Vorführung.

Als Miss Somersets Finger anhoben, sich anmutig über die Tasten hinweg zu bewegen, gab es ein einmütiges Einatmen, und auch Nick wurde ruhig, als die ersten Dutzend Noten von Haydns letzter Klaviersonate durch den Kleinen Salon schwebten. Schweigen breitete sich aus, als sie in dem Stück versank, und ein zartes Lächeln umspielte ihre Lippen, als die leichten, trällernden Töne übereinander hinweg perlten.

Nicks verkrampfter Nacken entspannte sich, und eine Welle der Erbauung spülte über ihn hinweg, die dem Gefühl ähnelte, das man bekam, wenn man nach einem langen, draußen im Kalten verbrachten Tag in ein warmes Bad eintauchte. Er war ein großer Bewunderer Haydns, und noch nie hatte er dieses Stück besser spielen gehört. Miss Somersets Technik war beeindruckend, doch fing sie auch die außergewöhnliche, überschäumende Besonderheit der Musik ein, und sie empfand solch offenkundiges Vergnügen beim Spiel, dass es eine Freude war, ihr zu lauschen.

Freude. Nun, das … war neu.

Als sie geendet hatte, blieb sie eine Weile auf dem Schemel sitzen, immer noch in der Musik gefangen, aber bei dem begeisterten Applaus ruckte sie mit dem Kopf hoch, und ihre Augen weiteten sich, als wäre sie überrascht, Menschen im Raum zu sehen.

Sie erhob sich unbeholfen, sodass Nick sich bereits selbst erhob, aber bevor er anbieten konnte, sie zu ihrem Platz zurückzugeleiten, eilte Lady Derrick hinüber, legte einen Arm um Miss Somersets Schultern und führte sie aus dem Kleinen Salon hinaus.

Derrick nickte einer blonden Dame und einem großen, streng wirkenden Gentleman zu, die den beiden folgten. »Das ist ihre Schwester Lady Huntington, und daneben der Marquess of Huntington.«

»Warum ist Miss Somerset überhaupt um diese Jahreszeit in London?« Schließlich war es nicht mitten in der Saison. »Sie muss doch bald für die Feiertage aufs Land reisen.«

»Lady Chase hat einen Landbesitz in Buckinghamshire, aber sie hält sich nie dort auf. Sie behauptet, es wäre zu weit weg. Sie ist etwas penibel, und sie verabscheut das Land. Sie verlässt London nur selten, und sie besteht darauf, dass ihre Enkelinnen immer bei ihr sind.«

»Miss Somerset ist ein hübsches kleines Ding. Ich glaube, du hast mich beim Dinner gar nicht mit ihr bekanntgemacht, Derrick. Warum tust du es nicht jetzt, und vielleicht kann ich ihr morgen einen Antrittsbesuch abstatten.« Es war etwas, das er ohnehin machen musste, und die Geste würde seiner Tante gefallen. Selbst mit ihren überhöhten Ansprüchen würde sie wohl kaum etwas an einer von Lady Chases Enkelinnen auszusetzen finden.

Doch Lord Derrick lachte nur auf und schüttelte den Kopf. »Euch bekanntmachen? Gewiss nicht. Miss Somerset ist eine Lady, Dare, keine Opernsängerin oder Schauspielerin, oder eine lustige Witwe, die einen Beschützer sucht. Sie dir vorzustellen wäre, als stieße man ein zartes Lamm dem Löwen just in die Klauen.«

Nick starrte seinen alten Freund an, und in seinem Hals brannte ein plötzlicher, bitterer Zorn. Er hätte wissen müssen, dass Derrick nicht einfach vergessen hatte, ihn mit Miss Somerset bekanntzumachen. Das war volle Absicht gewesen, und für eine solche Kränkung konnte es nur einen Grund geben. Nick leugnete ja gar nicht, dass er ein Schurke war, aber bei all seinen Lastern war er doch kein räuberischer Verführer von Jungfrauen!

»Meine Güte, Derrick. Glaubst du wirklich, ich würde eine unschuldige junge Dame kompromittieren? Ich bin vielleicht nicht gerade Graham, aber doch kein wahrhafter Wüstling.«

Ein Hauch von Röte zog über Derricks Antlitz. »Ich bitte um Verzeihung, Dare. Ich wollte nicht andeuten … Meine Gattin hat die Somerset-Schwestern sehr ins Herz geschlossen, und Hyacinth Somerset ist … ungewöhnlich. Ich fürchte, wir sind alle etwas überfürsorglich ihr gegenüber.«

»Na, ich habe dich ja nicht gebeten, sie mir wie in einem heidnischen Opferritual ins Schlafzimmer zu bringen, Derrick. Es geht nur um schlichtes Vorstellen, das ist alles. Wenn ich der Dame gleichgültig bin, lasse ich sie ganz in Ruhe.«

Natürlich wäre er ihr nicht gleichgültig. Er war den Damen nie gleichgültig, und dazu brauchte es von seiner Seite nicht einmal große Anstrengungen.

Wie um das zu beweisen, fing Lady Uplands auf der anderen Seite des Zimmers nun seinen Blick auf, zog einen Schmollmund und begann, an ihrer Lippe zu knabbern. Nick ließ seinen Blick von ihrem vollen Mund zu ihrem spektakulären Busen wandern, und plötzlich erinnerte er sich an eines ihrer besonderen Talente, das ihre beiden besten Züge mit einbezog: diese schwellenden Lippen ebenso wie den ausgeprägten Busen.

Vielleicht würde er sie diese Nacht doch noch kurz in der Harley Street aufsuchen. Seine Tante brauchte es nicht zu wissen …

»Ich denke, es wird nicht schaden, euch einander vorzustellen«, gestand Lord Derrick zu. »Wie ich bereits sagte, sie ist schüchtern, aber ich sehe mal, ob sie mit mir in den Kleinen Salon zurückkommen möchte. Wenn ja, benimmst du dich wie ein richtiger Gentleman, Dare.«

»Was, du meinst, ohne Anzüglichkeiten und Anspielungen? Ohne sie über die Schulter zu werfen und …«

»Verdammich, Dare.«

»Großer Gott, Derrick. Ich mache doch nur Scherze. Im Gegensatz zu dem, was du wohl denkst, weiß ich mich einer Lady gegenüber sehr wohl zu benehmen.«

Er entschied sich bloß meistens dagegen.

Derrick sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und erhob sich dann zögerlich. »Dann tu es auch.«

Er ging mit einem resignierten Seufzen aus dem Kleinen Salon hinaus, und Nick entspannte sich auf dem Sofa. Er würde charmant lächeln, wenn Derrick mit Miss Somerset zurückkäme, würde ihr Spiel loben und um die Erlaubnis fragen, ihr am nächsten Morgen seine Aufwartung machen zu dürfen. Sie würde es ihm gewähren, und er würde darauf achten, den Besuch seiner Tante gegenüber zu erwähnen, um in ihrem Ansehen wieder zu steigen.

»Ich wünsche Euch einen angenehmen Abend, Lord Dare.«

Nick blickte auf und sah Lady Uplands neben dem Sofa stehen. Er erhob sich und verbeugte sich höflich. »So früh schon auf dem Sprung, Mylady?«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem einladenden Lächeln. »Ach, ich denke, wir haben diesem Abend alles an Vergnügen abgerungen, was möglich war, nicht, Mylord? Es wird spät.« Sie schüttelte die Hand und schloss den gesamten Raum in die Bewegung ein. »Wie lange wollt Ihr denn bleiben? Alle anderen sind bereits gegangen.«

Nick blickte mit gerunzelter Stirn in den geleerten Raum. Verflucht, wo war denn Derrick? Er wollte vorgestellt werden und auch nicht eine solch angenehme Gelegenheit verpassen, seine Tante zu beschwichtigen, aber er hatte nicht vor, die ganze Nacht abzuwarten, bis das Dämchen endlich den Mut fand, in den Kleinen Salon zurückzukommen.

»Wenn ich es richtig verstanden habe, werdet Ihr eine Weile in London sein, Mylord.« Lady Uplands leckte sich über die ausgeprägte Unterlippe und blickte ihn mit schweren Augen von unten herauf an. »Ich hoffe zuversichtlich, dass Ihr mich während Eures Aufenthalts besuchen werdet. Ihr seid herzlich eingeladen, zu kommen, sooft Ihr es wünscht.«

Nick vergaß Miss Somerset und grinste mit offenen Wohlbehagen auf Lady Uplands hinunter. Es war viel Gutes über eine Frau zu sagen, die genau wusste, was sie wollte. »Nichts täte ich lieber, als Euch regelmäßig zu sehen, Mylady.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern, beugte sich näher zu ihr und murmelte ihr direkt ins Ohr: »Und zwar alles von Euch.«

Sie stieß ein tiefes, wollüstiges Lachen aus. »Wie zauberhaft.«

Nick öffnete den Mund, um ihr zuzustimmen, aber bevor er das konnte, schlenderte Miss Somerset in den Kleinen Salon – allein. Nick sah zur Tür, doch zu seinem Missfallen tauchte Derrick nicht auf.

Miss Somerset zog eine Braue hoch, als sie ihn und Lady Uplands bemerkte, und ein eigenartiges, kleines Feixen glitt über ihre Lippen, aber sie schenkte ihnen keine weitere Aufmerksamkeit. Sie sah sich um, als suche sie nach etwas, dann ging sie durch den Salon zum Pianoforte.

»Mylord?« Lady Uplands strich ihm neckisch mit einem Finger über den Arm. »Folgt Ihr mir in Eurer Kutsche?«

»Darauf könnt Ihr rechnen, Mylady.« Doch Nick hatte seine Aufmerksamkeit Miss Somerset zugewandt, die ein blaues Tuch aufhob, das neben dem Klavierschemel zu Boden gefallen war, und im Begriff war, den Raum wieder zu verlassen.

Schockschwerenot.

Sein Blick huschte hoffnungsvoll zur Tür des Salons, aber Derrick war noch immer nicht in Sicht. Es war nicht schicklich, Miss Somerset anzusprechen, ohne ihr formell vorgestellt worden zu sein, aber wenn er diese Gelegenheit nicht ergriff, zweifelte er, dass er eine weitere bekommen würde.

Zum Teufel mit der Schicklichkeit. Er hatte noch nie einen Deut darum gegeben, warum also jetzt damit anfangen? »Ach, Miss Somerset? Auf ein Wort, bitte?«

Lady Uplands und Miss Somerset sahen ihn mit offenstehenden Mündern an, von seinem Mangel an Manieren schockiert, dann stieß Lady Uplands ein leises Zischen aus und wandte sich mit einem Rucken ihres Kopfes ab. Miss Somerset machte ihr Platz, als Ihre Ladyschaft aus dem Gemach rauschte, dann wandte sie sich wieder zu Nick um.

Ein eigenartiger Ausdruck glitt über ihr Gesicht, als versuche sie noch herauszufinden, ob sie erschrocken oder amüsiert sein sollte. Ihr Blick wanderte von seinem Haarschopf bis zu seinen Stiefeln, aber er hatte den Eindruck, als zögerte sie bei seiner Weste und seinem …

Großer Gott, starrte sie etwa seinen Hosenlatz an?

Ein ungewohntes Peinlichkeitsgefühl überkam ihn und ließ ihm den Hals heiß werden. Jesus Christus, war sein Hosenlatz nach der Tändelei mit Lady Uplands etwa in Unordnung? Ohne es verhindern zu können, zog er seinen Mantel mit einem festen Griff so zurecht, dass er mögliche unordentliche Stellen in seiner Kleidung überdeckte. Miss Somerset gab ein leises Geräusch von sich, und sein Blick ruckte gerade rechtzeitig zu ihrem Antlitz zurück, um zu sehen, wie ihr Ausdruck von peinlich berührt zu amüsiert wechselte.

Er starrte sie an, schweigend und wie vom Donner gerührt. Er hatte bei einer Dame, die nach ihrem Spiel am Pianoforte beinahe in Schockstarre gefallen wäre, kein solch ausgeprägtes Selbstbewusstsein erwartet. Er musterte sie mehrere Augenblicke mit zusammengezogenen Augen, aber es konnte kein Irrtum sein: dunkelblaue Augen, blondes Haar, hübsche, rosige Lippen. Sie war zierlicher, als er gedacht hätte, und in ihrem Lächeln lag etwas Verschmitztes, das er nicht erwartet hätte, aber andererseits hatte er bis jetzt kaum auf sie geachtet.

»Wie kann ich Euch helfen, Mylord?«

Ihr Blick wanderte erneut über ihn hinweg, und dieses Mal blieb er mit solcher Aufmerksamkeit an seinen Hosen hängen, dass Nick einen kurzen Augenblick dachte, sie wolle ihn fragen, ob sie ihm beim Zuknöpfen seines Latzes behilflich sein solle.

Meine Güte, vergiss deinen Hosenstall und reiß dich zusammen.

»Verzeiht, Miss Somerset.« Er durchquerte den Raum und dienerte elegant vor ihr. »Ich habe bemerkt, dass wir einander nicht vorgestellt worden sind, aber ich konnte Euch nicht entschwinden lassen, ohne Euch zu sagen, wie sehr ich heute Abend Eure Vorstellung genossen habe.«

Sie wirkte schockiert, und auf ihren Wangen flammte Röte auf. »Meine, ähm … meine Vorstellung? Ich weiß nicht, was Ihr … das heißt, ich habe nicht gesehen … Ich bin nicht sicher, was Ihr meint, Mylord.«

Nick starrt sie an, von ihrer eigenartigen Reaktion verwirrt, aber Derrick hatte gesagt, sie wäre schüchtern. Vielleicht waren Komplimente ihr peinlich.

»Ihre Vorstellung am Pianoforte. Haydn«, schlug er vor und achtete darauf, seine Stimme freundlich klingen zu lassen, damit sie nicht panisch wurde und aus dem Raum floh. »Ich bewundere seine Klaviersonaten, und Ihr habt wunderschön gespielt.«

»Oh!« Sie zog überrascht die Brauen zusammen, aber dann strahlte ihr Gesicht auf. »Oh. Ja. Haydn. Gewiss. Was hättet Ihr auch sonst meinen können? Ich, ähm … nun, danke. Sehr freundlich, Mylord.«

»Es hat mir sehr großes Vergnügen bereitet, zuzuhören. Ich glaube nicht, dass ich je eine Aufführung mehr genossen hätte.« Er kräuselte die Lippen zu dem erprobten Lächeln, das bei jungen Damen nie seine Wirkung verfehlte, und erwartete, dass sie mit Erröten darauf reagieren würde.

Doch Miss Somerset errötete nicht. Stattdessen musterte sie ihn mit einer Intensität, die ihn an seine Tante erinnerte, wenn sie kurz davor stand, ihn wütend auszuschimpfen. »Vergnügen. Ja, ich wage zu sagen, dass man nicht bei jeder Dinnergesellschaft in den Genuss eines solches Vergnügens kommt wie Ihr heute Abend.«

Das war eine befremdliche Antwort, und Nick stolperte über seine Replik. »Ja, nun, nicht viele junge Damen spielen so gut wie Ihr. Darf ich Euch morgen meine Aufwartung machen, Miss Somerset, um mich nach Eurem Befinden zu erkundigen?« Er errötete ob der Direktheit seiner Bitte. Verdammich, er war doch nie derart unbeholfen, insbesondere nicht bei den Damen, aber sein glatter Charme schien im Angesicht von Miss Somersets unverblümtem Blick dahingeschwunden zu sein.

Sie musste sein Ansinnen wohl ebenso mangelhaft empfinden wie er selbst, denn sie schüttelte den Kopf. »Nein, das denke ich nicht, Mylord. Wir sind einander nicht vorgestellt worden.«

»Ich bin Lord Dare, und Ihr seid Miss Somerset.« Er verbeugte sich zum zweiten Mal und hielt ihren Blick fest, als er nach ihrer Hand griff und zu seinen Lippen hob. »So. Darf ich Euch nun meine Aufwartung machen?«

Ah, viel besser. Das war charmant gewesen. Jetzt würde sie sicherlich kapitulieren …

»Nein danke, Lord Dare.« Ihr Tonfall war freundlich, aber kühl, und sie legte sich das blaue Tuch mit einer Endgültigkeit über den Arm, die zeigte, dass das Gespräch beendet und sie bereit zu gehen sei.

Nick blieb der Mund offenstehen. Für so eine kleine Maus hatte sie sich seiner recht sauber entledigt. Aber er hatte nicht vor, mit ihr zu diskutieren. Schließlich diskutierte ein Gentleman niemals mit einer Lady. Schade, denn sie hätte sich bei seinen Auseinandersetzungen mit seiner Tante als nützlich erwiesen, aber er hatte genug Zeit auf Miss Somerset verschwendet.

Er lächelte kühl und verbeugte sich höflich. »Sehr gut. Dann wünsche ich Euch einen angenehmen Abend.«

Sie nickte und ging zur Tür, doch bevor sie hindurchtrat, blieb sie stehen, sah zu ihm zurück, und das schelmische Lächeln, das er schon zuvor bemerkt hatte, umspielte ihre Mundwinkel. »Ach, Lord Dare? Ich habe Eure Aufführung heute Abend ebenfalls genossen.«

»Meine Aufführung?« Er hatte nicht den leisesten Schimmer, wovon sie sprach, es schien ihm jedoch beinahe, als lache sie ihn aus.

»Oh ja. Ich habe mich von Euren … lebhaften Bemühungen … überaus unterhalten gefühlt.«

Was zum Teufel sollte das denn heißen? Nick blieb der Mund offenstehen, doch noch bevor ihm eine kluge Replik einfiel, war Miss Somerset verschwunden.