Leseprobe Verstrickt nochmal

Kapitel 1

„Weiße Lilien und rote Rosen, das wird ein besonders schöner Trauerkranz.“ Justine lächelte.

Die Kundin konnte sich Tränen der Rührung nicht verkneifen. „Zu Ehren meines verstorbenen Ex-Mannes“, brachte sie hervor. „In ewiger Liebe, Deine Margret und Kinder. Könnten Sie diesen Text bitte auf die Trauerschleife drucken lassen?“

„Ja natürlich. Da wird er sich sicher freuen.“

Solch ein Aufwand für den Ex-Mann, das musste man sich mal vorstellen. „Es sind die gleichen Blumen, die wir vor dreiundfünfzig Jahren für den Hochzeitsstrauß ausgewählt hatten.“

„Seit wann sind Sie denn von Ihrem Verflossenen getrennt?“, erkundigte sich Justine mitfühlend.

„Seit siebenunddreißig Jahren“, antwortete die Lady und konnte einen weiteren Gefühlsausbruch nicht unterdrücken. „Ich kann es nicht fassen. Da wird sein toter Leib bald unter der Erde liegen und verrotten. Eine Schande! Er hatte so einen schönen Körper.“

Justine setzte gerade an, über eine passende Antwort nachzudenken, als das Telefon klingelte. Es war ihre Mutter, die es wieder und wieder versucht hatte. Das war ungewöhnlich, normalerweise rief Grace ihre Tochter nicht im Geschäft an, schon gar nicht mehrmals hintereinander. Justine bat die Trauernde um einen Augenblick Geduld und zog sich ins Hinterzimmer der Friedhofsgärtnerei zurück.

„Mum? Was gibt’s denn, ich bin gerade im Kundengespräch … Was? Nein! Das kann nicht sein. Wo? Nein! Ja … Bis gleich!“

Justine verließ das Hinterzimmer, kehrte zurück in den Verkaufsraum und suchte neben der Kasse nach ihrem Schlüssel.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Sie sind ja leichenblass", erkundigte sich die Wartende besorgt. Justine hatte ihre Kundin in der Aufregung ganz vergessen.

„Entschuldigen Sie … nein, vielen Dank. Also …“ Justine versuchte, sich für einen Augenblick zu sammeln. „Ich muss heute leider früher schließen. Ihre Bestellung habe ich aufgenommen. Wenn noch etwas sein sollte, kommen Sie gern morgen wieder vorbei. Sie erreichen mich auch telefonisch. Wenn Sie gestatten …“ Justine komplimentierte die Trauernde höflich, aber bestimmt hinaus. Irritiert über den Stimmungsumschwung redete die Dame noch eine Weile auf Justine ein, die lächelte und nickte, obwohl keines der vielen Worte bis in ihr Ohr drang. Sie war mit ihren Gedanken bei dem Anruf ihrer Mutter und der Hiobsbotschaft, die sie überbracht hatte. Ihr Vater war angeblich von der Natursteintreppe zwischen Siedlung und Friedhof gestürzt! Schädel-Hirn-Trauma! Wie konnte das passieren?

Kapitel 2

Das hübsche Eigenheim, in dem Justine gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Grandma Emily seit vielen Jahren wohnte, lag nur wenige Minuten von ihrem Arbeitsplatz entfernt in einer beschaulichen Siedlung gleich auf der anderen Seite des Friedhofs. Außer sich vor Sorge um ihren Dad lief Justine quer über die Grünfläche des Areals, bis sie über ein kleines Holzkreuz stolperte. Das war gestern noch nicht da gewesen. Oder? Wo genau befand sie sich überhaupt? Sie hatte sich verlaufen! Das war ihr noch nie passiert. Sie kannte jeden Quadratmeter ihres Friedhofs und seiner Umgebung in- und auswendig. Nun stand sie zwischen der Familiengruft der Godschlings, dem Doppelgrab ihres Großvaters William und der neu angelegten Urnenwiese. Sie hatte die falsche Abkürzung genommen. Doch wenn sie nun schon einmal dort war, würde sie kurz die Natursteintreppe begutachten. Sie wurde von Kennern der Umgebung und Anwohnern als Schleichweg zur Siedlung benutzt, auch von ihrem Dad. Jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit und auf dem Rückweg nach Hause spazierte er durch das kleine Waldstück über diese Treppe, die am Rand des Friedhofs entlangführte, unweit von Williams letzter Ruhestätte. Justine betrachtete die flachen Stufen und lief eine nach der anderen ab. Sie waren weder rutschig noch sonderlich verschmutzt. Es lagen auch keine Gegenstände im Weg, über die man hätte stolpern können. Und selbst, wenn es so gewesen wäre, ihr Dad kannte diese Treppe in- und auswendig. Wieso sollte er derart unglücklich ohne jeden Grund gestürzt sein? Es war seltsam. Irgendetwas stimmte nicht. Sie ließ von ihrer Untersuchung ab und eilte nach Hause.

Ihre Mum stand ganz aufgelöst vor der offenen Haustür. Ihr Kleid wehte im Wind und eine Strähne ihres zurückgesteckten, brünetten Haares hatte sich über ihre Lippen gelegt. Sie sah aus wie die Protagonistin eines französischen Liebesfilms. Grace schien Justine sehnlichst erwartet zu haben. Hinter ihr zeigte sich Justines Grandma Emily in ihrer Lieblingsreiterhose, die sie immer noch gerne trug, obwohl sie ihren Reiterhof schon lange verkauft hatte und kaum noch mit Pferden in Berührung kam. „William ist gestürzt“, rief Emily Justine schon von Weitem zu.

„Nein, Peter ist gestürzt!“, entgegnete Grace außer sich. „Peter, mein Mann! Verstehst du, Emily? Dein Mann, der William, ist doch schon lange tot.“

Justine sah ihre Mum vorwurfsvoll an. „Sprich nicht so mit ihr, sie kann doch nichts dafür, verteidigte sie ihre geliebte Grandma, deren fortschreitende Demenz ihr sehr zusetzte.

„Was ist denn nun eigentlich passiert?“

Grace rang nach Worten. „Ich weiß nichts Genaueres. Peter ist von der Treppe neben dem Friedhof gestürzt. Seitdem ist er bewusstlos. Ein Krankenwagen war da. Und ein Polizist, der das Ganze kurz protokolliert hat. Er sagte, es gäbe keinen Grund für weitere Ermittlungen. Es sei bedauerlicherweise offensichtlich ein tragischer Unfall gewesen.“

Emily weinte. Weil es Peter, ihrem Sohn, anscheinend sehr schlecht ging. Weil Grace sie wieder einmal schmerzlich daran erinnert hatte, dass William, ihr geliebter Mann, tot war. Und weil sie wusste, dass sie sich verändert hatte. Sie war immer noch geistig fit genug, um sich im Klaren darüber zu sein, dass sie Dinge vergaß und durcheinanderbrachte. Das war schlimm für sie. Früher hatte sie alles im Griff gehabt. Das musste man auch, wenn man einen Reiterhof und eine Gaststätte zu leiten hatte. Sie war mit allem klargekommen. Mit wilden Pferden und betrunkenen Kerlen, die sich weigerten, ihren Pub zu verlassen. Die Kerle warf sie raus und die Pferde ritt sie ein. So einfach war das. „Schmeiß den Kerl raus!“, rief sie plötzlich, ganz in ihrer Vergangenheit als Gastwirtin aufgehend. „Wen willst du denn rausschmeißen, Mum? Hier gibt’s keinen Kerl mehr. Peter ist im Krankenhaus! Auf der Intensivstation.“ Grace versuchte, sich zu beherrschen, was ihr in ihrer Verzweiflung mehr schlecht als recht gelang.

„Im Krankenhaus? Das ist schlimm!“ Alle Krankenhausszenen ihrer langen Vergangenheit spielten sich vor Emilys innerem Auge ab und sie war völlig überfordert mit der beklagenswerten Situation. Nicht nur sie, auch Justine.

 

Grace fuhr ins Krankenhaus und Justine blieb mit Emily und dem Chaos ihrer Gedanken zurück. Sie schloss die weiße Holztür hinter sich und machte es sich auf dem braunen Chesterfield-Sofa neben einem turmhohen Bücherstapel bequem. Emily gesellte sich zu ihrer Enkelin und zog ein bebildertes, großes Buch aus dem Stapel, der daraufhin krachend in sich zusammenfiel.

„Grandma, pass doch auf!“, rief Justine erschrocken.

„Entschuldige, Darling. Siehst du? Mein Buch über Jenseitskontakte. Darin möchte ich gerne lesen.“

„Du hast deine Lesebrille gestern mit dem Hausmüll entsorgt, erinnerst du dich? Wir müssen dir erst eine neue besorgen. Ich werde dir vorlesen.“

Emily interessierte sich für alles Spirituelle, das mit Magie zu tun hatte. In der Hoffnung, ihrem William auf die ein oder andere Art wieder begegnen und mit ihm sprechen zu können, suchte sie ständig nach Möglichkeiten, mit ihm in Kontakt zu treten. Sie hätte nur zu gerne mit ihm über die schlimmen Neuigkeiten gesprochen. Justine war entnervt. Jenseitskontakte waren das Letzte, wonach ihr zumute war. Sie stapelte die Bücher wieder aufeinander. Dabei fiel ihr ein Wälzer über Krafttiere im Schamanismus in die Hände. Justine schaffte es, Grandma für ein Kapitel über Einhörner zu interessieren. Sie las daraus vor, bis Grandma eingeschlafen war und Grace nach Hause kam.

Kapitel 3

Grace war aschfahl. „Peters Augen waren geöffnet.“

„Wirklich?“ Justine wollte sich schon freuen, sah ihrer Mum aber an, dass es keinerlei Grund dafür zu geben schien.

„Er hat durch mich hindurchgesehen. Wachkoma, sagen die Ärzte. Man muss abwarten.“

„Wieso denn abwarten?“, erwiderte Justine aufgebracht. „Man kann ihm doch bestimmt irgendwie helfen. Ich habe mal ein Buch über jemanden gelesen, der fünfzehn Jahre im Wachkoma gelegen hat. Fünfzehn Jahre! Weißt du, wie alt du in fünfzehn Jahren bist, Mum? Vierundsiebzig! Dad würde dich vielleicht gar nicht mehr wiedererkennen. Jedenfalls kann sich so ein Zustand ewig hinziehen.“

„Glaubst du, wir können etwas daran ändern?“ Grace wirkte erschöpft und niedergeschlagen. Derart still und in sich gekehrt erlebte man sie sonst selten.

„Hast du versucht, Kontakt mit Dad aufzunehmen, Mum?“, hakte Justine nach. „Hat er auf dich reagiert?“

„Ich weiß es nicht …“

Grace schwieg nachdenklich und Justine überschüttete sie mit Fragen. Verkehrte Welt. Normalerweise war Grace diejenige, die sich nach allem und jedem erkundigte und wie ein Wasserfall redete.

Justine brauchte Zeit für sich allein, entschuldigte sich bei ihrer Mutter und zog sich in ihr Zimmer zurück. Warum war ihr Dad gestürzt? Justine konnte nicht glauben, dass er ohne äußeren Anlass das Gleichgewicht verloren hatte. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, bis ihr schwindelig wurde. Wenn das Leben sie an den Rand des Wahnsinns trieb und ihre Gefühle sie zu überrollen drohten, hatte sie mehrere Möglichkeiten, ihr überreiztes Nervensystem zu beruhigen: Das Stricken, ihre Spaziergänge auf dem Friedhof oder ein Gespräch mit ihren Psychotherapeuten Thomas Cosy. Außerdem hatte sie ein Cello von einem entfernten Verwandten geerbt und es auf Anraten Cosys behalten, statt es zu verkaufen. Er meinte, dass Musik, insbesondere das Erlernen eines Instrumentes, der hochsensiblen Justine vielleicht helfen könnte, ihrem intensiven Gefühlsleben einen kreativen Ausdruck zu verleihen. Bislang war es ihr allerdings noch nicht gelungen, dem Cello mehr als ein paar Töne auf den leeren Saiten zu entlocken. Vielleicht würde sie es doch verkaufen und sich mit dem Hören von Musik begnügen.