Leseprobe Verliebt in Coldriver

Prolog

Was wäre es für ein Gefühl gewesen, wenn ich ihm etwas ins Gesicht geschleudert hätte? Wäre es befreiend gewesen? Erleichternd?

Für einen Moment stellte ich mir vor, wie der harte Gegenstand auf ihn zuraste. Sofort verzog ich die Mundwinkel. Wahrscheinlich wäre er noch nicht einmal getaumelt. Mit meinen untrainierten Armmuskeln fehlte mir sicherlich die nötige Kraft für einen ordentlichen Wurf.

Ich biss die Zähne zusammen und beschleunigte meine Schritte. Weshalb dachte ich überhaupt über so etwas nach? Das war gar nicht meine Art. Ich verabscheute alles, was mit Gewalt zu tun hatte. Außerdem wäre ich dann nicht viel besser gewesen als er.

Wieder sah ich ihn vor mir. Seinen wütenden Blick. Seine geballte Faust. Ich hörte noch immer sein Brüllen in meinem Ohr. Bei der Erinnerung lief es mir eiskalt den Rücken hinunter und alles in mir verkrampfte sich.

Ein Klingeln drang dumpf aus meiner hinteren Hosentasche und riss mich aus den Gedanken.

Während ich meinen Laufschritt beibehielt, fischte ich das Handy aus meiner Jeans.

„Hallo?“ Ich presste mir das Smartphone ans Ohr und bemühte mich, den Geräuschpegel der Großstadt um mich herum auszublenden.

„Hey, Jessy. Alles klar bei dir?“

„Hi, Lieblingsschwester.“ Ein Auto fuhr hupend an mir vorbei. „Ich hab gerade über meine nichtvorhandenen Armmuskeln nachgedacht.“

Ich hörte sie am anderen Ende kichern. „Wieso das denn?“

„Ich wollte jemandem etwas ins Gesicht werfen.“

Vanessa atmete scharf ein. „Und das aus deinem Munde? Wer ist denn der Glückliche?“

Ein bitterer Geschmack stieg meine Kehle hoch und ich presste mir mein Handy noch fester ans Ohr. Ich öffnete den Mund, doch es kam nur ein erstickter Laut heraus. Abrupt blieb ich auf dem Gehweg stehen, sodass ein hochgewachsener Mann mit einem Kaffeebecher in der Hand in mich hineinlief. Er murmelte ein leises „Sorry“ und schlängelte sich an mir vorbei. Ich nahm kaum Notiz von ihm. Erneut flammten die Bilder von heute Mittag vor meinem inneren Auge auf. Als ich die Wohnung betreten hatte, war mir sofort bewusst gewesen, dass irgendetwas nicht stimmte.

In meiner Brust wurde es eng und ich schnappte nach Luft, während ich mich rücklings an die raue Mauer eines Hochhauses stützte.

„Jess?“ Die Stimme meiner Schwester drang wie durch Watte zu mir durch.

„Das mit Josh und mir ist vorbei“, krächzte ich. Im selben Moment schossen mir die Tränen in die Augen, obwohl ich mir geschworen hatte nicht zu heulen. Nicht seinetwegen. Diesem Mistkerl.

„Was? Ihr seid doch erst zusammengezogen!“

Ein Schluchzen bahnte sich durch meine Kehle, obwohl ich am liebsten humorlos aufgelacht hätte. Das war ja der Witz an der ganzen Sache.

„Was hat dieser Idiot getan?“, zischte Vanessa. „Wann willst du ihn verprügeln? Ich komme mit.“

Bei ihren Worten drang ein ersticktes Lachen aus meinem Mund. Ich wusste, dass sie ernst meinte, was sie sagte. Sie würde mir ohne zu zögern beistehen, egal, wie wenig Details sie kannte.

„Ich hatte eben die Chance, es zu tun, stattdessen bin ich kopflos aus der Wohnung gerannt.“

„Wo bist du jetzt?“

Mit dem Handrücken wischte ich mir über die nassen Augen, ohne darauf zu achten, wie sehr ich meine Wimperntusche und meinen Lidschatten verschmierte.

„Keine Ahnung.“ Ich stieß mich von der Mauer ab und blickte die lange Straße hinunter, deren Gehwege gefüllt von hektisch herumlaufenden Passanten waren. Mehrere Autos brausten an mir vorbei. Links und rechts säumten die für New York so typischen Hochhäuser die Straße und ragten in den blauen Himmel.

„Möchtest du zu uns kommen?“, fragte Vanessa. „Mom und Dad sind gerade auf der Arbeit, aber ich wäre da.“

„Ja, das wäre toll.“ Die Nähe meiner Schwester würde mir jetzt sicher guttun.

„Super. Ich erwarte dich mit einer großen Schüssel Ben & Jerry’s. Peanut Butter Cup. Und dann löffeln wir uns die Bäuche voll, bis uns schlecht wird.“

Ich holte zitternd Luft. „Das klingt nach einem Plan.“

„Bis gleich, Jessy.“ Ein Kussgeräusch hallte blechern durch den Lautsprecher.

Kaum war unsere Verbindung abgebrochen, wallte ein kaltes Gefühl der Einsamkeit in mir auf. Am liebsten hätte ich den ganzen Weg über mit Vanessa telefoniert, um mich in diesem Moment nicht so verlassen zu fühlen. Aber mit einundzwanzig Jahren sollte man eigentlich in der Lage sein, nicht auf die beruhigende Stimme seiner jüngeren Schwester angewiesen zu sein.

Wieder sah ich Joshs Gesicht vor mir, während ich mich in Bewegung setzte und an den entgegenkommenden New Yorkern vorbeischlängelte. Hatte er mich überhaupt jemals geliebt? Oder war er nur mit mir zusammen gewesen, weil wir denselben Beruf angestrebt und damit das perfekte Traumpaar abgegeben hatten?

Betonung lag auf hatten.

Die heiße Augustsonne brannte auf mich herunter, als ich über die breite Straße Richtung Subway lief und damit kämpfte nicht loszuheulen.

 

Vanessa öffnete eine halbe Stunde später die Wohnungstür und zog mich sofort in ihre Arme. Das Brennen hinter meinen Augenlidern verstärkte sich, als mich ihre Wärme umfing.

„Hey, Jessy“, murmelte sie und strich mir über den Rücken.

Meine Kehle war wie zugeschnürt, sodass ich keinen einzigen Laut hervorbrachte. Ich krallte mich an sie und atmete ihren vertrauten Geruch ein. Wir wiegten uns sanft hin und her, bis Vanessa sich von mir löste und mich behutsam in die Wohnung zog. Kühle Luft schlug mir entgegen. Im Gegensatz zu den sommerlichen Temperaturen draußen, war es hier angenehm frisch.

Ich schlüpfte aus meinen Flipflops und kickte sie mit den Füßen in eine Ecke. Die Fliesen fühlten sich kalt unter meinen nackten Fußsohlen an, als ich hinter Vanessa die Küche betrat. Meine Schwester öffnete den Kühlschrank und holte aus dem Gefrierfach zwei große Eisbecher hervor.

„Deine Lieblingssorte.“ Sie streckte mir einen der Becher entgegen und fischte zwei große Löffel aus der Besteckschublade.

Dankbar nahm ich das Eis entgegen. Augenblicklich schmolzen die feinen Kristalle am Rand des Bechers und rannen als Wassertropfen meine Finger hinab.

Vanessas schwarze Haare schwangen in einem langen Pferdeschwanz hin und her, als sie vor mir ins Wohnzimmer ging und sich auf das Sofa warf. Ich ließ mich neben sie in die weichen Kissen fallen und spürte, wie meine Kehle enger wurde. Jetzt wieder hier zu sein, in meinem Elternhaus, weckte alte Erinnerungen. Erinnerungen an mein achtzehnjähriges Ich, das voller Stolz die Bestätigung der Uni erhalten und diese meinen Eltern in diesem Wohnzimmer präsentiert hatte. Erinnerungen an mein zwanzigjähriges Ich, das meinen Eltern Josh vorgestellt hatte.

Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel. Schnell wischte ich sie mit meinem Handrücken von der Wange und öffnete den Becher. Dann tauchte ich den Löffel in das Eis und schob mir eine große Portion in den Mund.

Als ich den Kopf hob, traf ich Vanessas Blick. Ihre Augen wirkten, genau wie meine, etwas zu groß in ihrem Gesicht. Niemand wusste genau, ob sie grün oder braun waren.

„Eure Beziehung ist also endgültig vorbei?“ Ihre Stimme drang leise zu mir durch.

„Ja.“ Ich tauchte meinen Löffel wieder in den Becher und schob mir ein Stück in den Mund. Der salzig-süße Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus.

Eine kleine Falte hatte sich auf Vanessas Stirn gebildet. „Hast du die Reißleine gezogen?“

Wie in Trance aß ich mein Eis, während sich die Szene von heute Mittag in meinem Kopf abspulte. Wie Josh auf den Esstisch gehauen hatte. Wie ich bei dem lauten Geräusch zusammengezuckt war.

„Josh war … er war doch schon immer ein bisschen impulsiv.“ Ein Zittern lief durch meinen Körper. „Heute hat er es auf die Spitze getrieben. Ich hatte so Angst, dass er … mir etwas antut.“

Vanessa wurde leichenblass. „O mein Gott, Jess.“

Joshs Worte hallten in meinen Ohren wider. Ich dachte, du wärst ehrgeiziger, Jessica. Wieso hast du nicht härter gearbeitet? Ich kann mit keiner Frau zusammen sein, die sich so gehen lässt.

„Er war sauer, dass ich mein Studium vergeigt habe und nicht sofort mit einem Plan B um die Ecke gekommen bin.“ Ich sah seine geballte Faust vor mir, die wieder und wieder auf den Holztisch niederdonnerte. Seine Schreie. Seine Wut. Irgendwann hatte er mich so fest an den Schultern gepackt, dass ich dachte, er würde mich umwerfen. Ich spürte immer noch den schmerzhaften Druck an den Stellen, an denen er seine Finger in meine Haut gegraben hatte.

„Das ist nicht sein Ernst.“ Der Schock stand Vanessa ins Gesicht geschrieben.

„Er meinte, er versteht nicht, weshalb ich mich in meinem Studium nicht mehr angestrengt habe.“

„So ein Unsinn. Natürlich hast du dich angestrengt.“ Sie schnaubte und positionierte ihre schlanken Beine in einen Schneidersitz. „Hast du deine Sachen bei ihm gelassen?“

Ich stocherte in meinem Eis herum, während sich das dumpfe Gefühl in mir verstärkte. „Ja. Ich wollte einfach nur noch weg. So lasse ich mich nicht behandeln.“

Die Wut, die mich kurz nach unserem Gespräch befallen hatte, und die Fassungslosigkeit, wichen stetig einer schweren Traurigkeit. Es war, als würden all die brennenden Blitze in mir verschwinden und durch eine dunkle Leere ersetzt werden, die alle Energie aus mir heraussog.

Ich stellte den Eisbecher auf den Wohnzimmertisch und wischte meine feuchten Finger an meiner Hose ab, bevor ich mich mit dem Kopf in Vanessas Schoß legte. Heiße Tränen brannten hinter meinen Lidern. Als mir ein leises Schluchzen entwich, spürte ich, wie Vanessa sich vorbeugte und ihren Becher ebenfalls weglegte. Sie begann sanft über meine Haare zu streichen.

Zu Beginn unserer Beziehung hatte Josh wie ein charmanter, ausgeglichener Mann gewirkt. Er hatte mich damals sofort um den Finger gewickelt. Doch je länger wir zusammen gewesen waren, desto öfter war seine aggressive Ader ans Licht getreten, die mir von Tag zu Tag mehr Angst eingejagt hatte. Nach seinem Wutausbruch heute hatte ich gewusst, dass ich weg von ihm musste. Bevor etwas Schlimmeres passierte.

„Oh, Süße.“ Vanessas sanfte Stimme löste nur noch mehr Dämme in mir und ließ Tränen über meine Wangen strömen. Sie streichelte mich liebevoll und gab mir die Stütze, die ich in diesem Augenblick dringend benötigte.

Ich ließ alles los und weinte meinen ganzen Kummer heraus, während Vanessas Wärme mich umfing und sie in gleichmäßigen Bewegungen fortfuhr, über meine Haare zu streichen. Sie wusste, wann eine Umarmung und Nähe notweniger waren als ein Gespräch und löchernde Fragen. Niemand kannte mich besser als sie. Und es gab niemanden, bei dem ich lieber war, wenn es mir schlecht ging.

In den letzten Monaten hatte mein Leben eine hundertachtzig Grad Wende genommen. Noch vor kurzer Zeit hatte ich gedacht, mein Leben wäre für die nächsten Jahre perfekt vorgeplant. Die gemeinsame Wohnung mit Josh. Unsere Beziehung. Mein neuer Studiengang, der mir alle Türen zu meiner Zukunft eröffnen würde.

Doch jetzt war alles in sich zusammengebrochen. Alles, von dem ich gedacht hatte, dass es eintreten würde und was mir Sicherheit gab, war nicht mehr da. Ein Blick in meine Zukunft zum jetzigen Zeitpunkt zeigte mir nichts als Schwärze. Und Leere. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich keine Ahnung, was mich erwarten würde, und das jagte mir verdammte Angst ein.

„Wieso hast du mich vorhin eigentlich angerufen?“ Meine Stimme klang nasal.

„Ich wollte nur fragen, ob du am Wochenende Zeit hast, bei meinem Footballspiel zuzuschauen.“ Vanessa strich mir eine kinnlange Haarsträhne hinters Ohr. „Aber du hast jetzt erstmal andere Sorgen.“

Schniefend wischte ich mir über meine feuchten Wangen. „Ich komme.“ Ich liebte es, sie in ihrer Rolle als Quarterback zu sehen. Seit ihrer Kindheit spielte sie leidenschaftlich gerne Football und fand in diesem Hobby den perfekten Ausgleich zur Schule.

„Du musst nicht, Jessy. Verkriech dich ruhig in deinem Bett, wenn es dir hilft. So wichtig ist das Spiel nicht.“ Ihr langer Zopf streifte meinen Arm, als sie sich vorbeugte und mir einen Kuss auf den Scheitel gab.

„Ich komme“, wiederholte ich und räusperte mich. „Ablenkung ist jetzt das, was ich brauche.“

Vanessa streichelte über meine Haare. „Weißt du was?“

„Hm?“

„Eine gute Aufwärmübung für mein Spiel wäre es, einen Ball zu nehmen und ihn irgendwo draufzuwerfen. Am besten auf ein Gesicht.“ Sie kicherte.

„Ach ja?“

„Klar. Noch nie davon gehört? Die berühmte Knall-dem-Ex-meiner-Schwester-in-die-Eier-Aufwärmübung. Also wenn du mich brauchst, ich bin zur Stelle.“

„Also doch nicht sein Gesicht?“

„Wie wäre es mit beidem?“

„Okay.“ Ich hob meine Hand, ballte sie zur Faust und stieß sie gegen Vanessas.

Sofort schossen mir wieder Tränen in die Augen und ich fing an zu schluchzen. Kraftlos ließ ich meine Faust fallen, während mich ein Zittern durchlief.

„Ich glaube, ich muss weg“, stieß ich zwischen zwei Schluchzern hervor. „Weit weg.“

Vanessas Hand hielt inne. Sie ruhte zart auf meinem Scheitel, doch sie bewegte sich nicht mehr.

„Was meinst du mit weit weg?“

„Irgendwohin … keine Ahnung.“ Ich schluchzte auf. „Einfach weg. Weg von ihm. Ich kann hier nicht mehr bleiben, nach allem, was passiert ist.“

Vanessa nahm ihre Hand von mir und griff sanft nach meinen Schultern. Mit ihrer Hilfe setzte ich mich auf, während sich nur verschwommen ihre Gesichtszüge vor mir abzeichneten. Sie legte ihre Hände auf meine Knie und musterte mich ernst.

„Was hältst du davon, für ein paar Wochen zu Grandma nach Coldriver zu ziehen? Sie hat genügend Platz in ihrem Haus.“

„Nach Wisconsin?“ Ich runzelte die Stirn. „Ich hätte eher an einen Ort gedacht, der noch weiter weg ist. Am anderen Ende der USA? Auf einem anderen Kontinent?“

Vanessa beugte sich zum Wohnzimmertisch und griff nach ihrem Smartphone. Der Bildschirm erhellte ihr Gesicht, als sie ein paar Mal darauf herumtippte.

„Hier.“ Sie streckte mir ihr Handy unter die Nase. „1.200 Meilen. Das ist eine Menge.“

„Ich sehe das ohne meine Lesebrille nicht.“ Ich fischte ein Taschentuch aus der Verpackung und schnäuzte mich.

Vanessa nahm ihr Smartphone zurück und scrollte über den Bildschirm. „Es gibt Flüge über Chicago.“ Sie sah auf.

Ich knüllte das Taschentuch in meiner Hand zusammen und erwiderte ihren Blick aus verquollenen Augen.

„Weiter weg geht natürlich immer, aber dort hättest du jemanden, der dich kennt und der dich in Ruhe lässt, wenn du deinen Freiraum brauchst.“ Vanessas sanft geschwungene Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. „Und außerdem ist es nirgends so idyllisch wie bei Grandma am Long Lake.“

Ihre Worte begannen langsam in mich hineinzusickern. Sie hatte recht. Die Ruhe bei Grandma wäre genau das Richtige für meine Situation. Aber so kurzfristig? Konnte ich mich ihr einfach so aufdrängen?

Gott, warum konnte ich nicht einmal in meinem Leben eine spontane Entscheidung treffen? Manchmal verfluchte ich meine Art, alles zu zerdenken und mir für alles einen Plan zurecht zu legen. Spontanität war mir noch nie leichtgefallen.

Vanessa spürte, wie es in meinem Kopf arbeitete, und legte ihr Handy zurück auf den Tisch. Sie nahm mich in die Arme. „Du musst das ja nicht jetzt sofort entscheiden. Ich bin auf jeden Fall für dich da, wenn du mich brauchst.“

Kapitel 1

3 Wochen später

Leuchtend rote und orange Bäume zogen an mir vorbei. Die kühle Scheibe drückte an meine Wange, als ich meinen Kopf gegen das Fenster des Taxis lehnte und die bunten Herbstfarben in mich aufnahm. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ich Grandmas Haus am Long Lake erreicht hatte. Der Flug nach Wisconsin war schnell vergangen, hatte aber dennoch nicht gereicht, meine durcheinanderwirbelnden Gedanken zu beruhigen.

Auch nach drei Wochen hatte sich das dumpfe Gefühl in mir nicht gelöst, sodass ich es wirklich nicht mehr zu Hause ausgehalten und kurzentschlossen Grandma angerufen hatte. Sie hatte mich sofort in meiner Idee unterstützt und beteuert, dass ich zu jeder Zeit bei ihr aufkreuzen dürfe.

Das Taxi tat einen sanften Hüpfer, als wir die Hauptstraße verließen und in einen Waldweg einbogen. Die Erde unter uns wurde uneben und die Bäume verdichteten sich. Staunend betrachtete ich die Äste, die sich im Wind bogen und an denen die Blätter in den kräftigsten Herbstfarben leuchteten.

„Sind wir hier richtig?“ Der Taxifahrer warf mir einen skeptischen Blick über den Rückspiegel zu.

Ich reckte den Kopf und schaute nach vorne. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Das riesige Haus meiner Großmutter trat in unser Sichtfeld. Es lag inmitten des Waldes, sodass sich hierher nur selten jemand verirrte. Diese Abgelegenheit hatte ich früher gehasst, da ich das trubelige Großstadtleben gewohnt war, doch in diesem Augenblick kam mir diese Abgeschiedenheit gerade richtig.

„Sie können mich hier rauslassen.“

Der Taxifahrer bremste abrupt ab. Ein erleichterter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als wäre es ihm nicht geheuer, noch länger durch dieses Nirgendwo zu fahren.

Ich reichte ihm ein paar Geldscheine. „Das passt so.“

„Vielen Dank.“ Er tippte sich an seine Schirmmütze.

Mit einem vorfreudigen Gefühl im Bauch öffnete ich die Tür, und schob mich aus dem Taxi. Augenblicklich erfüllte ein Schwall frischer Waldluft meine Lungen und ich atmete tief ein.

Ich holte mein Gepäck aus dem Kofferraum, bevor das Auto wendete und über den Feldweg zurückbrauste.

„Jessy?“

Eine weibliche Stimme erklang vom Eingang des Hauses.

Ich sah blinzelnd hinüber.

Grandma trat mit ausgebreiteten Armen aus der geöffneten Tür. Ein Strahlen lag auf ihrem Gesicht, als sie die Treppe der Veranda hinunterstieg.

„Nana!“ Ich setzte mich in Bewegung.

Grandmas Schürze flatterte im Wind, während sie in einen Laufschritt verfiel. „Mein Schatz, wie schön, dass du da bist.“ Sie schlang ihre Arme um mich und drückte mich an ihren fülligen Körper. Ich ließ den Koffer neben mich fallen und atmete ihren vertrauten Duft ein.

Grandma rieb mit ihren Händen über meinen Rücken. „Ich habe Kuchen für dich gebacken.“

Sanft löste ich mich von ihr und betrachtete das liebevolle Lächeln auf ihrem Gesicht und die tiefen Falten, die sich um ihre Mundwinkel und ihre Augen abzeichneten. Ihre grauen Locken kringelten sich um ihre Ohren. Sie strahlte diese Liebe und Wärme aus, die mich sofort einhüllte wie eine flauschige Decke.

„Hoffentlich magst du die Peanutbutter-Schoko-Torte immer noch so gerne wie früher.“ Sie strich mir über die Wange.

„Peanutbutter-Schoko-Torte?“ Ich schnappte nach Luft. „Ich liebe alles, was mit Erdnussbutter zu tun hat.“

„Na, da bin ich aber froh.“ Grandma lachte und legte einen Arm um meine Hüfte.

Rasch griff ich nach meinem Koffer, bevor wir gemeinsam in Richtung des Hauses gingen.

Grandmas zweistöckiges Anwesen ragte aus dunklem Holz in den Himmel. Ein paar Stufen führten nach oben auf die ausladende Veranda, auf der ein runder Tisch mit einer Blumenvase, drei Stühlen und einer Bank standen. Mit einem Grinsen trat ich an das Geländer der Veranda heran und fuhr mit meinem Finger über ein paar feine Kerben im Holz. „Ich werde nie vergessen, wie Vanessa hier reingebissen hat.“

Grandma beugte sich über meine Schulter. „Ach Gottchen, sie war damals so sauer, weil sie nicht mit auf die Jagd durfte.“

„Sie hat sich an Grandpas Bein so festgeklammert, dass er kaum gehen konnte.“ Lachend trat ich mit Grandma ins Haus und sofort stieg süßer Geruch nach Kuchen in meine Nase. Meine Augen benötigten eine Weile, um sich an das dämmrige Licht im Innern zu gewöhnen. Ich schlüpfte aus meinen Turnschuhen und stellte meinen Koffer in die Ecke. Auch hier drinnen strahlte das Haus diese Gemütlichkeit aus, die man bereits von außen erahnen konnte. Links führte eine gewundene schmale Treppe nach oben ins erste Stockwerk. Holzverkleidete Wände und tiefliegende Dachbalken zogen sich durch den offenen Flur, der in das Wohnzimmer führte. Ich ging hinter Grandma her und sog den vertrauten Duft nach Holz und Würze ein, der wie immer in ihrem Zuhause hing. Heute vermischte er sich mit dem Geruch von Kuchen.

Mein Blick wanderte über die massiven Holzmöbel und die offene Feuerstelle. Ihr gegenüber standen das Ledersofa und ein Sessel, der mir ein Lächeln entlockte. Damals hatten Vanessa und ich beide Platz auf diesem Sessel gehabt und aneinander gekuschelt mit einer heißen Tasse Kakao in das knisternde Feuer geschaut.

Grandma hatte mit der Inneneinrichtung des Wohnzimmers absolut meinen Geschmack getroffen. Es sah aus wie aus einem Katalog für romantische Ferienwohnungen. Pendellampen hingen tief von der Decke und große Gemälde mit verschneiten Landschaften zierten die Wände.

„So, mein Schatz, der Kuchen müsste schon abgekühlt sein. Möchtest du auf der Veranda essen?“

Ich löste meinen Blick von den Bildern und lief über den dunklen Dielenboden um die Ecke. Grandmas große Küche tat sich vor mir auf. In der Mitte befand sich ein massiver Esstisch, an dem sie gerade den Kuchen in große Stücke schnitt.

„Auf der Veranda wäre schön.“ Ich trat an den Tisch. „Soll ich Besteck mitrausnehmen?“

„Ich hab alles hier auf dem Tablett. Danke.“ Sie deutete hinter sich. Auf einem hölzernen Tablett hatte sie bereits zwei Gabeln, Gläser und eine Karaffe mit Wasser aufgestellt, in der eine Zitronenscheibe schwamm.

Ich folgte ihr nach draußen auf die Veranda und genoss das Gefühl des frischen Septemberwindes auf meiner Haut. Die Sonne hatte noch einiges an Kraft, sodass sich die Luft trotz des Windes warm auf meiner Haut anfühlte. Dennoch erkannte man an den dichten Wolken am Himmel und den verfärbten Blättern der Bäume, dass der Sommer sich langsam dem Ende neigte.

„Das ist so ein lieber Empfang, Nana. Danke.“ Ich ließ mich auf einen der Stühle fallen und rutschte näher an den runden Tisch heran. Grandma stellte unsere Teller auf die hellblaue Tischdecke und reichte mir eine Gabel.

„Sehr gerne, Jessy.“ Sie setzte sich auf einen Stuhl mir gegenüber.

Ich füllte unsere Gläser mit Wasser und griff nach meiner Gabel. Als ich mir ein Stück des Kuchens in den Mund schob, explodierten augenblicklich meine Geschmacksknospen und ich unterdrückte ein wohliges Stöhnen. Zufrieden lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und blickte über den Rand der Veranda hinaus, wo durch die Bäume ein Stück des blauen Sees hindurchblitzte.

„Ich bin jedes Mal überwältigt, wie still es hier bei dir ist“, sagte ich.

„Das seid ihr Großstadtkinder nicht gewohnt, was?“ Grandma faltete ihre Hände vor ihrem Bauch und blickte mit einem Lächeln um sich. „Ich genieße diese Ruhe jetzt im Alter noch viel mehr.“

„Das glaube ich. Früher habe ich das nie wirklich geschätzt. Aber jetzt …“ Ein dumpfes Gefühl drückte wie aus dem Nichts gegen meine Brust. Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange.

Grandma wandte ihren Kopf zurück zu mir und musterte mich aufmerksam.

„Jetzt brauchst du diese Ruhe besonders.“ In ihrer Stimme lag Verständnis.

Ich nickte und spürte, wie ein Kloß in meinem Hals anschwoll. „Diese Abgeschiedenheit und die Entfernung zu New York sind im Moment perfekt. Danke, dass ich hier sein darf.“ In den letzten Wochen hatten sich meine Eltern liebevoll um mich gekümmert, aber ich hatte gemerkt, dass ich einen Ortswechsel brauchte. Nur so hatte ich das Gefühl, meinem Gedankenchaos zu entkommen.

„Das ist doch selbstverständlich.“ Grandma beugte sich nach vorne und griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand. In ihren Augen lag so viel Wärme und Verständnis, dass jedes weitere Wort unnötig war.

Ich drückte ihre Hand zurück. „Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch, mein Schatz.“

Hinter meinen Augenlidern begann es zu brennen.

Oh nein, nein, nein.

Hier in Wisconsin bei Grandma zu sein, sollte dem Zweck dienen, nicht in die Klauen der Vergangenheit zu geraten. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte im Hier und Jetzt leben und alles andere ausblenden.

„Wenn dir etwas auf dem Herzen brennt, weißt du, dass du immer mit mir sprechen kannst, oder?“ Sie sah mich ernst an.

Ich blinzelte ein paar Mal heftig und bemühte mich, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Da der Kloß in meinem Hals nach wie vor festsaß, nickte ich nur.

„Mach dir außerdem keine Gedanken, wie lange du bleiben kannst. Bleib solange du möchtest. Egal ob Tage oder Monate. Mein Haus ist groß genug und ich freue mich über Gesellschaft.“

„Danke.“ Meine Stimme klang belegt. Rasch räusperte ich mich.

Sie lächelte. „Und du musst dir auch keine Sorgen machen, dass ich dir die ganze Zeit auf die Pelle rücke. Wenn du Ruhe haben möchtest, musst du es nur sagen. Heute Abend zum Beispiel bin ich gar nicht hier und du hast das Anwesen ganz alleine für dich, um deine Gedanken zu ordnen.“

Verblüfft hob ich die Augenbrauen. „Wo bist du denn?“

Das Sonnenlicht brach sich in Grandmas goldenen Ringen, als sie sich mit verlegender Miene über die Stirn fuhr. Sofort war meine Aufmerksamkeit geweckt.

„Oho.“ Ich grinste. „Bist du etwa bei John?“

Sie hob schmunzelnd die Schultern. „Aber verrate es bloß nicht deinem Dad. Er ist noch nicht so weit, sich auf den Gedanken einzulassen, dass seine Mutter einen neuen Mann an ihrer Seite hat. Und außerdem …“ Sie hob einen Finger. „John und ich sind gute Freunde. Mehr nicht.“

„Aha.“ Ich wackelte mit den Augenbrauen.

„Ach, du.“ Grandma lachte und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Er müsste in etwa einer halben Stunde hier sein, um mich abzuholen.“

„Übernachtest du bei ihm?“

„Ich denke schon.“

Mein Grinsen wurde breiter.

Grandma hob warnend ihren Finger. „Sag nichts.“

Ich hob abwehrend die Hände. „Hab ich gar nicht vor.“

Wir sahen uns an und brachen gleichzeitig in Gelächter aus.

„Weißt du schon, was du heute Abend machen möchtest?“ Grandma griff nach ihrem Glas und nahm einen Schluck.

„Ich denke, ich werde kurz zum See schauen und mich dann einfach vor dem Kamin einkuscheln und ein Buch lesen.“

„Das klingt schön.“ Sie lächelte. „Du kannst dich jeder Zeit an meinem Bücherregal bedienen, wenn dir danach ist.“

Dankbar erwiderte ich ihr Lächeln.

Wir unterhielten uns noch eine Weile und Grandma führte mich in den Kleinstadtgossip von Coldriver ein. Sie erzählte mir von den Einwohnern, von den letzten Skandalen und lachte darüber, wie verwirrt ich war, dass hier wirklich kein Geheimnis sicher war. Es tat gut mit jemandem außerhalb meiner Welt in New York zu sprechen. Jemand, der vollkommen frei von Urteilen war und bei dem ich beinahe vergessen konnte, warum ich eigentlich geflohen war. Gespräche mit Grandma hatten mich schon immer erfüllt und ich merkte, wie sehr ich sie vermisst hatte.

Irgendwann durchbrach ein Autobrummen die Stille. Mein Blick huschte zu dem Feldweg, der direkt auf Grandmas Haus zuführte. Kurze Zeit später bog ein dunkelgrüner Pick-Up um die Ecke.

Grandma stieß einen überraschten Ton aus. Sie sah auf ihre Armbanduhr und fuhr hektisch durch ihre Haare.

Ich schmunzelte und beobachtete das Auto, das vor unserer Veranda stehenblieb. Die Tür öffnete sich und ein Mann mit weißem Haar schob sich heraus. Mit einem Knall fiel die Fahrertür zu und er kam in großen Schritten auf uns zu.

„Hallo, meine Schöne.“ Mit einem breiten Lächeln stieg er die Stufen nach oben. Er trug ein kariertes Holzfällerhemd, das ein bisschen um seinen Bauch spannte.

Grandma war bereits aufgestanden und streckte ihre Arme aus. „John, mein Lieber. Du bist heute aber früh dran. Oder habe ich etwas verpasst?“

Er umarmte sie und lachte. „Nein, ich war in der Gegend und dachte mir, warum fährst du nicht gleich zur lieben Donna.“ Mit einem Zwinkern wandte er sich an mich. „Wir werden auch nicht mehr jünger.“

Ich grinste und trat einen Schritt auf ihn zu. „Hallo, John.“

Mit einem herzlichen Lächeln zog er mich in die Arme. „Wie schön, dich mal wieder zu sehen, Jess.“

Nach Grandpas Tod hatte John Grandma sehr zur Seite gestanden. Er war ein herzensguter Mensch und besaß in Coldriver eine kleine Autowerkstatt. Auf seinem sonnengebräunten Gesicht zeigten sich tiefe Falten, die auch sein Bart nicht ganz verdecken konnte. Trotz seines Alters erkannte man, dass er früher ein attraktiver Mann gewesen sein musste.

„Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.“ Johns Bassstimme klang so voll, dass sie durch den ganzen Wald schallen musste. „Wenn du noch mehr Zeit mit deiner Enkelin verbringen möchtest, komme ich später wieder.“

„Macht euch um mich keine Gedanken.“ Ich strich Grandma über den Arm. „Fahrt ruhig.“

„Sicher, Liebes?“ Grandma legte eine Hand über meine.

„Ganz sicher.“ Ich beugte mich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Wir sehen uns morgen.“

Grandma strich mir sanft über die Haare und lächelte. „Mach es dir gemütlich. Ich hab im Kühlschrank eine große Portion Lasagne, die du dir zum Abendessen warm machen kannst.“

„Danke, das ist lieb.“ Ich winkte den beiden hinterher, bevor sie in Johns Pick-Up verschwanden und knatternd davonfuhren.

Eine Weile stand ich noch auf der Veranda und sog den Anblick der Natur in mich auf, bevor ich mit einem Lächeln nach dem Tablett griff. Es war eine gute Idee von Vanessa gewesen, für eine Weile zu Grandma zu fahren. Schon jetzt spürte ich, wie die Stille sich in meinem Körper absetzte und sich alle Anspannung langsam, aber sicher löste. Voller Vorfreude auf die nächsten Tage, in denen ich niemanden außer Grandma sehen musste und die Ruhe genießen konnte, schloss ich die Haustür hinter mir und lief mit dem Tablett in die Küche.

Kapitel 2

Ein lautes Geräusch weckte mich am nächsten Morgen.

Die Schwere der Nacht steckte mir noch in den Gliedern, als ich blinzelnd die Augen öffnete. Das Geräusch ertönte wieder. Diesmal lauter.

War Grandma schon zurück?

Ein schaler Geschmack lag in meinem Mund. Ich gähnte und rollte mich auf den Rücken. Als ich mir schlaftrunken über das Gesicht rieb, spürte ich einen Kissenabdruck auf meiner Wange. Ich musste wirklich tief geschlafen haben.

Ein Scheppern drang an meine Ohren und ließ mich zusammenzucken.

Was zum Teufel war denn los?

Mit zusammengekniffenen Augen setzte ich mich auf und versuchte das Geräusch zu orten. Nach und nach wich die Schwere des Schlafs aus meinen Gliedern. Mein Blick wanderte zur Uhr. Es war gerade einmal acht Uhr morgens, Grandma konnte um diese Uhrzeit niemals zurück sein. Und wenn, dann würde sie draußen nicht so herumscheppern.

Ein Adrenalinstoß fuhr durch meinen Körper, als das Geräusch immer lauter wurde. Hektisch riss ich die Bettdecke von mir.

War das ein Einbrecher?

Wer verirrte sich bitte um diese Uhrzeit an diesen abgelegenen Ort? Ich hatte gedacht, dass ich hier sicher war.

Ich stieß mich von der weichen Matratze ab und sprang aus dem Bett. Ohne lange nachzudenken rannte ich über den dunklen Holzboden quer durchs Zimmer und riss die Tür auf.

„Grandma?“ Meine Stimme verlor sich in der Stille des Ganges.

Mit klopfendem Herzen lief ich die Treppe nach unten und stolperte ins Wohnzimmer.

„Grandma?“ Ich streckte den Kopf in die Küche, doch es sah alles genauso aus, wie ich es gestern vor dem Schlafengehen verlassen hatte. Grandma schien nicht hier gewesen zu sein.

Ein Zittern lief durch meinen Körper.

O Gott, o Gott.

Was tat ich denn jetzt?

Ich musste mich verteidigen.

Aus einem Impuls heraus riss ich den Küchenschrank auf und griff nach einer Bratpfanne.

Mit gespitzten Ohren schlich ich zum Eingang. Je näher ich der Haustür kam, desto lauter wurde das Geräusch. Langsam griff ich nach der Türklinke und drückte sie nach unten. Das Geräusch kam definitiv aus Richtung der Garage.

Machte sich der Einbrecher am Auto meiner Grandma zu schaffen?

Gott, was tat ich denn hier?

Brauchte ich ein Pfefferspray oder sowas? Sollte ich die Polizei rufen?

Mit angehaltenem Atem tapste ich auf die Veranda, möglichst darauf bedacht, alle knarzenden Dielen auszulassen.

Das Geräusch aus der Garage war verklungen. Nur noch das sanfte Rauschen der Bäume und leises Vogelzwitschern waren zu hören.

Mein Mund war staubtrocken, als ich auf Zehenspitzen die Stufen nach unten stieg. Die Erde drückte sich weich zwischen meinen nackten Zehen hindurch. Mit hoch erhobener Pfanne schlich ich um die Veranda herum in Richtung Garage, bereit dem Einbrecher eins überzuziehen.

Ich presste mich mit dem Rücken an das Geländer der Veranda, holte tief Luft und sprang dann um die Ecke, beide Hände fest um den Griff der Pfanne gelegt.

Die Garagentür war geöffnet. Zwei lange Beine ragten unter Grandmas Auto hervor. Mein Herz pochte heftig gegen meine Rippen. Was zum Teufel tat diese Person hier? Wollte er das Auto manipulieren?

„Wenn du meine Grandma umbringen willst, hast du jetzt ein gewaltiges Problem.“ Breitbeinig stellte ich mich vor die Garage und bemühte mich um eine kräftige Stimme. Bedrohlich hielt ich die Bratpfanne über meinen Kopf.

Der Mann unter Grandmas Auto hielt inne. Seine Beine, die in einer dunklen Jeans steckten, hingen von einem Rollbrett, das ich schon öfter bei Automechanikern gesehen hatte.

Ich runzelte die Stirn.

Dieser Einbrecher war aber gut ausgestattet.

Ich umklammerte den Griff der Pfanne fester, bis meine Knöchel weiß hervortraten. „Los! Zeig dich!“

Der Mann stellte seine Füße auf den Boden und stieß sich ab. Mit einem rasselnden Geräusch kam er unter dem Auto hervorgerollt und setzte sich auf.

Mein Herz hörte für eine Sekunde auf zu schlagen.

„Hi.“ Der Typ griff nach einem Lappen, der neben ihm auf dem Boden lag, und wischte seine öligen Finger ab. Er trug ein schwarzes T-Shirt, das sich eng um seine breiten Schultern spannte. „Sorry für die Störung.“ Er stand auf und fuhr sich durch seine braunen Haare, die ihm zerwühlt in die Stirn fielen.

Völlig perplex starrte ich ihn an. So attraktiv hatte ich mir den Einbrecher nicht vorgestellt.

Ich stierte ihn eine Sekunde zu lange an, dann fiel mir wieder ein, weswegen ich hier war.

„Was tust du hier?“ Verbissen hielt ich die Pfanne über meinen Kopf. „Verschwinde von unserem Grundstück.“

Der Typ hob beschwichtigend die Hände. Leider wölbten sich dabei seine Armmuskeln deutlich und brachten mich kurz aus dem Konzept.

„Ich dachte, dieses Haus gehört Donna.“

Bedrohlich trat ich einen Schritt näher an ihn heran. „Woher kennst du den Namen meiner Grandma?“

Der Typ ließ die Arme sinken. Er kniff die Augen leicht zusammen und musterte mich. Dann hob er überrascht die Brauen.

„Sag bloß, du bist Jessica? Jessica Tilbury?“

Wie bitte?

„Jess“, presste ich zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nenn mich ja nicht Jessica.“

„Okay, alles klar. Jess“, betonte er meinen Namen und zog dabei einen seiner Mundwinkel nach oben.

„Woher weißt du, wer ich bin?“ Da meine Armmuskeln langsam zu zittern begannen, ließ ich die Bratpfanne sinken. Ich starrte den Mann vor mir an. Er hatte einen markanten Kiefer, auf dem dunkle Bartstoppeln lagen. Unter schwarzen vollen Brauen funkelten mich zwei graublaue Augen an. Er schien etwa in meinem Alter zu sein.

„Deine Grandma hat schon viel von dir erzählt. Und angekündigt, dass du kommst.“ Der Typ grinste mich an. „Ich bin Nathan Woods. Der Enkel von John.“ Er trat einen Schritt auf mich zu und streckte seine Hand aus. „Freut mich, dich endlich kennenzulernen.“

Völlig verdattert schlug ich ein. Seine warmen Finger umschlossen meine und drückten sie sanft. Sofort schoss ein Prickeln meinen Arm hinauf.

Jetzt aus der Nähe meinte ich tatsächlich eine kleine Ähnlichkeit mit seinem Großvater zu erkennen. Wieso hatte ich bisher noch nichts von Nathans Existenz gewusst? Wobei … John hatte von seinen Enkeln bestimmt schon mal erzählt. Aber er hatte nie erwähnt, wie gutaussehend sie waren, zumindest dieser eine hier.

„Arbeitest du in Johns Werkstatt?“ Ich ließ Nathan los, dessen Finger ich ein paar Sekunden zu lange festgehalten hatte.

Er nickte und schob die Hände lässig in seine Hosentaschen. „Grandpa kann momentan jede helfende Hand gebrauchen. Deine Grandma hat mir aufgetragen, ihr Auto zu reparieren.“ Er zuckte mit den Schultern. „Bis jetzt hatte ich eigentlich nicht vor, sie umzubringen.“

Gott, war mir das gerade peinlich. Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg.

„Du bist aus New York, oder?“ Nathan musterte mich aufmerksam.

„Sieht man mir das so an?“

Er grinste. „Deine Grandma hat erzählt, dass sie Verwandtschaft in New York hat und da hab ich eins und eins zusammengezählt.“

„Toll kombiniert, Sherlock.“ Sein Grinsen war ansteckend, sodass sich meine Mundwinkel ebenfalls nach oben bogen. „Aber wie kann es sein, dass du so viel von mir weißt und ich von deiner Existenz noch nie gehört habe? Was hast du zu verbergen?“

„Das macht meinem Ego gerade auch zu schaffen. Ich muss mal mit Donna reden, warum sie mich verschwiegen hat.“ Er zwinkerte mir amüsiert zu. Ein seltsamer Schauer rann über meinen Rücken.

„Hübscher Schlafanzug übrigens.“

Hübscher … was?

O Gott.

Meine Wangen wurden feuerrot. Ich hatte meinen peinlichen Aufzug völlig vergessen. Frisch aus dem Bett gestiegen mit Kissenabdruck an der Wange, einer kurzen gepunkteten Hose und einem überdimensionalen T-Shirt mit aufgedruckten Wassermelonen. Ich fuhr mit meiner Hand über meinen Hinterkopf und spürte einen Knoten in meinen Haaren. Prima. Wirklich prima.

Zumindest sahen meine Fingernägel ordentlich aus. Ich hatte sie gestern Abend noch schwarz lackiert und dementsprechend frisch glänzten sie heute. Und ich hatte es tatsächlich geschafft, nicht über den Rand zu malen.

Jess, woran denkst du eigentlich? Ich schloss einen Moment die Augen und schüttelte innerlich den Kopf. Als würde Nathan Woods auf meine schön lackierten Fingernägel achten.

„Dann lasse ich dich mal weiterarbeiten. Danke für die Störung. Entschuldigung.“ Bevor es noch peinlicher werden konnte, drehte ich mich auf dem Absatz um und stapfte zurück zur Veranda. Im Hintergrund hörte ich Nathan leise lachen.