Leseprobe Verlieb dich in Paris

Prolog

„Maman, Maman, darf ich von deinem Kaffee probieren?“

Meine Mutter hob die Augenbrauen und schaute mich über die knallrote Tasse irritiert an. „Wie bitte?“

„Ja, bei Oma im Urlaub durfte ich probieren“, rief ich und nickte eifrig.

Lächelnd stellte sie die Tasse auf dem Frühstückstisch ab. „Ach ja. Kekse zum Abendbrot und Kaffee zum Frühstück für die Sechsjährige, so macht man das also bei deinen Großeltern in Deutschland?“ Maman lehnte sich auf ihrem wackligen Lieblingsstuhl vor und schüttelte den Kopf. „Na, Tims Mutter kann euch beiden nun mal nichts abschlagen. Hat dir der Kaffee denn geschmeckt, Jeanne?“

„Nee.“ Ich verzog das Gesicht. „Aber vielleicht ist der französische besser. So wie beim Brot.“

„Dein Vater würde es niemals zugeben, aber du hast absolut recht, ein gutes Baguette geht immer über Schwarzbrot“, stellte Maman fest und lachte.

Grinsend sprang ich auf und lief um den Tisch herum. Unser Geschirr stand noch darauf verteilt, wir waren gerade erst mit dem Frühstück fertig geworden. Es war die letzte Ferienwoche, da genossen wir zwei noch das Ausschlafen. Im Gegensatz zu Papa und meiner zwei Jahre älteren Schwester Elise, die waren schon vor Ewigkeiten aufgestanden. Elende Frühaufsteher.

Die alten Holzdielen knarrten unter meinen nackten Füßen. Ich liebte dieses Geräusch. Es klang nach Zuhause, und ich hatte es im Urlaub bei Oma in Hamburg vermisst. Wie jeden Sommer waren Maman, Papa, Elise und ich für einen Monat nach Hamburg gefahren. Die letzten zwei Wochen davon hatten unsere Eltern uns allein bei unseren Großeltern gelassen, um mal Zeit zu zweit zu genießen.

„Darf ich, darf ich?“, fragte ich aufgeregt und griff schon nach der Tasse.

„Achtung, der ist sehr …“

Hustend stellte ich sie wieder auf den Tisch und rang nach Luft.

„… heiß“, vervollständigte meine Mutter.

„Und eklig“, ergänzte ich unzufrieden. „Richtig eklig.“

„Das braucht nur ein paar Jahre, dann wirst du das anders sehen.“ Demonstrativ nahm Maman noch einen Schluck von dem schwarzen Zeug, während sie mir übers Haar strich. „Vielleicht solltest du einen schönen großen Becher schon mal vorsichtshalber auf die rechte Seite deines Bildes malen“, schlug sie mit einem vielsagenden Blick zu den auf dem ganzen Tisch verteilten Buntstiften vor. „Bei mir zumindest würde er da hingehören.“

„Nee“, wiederholte ich und verzog noch mal das Gesicht. „Wir sollen zuerst die Heute-Seite machen.“

Schnell kletterte ich wieder auf die Bank und zog das Blatt Papier zu mir ran. Dicht an den Rand hatte ich ein rotes Herz gemalt, das in der Mitte durch einen dicken Strich getrennt war. Alle von unserer Schule sollten auf der linken Seite malen, was sie jetzt im Herzen trugen, also was sie mochten und gernhatten. Auf die andere Seite kam, was sie im Herzen tragen wollten, wenn sie groß waren.

Elise hatte ihr Bild gestern schon fertig gemacht, aber als ich es mir angucken wollte, hatte sie es ganz schnell weggezogen. „Du bist unmöglich, Jeanne!“, hatte sie dabei gerufen. Unmöglich war ihr neues Lieblingswort. In den zwei Wochen bei Oma war sie mir damit richtig auf die Nerven gegangen. Wenn man etwas erst einmal unmöglich genannt hatte, wurde es das auch, hatte Maman mal gesagt.

Ich würde ihr meins einfach auch nicht zeigen. Bis sie heute Mittag mit Papa von ihrem Reitkurs zurückkam, wäre ich auf jeden Fall fertig!

„Also, was mag ich denn?“ Ich tippte mit dem Buntstift gegen meine Lippen und dachte genau nach. Hundert Sachen schossen mir in den Kopf. Eis. Schwimmen. Bücher, Geschichtenerzählen. Aber am wichtigsten waren nur drei Sachen.

„Sind wir das?“, fragte Maman und schenkte sich den ekligen Kaffee nach.

Ich nickte. „Ja, du, Papa, Elise, Oma und Opa. Und hier ist Franci“, erklärte ich und tippte auf meine beste Freundin.

„Und das da sind eindeutig der Eiffelturm und der Hamburger Fernsehturm.“

„Genau! Ich finde, das ist das Wichtigste. Ich liebe euch, ich liebe Franci und ich liebe Hamburg und Paris!“

„Das hast du schön gesagt. Da haben dein Vater und ich doch alles richtig gemacht, wenn du beide Länder gleich liebst.“

Ich nickte heftig. Maman hatte immer in Paris gewohnt, aber Papa kam aus Deutschland. Elise und ich sprachen mit ihm auch immer Deutsch, auch wenn wir in Paris wohnten und in Hamburg nur Urlaub machten. Mir fiel es schon gar nicht mehr auf, wie ich zwischen den Sprachen wechselte. Ich mochte beide.

„Dann fehlt ja jetzt nur noch die andere Seite. Also, Jeanne, was möchtest du denn in deinem Herzen tragen, wenn du groß bist?“

Ich runzelte die Stirn, während Maman schon mal die Teller zusammenstellte. „Ich weiß nicht. Wann heißt das denn eigentlich? Wann ist man groß, Maman?“

„Hm.“ Sie stand auf und trug die Teller zur Theke. „Das ist ganz unterschiedlich“, antwortete sie sanft. „Du bist dann groß, wenn du dich groß fühlst.“

„Hä?“

Maman lachte und schaute über die Schulter zu mir. „Wirklich groß zu sein, umfasst so viel. Es bedeutet, deinen Platz zu finden. Zu wissen, was du von dir selbst und von deinem Leben erwartest.“

„Also bin ich nicht groß, wenn ich erwachsen bin?“, fragte ich und kaute nachdenklich auf dem Bleistift.

„Nicht unbedingt. Nicht jeder Erwachsene ist groß, und nicht jeder Große ist erwachsen.“

Konzentriert nickte ich. Maman sagte oft so schöne, aber auch komplizierte Sachen.

„Wann warst du denn groß, Maman?“

Sie schaute aus dem Fenster in den großen Garten und lächelte. „Hm. Ich denke … da war ich fünfundzwanzig.“

Mit großen Augen öffnete ich den Mund. „So spät erst?“

„Ich habe meine Zeit gebraucht“, erwiderte sie. „Aber dann passiert es doch schneller, als du glaubst. Mit fünfundzwanzig habe ich euren Vater kennengelernt. Im selben Jahr ist er von Hamburg nach Paris gezogen und kurz darauf kam deine Schwester zur Welt.“ Sie hob die Schultern und ihre Augen strahlten glücklich. „Da hatte ich meinen Platz gefunden. Und ich wusste, dass ich nicht mehr vom Leben erwarten wollte. Ich habe alles, was ich mir wünschen kann.“

„Ja, und du bist die coolste Maman der Welt!“

„Danke, meine Süße.“

Ich kniete mich auf die Bank und schaute von meinem Bild zu Maman. Bis ich fünfundzwanzig war, dauerte es ja noch … ewig! Es völlig unmög…

Ich hielt die Luft an. Nein. Dieses Wort würde ich nicht denken. Nichts war unmöglich, ich konnte auch jetzt schon wissen, was ich später gernhaben wollte!

Aufgeregt schnappte ich mir den nächsten Stift.

„Na, ist dir eingefallen, was du später noch im Herzen tragen willst?“, fragte Maman.

Ich nickte und malte schnell weiter, während sie sich neben mich auf die Bank setzte und mir einen Arm um die Schulter legte. Ich kuschelte mich an sie, malte aber energisch weiter, bis ich schließlich triumphierend den Stift zurück auf den Tisch knallte.

„Dasselbe!“, rief ich grinsend, griff das Papier mit beiden Händen und hielt es ihr entgegen. „Ich will gar nichts ändern, Maman. Wenn ich groß bin, will ich dasselbe im Herzen haben wie heute: Hamburg und Paris, Franci, und vor allem Elise, Papa und dich.“

Maman lächelte. Sie drückte mir einen Kuss auf die Stirn, zog mich an sich und atmete tief an meiner Seite aus. „Das wirst du, Jeanne. Wir alle werden dich nie allein lassen. Ich werde immer bei dir sein und über dich wachen. In deinen Träumen, und auch ganz tief in deinem Herzen.“

Kapitel 1

„Entschuldigen Sie, junge Dame, würden Sie bitte weitergehen?“

„Einen Moment.“ Ich ging in die Knie, kniff die Augen zusammen und tippte auf den Bildschirm meines Handys, um ein Foto zu schießen.

„Einfach unmöglich“, murmelte die hinter mir stehende Frau, die sich heute Morgen mit mindestens einem Liter zu viel Duftwasser einparfümiert hatte.

Ich drehte mich in dem schmalen Gang zwischen den Sitzreihen um und nickte ihr betont ernst zu. „Das finde ich auch! Und unnötig noch dazu. Vielen Dank, dass Sie mir die Zeit gelassen haben, dieses völlig absurde Motiv aufzunehmen.“

Die ältere Dame blinzelte irritiert und öffnete den Mund, ohne einen Ton hervorzubringen. Ich lächelte ihr wohlwollend zu, wandte mich um und erlöste sie somit von der Verpflichtung, etwas Schlagfertiges zu erwidern.

Das leise Kribbeln der Aufregung flutete meine Venen, als ich auf den Fensterplatz der siebzehnten Reihe sank und einen Blick auf die Landebahn warf. Graue Wolken hingen über dem Flughafengebäude. Kein Sonnenstrahl drang hindurch, typisches deutsches Herbstwetter. Dort, wo mich dieses Flugzeug hinbringen würde, sollten es in den nächsten Tagen zumindest angenehme fünfzehn Grad sein.

Nervös spielte ich mit dem Handy in meiner Hand und betrachtete das gerade geschossene Foto. Darauf zu sehen waren die Sitzreihen mit den Ziffern Zwölf und Vierzehn. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Das würde einen schönen Artikel geben: Die arme Dreizehn. Wie der Aberglaube selbst die deutsche Bürokratie in die Knie zwingt. Walter, mein Redaktionschef beim Hamburger Kurier, würde begeistert sein.

„Madame, würden Sie bitte Ihre Tasche von meinem Sitz nehmen?“

Ich sah auf. Im Gang neben mir stand eine Blondine, die diese Bezeichnung mehr als verdient hatte. Wie oft musste man seine Haare wohl bleichen, damit sie so hell wurden? Und wen hatte sie bei der Verteilung der Gene bestochen, um diese Beine zu bekommen?

„Verzeihung. Natürlich.“ Schnell zog ich meine Handtasche vom Nebensitz. Normalerweise behielt ich meine Dinge bei mir. Ich war wohl doch etwas aufgeregter als gedacht.

„Es tut mir leid, das ist mein erster Flug seit fünfzehn Jahren. Ich bin ein bisschen durch den Wind“, setzte ich hinzu und wechselte automatisch ins Französische. Zumindest das hatte ich in all den Jahren nicht verlernt.

Blondie warf mir einen abschätzigen Blick zu und zog einen Laptop hervor. „Sie glauben gar nicht, wie egal mir das ist. Lassen Sie mich in Ruhe arbeiten, dann kommen wir beide gut gelaunt in Paris an, ja?“

Woa. Okay, darauf hatte auch ich keine schlagfertige Erwiderung. Gut, das war nicht richtig, mir spukte da eine Menge im Kopf herum – aber kein einziges dieser Worte sollte ich hier im Flugzeug in den Mund nehmen. Die Fluchtmöglichkeiten hielten sich in Grenzen und ich würde mein Ziel gern sowohl in einem Stück als auch ohne Eintrag ins Strafregister erreichen. Also blieb nur eine Möglichkeit: verachtender Hochmut.

„Liebend gern“, erwiderte ich zuckersüß. Ich kramte in meiner Handtasche nach den Kopfhörern und verabschiedete mich von der schönen Vorstellung, schon auf dem Weg nach Frankreich eine nette französische Kellnerin oder einen heißen Immobilienmakler kennenzulernen. Beides hätte mir den Flug versüßt, aber nein …

„Meine Damen und Herren, wir begrüßen Sie an Bord dieses Fluges von Hamburg nach Paris Charles de Gaulle. Die Flugzeit beträgt etwa anderthalb Stunden, über die genaue Ankunftszeit halten wir Sie auf dem Laufenden. Die Sicherheitseinweisung …“

Ich unterdrückte ein Seufzen und verfolgte die Gesten der Flugbegleiterin zur Erklärung der Computerstimme so aufmerksam wie möglich. Zumindest, bis mein Handy vibrierte. Zwei Nachrichten. Eine war schon vor zehn Minuten eingegangen.

 

F. Martinez: Bis gleich, Jeanne! Ich bin die mit dem großen pinken Schild. Kannst mich nicht übersehen! Bisous, Franci

 

Ich wünschte wirklich, ich könnte das für einen Scherz halten. Wir hatten uns fünfzehn Jahre lang nicht gesehen, aber schon die wenigen Nachrichten, die wir seit gestern ausgetauscht hatten, bewiesen mir, dass es eine gute Idee gewesen war, sie anzurufen. Nicht jeder würde nach all den Jahren Funkstille auf die kurze Nachricht: Ich fliege morgen nach Paris. Kann ich erst mal bei dir wohnen? mit einem begeisterten Oh mein Gott, oh mein Gott, ja! antworten.

Pinkes Schild, wiederholte ich in Gedanken. Das würde es einfacher machen. Ich hatte zwar aktuelle Fotos von Francesca gesehen, aber man wusste ja nie.

Kopfschüttelnd öffnete ich die zweite Nachricht.

 

E. Vogt: Guten Flug, Schwesterchen. Iss ein paar Eclairs für mich mit, meld dich zwischendurch und wage es ja nicht, nie wieder zurückzukommen!

 

Zum Glück hatte Elise noch ein Herzchen hinter diese Nachricht gesetzt. Ich würde ihr durchaus zutrauen, der Drohung ernsthafte Konsequenzen folgen zu lassen, aber das hier sollte ja nur eine kurze Auszeit sein. Zwei Wochen. Vielleicht drei oder vier, mal schauen, was sich so ergab.

Seufzend warf ich noch einen Blick auf die drei verpassten Anrufe meines Vaters, schluckte die Bitterkeit hinunter und schaltete den Flugmodus an. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung und langsam zog der graue Asphalt der Landebahn an mir vorbei. Es dämmerte. Bei der Landung in Paris wäre es bereits dunkel. Ich schloss die Augen und lauschte auf mein vor Aufregung wild schlagendes Herz.

Heute ließ ich nicht nur Deutschland hinter mir, sondern auch mein bisheriges Leben. Alles würde anders werden. Alles würde … größer werden. Vielleicht auch ich selbst.

***

„Jeanne! Jeanne, ich bin hier! Jeanne!“

Franci hätte sich sowohl das laute Rufen als auch das wilde Hüpfen sparen können, das pinke Schild war auffällig genug. Schwindelerregend schnell wirbelte sie es über ihrem Kopf umher, als könnte ich aus jeder beliebigen Richtung und nicht nur durch diese eine Schiebetür kommen.

„Franci? Franci, wo bist du denn nur?“ Ich stellte den Koffer ab, schirmte meine Augen mit der Hand ab und sah bemüht ernst von rechts nach links. „Ich seh dich einfach nicht. Wo …“

Im nächsten Moment wurde ich in eine wilde Umarmung gerissen und Francis durchdringendes Kreischen brachte meine Ohren zum Klingen.

„Oh mein Gott, du bist es wirklich! Du bist hier! Einfach so!“

„Ja, und wenn du noch länger was von mir haben willst, solltest du …“

„Pardon.“ Grinsend ließ Franci von mir ab und pustete sich eine Strähne des gerade geschnittenen, dunkelbraunen Ponys aus der Stirn. „Ich kann’s einfach nicht glauben. Also, dass du das wirklich durchgezogen hast. Die Geschichte will ich unbedingt hören! Ein Ich musste mal raus zählt hier in Paris nicht.“

„Schon verstanden.“ Ich bückte mich und hob das Schild vom Boden auf, das Franci bei ihrer Begrüßung hatte fallen lassen. Jeanne stand darauf, und das in silberner Glitzerfarbe. Der Schlenker des Js war zu einem kleinen Herzchen geformt.

„Hab ich extra für dich machen lassen. Heute Morgen, im Büro“, erklärte Franci und hakte sich bei mir unter. „Mein Chef hat vielleicht komisch geguckt. Allein das war’s wert. Abgesehen davon, dass es natürlich der Hammer ist.“

„Oh ja. Ich liebe es.“ Ich klemmte mir das Schild unter den Arm, griff nach dem Koffer und ließ mich von Franci Richtung Rolltreppe ziehen.

„Perfekt, dann hängen wir es zu Hause gleich über dein Bett.“

„Ich habe ein eigenes Bett?“

„Möchtest du lieber auf dem Boden schlafen? Lässt sich auch machen.“

Ich lachte, folgte Franci auf die Rolltreppe und hievte den Koffer neben mich. Ich war sonst eher der Sporttaschen-Typ, das große Ding hatte ich mir von meiner Schwester borgen müssen. „Gott, nein. Aber ich hätte eher mit der Couch gerechnet.“

Wohnungen in Paris waren schließlich nicht billig. Wobei, wenn ich mir Franci so ansah – der hellblaue Mantel fühlte sich schwer und teuer an, an der Seite der Sonnenbrille glänzte ein goldener Markenname und die Stiefel … diese Stiefel!

„Francesca, Francesca. Ich hoffe doch, dass du dir dieses Geld hart erarbeitest und nicht erschläfst?“

Meine Freundin zwinkerte mir zu. „Ertappt. Aber keine Sorge, die Wände sind dick, du wirst meine drei reichen Liebhaber nicht hören.“

Stumm schickte ich ein dickes Dankeschön zum Himmel. Bei meinem Umzug nach Deutschland war ich vierzehn und sie fünfzehn Jahre alt gewesen, und trotzdem hatte ich Franci ohne zu zögern angerufen – ohne mir Gedanken darüber zu machen, dass es komisch werden könnte, mich nach all der Zeit bei ihr einzunisten. Diese Bedenken waren mir erst mit denen meiner Schwester gekommen. Aber nein, es fühlte sich jetzt schon fantastisch an und würde fantastisch bleiben. Genau wie früher, als noch alles in Ordnung gewesen war …

„Ich kann dir auch einen besorgen“, fügte Franci hinzu. Sie spitzte verschwörerisch die Lippen, als würde sie in Gedanken schon die Kandidaten durchgehen. „Bist du mehr für die zu haben, die dich erst noch ausführen, oder willst du gleich die anderen …“

„Guter Scherz, aber lass mal, ich will meine Zeit in Paris nicht mit Männern verplempern.“

„Eine löbliche Einstellung. Wie lange willst du denn bleiben?“

„Das weiß ich noch nicht so genau“, gab ich ausweichend zurück. „Wie du dir vielleicht schon gedacht hast, ist die ganze Sache hier … sagen wir mal … spontan entstanden.“

Franci nickte. „Klar. Spontan, also komplett ohne Plan?“

Ich seufzte und folgte Franci durch die völlig überfüllten Gänge des Flughafens. „Mir gefällt spontan besser.“

„Okay, dann bleiben wir dabei. Sag einfach Bescheid, wenn du mehr erzählen willst.“

Erleichtert nickte ich. Genau das brauchte ich jetzt: ein paar Tage, ohne über Deutschland zu reden oder auch nur daran zu denken. „Danke.“

Franci hielt auf eine Glastür zu und führte mich nach draußen. Es war tatsächlich schon dunkel und windig. Ich zog mir meine Jacke enger um die Schultern.

„Ich bin heute eine super liebe Gastgeberin und spendiere uns ein Taxi zurück, der Zug ist Sonntagabend immer so voll“, verkündete Franci und hielt auf den Taxenstand zu.

„Wow, du lässt es dir aber gut gehen“, bemerkte ich grinsend, folgte ihr jedoch bereitwillig. Der RER brauchte eine Dreiviertelstunde allein ins Pariser Zentrum und … Gott, ich hatte nicht mal eine Ahnung, wo Franci inzwischen wohnte.

„Hey, ich genieße meinen Luxus wohldosiert, aber wenn, dann in vollen Zügen. Außerdem müsstest du dir auch noch ein Ticket besorgen und dazu hab ich herzlich wenig Lust. Bonsoir“, wandte sie sich freundlich an den Taxifahrer, der bereits ausgestiegen war. Er nahm mir den schweren Koffer aus der Hand und verstaute ihn im Kofferraum. Das wundervolle Schild nahm ich sicherheitshalber mit nach vorn und legte es mit meiner Handtasche auf den mittleren Platz.

„Zum Place de la République, bitte“, sagte Francesca, kaum dass der Fahrer ebenfalls saß.

„Da wohnst du?“, fragte ich sicherheitshalber nach. Der Fahrer lenkte das Taxi vom Flughafengelände direkt auf die Autobahn.

„Ja.“ Franci lächelte glücklich. „Weißt du noch, wie wir früher immer am Kanal Saint-Martin saßen? Bis dahin sind es von mir zu Fuß nur noch ein paar Minuten.“

„Wow!“ Meine Überraschung tat mir fast ein wenig leid. „Bei der Lage hast du entweder einen sehr großzügigen Chef, oder einer deiner Liebhaber hat gute Kontakte.“

„Weder das eine noch das andere, aber Letzteres steht auf meiner Wunschliste“, erwiderte Franci augenverdrehend und zerstrubbelte ihren Pony. „Nur, um dich gleich auf mein ewiges Jammern vorzubereiten: mein Chef ist ein überarbeiteter Arsch und ich bin sozusagen seine rechte Hand. Ich muss seine schlechte Laune also meistens abpuffern. Aber ich hab ihn gut im Griff. Solange er oft genug glaubt, dass er die guten Ideen hatte, ist er auszuhalten.“

„Das hört sich nach einem erstklassigen Idioten an. Aber wie ist er dann Chef von was auch immer geworden, wenn es letztlich deine guten Ideen sind?“

„Ich finde es wunderbar, dass du ihn solidarisch mithasst. Das hab ich vermisst.“ Franci lachte und drückte mir ein Küsschen auf die Wange. „Ich arbeite bei Paris Privée. Wir bieten besondere Stadt- und Themenführungen in Paris an.“

„Das heißt, du bist … Stadtführerin?“

„Um Gottes willen, nein.“ Entsetzt schüttelte Francesca den Kopf. „Ich schlage mich doch nicht mit Touristengruppen rum, die kein Wort Französisch sprechen. Vom Arbeitsbereich her mache ich eigentlich die Programmleitung. Ich entwickle Konzepte für neue Touren. Klingt simpel, ist es nicht. Man muss immer etwas finden, das es so noch nicht gibt und das die Leute anspricht. Das macht es spannend: das Einzigartige und Besondere zu finden“, erzählte sie lächelnd. Das Funkeln in ihren Augen zeigte mir, dass sie ihren Job wirklich liebte.

„Das klingt wunderbar. Schön, dass du etwas gefunden hast, das zu dir passt.“

„Absolut. Und wie sieht’s bei dir aus? Was hast du aus deinem Leben gemacht?“

„Ich bin Journalistin“, antwortete ich. „Bei einer Hamburger Zeitung.“

„Das klingt auch nicht schlecht. Ich erinnere mich noch gut an deine ständige Sensationslust bei der Schülerzeitung.“

Ich lachte. „Ja, es ist schon schön, mit meinen wirren Gedanken Geld zu verdienen. Außerdem kann ich dabei immer noch ein bisschen rumreisen und es wird nicht langweilig. Ich hab sogar zwei Jahre in London gelebt und …“

Ein schrilles Klingeln unterbrach mich.

„Oh, verdammt. Da muss ich kurz rangehen“, murmelte Francesca nach einem Blick auf ihr Handy und hob das Gerät ans Ohr. Dabei stach mir der klobige Silberring ins Auge, den sie am rechten Mittelfinger trug und der gar nicht in ihr sonst so elegantes Erscheinungsbild passen wollte. Kurz hörte sie zu, dann schoss ein Schwall spanischer Worte über ihre Lippen.

Eine Weile betrachtete ich sie nachdenklich. Francesca Martinez war ein Jahr älter als ich, musste in diesem Jahr also ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert haben. Sie war genauso schlank und sportlich wie zu unserer Schulzeit und entsprach trotz ihrer spanischen Wurzeln dem Bild einer modernen, modebewussten Französin. Zum Glück hatte sie nichts von ihrem Biss verloren.

Ich lehnte mich zurück und sah aus dem Fenster. Die leichte Vibration des Wagens, die leisen Klänge des Radios und die vorbeiziehenden Lichter hüllten mich ein wie ein Mantel der Ruhe. Gerade hatte ich auf Francescas Seite noch weite Felder gesehen, nun zogen neben der Autobahn bloß dichte Häuserblocks und hell erleuchtete Wohnhäuser vorbei. Ich hatte fast vergessen, wie riesig Paris war. Ich … hatte vieles vergessen. Und vielleicht war dies der einzige Ort, an dem ich mich wieder erinnern konnte.

Der Anblick des nächtlichen Paris nahm mich so sehr gefangen, dass ich ebenso überrascht aufschreckte wie Francesca, als das Taxi am Rande eines großen Platzes hielt. Mit einem letzten, energisch klingenden Satz beendete Francesca das Gespräch, stieß tief einen Schwall Luft aus und warf mir einen entschuldigenden Blick zu.

„Tut mir total leid, meine Mutter kommt einfach nie zum Ende“, murmelte sie und hielt dem Fahrer einige Scheine hin. „Schönen Abend noch.“

Der Fahrer lächelte uns zu und betätigte einen Knopf, um den Kofferraum zu öffnen. „Ihnen auch, Mesdames.“

Franci stieg aus, ging um den Wagen herum und hob meinen Koffer heraus, ich war völlig gefangen von dem sich mir bietenden Anblick. Die Sonne war längst untergegangen, doch der Place de la République war hell erleuchtet und sprühte nur so vor Leben. Unzählige Laternen umgaben ihn und wiesen Dutzenden redenden und lachenden Menschen den Weg in die umliegenden Straßen. Im Zentrum des Platzes ragte eine riesige, bronzene Frauenstatue in die Höhe, ein Wahrzeichen der Französischen Republik. Für mich war sie eher ein Wegweiser zurück in meiner Kindheit, als ich mit Francesca jede Woche hierhergefahren war, um am nahegelegenen Kanal zu picknicken, zu quatschen, unseren ersten Wein zu trinken oder der ersten Verliebtheit nachzuhängen. Die für Paris typischen, teils verspielten, teils monumentalen Gebäude der Belle Époque mit den hellen Fassaden und dunklen Balkongittern fassten den gesamten Platz ein wie eine unüberwindbare Mauer. Als ich das letzte Mal hier war, herrschte hier reger Autoverkehr, jetzt aber erkannte ich stattdessen ein Café mit Wasserspielen neben der Statue, dazu viele Bänke und Stufen. Die zahlreichen Bäume trugen ein herbstliches Kleid und rahmten das Bild eines friedlichen Abends in dieser lebendigen Stadt harmonisch ein.

„Vor ein paar Jahren haben sie hier alles umgebaut“, erklärte Francesca. „Die Straße um die Statue herum weggenommen und so. Seitdem sind hier noch mehr Menschen unterwegs, aber ein bisschen leiser ist es trotzdem.“

„Es sieht nett aus“, erwiderte ich leise. Hier hätte ich als Jugendliche auch gern ein paar schöne Tage verbracht.

„Oh ja, hier gibt es auch erstklassigen Crème. Aber jetzt komm, ich habe Hunger.“

Francesca winkte mich in eine der Seitenstraßen. Die Gebäude zu beiden Seiten waren so hoch, dass bei Tag kaum Licht in die schmalen Schluchten fallen konnte. Dennoch wirkte die Gasse dank der hellen Steine und der unzähligen Fenster freundlich und elegant. Wir überquerten eine größere Straße, gingen an einem süßen Eckcafé und mehreren herrlich duftenden Patisserien vorbei – wie hatte ich die französischen Backwaren doch vermisst! – und erreichten schließlich einen weiteren Platz.

„Schau, hier links ist schon der Kanal.“ Francesca lotste mich über einen Zebrastreifen und deutete auf das kleine Grünstück zu ihrer Linken. „Durch die Büsche sieht man das Wasser hier noch nicht, aber ich zeig es dir morgen. Wir sind auch gleich da.“

Die Straße stieg leicht an und führte uns noch an einer Art altem Theater und einer Apotheke vorbei, bis Francesca links abbog und vor der ersten Tür auf der rechten Seite stehen blieb. Staunend sog ich all die verschiedenen Eindrücke in mich auf.

„Ich hoffe, deine Fenster gehen zur Straße hin? Dann hast du auf jeden Fall immer etwas Interessantes zu beobachten“, stellte ich fest. Im Erdgeschoss dieses Hauses war eine Buchhandlung, in deren Schaufenster allerlei bunte Cover die Blicke der Passanten auf sich zogen. Jetzt waren all die Menschen, die in den verschiedenen Bars und Restaurants den Sonntagabend genossen, eindeutig das interessantere Programm.

„Aber klar“, gab Francesca zurück und drehte den Schlüssel im Schloss. „Das ist besser als Fernsehen beim morgendlichen Kaffee.“ Sie hielt mir die Tür auf und rief den Fahrstuhl. Dieser hielt im zweiten Stock und entließ uns in einen kurzen Flur mit vier Türen. Francesca öffnete die zweite auf der rechten Seite. „Willkommen, willkommen. Fühl dich ganz wie zu Hause.“

Ich staunte nicht schlecht, als ich durch den Flur in den Salon kam. Neben einem cremefarbenen Sofa mit Kuschelkissen dominierten vier riesige Fenster den gewaltigen Wohnbereich und machten sowohl Lampen als auch den Fernseher überflüssig. Bloß die edlen, abstrakten Bilder an den Wänden stahlen ihnen fast die Show.

„Wow.“ Ich nickte anerkennend und streifte Schuhe und Jacke ab. „Ein Traum von einer Wohnung.“

Francesca war schon auf dem Weg zur bordeauxroten Küchenzeile. Dabei zog sie sich den klobigen Ring vom Finger und legte ihn auf die Anrichte. „Danke sehr. Ich sterbe vor Hunger, der Flughafen ist viel zu weit außerhalb. Warum ist noch niemand auf die Idee gekommen, eine Landebahn auf den Champs-Elysées zu bauen?“

Ich grinste. „Na ja, ich war lange nicht mehr hier, aber auf den Champs-Elysées fahren doch … Autos?“

„Die kriegen einen Tunnel.“

„Und dann willst du beim Lärm der startenden Flugzeuge noch shoppen gehen?“

„Ach Jeanne, sei nicht so pessimistisch und lass mir meinen Wunsch vom ruhigen Flughafen nebenan. Was hältst du davon, wenn du schon mal auspackst und ich zaubere uns in der Zeit was Leckeres? Du musst dich ja schnell wieder an die französischen Essenszeiten gewöhnen.“

Da hatte sie recht. Hier würde man mich nur irritiert ansehen, wenn ich um sieben Uhr ein paar Scheiben Brot essen würde. „Alles klar, mein Magen kriegt das schon hin.“

„Das will ich doch hoffen. Dein Zimmer ist das erste links. Hetz dich nicht, gutes Essen …“

„… braucht seine Zeit, das weiß ich noch“, ergänzte ich grinsend und rollte meinen Koffer zu der einzigen weiteren Tür neben dem Sofa.

„Hach, Jeanne! Du hast mir sogar damals schon zugehört. Was will ich eigentlich mit den Kerlen, vielleicht reichst du mir schon.“

„Vielleicht? Gib mir ein paar Wochen und ich verstehe dich besser, als jeder reiche Kerl es je könnte.“

„Damit hast du höchstwahrscheinlich recht“, murmelte Francesca seufzend. „Bis gleich, Jeanne. Ich freu mich wirklich, dass du hier bist.“

„Ich mich auch, Franci.“

Vorsichtig schloss ich die Tür hinter mir und kam in einen schmalen Flur. Ich öffnete die erste Tür links und rollte meinen Koffer hinein. Das Zimmer war deutlich kleiner als der Wohnbereich und normalerweise wohl Francis Büro. In der hinteren rechten Ecke prangte ein von Papierstapeln und Ordnern bedeckter Schreibtisch und an der Wand daneben hingen drei überladene Pinnwände nebeneinander.

Ich stellte den Koffer unter die Pinnwände, lehnte das Schild mit meinem Namen daneben und sank auf das weiße Bett. Die Bettdecke war mit bunten Blumen bestickt und fühlte sich wunderbar weich an, aber schlafen könnte ich jetzt trotz der langen Reise sicher nicht.

Ich zog die Beine auf die Decke und mein Handy aus der Handtasche. Tief Luft holend schaltete ich den Flugmodus aus und wartete, bis das Vibrieren nachließ. Zwei weitere verpasste Anrufe, ein neuer Kloß in meinem Hals. Schnell klickte ich auf die letzte Nachricht meiner Schwester Elise und antwortete.

 

J. Vogt: Bin gut angekommen, melde mich natürlich! Hab dich lieb.

 

Dann legte ich das Handy auf den Nachttisch und lehnte den Kopf an die Wand.

Eine Weile saß ich stumm da und betrachtete Francis Pinnwände. Ich erkannte nicht viel, dafür waren die Bilder und Texte zu klein, aber aufstehen wollte ich nicht. Es fühlte sich gut an, hier zu sitzen. Still, reglos, entspannt, den Blick auf Francis Ideen gerichtet. Auf ihre Ideen von Paris.

Irgendwann wanderten meine Finger wie von selbst erneut zu dem Druckknopf meiner Tasche. Ich tastete hinein und zog ein altes, kleines Buch hervor. Der Einband war einmal schlicht schwarz gewesen, bevor jemand einen weißen Eiffelturm darauf gemalt hatte.

Ich war nicht sicher, was ich mir davon versprach, nach Paris zurückzukehren. In jene Stadt, in der meine Mutter ihr ganzes Leben verbracht hatte. In der meine Eltern sich kennen und lieben gelernt hatten, in der ich selbst geboren war und bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr gewohnt hatte.

Nachdenklich strich ich über den Einband und fühlte tief in mich hinein.

Ich werde immer bei dir sein und über dich wachen. In deinen Träumen, und auch ganz tief in deinem Herzen, flüsterte eine undeutliche Stimme in meinen Gedanken. Eine Stimme ohne Klang. Eine Stimme, die ich vergessen hatte.

Vielleicht war dies der Grund, warum ich zurückgekommen war. Weil ich meine Träume erkunden wollte wie die meiner Mutter. Weil ich mich an sie erinnern wollte.

Und vielleicht war ich auch hier, weil ich glaubte, inzwischen groß zu sein – aber meinen Platz im Leben noch nicht gefunden zu haben.