Leseprobe Verführt von einem Herzensbrecher

Prolog

Oxford, England Dezember 1869

Ein praller Vollmond stand über den hohen Universitätsmauern am Himmel und beleuchtete den Weg des jungen Mannes so hell und klar wie eine Gaslaterne.

Nicht, dass es keine Gaslaternen gegeben hätte. Es gab welche. Aber das Strahlen des runden weißen Mondes machte das gelblich flackernde Gaslicht im Grunde überflüssig. Auch wenn alle Lampen in England erloschen wären, hätten sich Leute, die wie er zu dieser Stunde noch unterwegs waren, im Licht dieses bemerkenswerten Mondes relativ leicht zurechtfinden können.

Oder vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er so betrunken war. Ja, es war durchaus möglich, dass sich dieser Mond in keiner Weise von irgendeinem anderen Mond unterschied, und dass er von all dem Whisky, den er während des Spiels getrunken hatte, noch immer völlig berauscht war, und dass der Grund, warum er sich so mühelos in der mitternächtlichen Finsternis bewegen konnte, nichts mit dem Mondschein zu tun hatte, sondern lediglich mit der schlichten Tatsache, dass er diesen Weg schon so oft zuvor gegangen war.

Er musste nicht einmal darauf achten, wohin er ging. Seine Füße trugen ihn in die richtige Richtung. Betrunken oder nicht, er war imstande, beim Gehen an andere Dinge zu denken, genau wie sonst, und was ihn vor allem beschäftigte – abgesehen von der Kälte, die beträchtlich war –, war die Frage, wie zum Teufel er das Geld auftreiben sollte.

Nicht, dass er sich tatsächlich verpflichtet fühlte, es zurückzuzahlen. Die Karten waren gezinkt gewesen, keine Frage. Wie hätte er sonst in so kurzer Zeit so viel verlieren können? Er war ein exzellenter Kartenspieler. Wirklich exzellent. Die Karten waren mit Sicherheit gezinkt gewesen.

Was angesichts Slaters Überzeugung, dass bei dem Spiel alles mit rechten Dingen zugegangen war, recht seltsam erschien. Slater kannte die besten Kartenrunden in der Stadt. Thomas wusste, dass er von Glück reden konnte, zu dieser überhaupt zugelassen worden zu sein, wenn man bedachte, dass er schließlich nur ein Earl war und noch dazu ein brandneuer. Immerhin, dieser Bursche mit dem Schnurrbart war ein Herzog gewesen. Ein Herzog, verdammt!

Allerdings hatte er sich nicht unbedingt wie einer benommen. Schon gar nicht, als Tommy nach einer weiteren verlustreichen Runde behauptet hatte, dass das Spiel getürkt sei. Statt diese Anschuldigung mit einem Lachen abzutun, wie es ein richtiger Herzog vielleicht getan hätte, hatte dieser hier eine Pistole auf ihn gerichtet. Im Ernst, eine Pistole! Tommy hatte von solchen Sachen zwar schon gehört, aber nie damit gerechnet, dass ihm so etwas passieren könnte.

Zum Glück war Slater da gewesen. Er hatte den Burschen beruhigt und ihm versichert, dass Tommy es nicht ernst gemeint hätte – obwohl Tommy es verdammt ernst gemeint hatte. Aber, wie Slater ihm später, als sie allein waren, erklärte, konnte man unmöglich einen Mann des Falschspiels bezichtigen, ohne dafür handfeste Beweise zu haben. Und Tommys einziges Argument – dass das Muster auf den Kartenrücken eigenartig aussehe und er noch nie so viel verloren habe – war nicht besonders stichhaltig.

Vermutlich konnte er sich glücklich schätzen, mit dem Leben davongekommen zu sein. Dieser Herzog hatte ausgesehen, als wäre es etwas ganz Alltägliches für ihn, einem Mitspieler eine Kugel in den Kopf zu jagen.

Obwohl eine Kugel im Kopf möglicherweise dem Problem vorzuziehen war, mit dem sich Tommy nun konfrontiert sah: die tausend Pfund aufzutreiben, die er brauchte, um seine Spielschulden zu zahlen.

Seine Bank konnte er selbstredend nicht darum bitten. Das Vermögen, das ihm sein Vater nach seinem Tod vor einem guten Jahr hinterlassen hatte, war bis zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag, also noch zwei Jahre, in einem Treuhandfond angelegt. Er kam an das Geld nicht heran. Aber er konnte es beleihen, das wusste er.

Das Problem war, wen er fragen sollte. Nicht die Bank. Man würde nur seine Mutter informieren, und sie würde wissen wollen, wofür er das Geld brauchte, und das konnte er ihr unmöglich sagen.

Seine Schwester wäre eine Möglichkeit. Sie war bereits volljährig und in diesem Monat in den Besitz ihres Vermögens gekommen. Auch sie würde wissen wollen, wozu er das Geld benötigte, aber sie war leicht zu beschwindeln. Wesentlich leichter als ihre Mutter.

Und wenn Tommy ihr eine gute Geschichte auftischte – da seine Schwester sehr weichherzig war, am besten eine, in der es zum Beispiel um arme hungernde Kinder ging oder grausam misshandelte Tiere –, könnte er ihr mit Sicherheit vier- bis fünfhundert Pfund abschwatzen.

Das Problem war, er wollte Caroline nicht belügen. Sie ein wenig zu hänseln, war eine Sache, aber schamlos zu lügen? Das war etwas ganz anderes. Es verletzte sein moralisches Feingefühl, seine Schwester so unverschämt zu hintergehen, selbst wenn es, wie in diesem Fall, bedeutete, seine eigene Haut zu retten. Die Tatsache, dass Caroline ganz sicher lieber seine Schulden bezahlen als ihn verlieren würde, beschwichtigte sein Gewissen nicht im Geringsten. Nein, Tommy wusste, dass er jemand anders finden musste, von dem er die tausend Pfund leihen konnte.

Und während er im Geist die Liste seiner Freunde und Bekannten durchging und sich daran zu erinnern versuchte, ob ihm einer von ihnen einen Gefallen schuldete, trugen ihn seine Füße, die unbeirrt weitergegangen waren, vor das Tor seines Wohnheims und blieben dort stehen. Ohne zu überlegen, was er tat, streckte er eine Hand aus. Er war allerdings keineswegs überrascht, das Tor verschlossen zu finden. Das war es natürlich seit neun Uhr abends, und jetzt war es weit nach Mitternacht.

Wieder setzten sich seine Füße wie von selbst in Bewegung, diesmal um ihn am Tor und der hohen Steinmauer vorbeizuführen, hinter denen die Unterkünfte lagen, die er mit ungefähr zweihundert Kommilitonen teilte. Tommy, der immer noch die Liste mit Freunden durchging, dachte nicht einmal darüber nach, was er gerade tat. Denn das war in den letzten Monaten zu einer Art Gewohnheit geworden: Er würde natürlich über die Mauer klettern, und zwar, sobald er den Spalt in der Mauer erreichte, der seinen Füßen genügend Halt bot.

Keiner seiner Mitstudenten hatte Geld, das wusste er. Sie waren alle in der gleichen Lage wie er, sie warteten auf ihren einundzwanzigsten Geburtstag und ihr Erbe. Einige der Studenten, deren Väter noch lebten, bekamen gelegentlich Geld geschenkt, aber keiner von denen, die er gut genug kannte, hatte in letzter Zeit eine so hohe Summe erhalten.

In dem Moment, als er den Efeu, der an der Mauer wuchs, die er erklimmen wollte, niedergeschlagen beiseiteschob und seine Stiefelspitze in den Spalt zwischen den Steinen stellte, hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Mit einem unterdrückten Fluch wandte er den Kopf. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, dass der Proktor entdeckt hatte, dass der Earl von Bartlett wieder einmal über die Mauer stieg!

Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass es keineswegs der Proktor, sondern dieser verflixte Herzog war. Der Bursche musste ihm von der Schänke, in der die Kartenpartie stattgefunden hatte, gefolgt sein. Man sollte meinen, ein Herzog hätte Besseres zu tun, als einem unbemittelten Earl nachzuschleichen, aber offenbar war dem nicht so.

»Hören Sie«, begann Tommy, während er seinen Fuß ließ, wo er war, und einen Ellbogen auf sein Knie stützte, »Sie bekommen Ihr Geld, Euer Gnaden. Sagte ich das nicht bereits? Nicht sofort, versteht sich, aber bald …«

»Es geht nicht um das Geld«, erwiderte der Herzog. Er sah wirklich nicht unbedingt nach einem Herzog aus. Würde ein Herzog seinen Schnurrbart tatsächlich so aufzwirbeln? Und war diese Weste, wenn auch aus Samt, nicht eine Spur … nun ja, zu bunt?

»Es geht darum, wie Sie mich genannt haben«, erklärte der Herzog, und erst jetzt entdeckte Tommy, dass er etwas in der Hand hielt. Im hellen Mondlicht war Tommy außerdem in der Lage, genau zu erkennen, was es war.

»Wie ich Sie genannt habe?« Auf einmal hoffte Tommy, ihr Gespräch würde belauscht werden. Beinahe inbrünstig betete er, dass dieser idiotische Proktor sie hörte und das Tor öffnete, um eine Erklärung zu verlangen. Es war wesentlich besser, von der Universität verwiesen zu werden, weil er das Gelände außerhalb der erlaubten Zeit verlassen hatte, als eine Kugel in den Bauch zu bekommen – auch wenn ihn diese Kugel vermutlich von seinen Schulden befreien würde.

»Richtig.« Der Herzog hielt den Pistolenlauf unverwandt auf Tommys Brust gerichtet. »Einen Betrüger. So haben Sie mich genannt. Aber der Herzog tut nicht betrügen, verstanden?«

Tommy wurden zwei Dinge gleichzeitig bewusst. Erstens, dass es unwahrscheinlich schien, dass ein Herzog – ein echter Herzog – so fehlerhaft mit seiner Muttersprache umgehen würde.

Zweitens, dass er sterben würde.

»Sagen Sie gute Nacht, Mylord«, befahl der Mann, der kein Herzog war, und zog den Abzug der Waffe, die immer noch auf Tommys Brust zielte.

Und dann verschwand ganz plötzlich das helle Mondlicht und mit ihm Tommys drängendste Sorgen.

Kapitel 1

London, Mai 1870

Es brannte kein Licht in dem Zimmer, das nur von den Flammen in dem reich verzierten Marmorkamin erhellt wurde. Das Feuer war schwach, reichte aber aus, um die Silhouette des Pärchens auf dem Diwan deutlich nachzuzeichnen. Caroline konnte die Gesichtszüge erkennen. Sie wusste, wer es war. Sie wusste es sogar sehr gut. Schließlich hatte sie das Lachen ihres Verlobten durch die geschlossene Tür erkannt und nur deshalb die Tür überhaupt geöffnet.

Unglücklicherweise sah es so aus, als hätte sie lieber zuerst anklopfen sollen, da sie augenscheinlich einen Moment größter Intimität störte. Und obwohl sie wusste, dass sie gehen oder sich zumindest bemerkbar machen sollte, musste sie feststellen, dass sie sich nicht von der Stelle rühren konnte. Wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte gegen ihren Willen auf Lady Jacquelyn Seldons Brüste, die sich aus dem Mieder ihres Abendkleides befreit hatten und jetzt in einem Rhythmus mit den kräftigen Hüftbewegungen des Mannes, der zwischen Lady Jacquelyns Schenkeln lag, auf und ab hüpften.

Caroline, die sich mit einer behandschuhten Hand an den Türgriff und mit der anderen an den Rahmen klammerte, streifte der Gedanke, dass ihre eigenen Brüste noch nie so wild gehüpft waren. Natürlich waren sie auch nicht annähernd so groß wie die von Lady Jacquelyn.

Was eine Erklärung dafür sein mochte, dass es Lady Jacquelyn und nicht Caroline war, die rittlings auf dem Marquis von Winchilsea saß.

Caroline war sich der Vorliebe ihres Verlobten für vollbusige Frauen bisher nicht bewusst gewesen, aber offensichtlich empfand Lord Winchilsea sie in dieser Hinsicht als unzulänglich und hatte sich deshalb eine Dame gesucht, die seinem Geschmack eher entsprach. Was natürlich sein gutes Recht war. Allerdings konnte Caroline nicht umhin, zu denken, dass er den Anstand hätte haben können, es nicht ausgerechnet während einer Dinnerparty in einem von Lady Ashforth’ Salons zu tun.

Ich glaube, ich falle in Ohnmacht, dachte Caroline und verstärkte ihren Griff um die Türklinke, für den Fall, dass plötzlich der Boden unter ihr nachgab, wie es den Heldinnen in den Romanen so oft passierte, die ihre Zofe manchmal herumliegen ließ und in denen Caroline gelegentlich schmökerte.

Natürlich fiel sie nicht in Ohnmacht. Caroline war noch nie in ihrem Leben in Ohnmacht gefallen, nicht einmal, als sie vom Pferd gestürzt war und sich den Arm an zwei Stellen gebrochen hatte. Sie wünschte beinahe, sie wäre ohnmächtig geworden, weil ihr der Anblick, wie Lady Jacquelyn ihren Finger in Hursts Mund schob, dann erspart geblieben wäre.

Also wirklich, wunderte sich Caroline, warum tut sie das? Fanden Männer Gefallen daran, wenn eine Frau ihnen einen Finger in den Mund steckte?

Offensichtlich war es so, da der Marquis sofort anfing, geräuschvoll daran zu saugen.

Warum hatte das ihr gegenüber nie jemand erwähnt? Wenn der Marquis sich gewünscht hätte, dass Caroline ihren Finger in seinen Mund schob, hätte sie es bestimmt getan, wenn es ihn glücklich machte. Wirklich, es war völlig unnötig von ihm, sich wegen einer solchen Bagatelle an Lady Jacquelyn zu wenden, mit der er kaum bekannt war, geschweige denn verlobt.

Unter Lady Jacquelyn stieß der Marquis von Winchilsea ein Stöhnen aus – ziemlich erstickt, weil ihm ihr Finger im Weg war. Caroline sah, wie sich seine Hand von Lady Jacquelyns Hüfte zu einer ihrer üppigen Brüste schob. Wie sie bemerkte, hatte Hurst weder sein Hemd noch seine Jacke ausgezogen. Nun, vermutlich konnte er sich auf diese Art schneller wieder der Dinnerparty anschließen. Aber so nah am Kaminfeuer – ganz zu schweigen von der Hitze, die Lady Jacquelyns Körper ausstrahlen dürfte – musste ihm reichlich warm sein.

Es schien ihm jedoch nichts auszumachen. Die Hand, die sich um Lady Jacquelyns Brust geschlossen hatte, wanderte zu ihrem schlanken Nacken, wo sich feine Strähnen aus dem aufwendigen Lockentuff auf ihrem Kopf gestohlen hatten. Dann zog Hurst ihr Gesicht an seines, bis ihre Lippen aufeinandertrafen. Lady Jacquelyn musste ihren Finger aus seinem Mund nehmen, um ihn durch ihre Zunge zu ersetzen, die sie stattdessen hineinsteckte.

So, dachte Caroline. Das war’s. Die Hochzeit findet eindeutig nicht statt.

Sie überlegte, ob sie ihren Entschluss hier und jetzt verkünden sollte, ob sie tief Luft holen und die Liebenden bei ihrer Umarmung – falls das die korrekte Bezeichnung war – unterbrechen und eine Szene machen sollte.

Aber dann entschied sie, dass sie einfach nicht imstande war zu ertragen, was unweigerlich folgen würde: die Entschuldigungen, die Selbstanklagen, Hursts gestammelte Erklärungen, dass er sie liebe, Lady Jacquelyns Tränen. Falls Lady Jacquelyn überhaupt weinen konnte, was Caroline stark bezweifelte.

Wirklich, was blieb ihr anderes übrig, als sich umzudrehen und den Raum so leise zu verlassen, wie sie ihn betreten hatte? Mit dem stummen Gebet, Hurst und Lady Jacquelyn mögen zu beschäftigt sein, um das leise Klicken der Klinke zu hören, zog sie die Tür hinter sich zu und stieß erst dann den lange angehaltenen Atem aus.

Was sollte sie jetzt tun?

Im Korridor draußen vor der Tür zum Salon war es dunkel. Dunkel und kühl, ganz im Gegensatz zu dem Rest von Lady Ashforth’ Stadthaus, in dem sich nahezu hundert Gäste und beinahe genauso viele Dienstboten drängten. Hierher würde sich wohl niemand verirren, da Champagner, Speisen und Musik im unteren Stockwerk geboten wurden.

Niemand bis auf eine empörend hintergangene Verlobte wie sie selbst.

Ihre Knie fühlten sich plötzlich ein bisschen wackelig an. Caroline sank auf die dritte und vierte Stufe der schmalen Dienstbotentreppe genau gegenüber der Tür, die sie so leise geschlossen hatte. Sie würde nicht in Ohnmacht fallen, das wusste sie, aber ihr war ein wenig schlecht. Sie brauchte etwas Zeit, um sich zu fassen, bevor sie wieder nach unten ging. Einen Ellbogen auf ihr Knie gestützt, legte Caroline ihr Kinn auf die Hand, betrachtete diese Tür durch die schlanken Streben des Geländers und fragte sich, was sie jetzt machen sollte.

Ihr schien, jedes normale Mädchen würde nun in Tränen ausbrechen. Immerhin hatte sie soeben ihren Verlobten in den Armen – nun, um korrekt zu sein, den Beinen – einer anderen ertappt. Sie müsste weinen und verzweifeln, das wusste sie aus den vielen Romanen, die sie gelesen hatte.

Und sie wollte weinen und verzweifeln. Wirklich. Sie versuchte, ein paar Tränen zu produzieren, aber es kamen keine.

Ich nehme an, dachte Caroline bei sich, dass ich nicht weinen kann, weil ich schrecklich wütend bin. Ja, das muss es sein. Ich bin rasend vor Zorn und kann deshalb nicht weinen. Also wirklich, ich sollte eine Pistole suchen, zurückkommen und Lady Jacquelyn ins Herz schießen. Das sollte ich tun.

Aber bei dem Gedanken fühlte sie sich noch wackeliger als zuvor, und sie war froh, dass sie sich hingesetzt hatte. Sie mochte Schusswaffen nicht und konnte sich nicht vorstellen, jemals auf einen Menschen zu schießen, nicht einmal auf Lady Jacquelyn Seldon, die es durchaus verdient hätte.

Außerdem, sagte sie sich, selbst wenn ich sie erschießen könnte – was ich stark bezweifle –, würde ich es nicht tun. Was für einen Sinn hätte das? Man würde mich verhaften. Caroline entdeckte eine lose Paillette an ihrem Rock und zupfte gedankenverloren daran. Und dann käme ich ins Gefängnis. Caroline wusste über Gefängnisse mehr, als sie je zu erfahren gewünscht hatte, weil ihre beste Freundin Emmy Mitglied der Londoner Vereinigung für die Gleichberechtigung der Frau war und mehrmals verhaftet wurde, weil sie sich an die Wagenräder diverser Parlamentsmitglieder gekettet hatte.

Caroline wollte nicht ins Gefängnis, das Emmy ihr bis ins kleinste grausige Detail geschildert hatte, und genauso wenig wollte sie jemanden erschießen.

Angenommen, man befindet mich für schuldig, dachte sie, dann werde ich gehängt. Und wofür? Dafür, Lady Jacquelyn erschossen zu haben? Das war die Sache wohl kaum wert. Caroline hatte im Grunde nichts gegen Lady Jacquelyn. Sie war immer außerordentlich höflich zu Caroline gewesen.

Nein, entschied sie, wenn sie schon jemanden erschießen musste – was sie mit Sicherheit nicht tun würde –, musste es Hurst sein. Also wirklich, erst vor einer knappen Stunde hatte er ihr ins Ohr geraunt, dass er es bis zu ihrer Hochzeitsnacht, die in nur einem Monat stattfinden würde, kaum noch erwarten könnte.

Nun, offenbar war er so ungeduldig gewesen, dass er sich gezwungen gesehen hatte, jemand ganz anderen zu finden, mit dem er für dieses Ereignis üben konnte.

Mieser Bastard! Caroline versuchte, sich an ein anderes der derben Schimpfwörter zu erinnern, die ihr jüngerer Bruder Thomas und seine Freunde einander an den Kopf warfen. Ach ja! Hurenbock!

Es würde dem miesen Hurenbock und Bastard recht geschehen, wenn ich ihn erschieße!

Und dann hatte sie plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil sie an so etwas auch nur dachte. Denn natürlich war ihr zutiefst bewusst, wie viel sie Hurst schuldete. Und zwar nicht nur für das, was er für Tommy getan hatte, sondern weil er unter all den Mädchen in London sie zu seiner Braut auserwählt hatte. Sie wollte er heiraten, sie sollte die Einzige sein, die in den Genuss seiner langsamen verführerischen Küsse kam.

Oder zumindest hatte sie das bis vor Kurzem geglaubt. Jetzt war ihr klar, dass sie nicht nur weit davon entfernt war, die Einzige zu sein, sondern dass sich die Küsse, die sie von ihm bekommen hatte, deutlich von denen unterschieden, an die Lady Jacquelyn offensichtlich gewöhnt war.

Verflixt! Sie stützte ihren anderen Ellbogen auf und legte ihr Kinn in beide Hände. Was sollte sie tun?

Korrekt wäre natürlich, wenn Hurst die Verlobung lösen würde. Der Marquis war unerschütterlich korrekt in allem, was er tat – na ja, von diesem einen Vorfall natürlich abgesehen – und deshalb glaubte Caroline, berechtigten Grund zu der Hoffnung zu haben, dass er derjenige sein würde, der die Verlobung löste und ihr somit die Verlegenheit ersparte, es selbst zu tun. Liebling, konnte sie ihn förmlich sagen hören, tut mir leid, aber wie es nun einmal ist, habe ich ein Mädchen kennengelernt, das ich sehr viel mehr mag als dich …

Aber nein. Der Marquis von Winchilsea war nichts als höflich. Er würde vermutlich etwas in der Art von sich geben wie: Caroline, mein Schatz, bitte mich nicht, es näher zu erklären, aber ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, die Sache durchzuziehen. Das verstehst du doch, nicht wahr? Du bist so verständnisvoll …

Und Caroline würde versichern, dass sie es verstand. Denn das tat sie wirklich. Lady Jacquelyn Seldon war eine atemberaubend attraktive Frau, die wundervoll singen und Harfe spielen konnte und ebenso talentiert wie schön war. Sie würde jedem Mann eine perfekte Ehefrau sein, auch wenn sie natürlich kein Geld besaß. Das wusste jeder. Die Seldons – Lady Jacquelyns Vater war der vierzehnte Herzog von Childes gewesen – waren eine alte und sehr angesehene Familie, aber sie besaßen keinen Penny, nur einige Landhäuser und Schlösser.

Dass Hurst, dessen Familie ebenso vornehm, leider aber auch ebenso verarmt war, beschlossen hatte, eine Verbindung mit einer Seldon einzugehen, war nicht weiter überraschend, auch wenn Caroline es nicht für sehr klug von ihm hielt. Was glaubte er eigentlich, wovon er und Lady Jacquelyn leben sollten? Bis auf die Möglichkeit, alle ihre prachtvollen Landsitze an reiche Amerikaner zu vermieten, verfügten sie über keine nennenswerte Einkommensquelle.

Aber was bedeutete schon ein Einkommen für zwei Verliebte? Auf jeden Fall ging es Caroline nichts an, wie sich das Pärchen durchschlagen wollte. Ihr Problem war Folgendes:

Wie sollte sie es ihrer Mutter beibringen?

Die Gräfinwitwe Lady Bartlett würde es nicht gut aufnehmen. Nein, ganz gewiss nicht. Im Gegenteil, die Nachricht war eher dazu angetan, einen ihrer berüchtigten hysterischen Anfälle auszulösen. Sie betete Hurst förmlich an. Und warum auch nicht? Schließlich hatte er ihrem einzigen Sohn das Leben gerettet. Carolines Familie schuldete dem Marquis ungeheuer viel. Indem sie einwilligte, ihn zu heiraten, hatte Caroline gehofft, seine Güte ein klein wenig zu vergelten.

Aber jetzt war klar, dass es für den jungen Marquis keine besondere Herausforderung gewesen war, Carolines Hand zu gewinnen. Wie demütigend!

Und die Einladungen waren bereits verschickt worden. Fünfhundert Stück, um genau zu sein. Fünfhundert Leute – die Crème de la Crème der Londoner Gesellschaft. Caroline nahm an, dass sie ihnen allen würde schreiben müssen. Bei dieser Vorstellung war ihr tatsächlich nach Weinen zumute. Fünfhundert Briefe. Das war ein bisschen viel. Normalerweise bekam sie schon nach zwei bis drei Briefen einen Schreibkrampf.

Hurst sollte die Briefe schreiben, dachte sie rachsüchtig. Immerhin war er es gewesen, der gegen die Regeln verstoßen hatte. Aber Hurst, der lieber seinem Vergnügen nachging, als daran interessiert war, seinen Intellekt zu strapazieren, hatte nie etwas Längeres als einen Scheck geschrieben, daher wusste Caroline, dass es ausgesprochen albern war, sich in dieser Beziehung auf seine Hilfe zu verlassen.

Vielleicht könnte sie einfach eine Annonce in der Zeitung aufgeben. Ja, natürlich, das war es! Eine elegant formulierte Erklärung, dass die Hochzeit von Lady Caroline Victoria Linford, einzige Tochter des ersten Earl von Bartlett und einzige Schwester des zweiten Earl, und Hurst Devenmore Slater, zehnter Marquis von Winchilsea, leider abgesagt werden müsse.

Abgesagt? War das der richtige Ausdruck?

Gott, wie peinlich! Fallen gelassen wegen Lady Jacquelyn Seldon! Was würden ihre ehemaligen Mitschülerinnen dazu sagen?

Nun ja, tröstete sich Caroline. Es könnte schlimmer sein. Sie wusste zwar nicht inwiefern, aber sie nahm es einfach an.

Und ganz plötzlich war es das auch.

Jemand kam. Und zwar nicht aus dem Salon, sondern den Flur entlang. Es war jemand, der nach Lady Jacquelyn Ausschau hielt, stellte Caroline fest, sobald das Licht des Kerzenhalters, den er in Händen hielt, seine Gesichtszüge genügend erhellte, dass sie ihn erkennen konnte.

Und als sie ihn erkannte, blieb ihr das Herz stehen. Davon war sie fest überzeugt. Ihr Herzschlag setzte tatsächlich einen Moment lang aus. Das war nicht geschehen, als sie die Salontür geöffnet und ihren Verlobten in inniger Umarmung mit einer anderen Frau entdeckt hatte. Nein, keineswegs.

Aber jetzt passierte es.

Trotz des Kerzenhalters stieß er an das Bein eines kleinen Tisches, auf dem eine Vase mit getrockneten Blumen stand. Als Braden Granvilles Fuß den Tisch traf, schwankte die Vase hin und her, kippte um und ließ eine Anzahl trockener Blütenblätter auf den Läufer rieseln. Er fluchte halblaut und bückte sich, um die Vase wieder hinzustellen. Caroline, die ihn durch die Stangen des Treppengeländers hindurch beobachtete, fand, dass er erzürnter aussah, als wegen ein paar getrockneter Blumen angebracht zu sein schien.

Er weiß es, dachte sie. Lieber Gott, er weiß es!

Ohne zu überlegen, stand sie auf und sagte: »H-hallo.« Ihre Stimme klang ziemlich atemlos.

Braden Granville blickte abrupt auf. »Wer ist da?«, fragte er.

»Ich bin’s nur«, antwortete Caroline. Was war bloß mit ihrer Stimme los? Sie klang lächerlich hoch und dünn. Sie musste versuchen, sie zu senken. »Caroline Linford. Ich habe letzten Monat bei Lady Chittenhouse’ Dinner neben Ihnen gesessen. Sie werden sich wohl nicht erinnern …«

»Oh. Lady Caroline. Natürlich.«

Die Enttäuschung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Noch während sie sprach, hatte er den Kerzenhalter gehoben und sie angeschaut. Sie wusste sehr gut, was er vor sich sah: Eine junge Frau von mittlerer Größe und mittlerem Gewicht, deren Haar weder blond noch brünett, sondern eher sandfarben war und deren Augen weder blau noch grün, sondern schlicht und einfach braun waren. Caroline wusste, dass sie nicht an die atemberaubende dunkle Schönheit einer Lady Jacquelyn Seldon herankam, aber sie wusste ebenfalls – und zwar von ihrem Bruder Thomas, der wie alle Brüder von schonungsloser Offenheit war –, dass sie durchaus ein Mädchen war, dem man einen zweiten Blick gönnte.

Allerdings verschwendete Braden Granville keinen zweiten Blick an sie. Als wäre er selbst besonders ansehnlich, dachte Caroline leicht verstimmt. Eingebildeter Kerl. Schließlich war er nicht annähernd so hübsch wie Hurst. Während der Marquis von Winchilsea mit seinem blonden, lockigen Haar, den blauen Augen, dem hellen Teint und der hochgewachsenen, schlanken Gestalt eine Art goldener Adonis war, war Braden Granville dunkel wie die Hölle und so breit in den Schultern, dass er fast schon massig wirkte, und er sah immer so aus, als bräuchte er eine Rasur, auch, davon war Caroline überzeugt, wenn er sich gerade rasiert hatte.

Braden Granville senkte den Kerzenhalter und erkundigte sich: »Ich nehme an, Sie haben nicht zufällig Lady Jacquelyn Seldon hier in der Nähe gesehen?«

Carolines Blick flog zur Salontür. Sie hatte es nicht vorgehabt. Sie hatte nicht vorgehabt, auch nur in die Richtung dieser Tür zu schauen. Aber ihr Blick wurde davon so unwiderstehlich angezogen wie die Gezeiten vom Mond.

»Lady Jacquelyn?«, echote sie, um Zeit zu gewinnen.

Was würde passieren, fragte sie sich, wenn sie ihm sagte, dass sie Lady Jacquelyn tatsächlich gesehen hatte? Dass sie, um genau zu sein, direkt hinter dieser Tür war?

Nun, Braden Granville würde Hurst ganz bestimmt töten. Thomas hatte ihr alles über den Mann erzählt, von dem er voller Bewunderung als »Granville« sprach. Dass Granville, der in Seven Dials, dem ärmsten und schäbigsten Bezirk Londons, zur Welt gekommen war, ein Vermögen mit der Herstellung von Schusswaffen gemacht hatte. Dass Granville in seinem Privatleben ebenso rücksichtslos war wie in geschäftlichen Dingen. Dass Granville dafür bekannt war, eine Kugel als einfachste Lösung zu betrachten, um Probleme in beiden Bereichen zu lösen, ein Umstand, der durch die Tatsache untermauert wurde, dass er allgemein als Meisterschütze galt.

Nun, Hurst würde mit einer Pistole nicht mal Westminster Abbey treffen, nicht einmal dann, wenn er mit dem blöden Ding danach warf.

»Ja«, antwortete Braden Granville und beäugte sie neugierig. »Lady Jacquelyn Seldon. Sie kennen sie doch sicher.«

»Oh«, murmelte Caroline. »Ja, ich kenne sie …«

»Nun«, sagte er. Die Geduld in seiner Stimme wirkte eher gezwungen. »Haben Sie sie hier vorbeikommen sehen? Mit einem … Herrn vielleicht? Ich habe Grund zu der Annahme, dass sie nicht allein war.«

Caroline schluckte.

Wie unangenehm das war! Für ihn vielleicht noch mehr als für sie. Denn natürlich war da außerdem der Umstand, dass Granville angeblich mit mehr Frauen geschlafen hatte als jeder andere Mann in London. Das war keine Mitteilung, die Carolines Bruder am Frühstückstisch gemacht hatte, sondern etwas, das sie aufgeschnappt hatte, als er sich mit seinen Freunden unterhalten hatte. Laut Thomas hatte Granville ebenso viele Geliebte wie der berüchtigte Don Juan. Thomas und seine Freunde nannten ihn tatsächlich – und noch dazu ganz im Ernst – den Lothario von London, was in England dem Titel Don Juan oder Casanova ungefähr gleichkam.

Erst in letzter Zeit war besagter Lothario gesetzter geworden und hatte der schönsten und kultiviertesten Frau von ganz England, Lady Jacquelyn Seldon, einen Heiratsantrag gemacht. Welche in diesem Moment rittlings auf dem Schoß von Carolines Verlobten, dem Marquis von Winchilsea, saß.

Wie mochte einem stolzen Mann wie Braden Granville, der sich aus eigener Kraft emporgearbeitet hatte und noch dazu überall wegen seiner Erfolge als Liebhaber bewundert wurde, zumute sein, wenn er erfuhr, dass seine Verlobte ihn betrogen hatte? Und noch dazu mit dem Marquis von Winchilsea, der keinen Penny besaß und nur sein hübsches Gesicht hatte, um davon zu leben! Nun ja, Caroline brauchte nur ein Wort zu sagen, nur ein einziges Wort, und sie würde sich den Kopf über den Wortlaut der Annonce für die Times nicht mehr zerbrechen müssen: Ihre Heirat mit dem Marquis von Winchilsea würde aufgrund seines vorzeitigen Ablebens nicht stattfinden können.

Sie gab sich einen Ruck. Lieber Gott, was überlegte sie da bloß? Sie durfte nicht zulassen, dass Braden Granville Hurst erschoss. Hurst, der ihrem Bruder Tommy das Leben gerettet hatte!

»Ich habe sie gesehen«, gab Caroline schließlich zu. Sie zeigte auf das andere Ende des Korridors. »Sie ging dort entlang.«

Braden Granvilles Gesicht verhärtete sich. Er hatte schon von Natur aus, im herkömmlichen Sinne des Wortes, kein hübsches Gesicht, und noch dazu war es vom Leben nicht freundlich behandelt worden – über seiner rechten Augenbraue verlief eine tiefe Narbe, die offenbar von einer Schnittwunde stammte.

Aber als sich sein Gesicht vor Entschlossenheit verspannte, wirkte es beinahe Furcht einflößend – als würde man dem Teufel persönlich ins Gesicht sehen. Was, um alles in der Welt, all die Frauen an ihm gefunden hatten, die mit ihm ins Bett gegangen waren, war Caroline ein Rätsel. Sie wandte den Blick ab und beschwor stattdessen im Geist das Gesicht des Marquis von Winchilsea herauf, das in jeder Beziehung so engelhaft war, wie es das Braden Granvilles … nicht war.

»War jemand bei ihr?«

Caroline warf einen vorsichtigen Blick in seine Richtung. »Wie bitte?«

»Ich fragte …«, er holte tief Luft, als müsste er sich beherrschen, nicht die Geduld zu verlieren, »war jemand bei ihr? Ein Mann?«

Caroline erwiderte: »Aber ja, so ist es.« So, sagte sie sich. Damit sollte sie ihn schnell loswerden – und gleichzeitig verhindern, dass er die Wahrheit entdeckte, die sich nur wenige Schritte entfernt hinter jener Tür verbarg.

Bei dem Lächeln, das Braden Granvilles Lippen kräuselte, als er das hörte, lief es Caroline kalt über den Rücken. So erfreut – so diabolisch erfreut – sah er aus, dass Caroline einen Moment lang der Atem stockte. Der Mann war wirklich ein Teufel!

»Danke, Lady Caroline«, meinte Braden Granville, wobei er weit herzlicher klang als zuvor. Dann ging er den Korridor hinunter und Caroline versuchte, wieder zu atmen.

Und stellte fest, dass es ihr nicht möglich war.

Gelinde gesagt war es bestürzend. Aber sie war entschlossen, Braden Granville nicht merken zu lassen, wie unwohl ihr war. Nein, worauf es ankam, war jetzt nicht, dass sie keine Luft mehr bekam, sondern dass er ging, weit, weit weg, damit Hurst eine Gelegenheit zur Flucht bekam …

Nur schienen ihre Bemühungen, ihr Unwohlsein zu verbergen, nicht sehr wirkungsvoll zu sein, denn gerade als er an der Treppe vorbeiging, auf der Caroline nun stand, drehte sich Braden Granville um und sah sie forschend an.

»Ist Ihnen nicht gut, Lady Caroline?«, fragte er.

Er wusste es, obwohl sie nicht verstand, warum. Sie hatte keinen Laut von sich gegeben. Wie auch? Sie konnte nicht einmal atmen.

Sie schüttelte den Kopf. »Doch, doch«, brachte sie gepresst heraus. »Beeilen Sie sich lieber, sonst verpassen Sie sie.«

Aber Braden Granville beeilte sich nicht. Oh, er sah so aus, als wäre ihm nichts lieber gewesen, doch stattdessen blieb er genau dort, wo er war, und sah sie mit einem Ausdruck an, den sie viel- leicht für Besorgnis gehalten hätte, wenn sie nicht einen kurzen Blick auf dieses boshafte Lächeln erhascht hätte.

Aber jemand mit einem so bösartigen Lächeln konnte sich unmöglich um andere sorgen.

»Ich glaube Ihnen nicht«, erklärte Braden Granville, und Caroline hatte das Gefühl, ihr würde gleich das Herz zerspringen.

Er weiß es!, dachte sie voller Panik. Oh Gott, er weiß es! Und jetzt wird er Hurst umbringen, und alles ist meine Schuld!

Aber dann sagte er: »Es geht Ihnen keineswegs gut. Sie sind kreidebleich im Gesicht und es scheint Ihnen Schwierigkeiten zu bereiten, Luft zu holen.«

»Unsinn«, keuchte Caroline. Obwohl das natürlich eine glatte Lüge war. Sie sog ungeheure Mengen Luft ein, doch nichts davon schien in ihre Lungen zu gelangen.

»Das ist kein Unsinn.« Braden Granville kam zurück. Als er die Treppe erreichte, auf der Caroline stand, beugte er sich vor und legte eine Hand auf ihren Nacken, genau so, wie es vor wenigen Augenblicken der Marquis von Winchilsea bei Lady Jacquelyn getan hatte.

Carolines Herz, das einen Schlag ausgesetzt hatte, als sie Braden Granville hatte kommen sehen, schlug jetzt so schnell, dass sie überzeugt war, es würde bersten. Lieber Himmel, dachte sie entsetzt. Er wird mich küssen. Er wird alles machen, was er mit den vielen Frauen gemacht hat, mit denen er angeblich geschlafen hat. Und ich werde womöglich nicht imstande sein, ihn daran zu hindern, weil er der Lothario von London ist.

Seltsamerweise fand Caroline die Vorstellung, von Braden Granville geküsst zu werden, nicht im Geringsten beunruhigend.

Nur dass der Lothario von London, statt ihren Kopf zu heben, damit er sie küssen konnte, herrisch sagte: »Setzen Sie sich.«

Caroline war so überrascht, dass sie sich widerspruchslos hinsetzte. Sie nahm an, dass es nicht viele Leute gab, die es wagen würden, einen Befehl zu missachten, der von dem großen Granville gegeben wurde – zweifellos der Grund, warum er als Geschäftsmann so erfolgreich war, ganz zu schweigen als Liebhaber.

Dann verstärkte sich der Druck von Braden Granvilles Hand auf ihrem Nacken und er drückte ihren Kopf so weit nach unten, bis er zwischen ihren Knien war.

»So«, meinte er zufrieden. »Bleiben Sie so, dann geht es Ihnen im Handumdrehen besser.«

Caroline, die auf die Perlenstickerei an ihrem weißen Satinrock starrte, erwiderte mit leicht erstickter Stimme: »Mhm. Danke, Mr. Granville.«

Ihre Enttäuschung, dass er nicht versucht hatte, sie zu küssen oder ihr in irgendeiner Weise zu nahezutreten, war – obwohl sie ihn nicht leiden konnte! – ungeheuer groß. Und bestürzend.

»Nicht der Rede wert«, entgegnete Braden Granville.

Hurenbock!, dachte Caroline bei sich, während sie auf ihren Schoß starrte. Ich bin es wohl nicht wert, verführt zu werden. Wer bin ich denn schon? Nur die Tochter des ersten Earl von Bartlett. Ein Nichts. Ein Niemand. Ich bin keine große Schönheit wie Lady Jacquelyn Seldon. Und ich habe auch keinen Landsitz im Lake District.

Aber etwas habe ich sehr wohl, das Lady Jacquelyn nicht hat: Den Anstand, nicht mit dem Verlobten einer anderen Frau zu schlafen.

Oh, fügte sie im Stillen hinzu. Und natürlich auch ein bisschen Geld.

Sie erwartete, dass er jetzt gehen würde, aber er tat es nicht. Seine starke, überraschend warme Hand blieb auf ihrem Rücken.

»Lächerliche Dinger, diese Korsetts«, fuhr Braden Granville im Plauderton fort. »Sollten verboten werden.«

Caroline, die es schon erstaunte, dass ein Mann von Braden Granvilles Bedeutung auf einem Flur stand und ihren Nacken hielt, war noch erstaunter, als er ein so unschickliches Thema wie ihr Korsett zur Sprache brachte. Sie murmelte in ihren Schoß: »Ich nehme an, manche Leute sind dieser Meinung …«

War das, fragte sie sich, ein geschickter Schachzug, um ihr das Korsett abzunehmen und sie dann – lieber Himmel! – zu verführen?

Aber Braden Granville bemerkte nur: »Es überrascht mich, dass Sie überhaupt eines tragen. Sind Sie nicht mit Lady Emily Stanhope befreundet?«

Das war eine so überraschende Frage, dass Caroline sich selbst sagen hörte: »Sie kennen Emmy?«

»Jeder kennt Lady Emily. Sie ist durch ihren Einsatz für die Frauenbewegung stadtbekannt geworden. Ich hätte gedacht, Sie als Ihre Freundin würden genauso denken.«

»Oh«, murmelte Caroline in ihren Rock. »Das tue ich. Das heißt, ich gehe nicht zu den Aufmärschen oder so. Ich mag Aufmärsche nicht besonders. Es ist viel netter, es sich zu Hause mit einem Buch gemütlich zu machen, als herumzulaufen und sich die Kehle heiser zu schreien und sich an Sachen zu ketten.«

»Wie ich sehe, sind Sie im Herzen eine wahre Freiheitskämpferin, Lady Caroline«, bemerkte Braden Granville trocken.

»Oh«, entfuhr es Caroline, als ihr bewusst wurde, wie albern sie sich für ihn angehört haben musste. »Oh, aber ich unterstütze Emmys Sache, wissen Sie? Allein letzten Monat habe ich zweimal ihre Gerichtsstrafen bezahlt, weil ihr Vater es nicht mehr tut. Und ich trage nur deshalb ein Korsett, weil ich … na ja, ich glaube, ich sehe mit einem Korsett besser aus als ohne.«

»Verstehe.« Er klang belustigt. »Ihr Engagement für die Gleichberechtigung hört da auf, wo Ihre Bequemlichkeit und Ihre Eitelkeit anfangen. Zumindest sind Sie ehrlich genug, es zuzugeben.«

Er machte sich über sie lustig. Das war ihr jetzt klar. Er hatte also nicht vor, sie zu verführen. Caroline wusste nicht viel über Männer, aber sie hatte den starken Verdacht, dass sie kein Interesse daran hatten, ein Mädchen zu verführen, über das sie sich lustig machten. Sie war erleichtert – nahm sie an. Aber ein klein wenig beleidigend war es schon, dass er es nicht einmal versucht hatte. Schließlich verführte er anscheinend jedes andere Mädchen in London. Warum nicht sie? Caroline wusste, dass sie keine mondäne Schönheit war, aber immerhin hatte sie etliche Verehrer, einschließlich eines ihr unbekannten jungen Mannes, eines Wildfremden, der ihr heute Morgen, nachdem sie ihm gehörig die Meinung gesagt hatte, weil er sein Pferd grundlos gepeitscht hatte, beinahe einen ganzen Block gefolgt war, nur um an seinen Hut zu tippen und ihr zu versichern, dass ihr Lächeln genauso strahlend und schön sei, wie ein funkelnagelneuer Penny und dass er nie wieder ein Pferd mit der Peitsche schlagen werde.

Aber Braden Granville hatte ihr Lächeln offensichtlich nicht bemerkt.

Und dann fiel ihr ganz plötzlich wieder der Grund ein, warum es ihr den Atem verschlagen hatte. Die ganze Zeit, die sie hier im Korridor über ihr Korsett plauderten, schwebte Hurst in der tödlichen Gefahr, entdeckt zu werden! Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?

»Sollten Sie nicht lieber gehen, Mr. Granville?«, fragte Caroline, wobei sie sich bemühte, das Drängen in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Wenn Sie Lady Jacquelyn noch finden wollen, meine ich.«

»Ja«, stimmte er zu. Jetzt klang seine Stimme ganz und gar nicht mehr freundlich. »Nun, ich bin sicher, es besteht keine Chance mehr.«

Caroline wollte beunruhigt wissen: »Keine Chance wozu? Sie zu finden? Oh, da irren Sie sich aber. Ich bin sicher, sie ist noch in der Nähe.« Als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte, zeigte sie hastig mit dem Finger auf das gegenüberliegende Ende des Gangs. »Ich bin sicher, wenn Sie ihr einfach nachgehen …«

»Sinnlos«, brummte Braden Granville. Dann fügte er mehr zu sich selbst hinzu: »Ich habe jede Chance, sie bei ihrem Spielchen zu erwischen, verloren, als ich vor zehn Minuten die falsche Richtung einschlug und in der Küche landete.«

»Spielchen?«, echote Caroline schwach.

Braden Granville schien sich zu erinnern, wo er war. »Vergessen Sie es«, sagte er brüsk. »Geht es Ihnen jetzt besser?«

Caroline atmete ein. Ihre Schläfen verspannten sich vor einem nahenden Kopfschmerz, aber zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie wieder normal durchatmen konnte.

»Viel besser«, antwortete sie. »Danke.« Und dann, weil sie Angst hatte, er könnte mehr Details über die Untreue seiner Verlobten wissen, als er preisgab – zum Beispiel die Identität ihres heimlichen Liebhabers –, fügte sie hinzu: »Ich bin sicher, Sie irren sich, Mr. Granville. Was Ihre zukünftige Braut angeht. Ich bin überzeugt, sie treibt keineswegs ein … Spielchen. Mit niemandem.«

Das Lachen, das Braden Granville ausstieß, war genauso bösartig wie sein Lächeln, als sie ihm erzählt hatte – oh, warum nur? –, dass sie seine Verlobte mit einem anderen Mann gesehen hätte.

»Sie sind sehr gutmütig, Lady Caroline«, erwiderte er, wobei sein Ton verriet, dass es nicht als Kompliment gemeint war. »Aber erlauben Sie mir die Bemerkung, dass Ihr Vertrauen in Lady Jacquelyn gänzlich unangebracht ist. Und wenn ich den Namen des Burschen herausbekomme, werde ich das gern beweisen, notfalls vor Gericht. Das können Sie ihr gegenüber gern erwähnen, wenn Sie sie das nächste Mal sehen.«

Caroline, die über diese unerwartete Bemerkung ziemlich fassungslos war – und die Unterstellung, Jacquelyn Seldon und sie könnten mehr als nur flüchtige Bekannte sein –, rang nach den richtigen Worten, um darauf zu antworten.

Diese Mühe blieb ihr jedoch erspart, als die Tür zu Dame Ashforth’ Privatsalon aufging und der Marquis von Winchilsea auf den Korridor trat.

»Oh«, murmelte Caroline, die ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Du meine Güte.«