Leseprobe Liebe und Fluch

Kapitel 1

Atemlos fuhr ich über die blasse, makellose Haut, folgte der Kontur der Wangenknochen, bis ich bei den Lippen angelangt war. Die nachtblauen Augen verließen mein Gesicht für keine Sekunde, sein Blick war dunkel vor Verlangen. Ich beugte mich vor, näherte mich Zentimeter um Zentimeter seinen Lippen und schloss die Augen. Mir entwich ein erwartungsvolles Seufzen als …

„Damit ist die Abstimmung eindeutig, herzlichen Glückwunsch.“

„Amelie, das ist toll!“

Der Applaus von rund vierzig Händen riss mich aus meinem Tagtraum.

„Steh auf!“, zischte Serena neben mir. Aus ihren hellgrünen Augen, die wunderschön zu ihren rotblonden Locken passten, welche sich wiederum mit ihrem bunten Kleid bissen, warf sie mir einen auffordernden Blick zu.

„Oh … ja, klar …“ Mit hochrotem Kopf erhob ich mich und schaute in die erwartungsvollen Gesichter. Hier im Hexentreff, der kleinen, okkult geschmückten Kneipe mitten in der Schauersiedlung, die seit Jahren die Touristenhochburg für alles Übernatürliche war, hatten sich heute die Zauberer der Gegend versammelt. Und mich soeben zu ihrer Anführerin gewählt. „Ich … also … weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin überwältigt.“

„Du bist nicht zur amerikanischen Präsidentin gewählt worden“, stöhnte mein vor kurzem wiedergefundener Kindheitsfreund Chris gerade so laut, dass nur ich es hören konnte, „sondern nur zu einer vorläufigen Sprecherin des neuen Bundes.“

„Bündnisses!“, zischte ich automatisch. Wie oft hatte ich Chris gesagt, dass es nicht reichte, den neuen Bund „Neuen Bund“ zu nennen, sondern dass er einen eigenen Namen brauchte! Bündnis dagegen klang doch gleich viel … kameradschaftlicher. Und war trotzdem nah genug an dem Wort Bund dran, dass man sich ohne Probleme umgewöhnen konnte. Nur Chris weigerte sich mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit, sodass ich mich unwillkürlich fragte, ob er es nicht mit Absicht machte, nur um mich zu ärgern. Wie so viele andere Dinge auch.

Unfassbar, dass ich die Abstimmung verpasst hatte! Dabei hatte ich nur ganz kurz an morgen gedacht, daran, dass Lucian mich abholen würde und wir eine ganze Woche, sieben wundervolle Tage, zu zweit auf seinem Anwesen verbringen würden. Nur er und ich. Und die Vorbereitungen für das Bündnis. Und eventuell ein paar andere Vampire, die da ebenfalls ein Wörtchen mitreden wollten. Und Sassa. Und Marcelle. Aber ansonsten nur romantische, leidenschaftliche, dringend benötigte Zweisamkeit.

Jemand räusperte sich lautstark. Suchend blickte ich mich um.

„Das war ich“, blaffte Sassa, der kleine Dämon, der für alle anderen unsichtbar unter dem Tisch hockte. Sassa war ein Asasel, ein niederer Dämon, der niemandem wirklich Schaden zufügen konnte und sich weder zu meinem, noch zu seinem eigenen Vergnügen in dieser Welt aufhielt. Ich hatte … nun ja, ich hatte die Beschwörung vermasselt. Was die Rücksendung um einiges verkomplizierte. Die kurzen Ärmchen in den runden, von braunem Fell überzogenen Körper gestemmt, blickte er mich kopfschüttelnd an und verdrehte die großen, kugelrunden Augen. „Langsam wird deine Sprachlosigkeit peinlich.“

Erst jetzt realisierte ich das ungeduldige Räuspern, die hochgezogenen Augenbrauen und die wartenden Blicke. Und war fassungslos über mich selbst. Hier ging es um nichts Geringeres als den neuen Bund, nachdem der alte, eine Gemeinschaft aus Vampirjägern, die für alles Übernatürliche nur Verachtung übrig hatte, von Vampiren und Zauberern gemeinsam zerschlagen worden war. Damit es eine solch gefährliche Vereinigung nie wieder zu solcher Stärke schaffte, hatten wir beschlossen, dass Vampire und Zauberer auch in Zukunft zusammenarbeiten mussten. Das Bündnis sollte dies ermöglichen. Eine Allianz zwischen Zauberern und Vampiren … die Zukunft von uns allen. Es gab absolut nichts, was im Moment wichtiger war – nicht nur für die übernatürliche Gesellschaft, sondern auch für mich persönlich. Schluss mit den Schulmädchen-Träumereien.

„Wollen wir es hoffen“, seufzte Sassa. „Deine Gedanken zu lesen ist in letzter Zeit einfach e-kel-haft! Und aus irgendeinem Grund bekomm ich davon Hunger.“

Jetzt nicht, antwortete ich Sassa in Gedanken. Seine ständigen Hungerattacken wurden allmählich lästig. Vor allem, weil er in unserer Welt eigentlich gar keine Nahrung zu sich nehmen musste, da er allein von meiner Magie genährt wurde. Doch seit er aus Neugier das erste Mal Käsekuchen probiert hatte, bekam er gar nicht genug von irdischen Süßigkeiten und das galt vor allem für jede Art von Backwerk.

„Ich danke euch für euer Vertrauen“, sagte ich mit fester, klarer Stimme. „Wir sind heute und hier zwar nur wenige, aber ich weiß durch unzählige Anrufe, die uns jeden Tag erreichen, dass noch sehr viele Interesse an unserem Bündnis haben und so bald wie möglich zu uns stoßen und aktiv mitarbeiten wollen.“

Die Blicke der anderen Zauberer wurden milder, einige lächelten mir sogar zu. Puh, gerade nochmal die Kurve gekriegt.

„Entschuldigung“, meldete sich dieselbe Stimme, die vor wenigen Minuten das Abstimmungsergebnis bekannt gegeben hatte.

Mein Blick schweifte an der Kellnerin in ihrem Mittelalterkleid vorbei, die an einem unserer Tische gerade Honigwein in Tonkrügen servierte, bis ich die Urheberin der Stimme am hinteren Ende des Raumes endlich ausgemacht hatte. Was ihrer kleinen Gestalt an natürlicher Imposanz fehlte, machte sie durch ihre Aufmachung wett. Alles an ihr schrie: Ich! Zauberin! Hier!

Von den dunkelrot gefärbten, zum Dutt hochgesteckten Haaren, über den schwarzen Umhang, der sie bis zu den Waden umhüllte, bis hin zu den unzähligen okkulten Ketten, Armbändern und Ringen. Dass ihr fortgeschrittenes Alter in ihrem Gesicht bereits tiefe Falten hinterlassen hatte, rundete den Eindruck der bösen Hexe aus dem Knusperhäuschen ab. Kaum drei Wochen war es her, seit ich sie um einen magischen Dolch gebeten hatte. Den ich dann benutzt hatte, um Sassa zu beschwören und mit dem ich mich wenig später auf Lucian gestürzt hatte. Während des Rituals zur Beschwörung von Morddämonen, für das Lucian Serena und mich angeheuert hatte. Die Morddämonen, mit denen er den alten Bund hatte zerstören wollen. Aber ich hatte Lucian nicht töten können, obwohl der alte Bund mir als Gegenleistung versprochen hatte, Chris für mich zu finden. Stattdessen war ich kopflos davongerannt. Lucian hatte mich irgendwo auf einer Landstraße wieder aufgesammelt, als ein Bundmitglied mich, die Verräterin, gerade hatte töten wollen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon gar nicht mehr versucht zu leugnen, was ebenso peinlich wie offensichtlich war: Dass ich mich in Lucian verliebt hatte. In einen Vampir. Schließlich hatten wir den Bund gemeinsam besiegt, zusammen mit Chris und Serena – und natürlich Sassa.

Drei Wochen. Es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit.

„Ja, Barbara?“, fragte ich. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie zur Sprecherin gewählt werden würde. Sie war zwar nicht besonders mächtig, dafür aber die bekannteste Zauberin der ganzen Gegend, während ich jahrelang nur die seltsame Einsiedlerin aus der Schauersiedlung gewesen war. Aber anscheinend hatte sich die Rolle, die ich beim Kampf mit dem alten Bund gespielt hatte, herumgesprochen.

„Ich frage mich nur, ob es wirklich eine gute Idee ist, ein Bündnis mit Vampiren einzugehen. Wird das uns Zauberer tatsächlich stärken? Oder wird uns das nicht vielmehr jede Menge Probleme bereiten, die wir uns jetzt nicht einmal vorstellen können? Dazu würde ich gerne deine Meinung hören, Amelie.“

Sagte sie allen Ernstes zu der festen Freundin eines Vampirs.

Gemurmel erhob sich im Raum. Ich sah nicht wenige Anwesende zustimmend nicken. Ein Wunder, dass sie bei diesen Vorurteilen überhaupt mich zu ihrer Sprecherin gewählt hatten.

„Ich bitte um Ruhe!“, spielte ich meine neu gewonnene Autorität aus und tatsächlich wurde es still im Raum. Ich nahm mir ein paar Sekunden, um meine Gedanken zu ordnen. Jetzt galt es, diplomatisch vorzugehen, oder wir würden den Traum von einer Zusammenarbeit zwischen Zauberern und Vampiren schneller begraben müssen, als Sassa einen Chocolate Fudge Brownie herunterschlingen konnte.

„Ich verstehe die Bedenken, die einige von euch haben“, begann ich und zögerte, bevor ich es schaffte, die nächsten Sätze auszusprechen. „Die Vampire sind nicht wie wir. Sie sind keine Menschen.“

Wieder nickten die meisten zustimmend.

„Aber wir brauchen sie. Beim Bündnis geht es darum, dass wir uns in Zukunft gegen Gefahren besser schützen können. Dass nie wieder so etwas wie mit dem alten Bund passiert. Jahrelang hat er die übernatürliche Gesellschaft terrorisiert, vor allem Vampire, ja, aber auch wir Zauberer sind nicht von ihm verschont geblieben.“ Ich schluckte, denn ich dachte an meine Eltern, die zusammen mit Chris’ Eltern vom Bund ermordet worden waren. „Warum haben wir alle so lange tatenlos zugesehen?“, fragte ich. „Doch nur, weil wir zu schwach waren, uns alleine gegen den Bund zu stellen und wir nie auf den Gedanken gekommen wären, uns mit den Vampiren zusammenzutun. Dieses Misstrauen zwischen ihnen und uns ist es, was uns so schutzlos macht. Wir müssen akzeptieren, dass wir nur zusammen stark sind. Wir, die übernatürliche Gesellschaft. Zauberer und Vampire. Ich sage nicht, dass ein Bündnis zwischen Zauberern und Vampiren eine einfache Sache sein wird. Wir werden Geduld brauchen und Kompromisse eingehen müssen. Doch wenn wir das schaffen, steht am Ende ein Bündnis, das unsere Sicherheit eventuell sogar für kommende Generationen garantieren kann.“ Keine Vorurteile mehr. Eine neue übernatürliche Weltordnung – nichts Geringeres war es, was mir vorschwebte.

„Wie schön, dass du nicht größenwahnsinnig bist“, bemerkte Sassa.

Doch das zustimmende Gemurmel im Hexentreff gab mir recht. Erleichtert atmete ich aus.

„Das ist keine Entscheidung, die du allein treffen kannst.“ Wieder Barbara.

Ich zwang mich zu einem geduldigen Lächeln. „Natürlich nicht. In ein paar Tagen werden wir erfahren, wie der Stand bei den Vampiren ist. Im Moment wissen wir ja nicht einmal, ob sie überhaupt Interesse am Bündnis haben.“ Aber sie mussten einfach. Wenn Lucian nur genug Überzeugungsarbeit leistete, würde alles glattgehen, da war ich mir sicher. „Ich schlage vor, dass wir uns mit den Vampiren zusammensetzen. Hoffentlich können dann auch mehr von uns dabei sein. Wir thematisieren die Bedingungen mit den Vampiren zusammen und dann sehen wir weiter. Seid ihr damit einverstanden?“

Einzelnes Raunen, geflüsterte Kommentare, aber niemand widersprach. Nicht einmal Barbara.

„Gut, dann …“, wollte ich die Versammlung zum Ende bringen, als plötzlich eine Hand nach oben schoss.

„Meine Güte, wie in der Schule“, murmelte Chris.

„Ja, Levina-“ Mist, wieder verheddert. „Le-vi-a-than“, sagte ich vorsichtshalber ganz langsam und mit einem entschuldigenden Lächeln. Der junge Zauberer, der sich selbst diesen peinlichen Künstlernamen verpasst hatte, hieß in Wirklichkeit Peter und hatte noch nie irgendetwas Konstruktives beigetragen.

„Stimmt es, dass sich der alte Bund wieder formiert?“

Im Hexentreff wurde es mit einem Schlag mucksmäuschenstill. Ich starrte den Jungen sprachlos an.

„Soll das ein Scherz sein?“, fauchte Chris. Er war aufgesprungen und sah aus, als wollte er sich gleich auf Leviathan stürzen.

Der wurde bleich. „Ich habe Freunde in Frankreich, die gehört haben, dass die Mitglieder des Bundes sich dort schon wieder neu organisieren. Und nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen Ländern.“

Ich tauschte einen Blick mit Serena. Chris ließ sich wortlos zurück auf seinen Stuhl fallen. Er sah aus, als wäre alle Kraft aus seinem Körper gewichen.

„Wenn das stimmt, ist es umso wichtiger, dass wir zusammenhalten“, sagte ich. „Macht euch bereit. Wir müssen uns so schnell wie möglich mit den Vampiren treffen.“

„Das ist einfach unglaublich. Ich kann nicht glauben, dass sie so schnell sind!“ Chris stapfte so energisch durch den ersten Schnee dieses Winters, dass Serena und ich Mühe hatten, hinterherzukommen. Die Sonne war schon vor einer Weile untergegangen und die Straßenlaternen tauchten die Schauersiedlung in ein winterlich-romantisches Halbdunkel.

Abrupt blieb Chris stehen und wir liefen fast in ihn rein. „Du musst mit Lucian sprechen. Jetzt sofort!“ Das sandfarbene Haar hing ihm wirr ins Gesicht und der manische Blick in seinen braunen Augen ließ mich einen Schritt zurückweichen. „Morgen reicht nicht, verstehst du?“

Ich nickte. Er hatte recht. „Ich werde zu Hause versuchen, ihn zu kontaktieren.“

„Jetzt sofort, Amelie!“ Chris packte mich an den Schultern. Serena legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm und obwohl sie sonst diejenige war, die am ehesten zu ihm durchdrang, ignorierte er sie heute.

„So funktioniert das nicht!“ Unwirsch befreite ich mich aus seinem Griff. „Hast du eine Ahnung, wie viel Konzentration es erfordert, auf diese Weise Kontakt zu ihm aufzunehmen? Dazu brauche ich Ruhe. Ein Irrer, der auf mich losgeht, ist dem Ganzen eher abträglich.“

Chris starrte mich mit malmendem Kiefer an. Dann wandte er sich abrupt ab, doch sein trotziges Flüstern konnte ich einwandfrei verstehen: „Nicht mal dazu ist deine Affäre mit dem Vampir gut.“

Dass Chris von mir und Lucian nicht gerade begeistert war, war ja nichts Neues. Aber gerade jetzt? Der alte Bund war dabei sich wieder zu formieren! Konnte Chris sich nicht einmal in einem Moment wie diesem zusammenreißen? Mir lag eine passende Bemerkung auf der Zunge, doch Serena warf mir einen flehenden Blick zu und sagte: „Ihr solltet euch beide beruhigen. Auch wenn der Bund sich wieder zusammenrauft, er wird Zeit dazu brauchen.“

„Das kannst du nicht wissen“, gab Chris zurück.

Da musste ich ihm ausnahmsweise zustimmen. Was wussten wir schon? Außer, dass die beiden hochrangigen Bundmitglieder, die mich damals angeworben hatten, um Lucian zu töten, dem Bund nicht mehr zur Verfügung standen. Philippe Nemours saß im Gefängnis und Bettina Frei war tot. Wieder sah ich ihr porzellanhaftes Gesicht über mir, den überraschten Ausdruck in den eisgrauen Augen, als sie zusammenbrach. Mit einem Dolch im Rücken, den ich geführt hatte. Fröstelnd zog ich meinen Mantel enger um mich. Wir hatten keine Ahnung, wie viele Mitglieder noch übrig waren und über was für Ressourcen sie verfügten. Oder was sie vorhatten. Aber ich war mir sicher, dass sie alles tun würden, um sich zu rächen. Und diesmal würden sie keinen Unterschied zwischen Vampiren und Zauberern machen.

Chris sah das genauso: „Sie werden uns angreifen! Wir wissen nicht, wann und wo, aber sie werden es tun! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“

„Anstatt, dass du dich einfach mal über das freust, was wir heute erreicht haben!“, schimpfte die Zauberin und ihre Wangen nahmen denselben Farbton wie ihre rötlichen Locken an. „Amelie ist die vorläufige Sprecherin der Zauberer und wenn wir es geschickt anstellen, kann sie das auch bleiben. Das ist mehr, als wir zu hoffen gewagt haben, aber du bist nur am meckern!“

Obwohl das Bündnis faktisch unsere Idee gewesen war, hatten wir während der letzten Woche schnell einsehen müssen, dass das nicht bedeutete, dass wir auch das Sagen haben würden. Die Zauberer hatten – zu Recht – Mitspracherecht für alle gefordert.

„Apropos“, nahm ich das neue Thema auf, doch würdigte Chris keines Blickes, als ich an ihm vorbei stolzierte. „Findet ihr das nicht seltsam? Erst gestern haben wir darüber gesprochen, dass sie euch beide wahrscheinlich nicht wählen, weil Chris mit dem alten Bund in Verbindung gebracht wird und du, Serena, deinen Ruf als Dämonenbeschwörerin weghast. Und dann wählen sie mich! Obwohl ich mit Lucian zusammen bin und einen Dämon habe!“ Ich schüttelte den Kopf und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Anscheinend sind sie doch nicht so verbohrt, wie wir dachten.“ Vielleicht hatten sie auch gehört, dass ich mich nur zum Schein als Dämonenbeschwörerin ausgegeben und im Zuge dessen Sassa beschworen hatte. Abgesehen davon hatte ich ja tatsächlich noch nie was mit schwarzer Magie zu tun gehabt.

Als das Schweigen der beiden anderen sich auffällig in die Länge zog, drehte ich mich um und sah gerade noch, wie Serena sich panisch nach allen Seiten umblickte. Chris hingegen funkelte mich mit einer missbilligend erhobenen Augenbraue an.

„Stimmt was nicht?“, fragte ich.

„Schon gut, die Luft ist rein.“ Serena lächelte erleichtert. „Aber tu mir einen Gefallen und warte das nächste Mal, bis wir wenigstens ein paar hundert Meter vom Treffpunkt weg sind, bevor du das mit Lucian und Sassa herumschreist, ja?“

Ich schaute von Serena zu Chris, wieder zurück zu Serena und schüttelte langsam den Kopf. „Nein“, sagte ich. „Nein, nein, nein.“

„Deine Platte hat ’n Sprung, weißt du das?“, meinte Sassa und begann im selben Moment so sehr über seinen eigenen Kommentar zu lachen, dass er quer durch den Schnee kugelte. „Gut, was! Hab ich von Chris!“

„Es ist ja nicht so, als hätten wir gelogen“, verteidigte sich Serena. „Die anderen Zauberer hatten eben nur gehört, dass du bei dem Angriff gegen den Bund eine entscheidende Rolle gespielt hast, sonst nichts. Und wir hielten es für klüger, das andere einfach nicht zu erzählen.“

Das andere, aha. Färbte Chris’ Problem, die Beziehung zwischen mir und Lucian beim Namen zu nennen, jetzt etwa auch auf Serena ab?

„Es hat aber auch keiner danach gefragt!“, schob die Zauberin noch trotzig nach.

„Da habt ihr aber Glück gehabt, dass keiner euch gefragt hat, ob ich vielleicht zufällig mit einem Vampir zusammen bin und mir außerdem einen Dämon halte!“

„Ja, oder?“, stimmte Serena mit toternster Miene zu.

„Ich glaub es ja nicht! Ich muss es ihnen sagen! Was habt ihr nur angerichtet?“

Chris schnaubte nur.

„Amelie.“ Serena blickte mich mit ihren großen blauen Augen beschwörend an. „Wenn du ihnen die Wahrheit sagst, werden sie Barbara zur Sprecherin machen. Und sie ist nicht davon überzeugt, dass wir die Vampire im Bündnis brauchen. Und dann? Die meisten Zauberer sind sich zu dem Thema noch unschlüssig, aber du kannst sie überzeugen, das hast du eben bewiesen. Wenn Barbara dagegen das Zepter in die Hand bekommt, hat sich unsere Idee vom Bündnis zwischen Zauberern und Vampiren erledigt!“

Ich blickte von ihrem engelsgleichen Gesicht zu Chris’ mürrisch-verschlossener Miene. „Verdammt!“

„Ich nehme zur Kenntnis, dass sich dein Wortschatz in der letzten Woche nicht nennenswert verbessert hat.“

Ich vergaß zu atmen. Seine Präsenz hüllte mich ein, legte sich wie ein warmer Schleier um mein Inneres. Es kam so unverhofft und tat so gut, dass mir fast Tränen in die Augen traten. „Lucian“, flüsterte ich und schluckte. Ich habe dich vermisst, fügte ich in Gedanken hinzu.

Sein Lächeln, das ich zuvor gespürt hatte, erstarb augenblicklich.

„Lucian?“, fragte Chris und seine Stimme überschlug sich. „Sag ihm, er muss so schnell wie möglich herkommen! Es geht um den neuen Bund!“

Doch ich hörte ihn kaum, denn in diesem Moment zog sich Lucians Präsenz zurück. Die Wärme in meinem Inneren wich einsamer Kälte. Was ging hier vor?

„Verzeih. Für das, was ich dir zu sagen habe, scheint mir ein wenig Distanz angebracht.“

Ich versuchte, meinen alarmierten Herzschlag zu beruhigen. Vor Angst erstarrt wartete ich auf das, was Lucian mir zu sagen hatte. Doch er zögerte. Als ich seine Stimme schließlich wieder in meinem Kopf hörte, klang sie so emotionslos wie eine Bandansage.

„Wir werden deinen Besuch verschieben müssen.“

Ich nickte langsam. Seine Worte klangen so harmlos. Aber ich kannte Lucian. Nichts an dieser Situation war harmlos. Wieso?

Wieder zögerte er. Einen Moment zu lange. „Ich muss nachdenken.“

Worüber? Als Lucian nicht antwortete, fragte ich: Über uns?

Ich spürte ein kaum merkliches Nicken.

Was ist passiert?

„Nichts.“

Nichts?

„Nichts von Bedeutung. Ich bitte dich lediglich um etwas Zeit.“ Seine Stimme wurde leiser. „Nimm keinen Kontakt zu mir auf.“

„Warte!“, rief ich

„Vertrau mir, kleine Zauberin.“

Dann war Lucian aus meinem Geist verschwunden.

Lucian? Lucian? Lucian!

„Mist, jetzt würde der Spruch mit der Platte und dem Sprung besser passen, aber der ist nun schon raus“, seufzte Sassa.

Wieso reagierte Lucian nicht? Er konnte fühlen, dass ich versuchte, Kontakt mit ihm aufzunehmen, da war ich mir sicher. Und doch ignorierte er mich. Aber so schnell würde ich nicht aufgeben! Obwohl ich vor Kälte und Anstrengung schon am ganzen Körper zitterte, rührte ich mich nicht vom Fleck. Lucian! Lucian!

„Bei allem Mitleid für deine absolut peinlich-verliebte Doofheit – es reicht!“, schrie Sassa mich an. „Das ist ja, als hätte ich ein Echo im Kopf!“

„Komm, Amelie, du holst dir den Tod“, sagte Serena im selben Moment und schob mich sanft aber bestimmt vorwärts.

Ich rief weiter nach Lucian, Sassas Zetern und Serenas Hand in meinem Rücken ignorierend.

Als wir zehn Minuten später unser Haus erreichten, gab ich auf. Meine Konzentration war am Ende. Ich konnte einfach nicht mehr. „Verdammt!“ Ich warf meinen Mantel auf den Jackenständer, der gefährlich zu wackeln anfing.

Serena hielt ihn fest. „Was ist denn passiert?“

„Du hast ihm gesagt, dass sich der alte Bund wieder sammelt, oder?“, fragte Chris dazwischen.

„Nein, Christopher, das habe ich nicht.“ Meine Stimme zitterte unter der Anstrengung, ihn nicht anzuschreien.

Serena hob zu sprechen an, zweifellos in der Absicht, irgendwas Deeskalierendes zu sagen, doch Chris war ganz einfach zu schnell: „Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“

Ich warf Mütze und Schal in Richtung Sofa und verfehlte Chris dabei nur um wenige Zentimeter.

Seine Augen weiteten sich erst ungläubig, dann verengten sie sich zornig.

„Kannst du mal für einen Augenblick den Mund halten, damit ich darüber nachdenken kann, was gerade passiert ist?“, schrie ich ihn an. Ich wusste, wenn er jetzt nicht einlenkte, würde ich ihm mit meinen magischen Fähigkeiten irgendetwas an den Kopf pfeffern. Oder ihn einer Illusion unterwerfen. Oder mit einem Energiestoß gegen die Wand schleudern. Als Kinder hatten wir unsere Fähigkeiten regelmäßig im Streit gegeneinander eingesetzt, was unsere Eltern, von denen meine Mutter und sein Vater ebenfalls Zauberer gewesen waren, regelmäßig zur Verzweiflung getrieben hatte. Trotzdem hatten sie uns weiterhin im Umgang mit unseren magischen Fähigkeiten unterrichtet. Im Nachhinein hatte sich das als Glück erwiesen, denn als sowohl Chris’ als auch meine Eltern vom Bund getötet wurden, besaßen wir bereits etwas Kontrolle über unsere Fähigkeiten. Das alles war jetzt fünfzehn Jahre her und genau so lange hatte ich Chris nicht mehr aus einem Streit heraus mit meiner Magie angegriffen. Gut, den Kampf gegen den alten Bund vor einer Woche ausgenommen, als Chris nicht hatte zulassen wollen, dass ich Lucian in dem brennenden Gebäude suchte, das uns fast schon über den Köpfen zusammenfiel.

Zu meiner Überraschung nickte Chris, auch wenn es eher wie krampfartige Kopfzuckungen wirkte, und wandte mir den Rücken zu.

Ich marschierte in die Wohnküche und blieb mit geballten Fäusten stehen. Heftig atmend fixierte ich meinen Blick auf einen der roten Küchenschränke. Er öffnete sich wie von Zauberhand. Als nächstes konzentrierte ich mich auf die Dose Kaffeepulver, die im Schrank stand und sie kam, wenn auch gefährlich schwankend, herausgeschwebt und landete mit einem lauten Rumms neben der Kaffeemaschine. Während ich auch Kaffeefilter und Löffel auf diese Weise und ziemlich geräuschvoll auf die Arbeitsplatte beförderte, merkte ich, wie die Spannung in meinem Inneren etwas nachließ. Es musste eine Erklärung für Lucians merkwürdiges Verhalten geben.

Ich muss nachdenken.

Diese Worte, sein Zögern, bis er zugegeben hatte, über uns nachdenken zu müssen. Darüber, ob er noch mit mir zusammen sein wollte? Bereute er die Spontaneität, mit der wir zueinander gefunden hatten und war sich nun, da wir eine Woche getrennt verbracht hatten, nicht mehr sicher, ob er das mit uns überhaupt wollte?

Der Löffel, der gerade ein Häufchen Kaffeepulver zur Kaffeemaschine beförderte, erzittert so stark, dass sich eine Schicht Pulver wie brauner Schnee über die weiße Arbeitsplatte legte.

Vertrau mir, kleine Zauberin.

Das passte nicht zu dem, was er davor gesagt hatte. Es war wie ein Codewort, als ob er mich wissen lassen wollte, dass er das zuvor Gesagte nicht so meinte. Und überhaupt. Lucian konnte man vieles nachsagen, aber Unentschlossenheit gehörte nicht dazu. Wenn er mich nicht mehr wollte, hätte er sich von mir getrennt. Klar und deutlich, ohne irgendwelche Unklarheiten.

Oder machte ich mir nur was vor? Wollte ich den Gedanken, dass Lucian sich seiner Gefühle für mich nicht mehr sicher war, einfach nicht an mich heranlassen?

Ich schüttelte energisch den Kopf und führte den Löffel mit meinen Fähigkeiten zurück zur Dose. Es war kaum eine Woche her, dass Lucian und ich draußen vor dem Haus gestanden hatten und er mir geschworen hatte, dass er mich liebte. Ich hatte ihm geglaubt. Und ich glaubte es noch immer. Es musste eine andere Erklärung für sein Verhalten geben. Und die würde ich finden. So leicht ließ ich mich nicht verunsichern.

Nachdenklich führte ich den Löffel ein zweites Mal nur durch die Macht meines Geistes zur Kaffeemaschine und diesmal landete das komplette Häufchen im Filter.

Was, wenn das Lucians Ziel gewesen war: Mich zu verunsichern? Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich mir. Das passte zu Lucian. Wieso war ich nicht sofort darauf gekommen? Aus irgendeinem Grund konnte oder wollte Lucian im Moment keinen Kontakt zu mir haben, aber wollte mir auch nicht sagen, wieso. Was tat er also, um mich trotzdem dazu zu bringen, keinen Kontakt zu ihm aufzunehmen? Genau, er verunsicherte mich! Machte mich glauben, dass er an unserer Liebe zweifelte!

Die Glaskanne kollidierte mit dem Wasserhahn und gab ein unschönes Scheppern von sich, doch blieb heil.

„Ich kann es nicht leiden, wenn du das tust.“

Vor Schreck ließ ich die Kanne ins Waschbecken fallen.

Chris war neben mich getreten.

Ich konzentrierte mich wieder und füllte die Kanne mit Wasser. „Aber nur, weil du es selbst nicht hinbekommst.“ Seit ich diese neue Fähigkeit im Kampf gegen den Bund entwickelt hatte, trainierte ich sie, wo ich konnte. Wohlwissend, dass Chris jedes Mal grün vor Neid wurde, wenn ich fünfzehn Minuten brauchte, um mir auf diese Weise die Schuhe zu binden oder eine Stunde, um den Teppich abzusaugen.

„Und weil wir diese Woche schon zwei neue Kaffeekannen kaufen mussten“, meinte Chris.

Ich schaffte es, das Wasser von der Kanne in die Kaffeemaschine zu befördern und den Knopf zu drücken.

Chris grinste mich an, ich lächelte zurück.

„Du bist einfach zu verbissen“, sagte ich. „Wenn du deinen Fähigkeiten genug Raum gibst, kommt es irgendwann von ganz allein dazu.“

„Leicht gesagt, wenn man die einzige Zauberin weit und breit ist, die telekinetische Kräfte entwickelt hat.“

„Damit hast du sowas von recht.“ Ich grinste.

„Also, erzählst du uns jetzt, was passiert ist?“, fragte er mit diesem Klein-Jungen-Blick, dem ich nichts abschlagen konnte. So war es schon früher gewesen. Wie ich diesen Charme vermisste, mit dem er mich regelmäßig um den Finger gewickelt hatte, und der in letzter Zeit viel zu häufig von übellauniger Sturheit überschattet wurde.

Ich seufzte und blickte zu Serena, die auf dem Sofa saß und meinen Blick mit einer Mischung aus Mitgefühl und Neugierde erwiderte. Sassa hockte neben ihr, die großen, runden Augen vor Langeweile halb geschlossen. Wir hatten die Abmachung, dass er im Haus sichtbar bleiben durfte, sich jedoch, wenn wir nach draußen gingen, ohne Aufforderung unsichtbar machen musste. Bisher hatte sich der Dämon vorbildlich daran gehalten.

„Irgendwas stimmt da nicht“, begann ich und holte geschäftig drei Kaffeetassen aus dem Schrank, nur um etwas zu tun zu haben. „Lucian hat unsere gemeinsame Woche abgesagt und …“ Ich goss Kaffee in die Tassen, dann holte ich Milch aus dem Kühlschrank und Zucker aus dem Regal.

Und?“, fragte Chris drängend.

„Irgendwas stimmt da nicht“, wiederholte ich nuschelnd, während ich den Zucker löffelweise in den Kaffee kippte, zu Serena ging und ihr die Tasse hinhielt.

Sie starrte erst mich, dann die Tasse an und blickte dann hilfesuchend an mir vorbei zu Chris.

„Herrgott noch mal“, stöhnte Sassa, sprang auf die Sofalehne und breitete die Ärmchen aus, wie ein Prediger, der zu seinen Schäfchen spricht. „Der Vampir hat gesagt, er muss nachdenken, über sich und Amelie, was immer das auch heißen soll. Und jetzt denkt sie, er will mit ihr Schluss machen, das arme verknallte Ding.“

Ich öffnete den Mund, um klarzustellen, dass ich das ganz und gar nicht dachte, doch es war zu spät. Serenas helle Augen schwammen bereits in Mitleid und als ich mich zu Chris umdrehte, zeigte seine Miene eine Mischung aus Wut und Erleichterung.

„Wenn du meine Gedanken schon liest, lies sie gefälligst vollständig!“, zischte ich dem undankbaren Dämon zu.

Der streckte mir rotzfrech die Zunge heraus. Es wurde wirklich allerhöchste Zeit, dass ich mich mit dem Rücksenderitual beschäftigte.

„Amelie, das –“

„Nein!“, unterbrach ich Serena in dem, was zweifelsohne eine Mitleidsbekundung werden sollte. „Ich weiß, dass Lucian das nicht so gemeint hat. Irgendetwas stimmt da nicht. Er hat mich absichtlich verunsichert, damit –“

„Das ist ein Problem, wollte ich eigentlich sagen“, unterbrach mich Serena nun ihrerseits. „Was bedeutet das für das Bündnis? Hat Lucian sich irgendwie dazu geäußert?“

Ich blinzelte die sonst so empathische Zauberin erschüttert an. Sie verbrachte eindeutig zu viel Zeit mit Chris, jetzt hatte sie schon ihr Einfühlungsvermögen eingebüßt.

„Sie sagt Nein und findet dich unsensibel“, übersetzte Sassa freundlicherweise meine Gedanken.

„Tut mir leid, Amelie“, murmelte Serena, doch sah mich dabei nicht einmal an, sondern wühlte stattdessen in ihrer riesigen bunten Umhängetasche, die sie überall mit hinschleppte. Dann hielt sie ihr Smartphone in der Hand und tippte darauf herum.

„Was machst du da?“, fragte ich misstrauisch.

„Ich rufe Marcelle an.“

Ich lachte. Es war zwar ein absolut unpassender Moment, aber der Witz zugegebenermaßen gut. Marcelle, die von Lucian erschaffene Vampirin, die am liebsten pompöse Kleider aus dem frühen 19. Jahrhundert trug, wie sie mit ihren langen, schwarz lackierten Fingernägeln auf einem Handy herumtippte. Was für ein Bild.

Serena hielt sich das Telefon ans Ohr.

„Das war doch ein Scherz, oder?“, fragte ich.

„Lucian mag keine Handys, deswegen übernimmt Marcelle die Telefonate für ihn. Wusstest du das nicht?“

„Marcelle hat ein Handy?“

„Sogar ein Smartphone, glaube ich … Marcelle, ja, ich bin’s, Serena.“ Sie wandte sich von mir ab und ging ein paar Schritte, während sie ins Telefon sprach. „Ja, es geht um das Bündnis …“ Dann lauschte sie.

Was eine Vampirin wie Marcelle so mit einem Smartphone trieb? Ob sie Zombie-Spiele spielte und sich Gothic-Musik herunterlud? Was sie wohl für einen Klingelton hatte?

„Ich wusste gar nicht, dass man mit diesen komischen kleinen Dingern so viel machen kann“, murmelte Sassa mit leuchtenden Augen, sprang vom Sofa und war im nächsten Moment auf der Treppe zum ersten Stock verschwunden.

„Finger weg von meinem Smartphone!“, rief ich ihm hinterher.

In diesem Moment sagte Serena „Danke trotzdem“, nahm ihr Handy vom Ohr und drehte sich mit sorgenvollem Gesicht zu mir und Chris um. „Wir haben ein Problem. Oh mann.“ Sie blickte einen Moment ziellos durch uns hindurch, bis sich ihre verzweifelten Augen auf mich richteten. „Lucian will nichts mehr mit dem Bündnis zu tun haben.“

Kapitel 2

„So hat Marcelle das gesagt?“, fragte ich ungläubig.

Serena nickte.

„Hat sie auch gesagt, wieso?“

„Nicht so richtig. Sie meinte, Lucian hätte im Moment keine Zeit dafür und dass sie sich melden würde, falls sich das ändert, wir aber besser nicht damit rechnen sollten.“

„Vampire!“, fluchte Chris.

Ich schüttelte den Kopf. „Aber er fand den Vorschlag mit dem Bündnis gut.“ Lucian wusste ebenso gut wie ich, dass das Bündnis absolut nötig war, wenn Vampire und Zauberer sich nicht bald wieder einer ähnlichen Gefahr wie dem Bund gegenübersehen wollten. Oder sogar dem alten Bund selbst. Oder einer Fehde zwischen Zauberern und Vampiren untereinander. Das Bündnis war essentiell, um den Frieden in der übernatürlichen Gesellschaft zu wahren.

„Ich muss rausfinden, was passiert ist.“ Serena schnappte sich ihre Tasche. „Ich kenne noch ein paar Vampire von früher, durch meinen Freund …“ Sie brach ab, wie immer, wenn das Gespräch auf ihren Vampir-Exfreund kam, der vom alten Bund getötet worden war. „Wenn es sein muss, telefoniere ich sie alle durch!“ Sie verschwand nach oben.

„Irgendwas stimmt da nicht“, sagte ich beinahe flehend zu Chris. „So ist Lucian nicht. Er ist für das Bündnis.“

Chris blickte mich mit versteinerter Miene an. „Erst sagt er dir, er muss über eure Beziehung nachdenken und dann lässt er uns über Marcelle ausrichten, dass er am neuen Bund nicht mehr interessiert ist. Da bleibt nicht besonders viel Spielraum für Interpretationen, Amelie.“

Ich schüttelte nur den Kopf. Was wusste Chris schon über Lucian? Er hatte ihn von Anfang an nicht leiden können. Ich ließ mich auf das Sofa fallen, nahm die Kaffeetasse, die eigentlich für Serena bestimmt gewesen war, und trank einen Schluck. Schmeckte gar nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte.

„Ich weiß, wieso du dich so auf den neuen Bund fixierst“, sagte Chris plötzlich und setzte sich neben mich.

Ich nahm noch einen Schluck. „Es heißt Bündnis, Chris.“ Ich räusperte mich. „Aber nur zu, ich höre.“

Chris kommentierte meinen Sarkasmus nicht. „Weil du die verquere Vorstellung hast, dass, wenn es mit den Zauberern und Vampiren klappt, dasselbe auch für dich und Lucian gilt.“

Und was ist daran falsch?, wollte ich fragen, doch im selben Moment wusste ich, dass Chris sicher einige gute Antworten parat gehabt hätte. Er war schließlich Chris. Der neue, unnachgiebige Chris, der nicht nur zu allem eine Meinung hatte – das war früher schon so gewesen – aber der auch andere Standpunkte einfach nicht mehr gelten ließ.

Er seufzte. „Weißt du, mittlerweile frage ich mich, ob die Idee von einer Zusammenarbeit mit den Vampiren wirklich so gut war.“

Ich starrte ihn fassungslos an.

Chris erwiderte meinen Blick. „Und Lucian hat meine Befürchtung gerade bestätigt. Es kann nicht funktionieren. Wir sollten uns erst mal auf uns konzentrieren, auf die Zauberer.“

„Weiß Serena von deinem Meinungsumschwung?“

„Noch nicht.“

„Hat es etwas mit mir und Lucian zu tun?“

Er antwortete nicht.

„Das kannst du nicht machen.“ Plötzlich fiel alles in sich zusammen. „Du kannst doch nicht das Bündnis sabotieren, nur weil dir meine Beziehung zu Lucian nicht passt.“

„Ich sabotiere gar nichts, Amelie, im Gegenteil. Ich will, dass der neue Bund ein Erfolg wird. Aber mit den Vampiren scheint das nicht möglich zu sein, das hat dein Freund ja gerade bewiesen, oder nicht?“

Ich starrte ihn in hilfloser Wut an.

„Wir sollten uns auf uns Zauberer konzentrieren. Erst mal unter uns ein Netzwerk bilden, vielleicht sogar europaweit!“

„Und was soll das bringen?“, rief ich aufgebracht. „Meinst du, wir Zauberer können alleine irgendetwas ausrichten? Willst du dich vielleicht ohne die Vampire gegen den alten Bund stellen?“

„Warum nicht?“

„Weil wir nicht stark genug sind, verdammt!“

„Der alte Bund ist geschwächt. Wenn alle Zauberer dabei sind, können wir es vielleicht mit ihm aufnehmen.“

„Erstens“, begann ich, mühsam darum bemüht, nicht wieder laut zu werden, „würde es nicht einmal reichen, wenn alle Zauberer mitmachen würden. Und zweitens geht es doch nicht nur um den alten Bund. Es geht um Vampire und Zauberer. Viele Vampire sind unberechenbar in dem, was sie tun. Theoretisch könnten sie uns irgendwann angreifen.“

„Und deswegen sollen wir eine Allianz mit ihnen eingehen?“, schnaubte Chris.

„Wenn wir mit vernünftigen Vampiren wie Lucian das Bündnis eingehen, müssen sie dafür sorgen, dass sich auch ihre Artgenossen daran halten. Verstehst du? Das Bündnis schützt uns sowohl vor Bedrohungen wie dem alten Bund als auch vor den Vampiren selbst. Und die Vampire wiederum schützt es davor, dass wir uns irgendwann überlegen, Jagd auf Vampire zu machen. Es schützt uns alle!“

Doch Chris schüttelte, uneinsichtig wie immer, den Kopf. „Früher wären wir auch nie auf die Idee gekommen, eine Allianz mit Vampiren einzugehen.“

„Wir sind aber nicht mehr wie früher, Chris.“ Und das hatte er sich zu einem nicht unerheblichen Teil selbst zuzuschreiben. Wer war denn einfach gegangen, um sich am alten Bund zu rächen, weil dieser für den Tod unserer Eltern verantwortlich war? Und hatte mir kein Sterbenswörtchen darüber gesagt. Hatte in Kauf genommen, dass ich mich zwei Jahre lang um ihn sorgte, bis ich verzweifelt genug gewesen war, für den alten Bund einen Vampir töten zu wollen, nur um Chris zu finden. Aber das alles sprach ich nicht aus. Wir hatten das bereits durchgekaut und ich hatte Chris verziehen. Am Vergessen allerdings arbeitete ich noch.

„Wir könnten es aber wieder sein“, sagte Chris. „Wir könnten wieder so wie früher sein.“

„Ich verstehe einfach nicht, was du willst!“, rief ich aus. „Das Bündnis war doch deine Idee! Und plötzlich wirfst du alles weg – wieso? Weil alles wieder so werden soll wie früher? Wie soll das gehen?“

Wenn Serena nur hier wäre. Während ich die meiste Zeit das Gefühl hatte, dass Chris entweder wütend auf mich war oder meine Anwesenheit gar nicht zur Kenntnis nahm, schien das für Serena nicht zu gelten. Ihr schenkte Chris sogar hin und wieder eines seiner seltenen Lächeln. Sie könnte zu ihm durchdringen und ihm klarmachen, wie wirr er sich anhörte.

Chris hatte die Arme vor der Brust verschränkt und seine übliche verschlossene Miene aufgesetzt.

Alles an seinem Gesicht war so vertraut. Doch aus dem Menschen dahinter wurde ich einfach nicht mehr schlau. „Weißt du, dass ich früher nur in dein Gesicht sehen musste und wusste, was du dachtest?“, flüsterte ich.

Kurz meinte ich, eine Emotion in seinen Augen aufflackern zu sehen.

„Jetzt sehe ich gar nichts mehr. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was wirklich in dir vorgeht.“

Chris blickte mich abwartend an.

„Ich würde dich zu gerne verstehen.“

Er schwieg lange. Dann lächelte er bitter. „Ich verstehe mich ja die meiste Zeit selbst nicht, Amelie.“

Ich streckte die Hand nach ihm aus, doch im selben Moment sprang Chris vom Sofa auf.

„Wir könnten darüber –“, begann ich.

Doch Chris unterbrach mich: „Das ist nicht dein Problem, okay?“

Der Moment war vorüber. Chris war wieder ebenso unerreichbar für mich wie zuvor.

„Kann ich dich etwas fragen?“

Überrascht und mit einem neuen Hoffnungsschimmer nickte ich.

„Was passiert, wenn du und Lucian euch wieder vertragt? Wirst du zu ihm ziehen? Und dann? Wirst du nur seine Freundin sein oder auch …“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er beendete den Satz nicht.

Ich versuchte ein unbeschwertes Grinsen, doch merkte selbst, dass es ziemlich schief ausfiel. „Das werden wir dann sehen.“

Chris starrte mich düster an.

Die Wahrheit war, dass mich genau diese Fragen die gesamte letzte Woche beschäftigt hatten. Lucian hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er wollte, dass ich sobald wie möglich das Haus in der Schauersiedlung hinter mir ließ und an seiner Seite lebte. Und es hielt mich ja auch nicht allzu viel hier. Meinen Job als Wahrsagerin würde ich nicht vermissen und richtige Freunde hatte ich hier auch nicht. Der Abschied von Serena und Chris würde mir zwar schwerfallen, andererseits wäre es auch eine Wohltat, nicht ständig mit Chris aneinander zu geraten und mich fragen zu müssen, womit ich ihn nun schon wieder gegen mich aufgebracht hatte. Vielleicht würde uns etwas Abstand ganz guttun. Das einzige wirkliche Problem war das Bündnis. Wie würden die Zauberer reagieren, wenn ihre Sprecherin plötzlich mit einem Vampir zusammenlebte? Und natürlich die große Frage, wie mein Leben an Lucians Seite überhaupt aussehen würde. Ich wusste ja nicht mal, was so ein Vampir überhaupt den ganzen Tag trieb. Und dann natürlich die Sache, die Chris eben nur angedeutet hatte: Wollte ich Lucian von mir trinken lassen oder nicht? Allein der Gedanke daran ließ meinen ganzen Körper wohlig kribbeln. Das erste und einzige Mal, dass Lucian mein Blut getrunken hatte, hatte sich einfach unglaublich angefühlt.

Aber mein Verstand war da anderer Ansicht. Ich erinnerte mich noch allzu gut daran, als ich Serena kennengelernt hatte, und wie entrüstet ich gewesen war zu erfahren, dass ihr vampirischer Ex-Freund regelmäßig von ihr getrunken hatte. Und Lucian, was ich jedoch gerne verdrängte. In meinen Augen war Serena eine Mischung aus bemitleidenswertem Mäuschen gewesen, das es nicht schaffte, sich gegen die Gier von Vampirmännern zur Wehr zu setzen und einer masochistisch veranlagten Perversen. Sicher, meine Meinung zu dem Thema hatte sich seitdem beträchtlich gewandelt. Doch die anderer Menschen nicht. Und so ungern ich es mir selbst eingestand: Der Gedanke, dass andere, allen voran Chris, ähnlich über mich denken könnten, wie ich einst über Serena gedacht hatte, störte mich ungemein.

Eigentlich hatte ich über all diese Dinge mit Lucian reden wollen. Ich seufzte. „Willst du die Wahrheit wissen? Ich habe keine Ahnung. Im Moment will ich einfach nur herausfinden, was mit Lucian los ist.“ Alles andere war zweitrangig. Ich stand auf. Vielleicht hatte Serena ja schon etwas herausgefunden.

Doch Chris’ Stimme ließ mich innehalten: „Vampire sehen es nicht gerne, wenn einer von ihnen sich mit einem Menschen einlässt. Hat Serena mir erzählt.“

„Und?“, fragte ich und setzte eine überlegene Miene auf, so als wäre diese Info ganz und gar nichts Neues für mich.

„Meinst du wirklich, Lucian wird vor seinen Vampirfreunden zu dir stehen?“

„Auf mich wirkt Lucian nicht gerade wie jemand mit einem großen Freundeskreis“, gab ich zurück. Musste er ständig versuchen, mich zu verunsichern? Aber wahrscheinlich übertrieb er ohnehin maßlos.

„Eigentlich weißt du doch rein gar nichts über ihn“, stellte Chris fest. „Du kennst ihn jetzt wie lange genau? Vierzehn Tage?“

„Drei Wochen“, verbesserte ich automatisch. „Und ja, vielleicht weiß ich wirklich nicht viel über ihn. Aber ich kenne ihn und das ist es, was zählt!“ Jetzt schrie ich doch wieder. Wie schaffte das Chris nur jedes Mal? „Du siehst immer nur den Vampir in ihm!“

In Chris’ Augen flackerte etwas auf und ich begriff, dass ich genau das Falsche gesagt hatte. „Weil er ein Vampir ist, Amelie. Das scheinst du in deiner Verliebtheit ja so gern zu vergessen.“ Chris’ Stimme war schneidend, genau wie seine Worte, die mich mit konsequenter Zielsicherheit trafen. „Er ernährt sich von Blut. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als dich zu beißen und dein Blut zu trinken. Menschenleben sind ihm nicht mehr wert als der Staub auf seinem altmodischen Mantel. Du weißt, dass er tötet, ohne mit der Wimper zu zucken.“

„Er tötet, wenn er es muss.“ Doch meine Stimme zitterte. Ganz leicht nur, doch unüberhörbar. Ich wachte noch immer manchmal schweißgebadet auf, weil ich Bettina Freis totes Gesicht im Traum sah. Sie hatte mich töten wollen, ich hatte mich gewehrt, hatte sie stattdessen getötet. Ein wenig anders hatte es sich mit Lucian und Philippe Nemours verhalten. Als Lucian ihn angegriffen hatte, war es keine Selbstverteidigung gewesen, sondern Rache für das, was dieser ihm und vor allem mir angetan hatte. Auch den Moment, als Lucian Philippe Nemours Halsschlagader aufriss und anschließend angewidert das Blut ausspuckte, sah ich manchmal in meinen Träumen. Aus diesen wachte ich ebenfalls schweißgebadet auf. Ich hatte Lucian überreden können, Nemours nicht sterben zu lassen und am Ende war Lucian meinem Wunsch gefolgt. Aber er hatte es nicht gern getan.

„Es gibt ein paar Dinge über Vampire, die ich bei meiner Zeit beim Bund gelernt habe“, fuhr Chris fort, ohne auf meinen Einwand einzugehen. „Wusstest du, dass auch die Vampire eine Art Bund haben? Sie nennen es den Inneren Kreis. Ein paar der mächtigeren Vampire, die den übrigen Vampiren Regeln auferlegt haben, damit sie nicht mehr wahllos Menschen töten und zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber so lange gibt es diesen Inneren Kreis noch nicht. Davor haben die meisten Vampire das mit dem Töten nicht so eng gesehen. Wieso einen Menschen nicht vollständig leersaugen, wenn man schon mal dabei ist?“

„Und was hat das mit Lucian zu tun?“

„Sie haben es alle getan, Amelie. Und jetzt haben sie nur damit aufgehört, weil sie die Aufmerksamkeit, die blutleere Leichen in der heutigen Zeit nun mal so mit sich bringen, nicht gebrauchen können.“

„Und das glaubst du, weil der Bund es dir gesagt hat?“, fragte ich fassungslos. „Wie gut, dass die überhaupt keine Vorurteile haben, was Vampire angeht!“ Es war einfach unglaublich, was Chris hier für Geschütze auffuhr, um mir meine Beziehung mit Lucian auszureden. Schluss damit. Ich würde mir das nicht länger anhören. Ich marschierte an Chris vorbei zur Treppe, wo ich beinahe von Serena über den Haufen gerannt wurde.

„Leute!“, rief sie, nur um innezuhalten und stirnrunzelnd von mir zu Chris zu schauen. „Was ist denn hier los? Streitet ihr schon wieder?“ Mit diesem Tonfall hätte sie Grundschullehrerin werden können.

„Hast du was rausgefunden?“, fragte ich und tat mein Bestes, ihren tadelnden Blick zu ignorieren.

„Allerdings. Die Vampire wissen von unserer Idee mit dem Bündnis. Lucian muss es ihnen gesagt haben! Anscheinend haben sie sogar vor, sich bezüglich des Bündnisses bald zu beraten! Unglaublich, oder?“

Ich blickte automatisch zu Chris, in dessen Augen sich meine eigene Verwirrung widerspiegelte.

„Er hat den Vampiren von unserer Idee erzählt und sie sogar zu einer Versammlung eingeladen?“, fragte Chris.

„Wieso sagt er dann zu uns, dass er nichts mehr mit dem Bündnis zu tun haben will?“, ergänzte ich.

„Vielleicht hat er seine Meinung geändert“, schlug Serena vor. „Wir wissen, dass er es gewesen sein muss, der den anderen Vampiren vom Bündnis erzählt hat. Denn er war der Einzige, der es wusste. Aber wir wissen nicht, ob er auch derjenige ist, der die Vampire dazu aufgerufen hat, sich wegen des Bündnisses zu treffen. Es wäre auch denkbar, dass er wirklich kein Interesse mehr am Bündnis hat, die anderen Vampire aber schon.“

„Bleibt immer noch die Frage, wieso er seine Meinung geändert hat“, sagte ich. Ich konnte mir das einfach nicht erklären. Was war vorgefallen, dass Lucian erst praktisch den Kontakt zu mir abbrach und sich dann auch noch gegen das Bündnis stellte?

„Und jetzt?“, fragte Serena.

„Wir lassen die Vampire raus“, antwortete Chris postwendend.

„Was?“, rief Serena aufgebracht. Mit Genugtuung beobachtete ich, wie sie auf Chris zu marschierte und ihm den Zeigefinger in die Brust bohrte. „Ich habe mich ja wohl verhört!“

Doch Chris blieb standhaft. „Wir brauchen die Vampire nicht. Die machen mehr Ärger als dass sie uns nützen.“

„Oh, und das hast du dir eben mal so überlegt, ja?“ Mit geröteten Wangen, blitzenden grünen Augen und in die Hüfte gestemmten Händen hatte sie sich vor Chris aufgebaut. Ich hatte die Zauberin noch nie so aufgebracht erlebt. Zum Glück war Chris der Grund ihres Unmutes und nicht ich.

Erleichtert stieg ich die Treppe hoch. Die Sache mit Chris konnte ich getrost Serena überlassen. Ich selbst hatte etwas anderes zu tun. Ich musste herausfinden, was hier vor sich ging.

Ich hörte Serena und Chris noch lange im Wohnzimmer diskutieren, während ich immer und immer wieder versuchte, mit Lucians Geist Kontakt aufzunehmen. Obwohl ich wusste, dass Lucian meine Versuche spüren musste, ging er nicht darauf ein. Leider waren meine Fähigkeiten, was diese Art der Kontaktaufnahme betraf, noch nicht besonders ausgereift. Während Lucian in meinen Geist eindringen und zu mir sprechen konnte, wann immer es ihm beliebte, konnte ich ihn gerade mal mit Mühe und Not darauf aufmerksam machen, dass ich ein Gespräch wünschte und war dann darauf angewiesen, dass er antwortete.

Als es unten endlich still geworden war, klopfte ich an die Tür des Gästezimmers, in dem Serena seit einer Woche wohnte, und ließ mir Marcelles Handynummer geben. Dabei brachte ich in Erfahrung, dass Serena und Chris sich auf einen vorläufigen Kompromiss geeinigt hatten: Sie würden erst einmal abwarten, ob die Vampire wegen des Bündnisses mit uns Kontakt aufnahmen. Dann würde man weitersehen.

Ich hatte jedoch nicht vor, zu warten.

Ich rief Marcelle vom Festnetz an, weil ich mein Smartphone nicht finden konnte. Ganze vier Mal, ohne dass die Vampirin abnahm, doch beim fünften Mal hörte das Tuten plötzlich auf. Ich wartete darauf, dass sich jemand meldete. Als nichts geschah, sagte ich: „Hallo? Marcelle?“

Ein Klicken. Dann: Tuten. Aufgelegt.

Ich versuchte es noch ein paar Mal, doch ohne Erfolg. Vielleicht hatte Lucian Marcelle verboten, mit mir zu sprechen? Oder sie wollte einfach von sich aus nicht mit mir reden, was wahrscheinlicher war. Marcelle hatte mich noch nie leiden können. Irgendwie hatten wir auf dem falschen Fuß angefangen, könnte man wohl sagen. Und manchmal … ja, manchmal fragte ich mich, ob Marcelle nicht vielleicht eifersüchtig auf mich war.

Ich grübelte die halbe Nacht, wie ich Lucian erreichen könnte. Wenn mir nichts Besseres einfiel, würde ich einfach zu seinem Anwesen fahren. Genau! Ich wusste schließlich, dass er eines in Deutschland hatte, auch wenn ich noch nie dort gewesen war. Aber Serena wusste sicher, wo es lag. Und wenn er dort nicht war, würde ich zu seiner Villa nach Frankreich fahren, die kannte ich immerhin schon. Ob Lucian noch mehr Anwesen besaß? Und wie konnte er sich überhaupt solche großen, edlen Wohnsitze leisten? Ob er reich war? Und wenn ja, wie war er an Geld gekommen?

Ich hörte Chris’ Stimme im Ohr: Eigentlich weißt du doch rein gar nichts über Lucian.

Aber war es wirklich so wichtig, all diese Dinge zu wissen? Das waren doch Nebensächlichkeiten, für deren Austausch Lucian und ich noch viel Zeit haben würden. Wichtig war im Moment nur das, was ich in seinen Augen gesehen, in seiner Stimme gehört hatte, als er „ich liebe dich“ zu mir gesagt hatte. Daran musste ich festhalten. Ich würde mir keine Zweifel einreden lassen, nicht von meiner eigenen Unsicherheit und schon gar nicht von Chris.

„Amen. Aber hast du schon mal drüber nachgedacht, dass der Vampir vielleicht einen Grund hatte, den Kontakt zu dir abzubrechen?“, fragte Sassas piepsige Stimme von der geöffneten Zimmertür her.

Ich betrachtete das Fellknäuel mit gerunzelter Stirn. Wo hatte der Kleine den ganzen Abend gesteckt?

„Nämlich, dass er nicht will, dass du Kontakt zu ihm aufnimmst? Seine Vampirsklavin anzurufen und ihm wie eine Stalkerin in seinen Villen aufzulauern vermutlich eingeschlossen.“

„Nenn Marcelle nicht Sklavin, das ist nicht nett.“

Sassa gab ein undefinierbares Geräusch von sich und sprang auf den Nachttisch. Mein Blick fiel auf mein Smartphone, das genau neben Sassa lag. War es etwa schon die ganze Zeit dort gewesen?

„Hast du –?“

„Nein.“

„Und wo –?“

„Geht dich nichts an.“

„Ich weiß ja, dass du meine Gedanken lesen kannst“, sagte ich entnervt, „aber es wäre höflicher, wenn du mich trotzdem ab und zu ausreden lassen könntest.“

„Pfff.“

Was war nur los mit dem Dämon? Frech war er ja schon von der ersten Sekunde an gewesen, in der er in meinem Hotelzimmer in Frankreich erschienen und sich in der Bettdecke verheddert hatte. Aber seit ein paar Tagen schien er noch schlechter gelaunt zu sein als sonst. Und dann verschwand er ständig und ich hatte keine Ahnung, wohin. Irgendetwas führte er im Schilde.

„Also, ich geh jetzt schlafen. Du dagegen solltest über meine Worte nachdenken. Vielleicht solltest du ausnahmsweise mal auf den Vampir hören, statt uns schon wieder ins Unglück zu stürzen.“ Sassa kugelte sich am Fußende des Bettes zusammen.

Ob er vielleicht Heimweh hatte? Wenn es so war, würde er es sicher niemals zugeben. Aber wer würde sein Zuhause nicht vermissen? Schließlich hatte er nicht damit rechnen können, dass er bei seiner ersten Beschwörung ausgerechnet an eine Amateurin wie mich geriet, die beim Ritual einen solch folgenschweren Fehler beging, dass sie ihn nicht mehr zurückschicken konnte. Ich musste über mich selbst den Kopf schütteln. Wie hatte ich einfach davon ausgehen können, Sassa würde es nichts ausmachen, noch ein wenig länger in meiner Welt zu bleiben? Nur, weil er mich nicht ausdrücklich aufforderte, ihn zurückzuschicken, hieß das noch lange nicht, dass er hierbleiben wollte. Sassa würde mich niemals von sich aus darum bitten, so gut kannte ich ihn inzwischen. Es war meine Aufgabe, seine Rücksendung zu initiieren, so wie er erst durch meine Schuld überhaupt in dieser Welt gestrandet war.

Sassa öffnete ein Auge. „Du starrst mich an.“

Das war die Gelegenheit! „Ja, weißt du, ich wollte dich fra–“

„Sorry, keine Zeit. Hab noch was zu erledigen.“ Mit geschäftigem Blick hüpfte der Kleine vom Bett und war im nächsten Moment aus dem Zimmer verschwunden.

Ich starrte ihm verdutzt hinterher, dann musste ich lächeln. Was auch immer Sassa im Schilde führte – und ich war mir sicher, dass es nichts Gutes sein konnte – so war ich doch erleichtert, heute Nacht noch nicht Abschied von dem kleinen Dämon nehmen zu müssen.

„Und, was spürst du?“ Kim hatte sich nach vorne gebeugt und blickte mich gespannt an.

„Ähm …“, stotterte ich. Die Wahrheit war, dass ich es heute einfach nicht hinbekam. Nach Sassas mysteriösem Abgang hatte ich tatsächlich noch über seinen Rat wegen Lucian nachgedacht. Ob ich es gut fand oder nicht, etwas war dran an seinem Argument. Und auch Lucians letzte Worte „Vertrau mir“ passten ins Bild. Sollte ich vielleicht doch besser warten und darauf vertrauen, dass Lucian sich irgendwann von selbst meldete und alles aufklärte? Aber was geschah bis dahin mit dem Bündnis? Irgendwann war ich trotz der vielen Fragen in meinem Kopf eingeschlafen, doch da Kim, Hexe und meine beste Wahrsagerei-Kundin, sich am Morgen für eine Zukunftsvorhersage angemeldet hatte, war ich schon wenige Stunden später wieder aus dem Schlaf gerissen worden. Und zwar, zu meinem Entsetzen, von penetrantem Froschgequake. Welches zwar aus meinem Smartphone gekommen, von mir jedoch sicher nicht als Alarmton heruntergeladen oder eingestellt worden war. Doch die Standpauke für Sassa musste warten.

„Es ist heute alles sehr verschwommen“, behauptete ich.

Kim hob skeptisch ihre dunklen Augenbrauen.

Natürlich. Kim kam seit Jahren wenigstens einmal die Woche zu mir. Sie kannte meine lahmen Ausreden, wenn ich zu viel anderes im Kopf hatte und mich deswegen nicht auf ihre Zukunft konzentrieren konnte.

Ich versuchte, mich zusammen zu reißen. Mein Kundenstamm war nie so groß gewesen, dass ich behaupten könnte, dass es auf einen mehr oder weniger nicht ankäme. Doch wenn ich ausgerechnet Kim vergraulte, sähe es für meinen Haushaltsgeldanteil sehr, sehr schwarz aus. Ehemaliges Bundmitglied müsste man sein. Anscheinend hatten die Vampirjäger Chris in den zwei Jahren, die er für sie gearbeitet hatte, nicht schlecht bezahlt, denn er hatte noch immer Ersparnisse, so dass er sich um Nebensächlichkeiten wie Geldverdienen nicht zu kümmern brauchte. Serena dagegen hatte ähnliche finanzielle Probleme wie ich, so dass sie seit neuestem aushilfsweise im Singenden Zombie kellnerte, um ebenfalls was zum Haushaltsgeld beizusteuern. Immerhin wohnte sie kostenlos bei uns.

Ich atmete ein und ließ meinen Atem langsam entweichen. Kims Hände, die in meinen lagen, zuckten kurz zusammen, als ich den Griff verstärkte. Ich blickte in Kims dunkle Augen und zwang mich, alles andere auszublenden. Mein Geist fokussierte sich auf die Frau vor mir. Ich schloss die Augen. Tat einen weiteren tiefen Atemzug und endlich spürte ich, wie ich mich entspannte. Vorsichtig sandte ich meinen Geist zu Kim aus, nicht unähnlich dem Vorgang, wie ich meinen Geist zu Lucian aussandte, wenn ich Kontakt zu ihm aufnehmen wollte. Und dann wartete ich. Darauf, dass sich etwas an Kims Aura veränderte, etwas, das mir eine Ahnung davon gab, was die Hexe in dieser Woche erwartete. Normalerweise konnte ich zwanzig, dreißig Minuten so verharren, ohne, dass mir etwas Nennenswertes auffiel. Kims Leben verlief in der Regel eher langw- äh, konstant, und wenn ich ihr hin und wieder winzige Veränderungen voraussagen konnte, war das für sie schon eine große Sache. Doch anscheinend würde die nähere Zukunft für sie ruhig verlaufen. Ich wollte mich schon von ihr zurückziehen, als mich eine kaum wahrnehmbare Empfindung innehalten ließ. Unwillkürlich hielt ich den Atem an und sandte meinen Geist weiter aus, zu dem Punkt in Kims Aura, wo die Empfindung ihren Ursprung hatte. Das eben noch kaum greifbare Gefühl wuchs so plötzlich an, dass es mich ganz und gar verschlang, bevor ich mich zurückziehen konnte. Es hüllte mich ein wie dichter, schwarzer Nebel, raubte mir die Luft zum Atmen.

Erschrocken riss ich meine Hände zurück und schlug die Augen auf. Mein Atem ging stoßweise und ich spürte kalten Schweiß auf meiner Stirn.

„Alles in Ordnung?“, fragte Kim alarmiert. „Was hast du gespürt?“

Wenn ich das nur wüsste. Noch nie war mir etwas Ähnliches untergekommen. Das war nicht nur eine Veränderung, das war … konnte es sein, dass sich so der Tod anfühlte? Ich schüttelte langsam den Kopf. Der Tod war zwar für die meisten Menschen eine tendenziell negative Zukunftsaussicht, aber für unsere Aura war es nur eine weitere natürliche Veränderung. Das allerdings, was ich gerade gespürt hatte, war so dunkel gewesen, so … böse.

„Amelie“, drängte Kim.

Was sollte ich ihr sagen? Dass mit großer Wahrscheinlichkeit etwas Böses auf sie zukam? Wahrsagerei war alles andere als eine sichere Sache. Es spielten so viele Faktoren mit hinein, zum Beispiel die Entscheidungen, die eine Person nach der Vorhersage traf, die Umgebung, und nicht zuletzt die Fähigkeiten und Gefühle der vorhersagenden Person … Vielleicht lag es an mir. So besorgt, wie ich wegen Lucian und dem Bündnis war … Doch das Dunkel, das ich gespürt hatte, war eindeutig von Kim ausgegangen.

Ich zwang mich zu einem schiefen Lächeln. „Tut mir leid, ich bin heute wirklich neben der Spur“, sagte ich. „Aber ich vermute, dir steht eine Veränderung bevor.“ Ich konnte ihr nicht sagen, was ich wirklich gespürt hatte. Wahrscheinlich war es gar nichts. Nichts Ernstzunehmendes. Genau. Es gab eine harmlose Erklärung, ich kannte sie nur einfach nicht.

Kims Mund formte sich zu einem kleinen o. Dann begann sie zu strahlen. „Darauf hatte ich gehofft! Oh Amelie, danke!“ Sie griff nach meinen Händen und drückte sie.

Ich lächelte unsicher. Diese euphorische Reaktion war sogar für Kim ein wenig übertrieben. Vorsichtig entzog ich ihr meine Hände und setzte ein geschäftiges Gesicht auf. „Wenn das dann alles –“

„Ich muss dir eine Frage stellen!“

„Okay.“

„Jetzt, wo du mir meine Vermutung bestätigt hast, habe ich den Mut dazu.“ Sie blickte mich beschwörend an. „Ich habe von eurem Bündnis gehört.“

„Oh … okay.“ Ich rutschte nervös auf dem Stuhl herum.

„Amelie … wir Hexen werden doch sicher auch dabei sein, oder?“

„Also …“

„Nein, sag nichts. Ich weiß es ja eigentlich schon. Du hast es ja eben in meiner Zukunft gesehen!“

Ich schluckte und blickte im Zimmer umher, so als könnte irgendetwas darin mir aus dieser peinlichen Situation heraushelfen. Die Frage, ob Hexen zum Bündnis eingeladen werden sollten, hatten Serena, Chris und ich schon beim allerersten Treffen mit den anderen Zauberern erörtert. Bevor ich zur Sprecherin gewählt worden war und noch bevor wir über die Vampire gesprochen hatten.

„Weißt du“, begann ich, entschlossen, die bittere Wahrheit ungeachtet der Konsequenzen auf den Tisch zu bringen, doch Kims überglückliches Gesicht ließ mich sagen: „So weit sind wir einfach noch nicht. Aber wir werden uns bald damit beschäftigen, versprochen!“

Kims Strahlen fiel augenblicklich in sich zusammen. „Was? Aber … du hast es doch in meiner Zukunft gesehen.“

„Ich habe eine Veränderung gesehen“, berichtigte ich sie streng. „Vom Bündnis habe ich kein Wort gesagt.“

Doch Kim schüttelte stur den Kopf. „Ihr müsst uns in das Bündnis mit einschließen, Amelie“, sagte sie beschwörend. „Du weißt doch, Zauberer und Hexen verkörpern die zwei Seiten der Magie, ohne uns wäre dieses Bündnis unvollkommen.“

Ich wollte etwas sagen, irgendetwas, um sie zu beschwichtigen und sie davon abzuhalten, in einen ausschweifenden Monolog über Hexen und Zauberer abzudriften, doch es war bereits zu spät.

„Ihr Zauberer habt die Magie zwar in euch, wenn ihr geboren werdet, aber wir Hexen haben uns über Generationen hinweg mit ihr beschäftigt. Ihr besitzt zwar magische Fähigkeiten, die ihr einsetzen könnt, aber wir verfügen über das Wissen, magische Gegenstände zu erkennen oder sie durch Rituale selbst herzustellen. Unsere Seite der Magie kann ebenso mächtig sein wie eure, Amelie.“

Ich nickte pflichtschuldig. Doch trotz Kims geblümter Ausführung, ließ sich die ganze Thematik auf einen zentralen Satz reduzieren: Wir Zauberer besaßen magische Fähigkeiten, die Hexen nicht. Dass sie dafür viel über die Geschichte der Magie, Rituale und magische Gegenstände wussten, mehr als viele Zauberer, stimmte. Aber ganz ehrlich: Wir Zauberer hatten dank unserer Fähigkeiten einfach Spannenderes zu tun, als unsere Nasen unentwegt in staubige Bücher zu stecken. Und die magischen Gegenstände, die Hexen selbst erschaffen konnten – durch irgendwelche erlernten Rituale, wohlgemerkt, die jeder mit etwas Geduld erlernen konnte – waren wirklich sehr, sehr schwache magische Gegenstände, wenn sie denn überhaupt funktionierten.

Anscheinend sah Kim meinem Gesicht an, dass ich nicht ernstlich beeindruckt war, denn sie legte noch eine Schippe drauf: „Wusstest du, dass sich rund achtzig Prozent aller wirklich mächtigen magischen Gegenstände im Besitz von Hexen befinden? Ihr Zauberer, Vampire und Menschen macht zusammen nur zwanzig Prozent aus!“

Wenn Kim wirklich mächtige magische Gegenstände sagte, meinte sie solche, die eben nicht absichtlich durch irgendwelche Rituale geschaffen wurden, sondern unabsichtlich durch Geschehnisse und Emotionen. Das konnte durch etwas Dramatisches wie einen Mord passieren, oder auch durch etwas Positives, wie große Liebe. Warum in solchen Situationen manchmal magische Gegenstände entstanden, während unter ähnlichen Umständen nichts passierte, wusste niemand, nicht einmal die belesenen Hexen.

Abermals öffnete Kim den Mund, zweifellos, um mit ihren Ausführungen fortzufahren, doch ich hob schnell die Hand und sagte: „Es wurde gegen euch abgestimmt. Tut mir leid.“

Ich wartete auf den Knall. Und tatsächlich trat ein zorniger Ausdruck in Kims Augen. Ich wappnete mich für die verbale Konfrontation, doch Kim starrte mich nur an und der Ärger auf ihrem Gesicht wich Nachdenklichkeit.

„Ich möchte dir etwas erzählen, Amelie“, sagte sie.

Ich nickte, auch wenn ich nicht die geringste Lust auf weitere Hexen-Lobgesänge verspürte.

„Ich glaube, dann wirst du erkennen, dass ihr einen Fehler macht.“

Ich bezweifelte es.

Kim beugte sich vor und begann mit gedämpfter Stimme zu sprechen, als könnte jeden Moment die Hexenpolizei hinter dem Vorhang hervorspringen und Kim wegen Preisgabe vertraulicher Informationen verhaften. „Ich war vor drei Wochen in Rumänien“, sagte sie und blickte mich an, als hätte sie mir gerade die Wahrheit über die Schöpfungsgeschichte offenbart. „Das war die Woche, in der du mir ebenfalls Veränderungen vorhergesehen hattest, erinnerst du dich?“

Ich nickte und zwang mich zu einem interessierten Blick. Das sah Kim ähnlich, dass sie alles tat um das, was ich in ihrer Zukunft spürte, wahr werden zu lassen. Meine Wahrsagerei für sie war das Paradebeispiel einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

„Ich besuchte dort natürlich mehrere Antiquitätenläden, wie du weißt, bin ich immer auf der Suche nach magischen Gegenständen. Und dann betrat ich eines Tages diesen kleinen, unscheinbaren Laden und was ich fand war einfach …“ Sie hob die Augenbrauen und blickte mich vielsagend an. „Ich wusste sofort, dass dieses Amulett etwas Besonderes ist, Amelie. Nenn es einen sechsten Sinn oder einfach meine Erfahrung auf dem Gebiet, aber ich sage dir, ich wusste es sofort.“ Sie griff in ihren runden Schnürbeutel und zog eine lange Bronzekette hervor, an deren Ende ein walnussgroßes, rundes Medaillon baumelte. Auf der Vorderseite prangte die Blume des Lebens. Verzierungen wie Steine oder ähnliches gab es nicht. Alles in allem wirkte das Medaillon ziemlich gewöhnlich.

„Ist es alt?“, fragte ich, mehr aus Höflichkeit als aus echtem Interesse.

„Du hast ja keine Ahnung“, flüsterte Kim andächtig und öffnete den Deckel. Das Innere des Medaillons kam zum Vorschein – das gemalte Porträt einer dunkelhaarigen, hübschen Frau. Ich streckte die Hand nach dem Amulett aus, um mir das Porträt näher anzusehen, doch kaum berührten meine Finger das kühle Metall, zog ich sie reflexhaft zurück, als hätte ich mich verbrannt. Ich wusste selbst nicht, wieso. Misstrauisch beäugte ich das Schmuckstück. „Was ist das?“, fragte ich und diesmal war mein Interesse nicht geheuchelt.

„Oh, Amelie, du wirst es nicht glauben, wenn ich dir das erzähle! Gut, es sind zugegebenermaßen alles noch Vermutungen, aber anscheinend …“

Es miaute. Laut und aufdringlich, von der Kommode her, wo ich mein Smartphone abgelegt hatte. Nicht so, wie süße Babykätzchen miauten, die nach ihrer Mami riefen, sondern so, als würden sich gerade ein Dutzend Katzenpärchen paaren.

„Verdammt noch mal!“, fluchte ich und schnappte mir das Telefon, um dem peinlichen Geräusch ein Ende zu machen. Ich warf einen Blick auf den Bildschirm – und mein Herz setzte einen Schlag aus. Ein Anruf von einer unbekannten Nummer. Lucian? „Hallo?“, fragte ich atemlos.

Am anderen Ende der Leitung blieb es still.

„Marcelle?“, fragte ich, doch im selben Moment fiel mir ein, dass ich ihre Nummer ja seit gestern gespeichert hatte.

„Nein“, sagte eine männliche, belustigt klingende Stimme, die ich nie zuvor gehört hatte. „Spreche ich mit Amelie, der Zauberin?“ Das letzte Wort ging fast vollständig in einem leisen Lachen unter.

„Ja“, sagte ich unwirsch. „Hören Sie, wenn das ein Scherz sein soll –“

„Oh, es ist mir überaus ernst“, unterbrach mich die Stimme, ohne den belustigten Unterton jedoch ganz abzustreifen. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass du einen gewissen Lucian kennst?“

Meine Hand krampfte sich fester um das Handy. „Sie kennen Lucian?“

Wieder das leise Lachen. „Du bist wirklich amüsant, Zauberin Amelie. Ob ich ihn kenne? Ich würde behaupten, es gibt nur eine einzige Person, die ihn besser kennt als ich, und das ist nicht er selbst, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Sind Sie ein Vampir?“ Die leicht gestelzte Ausdrucksweise, die Überheblichkeit … ja, ich war mir sicher, noch bevor er antwortete: „Kompliment, du bist ja tatsächlich so scharfsinnig, wie man behauptet.“

„Wer sind Sie?“, fragte ich laut, um sein Lachen zu übertönen.

„Ich bin Lucians Bruder, wenn du so willst.“

Ehe ich reagieren, ja, seine Worte auch nur verarbeiten konnte, fuhr er fort: „Und Lucian ist gerade dabei, etwas überaus Dummes zu tun. Also packst du besser deine sieben Sachen und kommst auf der Stelle hierher.“

„Wohin?“, fragte ich atemlos.

„Nach Rumänien, natürlich. Zur unserer Versammlung.“

Kapitel 3

„Wa-was?“, stotterte ich und wusste selbst nicht, auf was genau sich meine Frage bezog.

Der Anrufer seufzte. „Komm allein.“

„Aber –“

„Ich schicke dir die Adresse über WhatsApp.“

Während ich noch versuchte zu realisieren, dass mir gerade ein Vampir übers Handy gesagt hatte, er würde mir was über WhatsApp schicken, hatte der Anrufer bereits aufgelegt. Fassungslos ließ ich mein Smartphone sinken. Im nächsten Moment ging das Miauen wieder los, doch stoppte von selbst nach wenigen Sekunden. Ich hatte eine neue WhatsApp-Nachricht. Mein Blick flog über die seltsame Adressangabe und die sechsstellige Postleitzahl. Rumänien. Tatsächlich.

„Alles in Ordnung?“, fragte Kim.

Wenn der Anrufer die Wahrheit gesagt hatte, war Lucian in Rumänien bei einer Vampirversammlung. Und dabei eine Dummheit zu begehen? Wieso hatte dieser Kerl sich nicht etwas verständlicher ausdrücken können?

„Amelie“, hörte ich plötzlich Kims Stimme direkt neben mir. Sie legte mir eine Hand auf den Arm und hielt mir mit der anderen ihr Amulett vor die Nase. „Ich habe drei Wochen gebraucht, um überhaupt ein paar brauchbare Informationen zu finden, aber jetzt –“

„Können wir ein andermal darüber reden?“, fragte ich unwirsch.

„Aber …“

„Ich habe jetzt wirklich keine Zeit dafür“, unterbrach ich. „Ich rufe dich an, okay?“

Sie musterte mich lange. Ich trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während mein Blick immer wieder zu der Adresse auf meinem Smartphone flog.

„Okay“, sagte Kim schließlich. Sie steckte das Amulett zurück in ihren Beutel und ging zur Tür. „Aber ruf mich so bald wie möglich an. Es ist wichtig!“

„Ja, natürlich“, versicherte ich. Doch kaum hatte Kim das Zimmer verlassen, hatte ich sie und das Amulett bereits vergessen.

„Das kann nicht dein Ernst sein! Das ist sogar für so eine strohblöd-naive Hexe wie dich …“ Sassa brach mitten im Satz ab und sackte zusammen wie ein Luftballon, in den man ein Loch gestochen hatte. „Wir werden alle beide sterben.“

„Jetzt wirst du aber melodramatisch“, sagte ich und packte ein paar Garnituren Unterwäsche und Socken in die Tasche, die ich schon mit mir herumgeschleppt hatte, als ich inkognito als Lucians Dämonenbeschwörerin mit ihm, Marcelle und Serena nach Frankreich gereist war.

„Lass uns wenigstens Serena und Chris mitnehmen!“, flehte Sassa.

„Der Anrufer hat gesagt, ich soll allein kommen.“

Der kehlige Ruf eines Raben, der es sich auf dem Fenstersims gemütlich gemacht hatte, schallte ins Zimmer.

„Das ist ein Omen“, verkündete Sassa düster.

„Was weißt du schon über Omen?“

„Einiges.“

„Und woher?“

„Serena.“

„Serena? Bist du etwa bei ihr, wenn du in letzter Zeit deinen ominösen Erledigungen nachgehst?“

„Lenk nicht ab, es geht hier um dich! Da muss dich nur so ein ominöser Vampir anrufen und dir rätselhaftes Zeug vorsabbeln und zack, packst du deine Sachen und fährst in die Walachei!“

„Transsilvanien, nicht Walachei“, korrigierte ich. „Auch wenn die zugegebenermaßen nah dran ist.“

„Das ist ganz genauso wie beim letzten Mal“, lamentierte Sassa. „Als du dich auf den Handel mit dem Bund eingelassen hast und den Vampir töten solltest. Und was ist dann passiert, na? Na? Du Trottel hast dich in ihn verliebt und wurdest fast getötet. Mehrmals. Und mir blieb nichts anderes übrig, als dich zu retten. Mehrmals.“

Ich öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch schloss ihn unverrichteter Dinge wieder. „Du hast recht.“

Sassas schwarze Knopfaugen funkelten überheblich. „Ich weiß. Tut trotzdem gut, es mal zu hören.“

„Was das letzte Mal angeht“, schränkte ich ein. „Diesmal wird alles anders. Ich meine, diesmal soll ich schließlich keinen Vampir töten, oder? Ich werde diesen Anrufer treffen und herausfinden, was mit Lucian los ist. Und was es mit dieser Versammlung auf sich hat. Das ist alles!“

„Pff, stell dich doch nicht blöder als du bist. Ich kann deine Gedanken lesen, du musst also nicht so tun, als hättest du keine Angst.“

Energisch stopfte ich meine Kosmetikbox in die Reisetasche. Wie ich Gespräche mit dem Dämon manchmal hasste. „Angst hin oder her, ich muss herausfinden, was hier los ist“, gab ich zwischen zusammengebissenen Zähnen zurück.

„Du weißt doch nicht mal, ob dieser komische Kerl am Telefon die Wahrheit sagt!“, rief Sassa aufgebracht. „Schon mal daran gedacht, dass dein Vampir vielleicht gar nicht in Rumänien ist?“

Natürlich hatte ich das. Das Problem war nur: Ich wusste nicht, wo Lucian war und hatte auch keine Möglichkeit, es herauszufinden. Rumänien war mein einziger Anhaltspunkt. Und ganz egal, was Sassa und Chris sagten: Ich wusste, dass mit Lucian etwas nicht stimmte. Etwas war geschehen, etwas, das Lucian dazu brachte, den Kontakt mit mir abzubrechen und sogar das Bündnis aufzugeben. Und ich musste herausfinden, was es war. Ich musste wissen, ob es Lucian gut ging. Ob er in Gefahr war. Dafür würde ich sogar zehn ominösen Anrufen in die Walachei oder bis nach Timbuktu folgen. Außerdem würde ich vorsichtig sein. Und ich hatte meine neuen telekinetischen Fähigkeiten.

„Ach komm, du kannst damit ja nicht mal Kaffee kochen ohne die komplette Küche einzusauen. Und diesen Fähigkeiten soll ich mein Leben anvertrauen? Sehr beruhigend, wirklich.“ Sassa schnaubte.

„Dann bleib doch einfach hier, wenn du solche Angst hast.“ Mir kam ein anderer Gedanke: Warum Sassa nicht einfach noch vor meiner Abreise in seine Welt zurückschicken? Zeit hatten wir genug, schließlich musste ich ohnehin warten, bis Chris und Serena schliefen, um mich davonzustehlen.

Doch bevor ich gegenüber Sassa den Vorschlag verbalisieren konnte, hüpfte der Dämon vom Bett und hoppelte zur Tür. „Ich hab noch was zu erledigen“, sprach’s und verließ das Zimmer.

Und ich hatte wieder vergessen, ihm wegen meines Smartphones die Leviten zu lesen.

Um Punkt fünf Uhr am nächsten Morgen stand ich abmarschbereit im Wohnzimmer. Ich würde die allererste Busverbindung zum Flughafen nehmen. In meinem Zimmer auf dem Tisch lag ein kurzer Brief an Chris, in dem ich ihm die Situation erklärte, allerdings ohne zu verraten, wohin genau ich aufgebrochen war. Doch dass ich Lucian nicht mal eben im Nachbardorf suchte, ging aus der Nachricht durchaus hervor.

Ich knöpfte meinen Mantel zu, ließ meinen Blick ein letztes Mal über das dunkle, stille Wohnzimmer gleiten und verließ das Haus. Bevor ich die Tür schloss, schlüpfte ein haariges, braunes Etwas zu mir nach draußen.

„Frechheit, dass du nicht auf mich gewartet hast!“, schimpfte Sassa. „Und ganz schön blöd, wenn man bedenkt, dass du ohne mich auf jeden Fall sterben wirst!“

Ich drehte mich um, damit der Dämon mein erleichtertes Lächeln nicht sah. „Komm“, sagte ich. „Wir haben einen weiten Weg vor uns.“

Der weite Weg scheiterte schon beinahe zwei Stunden später, weil Sassa partout nicht ins Flugzeug steigen wollte. Als ich ihn packte, um ihn einfach in mein Handgepäck zu stopfen, biss er mir in die Hand. Ich ließ ihn stehen und stieg ein. Wie erwartet hüpfte Sassa in letzter Minute doch noch ins Flugzeug.

Wir verbrachten den kompletten Flug auf der Toilette und ich hatte wieder etwas Neues über Dämonen gelernt: Was sie in unserer Welt aßen, konnte auch auf umgekehrtem Wege wieder aus ihnen herauskommen.

„Warum hast du mir vor dem Flug auch diesen Triple Chocolate Muffin gekauft?“, lamentierte Sassa zitternd, während ich ihn mit dem Kopf über die Kloschüssel hielt.

„Weil du mich sonst mit deiner Nerverei in den Wahnsinn getrieben hättest.“

„Hoffen wir, dass du nie Kinder haben wirst“, konnte Sassa noch sagen, bevor die Übelkeit wieder zuschlug.

In Bukarest wechselte ich zuerst etwas Geld, dann stiegen wir in einen Zug und knapp vier Stunden später schließlich in einen Bus. Die Sonne war schon lange untergegangen, als wir an einem kleinen Bahnhofsgebäude ausstiegen und ich dem Vampiranrufer eine SMS schickte. Die Antwort kam sofort: Ich schicke den Shuttle-Service.

Während wir auf einer alten Holzbank vor dem Bahnhofsgebäude, von der ich erstmal den Schnee hatte herunterwischen müssen, warteten, schmiegte sich Sassa plötzlich mit einschmeichelndem Lächeln an mich.

„Was?“, fragte ich misstrauisch. Der Dämon hatte seit dem Fiasko im Flugzeug kein Wort mehr mit mir gesprochen.

„In diesem Land gibt es unglaubliche Sandstrände.“

„Und?“ Das hatte er also gemacht, als er am Bukarester Bahnhof eine halbe Stunde lang im Buchladen verschwunden war.

Sassa klimperte mit den Wimpern. „Weißt du, worauf ich Lust hätte? Urlaub am Meer. Lass uns doch diese ganze Vampirgeschichte vergessen und einfach –“

„Es sind minus fünf Grad.“

„Ja und? Ich friere selten. Du hättest die Bilder in diesem Reiseführer sehen sollen. Weißer Sand, türkisfarbenes Wasser und diese lustigen bunten, kreisförmigen Dinger – wozu sind die nochmal gut?“

„Sonnenschirme, damit man keinen Sonnenbrand bekommt.“

„Ja, genau, die möchte ich unbedingt mal sehen!“

„Im Winter gibt’s am Strand aber keine Sonnenschirme, weil es keine Menschen gibt, weil es zu kalt ist“, erklärte ich noch einmal mit, wie ich fand, engelsgleicher Geduld.

„Pfh, undankbarer geht’s wohl nicht!“, erzürnte sich Sassa. „Wie oft muss ich Madame denn noch das Leben retten, damit ich mir mal einen klitzekleinen Strandurlaub verdient habe, he? Sag schon? Drei Mal, vier Mal, fünf Mal? Das schaff ich sogar heute noch, wenn … äh, sag mal, hast du eine Kutsche bestellt?“

Im selben Moment sah ich sie ebenfalls. Ich fühlte mich um drei Wochen zurückversetzt. Die Kutsche, die jetzt vor mir hielt, sah jedoch bei weitem nicht so edel aus wie die, mit der Lucian uns vor drei Wochen zu seinem Anwesen in Frankreich hatte kutschieren lassen wollen und die dann beim Angriff durch den alten Bund vollkommen ausgebrannt war.

Dieses Exemplar wirkte alt und abgenutzt und so, als könnte man von Glück sagen, wenn sie noch fünf Meter schaffte, ohne auseinanderzubrechen.

„Sie müssen Amelie sein?“, fragte der Fahrer, ein dürrer Mann mit Schnurrbart, in holprigem Englisch. Er trug einen schwarzen Frack, darunter ein weißes Hemd, um dessen hohen Kragen eine weiße Fliege gebunden war.

Ich nickte.

„Steigen Sie ein, ich bringe Sie zum Hotel.“

„Hotel?“

„Ja, Sie haben doch mit meinem Chef am Telefon gesprochen. Das war der Hotelbesitzer.“

Eine Welle der Erleichterung überkam mich. Ein Hotel! Das bedeutete, dass da noch andere Menschen waren, dass es Telefone und Internet gab, vielleicht sogar eine Bus- oder Bahnverbindung.

Siehst du, sagte ich in Gedanken zu Sassa. Nichts, wovor wir Angst haben müssten.

Doch der Dämon verschränkte die kurzen Ärmchen vor dem Bauch. Das heißt, er versuchte es, doch schaffte es kaum, dass sich die Fingerchen berührten. „Ich fahre mit keiner Kutsche mehr. Das letzte Mal hat mir gereicht.“

Eine gute halbe Stunde lang fuhren wir durch die stockfinstere Nacht. Der Wald um uns herum wurde immer dichter, der Weg immer holpriger und die Wegbeleuchtung immer weniger. Meine Erleichterung wandelte sich in Besorgnis.

„Na, wer hat jetzt Schiss?“, fragte Sassa genüsslich, der am Ende natürlich doch eingestiegen war.

Irgendwo in der Nähe heulte ein Wolf. Sassa und ich tauschten einen erschrockenen Blick.

„Ich hab’s dir gesagt“, murmelte der Dämon und rollte sich auf meinem Schoss zusammen. „Ich hab’s dir ja gesagt.“

Die Kutsche hielt mit einem Ruck an. Schritte umrundeten die Kabine und öffneten die Tür. „So, Aussteigen, das Fräulein.“ Der Fahrer grinste mich an und mimte eine Verbeugung.

Ich schluckte, sammelte meine Sachen ein und stieg aus. Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Wohin ich auch sah, nur düsterer, nebliger Wald. Die einzige Lichtquelle stellte die altmodische Laterne dar, die am Kutschbock angebracht war. Wieder heulte irgendwo ein Wolf. „Ähm, Entschuldigung“, krächzte ich und versuchte mir die Angst, die mir den Rücken hinauf kroch, nicht anmerken zu lassen. „Ich dachte, Sie wollten mich zu einem Hotel bringen.“

Der Mann blickte mich spöttisch an.

Ich sprang erschrocken einen Schritt zurück, als er plötzlich den Arm ausstreckte. Sein Grinsen wurde noch breiter. Er zeigte zum vorderen Teil der Kutsche, wo die beiden braunen Pferde ihre Köpfe hin und her warfen.

Zögernd folgte ich dem Wink des Kutschers. Ging mit einigem Abstand an den schnaubenden Tieren vorbei und dann sah ich es. Ein riesiges, eisernes Tor. Genau da, wo der Weg, den wir gekommen waren, endete. Vom Tor aus erstreckte sich ein drei Meter hoher, solider Zaun nach rechts und links, so nah am Wald entlang, dass die Bäume mit dem Zaun verwachsen zu sein schienen.

„Amelie?“, hörte ich Sassas ängstliche Stimme.

Ich drehte mich um und sah gerade noch, wie der Kutscher auf seinen Bock stieg.

„Halt!“, rief ich, doch da hatte er die Kutsche bereits gewendet. Das Hufgetrappel entfernte sich und mit ihm unsere einzige Lichtquelle. „Verdammt!“, fluchte ich, doch meine Stimme zitterte. Ich krallte meine eiskalten Finger in das Tor, um in der Finsternis nicht vollkommen die Orientierung zu verlieren.

„Hast du das gehört?“, quiekte Sassa.

Hatte ich. Ein Rascheln im Gebüsch. „Du kannst doch im Dunkeln sehen. Schau nach!“, flüsterte ich.

„Hier gibt es Wölfe. Und Bären! Hab ich im Reiseführer gelesen.“

Ich tastete mich am Tor entlang. Irgendwie musste es sich doch öffnen lassen. Gab es denn keine Klinke?

Vor mir ging ein kleines Licht an. Das Tor schwang nach innen auf und ich fiel in den Schnee. Direkt vor ein Paar glänzender, schwarzer Lackschuhe.

„Aaaaaaaaah!“, kreischte Sassa.

Ich rappelte mich auf und wich so hektisch zurück, dass ich beinahe abermals stürzte.

„Oh, wie ich diesen Moment liebe!“, sagte der Mann, vor dessen Füßen ich eben noch gelegen hatte, mit britischem Akzent. Er trug einen bodenlangen, purpurnen Umhang, der die gleichfarbige Hose und das weiße Hemd darunter fast vollständig verdeckte. Das gewellte, blonde Haar umrahmte ein blasses, eher feminines aber trotzdem attraktives Gesicht von vielleicht fünfundzwanzig Jahren. In der einen weiß behandschuhten Hand hielt er eine Laterne, die andere streckte er mir entgegen.

Ich starrte ihn an.

Der Mann kicherte. „Ich liebe es!“, wiederholte er. „Diesen Moment, wenn die Gäste im Dunkeln herumstolpern und dann ich mit der Laterne …“ Er japste nach Luft. „Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich mir diesen kleinen Willkommensscherz mit dir erlaubt habe, obwohl du natürlich kein gewöhnlicher Gast in meinem Hotel bist. Nun … im Moment wäre das ja auch etwas unpassend, nicht wahr?“ Er seufzte. „Bringen wir die Sache schnell hinter uns, so dass ich bald wieder meinen Betrieb aufnehmen kann.“

Ich starrte noch immer. Und eine Erkenntnis, die mir angesichts des ersten Schrecks entgangen war, schlug mir nun umso heftiger entgegen. Der Mann vor mir war …

„Ein Vampir, ja, ganz toll, bravo“, meckerte Sassa. „Und du willst eine Zauberin sein? Lautloses Anschleichen, blasse Haut, obwohl dieses Land so unglaubliche Strände hat – selbst ein Stück Käsekuchen wüsste, dass das ein Vampir ist!“

Als ich noch immer nichts sagte, kam der Vampir auf mich zu und leuchtete mir mit der Laterne ins Gesicht. „Du bist doch die Zauberin Amelie, oder? Lucians Geliebte, Freundin, Herzensdame?“ Wieder kicherte er.

„Äh … ja.“ Endlich machte es Klick in meinem Gehirn. Wenn dieser Mann ein Vampir war und der am Telefon ebenfalls … „Du hast mich angerufen?“

Während er nickte, sandte ich meine Fähigkeiten aus, um die Macht des Vampirs einzuschätzen. Etwas, worin ich zugegebenermaßen nicht allzu gut war, denn meistens konnte ich lediglich Vergleiche ziehen. Der und der ist weniger mächtig als die und die und die und die ist mächtiger als ich. Aber gut, wenn man so coole und seltene telekinetische Kräfte hatte wie ich, hatte man eben auch Besseres zu tun als sich um so langweilige Kräfte wie das Machteinschätzen zu kümmern. Aber was ich über den Vampir vor mir in Erfahrung bringen konnte, reichte. Er schien ziemlich mächtig zu sein, mächtiger als ich, mächtiger als Marcelle, aber wenn mich nicht alles täuschte, nicht annähernd so mächtig wie Lucian.

Wieder streckte er mir die Hand hin, doch anstatt darauf zu warten, dass ich sie nahm, griff er diesmal direkt nach meiner und schüttelte sie. „Sehr erfreut, das Fräulein. Merlin ist mein Name. Willkommen auf Schloss Trajan, oder passender: Willkommen in meinem Spukhotel. Oh, du wirst eine Menge Spaß hier haben. Natürlich erst, wenn die leidige Pflicht erledigt ist. Also gut, es wird wirklich Zeit. Nichts wie rein in die Höhle des Löwen.“ Er zwinkerte mir verschwörerisch zu, hakte mich unter und zog mich einen schmalen Pfad entlang, der wieder in einen Wald führte.

„Meine Tasche!“, rief ich und wollte mich von Merlin losreißen, doch der Vampir hielt mich eisern fest.

„Ich schicke einen Angestellten, um sie abzuholen. Bis dahin passiert ihr schon nichts. Nichts als Vampire auf diesem Grundstück und was sollten die schon mit dem Krempel einer Zauberin anfangen?“ Er lachte. „Abgesehen davon habe ich nur wenige, aber höchst vertrauenswürdige Angestellte für diese Sache hierbehalten. Und die anderen Menschen würden niemals etwas tun, das ihre Vampire gegen sie aufbringen könnte, du verstehst?“

„Nicht wirklich“, gab ich unwirsch zurück. Aber es gab im Moment tatsächlich Wichtigeres als mein Gepäck. „Lucian ist also hier? In diesem … Spukhotel?“

„Aber sicher, wieso hätte ich dich sonst herbitten sollen? Nun, da ich dich kenne, könnte ich mir zwar vorstellen, dass deine Anwesenheit auch ohne triftigen Grund überaus erfreulich sein könnte, aber das wusste ich bis vor wenigen Minuten schließlich noch nicht, oder?“

Das kleine Waldstück, das wir soeben betreten hatten, lichtete sich bereits wieder. Der Schein von Merlins Laterne fiel auf einen Grabstein zu unserer Rechten. Und auf einen weiteren und …

„Ist das ein echter Friedhof?“

„Betriebsgeheimnis.“ Merlin lächelte geheimnisvoll.

Wir liefen an den Gräberreihen vorbei. Bis auf den gelegentlichen Ruf eines Raben und meine eigenen knirschenden Schritte auf dem Schnee war es vollkommen still. Dann setzte das Wolfsgeheul wieder ein. Ich zuckte zusammen und klammerte mich instinktiv an Merlins Arm. „’tschuldigung“, nuschelte ich und ließ den Vampir los. Das war ja sowas von peinlich.

Merlin klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter. „Keine Sorge. Ab und zu hört man hier zwar auch einen echten Wolf heulen, aber das eben kam aus den Lautsprechern am Schloss. Ich weiß, ich hätte es abstellen sollen, als ich den Hotelbetrieb für diese Sache eingestellt habe, aber ich bin so daran gewöhnt, dass ich es nicht missen konnte.“

Wir erreichten das Ende des Friedhofs, legten eine kleine Strecke durch ein erneutes Waldstück zurück und plötzlich erhob sich die Silhouette einer Burg vor uns. Sie war von außen spärlich von einigen Laternen erleuchtet, gerade genug, um eine besonders unheimliche Wirkung zu erzielen. Sie war nicht riesig, sondern eher kompakt, mit nicht mehr als drei oder vier Stockwerken, und lag erhöht. Die Mauern waren aus altem, bräunlichem Stein, auf den roten Türmchen und Dächerchen lag eine weiße Schneeschicht.

Der Weg stieg an und ich musste aufpassen, auf dem glatten Boden nicht auszurutschen. Dann kamen wir an eine steinerne Treppe. „Ist Lucian wegen dieser Versammlung hier?“, fragte ich keuchend, während ich die Treppe emporstieg. „Geht es dabei um das Bündnis?“ Dann fiel mir noch eine Frage ein. „Du hast am Telefon gesagt, du seist Lucians Bruder. Meinst du damit aus der Zeit vorher? Also, bevor ihr zu Vampiren wurdet?“

Merlin gluckste. „Wohl kaum.“

Ich wartete, doch mehr kam nicht. „Was meinst du dann?“

Wir erreichten den Eingang der Burg, ein großes Holztor. Merlin klopfte dagegen und kurz darauf wurde es von innen geöffnet. Ein Mann, der ganz genauso gekleidet war wie der Kutscher, verbeugte sich.

Ich folgte Merlin in das ebenfalls nur von einigen Laternen beleuchtete, im Dämmerlicht liegende Innere. Hinter mir fiel das Tor knarzend zu.

Ich blickte nach oben, doch durch den eingeschränkten Schein der Lampen konnte ich die sehr hohe Decke nur ungenau erkennen. Sie erinnerte mehr an ein Höhlengewölbe als an ein Gebäude. Und da, ganz oben, waren das …?

„Fledermäuse“, sagte Merlin, der meinem Blick gefolgt war. „Gute Idee, machen immer mächtig Eindruck auf unsere Gäste, aber dieser Dreck, den sie hinterlassen … dafür musste ich einige zusätzliche Angestellte einstellen.“

Der Eingangsbereich war mit dickem, rotem Teppich ausgelegt. Trotzdem knarrte der Fußboden bei jedem Schritt. „Wo ist Lucian?“ Der Gedanke, dass er jeden Moment vor mir stehen könnte, ließ mein Herz schneller schlagen. Es war eine Woche her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sieben Tage ohne in die blauen Augen zu schauen, ohne seine Berührung. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor.

„Keine Sorgen, wir befinden uns auf direktem Weg zu deinem Herzbuben.“ Merlin lachte leise und bog in einen langen, dunklen Korridor ab.

„A-A-Amelie“, stammelte Sassa. Er zeigte auf einen geöffneten Sarg, der mitten im Korridor stand. Ein weißes Skelett lag darin.

Ich schluckte und machte einen großen Bogen darum. „Ist das echt?“, fragte ich, doch kannte die Antwort schon, bevor Merlin sie mir gab.

„Betriebsgeheimnis.“

Der Korridor zog sich endlos hin und mit jedem Schritt schlug mein Herz schneller. Gleich würde ich Lucian wiedersehen, konnte ihn endlich fragen, was hier los war. Wieso er sich so seltsam verhalten hatte. Und dann … würde sicher alles wieder gut werden.

„Oder aber er fragt dich, was zum Teufel du hier machst, was ich übrigens auch tue“, meinte Sassa. „Wo er dir doch ausdrücklich gesagt hat, dass du ihm Zeit geben und ihm vertrauen sollst.“

„Da wären wir“, sagte Merlin und blieb vor einer breiten Doppeltür stehen. „Ich würde sagen, du kommst genau richtig. Lucian wird eine Rede halten. Zum Bündnis.“ Er öffnete lautlos die linke Türhälfte. Dahinter kam ein großer, achteckiger Saal zum Vorschein, in dessen Wände riesige Fenster eingelassen waren. Einige Anwesende in Türnähe drehten sich bei unserem Eintreten zu uns um, doch schienen nichts daran zu finden, dass ein Vampir einen Menschen mitbrachte. Im nächsten Moment wurde mir auch klar, weshalb. Nicht alle der fünfzig bis sechzig Anwesenden, die sich teils stehend, teils sitzend um eine Art Podium geschart hatten, waren Vampire. Mir am nächsten stand eine große, blonde Frau in einem aufwendigen Samtkleid, daneben eine dunkelhaarige, zierliche Frau in einer ähnlichen Aufmachung. Mit meinen Fähigkeiten erfasste ich in einem Sekundenbruchteil, dass es sich bei der blonden Frau um einen Vampir handelte, bei der Dunkelhaarigen um einen Menschen. Ich ließ meinen Blick weiter wandern und obwohl ich keine Zeit hatte, alle Anwesenden einer Machteinschätzung zu unterziehen, fiel mir doch eines auf: Pärchen wie das nahe der Tür, bei dem beide ähnlich gekleidet waren, es sich jedoch um einen Vampir und einen Menschen handelte, gab es viele, in allen Geschlechterkombinationen. Ich wollte gerade Merlin danach fragen, doch in diesem Moment betrat jemand das runde Podium in der Mitte des Saals. Alle Gespräche verstummten.

Mein Mund wurde trocken und mein Herz schlug mit einem Mal doppelt so schnell. Das erste, was mir an Lucian auffiel, war seine veränderte Kleidung. Seine Beine steckten in einer ausgewaschenen blauen Jeans und darüber trug er ein schwarzes Shirt und eine graue, offene Jacke, die bis auf den schwarzen Gürtel reichte. Die Ärmel der Shirt-Jacken-Kombi hatte er bis kurz vor die Ellenbogen hochgeschoben. Jedes einzelne Kleidungsstück saß so perfekt, dass das Outfit in Kombination mit dem tiefschwarzen, zum Zopf gebundenen Haar und den nachtblauen Augen ein Bild zum Niederknien abgab. Wer hätte ahnen können, dass ihm normale Kleidung so gut stand! Dagegen trugen die meisten anderen Männer wie Merlin bodenlange Umhänge in dunklen Farben, die Frauen aufwendige Kleider. Ob genau das vielleicht der Grund war, wieso Lucian sich heute wie das Covermodel einer Modezeitschrift gekleidet hatte? Wo er doch noch vor drei Wochen genüsslich seinen mindestens hundert Jahre alten Mantel auf diversen europäischen Bahnhöfen zur Schau gestellt und die Aufmerksamkeit der Normalbevölkerung auf sich gezogen hatte.

Lucian wandte mir das Profil zu. Seine aufmerksamen Augen musterten die Menge, das ebenmäßige Gesicht verriet wie üblich nicht die geringste Gefühlsregung.

So sehr mich sein Anblick gefangen nahm, so sehr ich einfach hier stehen und ihn ansehen wollte, so sehr wollte ich ihn auch packen und schütteln und fragen, was zur Hölle der ganze Aufstand sollte. Hätte er mir nicht einfach sagen können, dass er unser Treffen absagen musste, weil eine Vampirversammlung anstand? Wieso schockte er Serena, Chris und mich mit der Aussage, er wolle mit dem Bündnis nichts zu tun haben, wenn es doch laut Merlin hierbei genau darum ging! Ich wäre doch die erste gewesen, die dafür Verständnis gehabt hätte, ich wäre liebend gerne mitgekommen – zumal ich ja nicht der einzige Mensch hier war – wenn Lucian mich nur gefragt hätte. Trotz meiner Wut über die unnötigen Sorgen, die ich mir gemacht hatte, überwog die Erleichterung. Alles war in Ordnung. Lucian ging es gut, Lucian war noch immer für das Bündnis, hielt vor den anderen Vampiren sogar eine Rede.

Seine tiefe, samtweiche Stimme füllte den Saal: „Ich wurde gebeten, meine Einschätzung zum Bündnis, welches die Zauberer mit uns einzugehen planen, kundzutun, da ich meinerseits derjenige war, der euch von ihrem Vorhaben in Kenntnis setzte.“ Bildete ich es mir nur ein, oder klang Lucians Stimme wirklich seltsam distanziert, beinahe schon gelangweilt?

Ich bahnte mir unauffällig einen Weg durch den Saal, um seine Worte besser verstehen zu können.

In diesem Moment fuhr Lucian fort, sagte nur einen Satz, doch der ließ mich erstarren. „Ich kann dieses Bündnis, wie die Zauberer es nennen, nicht unterstützen.“

Ich starrte Lucian mit offenem Mund an. Nur am Rande nahm ich wahr, dass im Saal auf einmal getuschelt wurde.

Lucian ignorierte die Unruhe, die seine Worte ausgelöst hatten und fuhr fort: „Was den Zauberern vorschwebt, ist eine Vereinigung aus ihres- und unseresgleichen zum Schutz gegen Bedrohungen, wie der alte Bund sie darstellte. Ohne Frage ein lobenswertes Vorhaben. Doch kann dieses Bündnis mit Zauberern überhaupt von Erfolg gekrönt sein?“

Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich, verstrickten sich zu einem unlösbaren Chaos. Ich schob mich durch die Menge, weniger vorsichtig diesmal, genau in die Richtung, in die Lucian blickte. Ich wollte ihm in die Augen sehen können, während er das Bündnis verriet, für das unsere Beziehung stand.

„Ein Bündnis mit Menschen, die keinerlei Vorstellung von unseresgleichen haben, von unseren Traditionen“, fuhr Lucian fort. „Sollen wir wirklich unsere Zeit damit verschwenden, ihnen unsere Sichtweisen zu erklären, die sich in hunderten von Jahren an Lebenserfahrung verfestigt haben? Zauberer sind …“ In diesem Moment entdeckte er mich.

Wieder ging das Gemurmel los, doch ich hörte es kaum. Sah nur Lucian, der seinerseits mich anstarrte, das Gesicht ausnahmsweise nicht so ausdruckslos wie sonst.

Meine Stimme zitterte vor Wut, als ich laut sagte: „Ja? Was genau ist so schlimm an uns Zauberern? Das würde mich echt interessieren.“