Leseprobe Um der Liebe Willen

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Um der Liebe willen

Mein Herz rast vom vielen Laufen. Ich glaube nicht, dass ich verfolgt werde, was mich stutzig macht.

Was war das für ein krasser Typ, und warum konnte ich seine Stimme in meinem Kopf hören? Ich will endlich wissen, was hier los ist!

Angst und Brechreiz kriechen mir die Kehle rauf. Hoffentlich geht es Mayleen und den anderen Mitschülern gut.

Verdammt, dass ich mein Smartphone nicht bei mir habe. Verdammt! Verdammt! Sonst wüsste ich, was weiter im Klassenraum geschehen ist.

Ich fasse den Entschluss, mich meinem Zuhause vom Wald her anzupirschen. Wenn die Luft rein ist, werde ich den Reserveschlüssel unter der Terrassenplatte hervorholen. Duschen, bequeme Jeans, T-Shirt und Sneakers anziehen, was essen, sämtliches Geld zusammenkratzen und den Reiserucksack packen.

Und danach? Was dann? Wohin?

Resigniert reibe ich mir den Hinterkopf. Am besten quäle ich mich nicht mit der Frage, lieber alles der Reihe nach organisieren.

Als ich endlich im Wald, nahe meiner Mietwohnung, angekommen bin, gönne ich mir eine Verschnaufpause auf einem Baumstumpf. Der Schweiß rinnt mir über den Körper, und ich versuche, meine Atmung zu normalisieren. Dabei lasse ich die letzten Tage Revue passieren. Meine Träume. Die Visionen und die plötzlich real auftauchenden Kreaturen. Mein Blick durch das Weinregal, wo ich meinem Traumprinzen direkt in die Augen gesehen habe. Unser Wahnsinnskuss. Bei diesem Gedanken muss ich mir über die Lippen streichen. Diesen Kuss habe ich mir bestimmt nicht eingebildet. Daraufhin fällt mir diese sogenannte Lady ein, die eher einer durchgeknallten Irren gleicht. Meine plötzlichen Fähigkeiten, zu kämpfen wie eine Löwin oder vielmehr wie eine jahrelang trainierte Kriegerin, lassen mein Hirn auch kräftig rattern. Dann ist da noch diese magisch fliegende Gondel mit dem finsteren Prinzen, oder was auch immer er ist, all das ist wahr und wirklich passiert.

Diese Erkenntnis müsste mich mehr als schocken und in den Wahnsinn treiben, aber ich versuche es lieber zu verstehen, als mich verrückt zu machen. Wenn ich jetzt überschnappe, hilft mir das auch nicht weiter. Wollten die Träume mich eventuell auf etwas vorbereiten? Es gibt also noch eine andere Welt dort draußen, daran besteht nun kein Zweifel mehr.

Na die NASA würde sich freuen.

Und früher oder später werde ich bestimmt all diese Rätsel verstehen. Besser früher als zu spät, damit ich endlich erfahre, welche Rolle ich in diesem ganzen Durcheinander spiele und ob ich da heil wieder rauskomme.

Mein Blick erspäht den sauberen Fluss, und ich verspüre den Wunsch, mich mit dem herrlichen Wasser zu erfrischen. Vorsichtig gehe ich zum Flussbett hinab, streife mir die Sandalen ab, ein Wunder und welch ein Glück, dass ich damit kämpfen und so schnell laufen konnte, und gehe in das kühle Nass. Ich lasse mir die Schuhe an die Beine baumeln und genieße ein wenig die Normalität. Ich schöpfe mir das Wasser ins Gesicht, und es rinnt mir kühl den Hals hinab zu den Brüsten. Mein Blick fällt auf die blutigen Kratzer und die Streifwunde des Wurfsterns. Abwechselnd wasche ich mir beide Arme und kühle die oberflächlichen Wunden. Viel zu laut trommelt mein Herz. Ich zwinge mich, Ruhe zu bewahren. Atme tief ein und aus, bis ich gemächlich durch den Fluss Richtung Wohnung tapsen kann.

Mit einem Mal fällt mir in einiger Entfernung etwas Blaues ins Auge.

Ist das ein blauer Stoff, der da flattert?

Ich schirme mir die Augen vor der Sonne ab und sehe genauer zu den Birken, Ebereschen und Rotbuchen. Mein Herz macht einen gewaltigen Satz, und ein prickelndes Kribbeln schießt durch meinen Bauch bis in meinen … ähm … Slip. Verräterischer Körper, für so etwas hab ich nun wirklich keine Zeit. Ich eile den kleinen Hang am Ufer hinauf und blicke mich suchend um. Wieder dieses Blitzgefühl durch mein Herz, als ich den blauen Stoff erblicke.

Zwischen Liguster und Geißblatt liegt ein großer Mann unter den Blättern auf dem Waldboden. Sein blauer Umhang hat sich an den Sträuchern verfangen und flattert sachte hin und her. Anstatt sofort zu ihm zu rennen, bleibe ich stehen, um meine aufkeimende Angst niederzukämpfen. Angst vor der Echtheit dieses Mannes. Vor den vielen Fragen und Antworten. Bammel vor meinen gewaltigen Emotionen, die auf mich zustürmen. Ich habe die meiste Zeit geglaubt, in einen Mann aus meinen Träumen verliebt zu sein, doch jetzt schlafe ich weder, noch bin ich betrunken, sondern hellwach, und er liegt direkt vor mir, scheinbar bewusstlos.

Reiß dich zusammen und hilf ihm, ermahne ich mich selbst.

Ich fasse mir ans Herz, schließe die Augen, atme tief durch und gehe vorsichtig auf ihn zu. Sobald meine Hand ihn berührt, ist es, als würden meine Gefühle Funken schlagen.

Wusch.

Eine neue Vision. Er lacht und sieht mich herausfordernd an. Ich springe über eine Art Parkour, der aus Felsen, ausrangierten Pferdekarren und zerbröckelten Mauerresten besteht. Wieder trage ich die Kriegsbekleidung mit dem Umhang und bin letztendlich schneller am Ziel als er. Sein Blick strahlt Bewunderung aus. Die Sehnsucht nach ihm zerquetscht mir das Herz. Offenbar sieht er mir die Emotionen an, und sein Mienenspiel wird ernst. Er versucht einen Seufzer zu unterdrücken, was ihm misslingt, und schaut zu Boden. Es ist, als würde er einen inneren Kampf mit sich selbst ausfechten. Bevor ich erfahre, was weiter geschieht, taucht der Wald wieder vor mir auf.

Ich streichele ihm das lange Haar aus dem Gesicht und sehe eine blutige Wunde an der Schläfe. Ohne nachzudenken, ziehe ich mir die Bluse aus – Gott sei Dank habe ich darunter noch ein Spaghettiträgershirt an –, tupfe ihm das Blut ab und laufe zum Fluss zurück, um das Kleidungsstück mit Wasser vollsaugen zu lassen. Mit der getränkten Bluse kehre ich zu ihm zurück und kühle seine Stirn. Ich muss seufzen.

Wie wunderschön er doch ist. Jedes Mal, wenn ich ihn berühre, knistert es gewaltig, und dieses Wahnsinnsgefühl jagt durch meinen ganzen Körper wie bei einer irren Achterbahnfahrt. Ich kann gar nicht aufhören, ihm zärtlich über das Gesicht zu streicheln. Er sieht aus, als würde er nur schlafen. Das bringt mich in die Wirklichkeit zurück:

Mann! ER. Ist. Verletzt. Und braucht Hilfe anstatt deiner Fummelei und Gafferei, also beweg gefälligst deinen Arsch und tu was!

Da sich mein Gewissen eh nicht beruhigen lässt, versuche ich die Schimpferei auszublenden und überlege, was zu tun ist. Einen Notarzt werde ich wohl kaum rufen können. Zu viele unbequeme Fragen: Warum er keine Krankenkassenkarte hat, keinen Ausweis und warum er generell nicht existent ist.

Er ist schlicht und einfach nicht von dieser Welt, Herr Doktor.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, mein Hirn rattert. Was tu ich nun? Am besten flitze ich nach Hause und frage meinen Nachbarn, ob er mir behilflich sein kann.

Gesagt, getan, ich renne schnell heim, schaue, ob vor meiner Tür keine Orks oder Ähnliches herumstehen, düse in den Garten, hole meine Schlüssel und klingle bei dem Nachbarn, der über mir wohnt. Mark ist achtundzwanzig und durchtrainiert, er wird meinen real gewordenen Sexgott bestimmt nach Hause schleppen können. Mark ist zum Glück zu Hause und kommt zur Tür. Ich schildere ihm, dass ein Kumpel von mir eine Theaterrolle im Wald geübt und sich dabei verletzt hat, und frage, und ob wir ihn zusammen in meine Wohnung tragen können. Wie nicht anders zu erwarten, folgt mir Mark sofort in den Wald. Es ist nicht einfach, doch mit vereinten Kräften schaffen wir es, Lorius, wenn er denn wirklich so heißt, in meine Wohnung zu hieven. Behutsam legen wir ihn auf mein Bett, und Mark verabschiedet sich ohne große Worte. Das ist eben Mark, keine unangenehmen Fragen, sondern nur Taten. Im Schlafzimmer wühle ich suchend durch die Kommode, um einen der älteren Kfz-Verbandskasten zu finden, die man so mit der Zeit anhäuft. Meiner Streifwunde, die mir der Wurfstern zufügte, verpasse ich ein Pflaster. Anschließend versuche ich seine Wunde behutsam zu reinigen und zu versorgen. Die Frage ist, hat er wohl noch mehr Verletzungen? Seine Hände haben blutige Kratzer, zum Glück nichts Ernstes. Da sein Körper in diesem fürchterlich zugeschnürten Lederkampfanzug steckt, werde ich wohl kaum andere Verletzungen finden, ohne ihn daraus auszupacken. Als Erstes binde ich mir die langen Haare zusammen und schalte das Radio ein, um mehr Schwung zu kriegen, außerdem ertrage ich diese Stille nicht. Dabei streife ich mir die vorwitzigen Ponysträhnen aus dem Gesicht und ertappe mich dabei, wie ich ihn betrachte.

Noch immer liegt er still und ruhig da. Wenn er nicht atmen würde, könnte man meinen, er wäre tot. Vielleicht liegt er ja in einem Zauberschlaf?

Jetzt drehst du wirklich durch, ätzt mich meine innere Stimme an. Ich ignoriere sie.

Zunächst schnüre ich seine Stiefel auf, ziehe sie von seinen Füßen und werfe sie achtlos in eine Zimmerecke. Dann suche ich nach Verschlüssen an seiner Lederrüstung, zerre hier und da, wovon er eigentlich schon wach werden müsste. Ich beginne zu schimpfen: „Wie zum Teufel bekommt man diese verdammten Star-Wars-Klamotten aus?!“

Nach etwa sechs weiteren Radiosongs sowie Werbespots und den Nachrichten gelingt es mir, ihn von all dem schweren Leder zu befreien. Viele Prellungen kommen zum Vorschein, aber zum Glück kein Blut, trotzdem möchte ich mir eine Schale mit Seife, warmem Wasser und einem Waschlappen besorgen.

Ich eile durchs Wohnzimmer, und mein Blick fällt auf das Festnetztelefon, das heftig am Blinken ist. Es sind mehrere Nachrichten auf dem AB, die ich schnell abspielen lasse. Als Erstes Maylis’ völlig aufgeregte Stimme, die mir entgegenschreit: „Süße! Das war alles unglaublich! Wo bist du?! Ich hoffe, es geht dir gut?! Hab deine Sachen zusammengepackt. Nachdem du wie Catwoman aus dem Fenster verschwunden bist, sind die Typen auch abgezogen. Du schuldest mir eine Menge Erklärungen, seit wann du Wonder Woman bist.“

Die zweite Nachricht ist von meiner Mutter, ob alles okay sei, da sie komische Dinge über Marktland und meine Berufsschule gehört habe. Die dritte und vierte Nachricht stammen wieder von Mayli und unterscheiden sich kaum von der ersten. Ich nehme mir vor, sie alle später anzurufen, jetzt würde ich zu viel Zeit verlieren. Mit dem warmen Wasser kehre ich ins Schlafzimmer zurück, um diesen göttlichen Männerkörper zu reinigen. Bis auf mittelalterliche Shorts habe ich ihn entblößt, er wird es mir sicherlich verzeihen. Seine Haut ist warm und straff, ich habe selten einen so durchtrainierten Körper gesehen. Mit Mühe halte ich meine Schwärmerei im Zaum, um mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Plötzlich schießt mir ein wichtiger Gedanke durch den Kopf: Was ist, wenn diese Fantasy-Kreaturen herausfinden, wo ich wohne, und hier eindringen? Lorius, wenn er denn so heißt, wäre ihnen schutzlos ausgeliefert, vor allem diesem schwarzen Prinzen. Und der Kampflady.

Dieses Mal gebe ich meiner inneren Nervensäge recht.

Ein näher kommendes Geräusch lässt mich zusammenzucken. Angestrengt lausche ich. Autogeräusche? Der Waschlappen plumpst in die Schale, und ich laufe zum Küchenfenster. Mein Puki. Das kann nur Mayli sein. Kacke. Aber wiederum auch nicht. Cool, dass mein Auto wieder da ist. Hin- und hergerissen, was ich preisgeben kann, blicke ich durch meine Wohnung. Ich sollte ihr öffnen, bevor sie klingelt.

Mayli holt vor Schreck tief Luft, als ich die Tür aufreiße. Ihre Augen wandern über meinen Körper. „Du hast ja nicht mal einen blauen Fleck abbekommen.“

Ich streiche über die Kratzer auf meinen Armen. „Na ja, dafür waren die Äste nicht gerade sanft zu mir.“

Aufgeregt plappert Mayli weiter: „Ich bin ganz viel im Zickzack gefahren. Es sah nicht so aus, als würde mich jemand verfolgen.“

Ich lege mir den Zeigefinger auf die Lippen, um ihr zu bedeuten, leiser zu sein, und ziehe sie herein. In kurzen und knappen Worten schildere ich ihr die letzten Ereignisse. Danach blickt sie stumm Richtung Schlafzimmer, bis sie zu stottern anfängt: „Und … dieser Wahnsinnsgott, äh … -typ, ist jetzt da drin? Auf deinem Bett?“

Ich nicke nur. Sie pfeift durch die Zähne und schüttelt kaum merklich den Kopf. Anstatt wie eine neugierige Irre in mein Schlafzimmer zu stürmen, setzt sie sich aufs Sofa, zerrt aus meiner Schultasche eine hübsche schwarz-weiße Mappe mit Blumenmotiv heraus, die mir gar nicht gehört, und reicht sie mir. Ich nehme sie entgegen und beginne darin zu blättern.

„Wow, du hast viele weitere Zeichnungen gemacht. Die sehen super aus!“ Ich bin begeistert.

Sie geht nicht darauf ein, sondern spricht erneut über die Schule: „Die Polizei war da und hat Fragen gestellt.“

Ich hebe betrübt den Blick. „Dann wundere ich mich, warum die noch nicht hier waren.“

Mayli lächelt. „Ich habe allen gedroht, bloß nichts von dir zu sagen, bevor du die Chance bekommen hast, uns die Wahrheit zu sagen. Und da Frau Altenkrüger nach ihrem Flug durchs Klassenzimmer eh nichts mehr gecheckt hat, konnte sie überhaupt nichts berichten. Wir haben lediglich von diesen Monstern erzählt, was die Polizei auch säuberlich protokollierte.“

Ich kann nicht anders und muss Mayli auf das Heftigste umarmen. Sie zieht mich sanft auf die Couch. „Also, Lara Croft, woher hast du plötzlich diese Power?“

Verlegen starre ich auf meine Handflächen, bevor ich ihr in die Augen sehe. „Ich weiß es nicht. Es fließt auf einmal durch mich hindurch, als wäre es schon immer da gewesen, als hätte diese Kraft nur geruht und wäre von was auch immer geweckt worden.“ Kaum zu glauben, aber Mayli scheint sich mit der kurzen Antwort fürs Erste zu begnügen und steht auf.

„Okay, pass auf, ich werde lieber gehen, damit wir alle ein bisschen zur Ruhe kommen. Außerdem will ich dir deine erste und richtige Begegnung mit ihm, wenn er aufwacht, nicht vermasseln. Halt mich auf dem Laufenden. Handy haste ja wieder.“

Verblüfft erhebe ich mich ebenfalls. „Danke für alles. Du bist echt einzigartig, und ich liebe dich, weißt du das eigentlich?“

Wir umarmen uns in tiefer Verbundenheit. „Aber wie kommst du nach Haus?“

„Na mit dem Bus.“

Ich runzle die Stirn. „Du hasst Busfahren.“

Mayli wendet sich zur Tür. „Für dich bringe ich jedes Opfer.“ Wir lächeln uns verschmitzt an.

Mein Blick weist zur Schlafzimmertür. „Willst du ihn mal kurz sehen?“

Mayli schnappt nach Luft. „Darf ich denn?“

„Sonst glaubst du es mir ja nie“, beharre ich.

Wir schleichen zum Schlafzimmer, und ich öffne die Tür einen Spalt breit. Maylis Blick fällt auf Lorius’ atemberaubend schönes Gesicht. Wie vom Blitz getroffen springt sie zurück und hält sich beide Hände vor den Mund, bevor ihr womöglich ein Schrei der Entzückung entgleitet. Schnell schließe ich die Tür wieder und schubse Mayli Richtung Ausgang. Die fächelt sich übertrieben Luft zu. „Du hast vielleicht ein Glück. Frag ihn bei der nächstbesten Gelegenheit, ob er einen Bruder hat, ja?“

Ein wenig wehmütig blicke ich Mayleen nach, während sie in ihre Normalität zurückkehrt. Dann fällt mir auf, wie hungrig ich bin, wie dringend ich den Gang zur Toilette tätigen müsste, das Handy sollte geladen werden, und duschen wollte ich auch noch. Was ist mit meiner Schicht morgen? Wann wird mein Traummann aufwachen? Diese vielen Fragen frustrieren mich, also werde ich lieber eins nach dem anderen erledigen.

Toilette. Erledigt. Ab zum Kühlschrank, Joghurt, Müsliriegel, Schokoriegel – für die Nerven – und Apfel essen, Wasser trinken. Erledigt. Handy laden. Gebongt. Endlich finde ich Zeit für eine herrlich heiße Dusche, denn ich bin und bleibe ein Warmduscher. Da ich ohne Musik nicht leben kann, schalte ich auch hier das Radio an, werfe meine durchgeschwitzten Klamotten in die Wäschetonne und kletter in die Duschkabine.

Ich stemme die Hände an die altmodischen grünen Fliesen, schließe die Augen und lasse ein wenig den Kopf hängen. Das heiße Wasser läuft mir wohltuend über den Nacken. Ich lasse mir viel Zeit mit dem Einschäumen meiner Haare und Haut, da ich diese Einsamkeit für meinen Seelenfrieden benötige. Trotzdem kann mein Unterbewusstsein es nicht lassen und stellt sich vor, wie kräftige Männerhände meine Haut mit dem Duschgel liebkosen und durch mein Haar fahren. Sehnsuchtsvoll muss ich seufzen. Das ganze Bad ist erfüllt von Wasserdunst. Müde beende ich meine Dusche, um lieber mal einen Blick auf meinen Gast zu werfen. Ich klettere aus der Duschkabine, schlinge mir ein Saunatuch um den Körper, öffne das Badezimmerfenster, schalte die Musik aus und tapse in den Flur Richtung Wohnzimmer. Vor lauter Schreck bleibe ich mitten in der Tür stehen, und beinahe wäre mir mein Tuch zu den Füßen gerutscht.

Er ist wach.

Seine rechte Hand streichelt über mein Porträt, das an der Wand hängt. Die Wasserperlen kitzeln mich, als sie von meinem Hals zu meinen Brüsten unter dem Handtuch rinnen, was mich an meine verletzliche Nacktheit erinnert. Er löst den Blick von dem Bild und schaut schließlich mein Tuch an. Sein langes Haar liegt verführerisch über seinen starken, nackten Schultern. Sein Blick wandert an meinem Körper höher, bis er mir tief in die Augen sieht.

Meine Brüste heben und senken sich so schnell vor Aufregung, dass mein Handtuch ein wenig tiefer rutscht und die Hälfte meiner Brustwarzen freigibt. Ich glaube, mein Gesicht zeigt jede Art von Gefühlen. Freude, Verwirrung, Lust, Unsicherheit, Verliebtheit, Angst und vieles mehr. Ich erstarre zur Statue, als er mit undurchschaubarer Miene auf mich zukommt. Mit seiner Größe von etwa eins neunzig überragt er mich so, dass mein Kopf in den Nacken kippt, um weiter in sein liebliches Gesicht zu schauen. Langsam hebt er seine Hand und schmiegt sie an meine Wange. Ich lege das Gewicht meines Kopfes in seine Handfläche und kuschle meine Wange an seine warme Haut. Der Moment ist zu schön, um wahr zu sein, daher spricht niemand ein Wort. Auch in seiner Miene spiegelt sich nun ein Wechselbad der Gefühle wider, und mein Blick liebkost sein Antlitz.

Schließlich hebt er seine andere Hand, um mir die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen und meinen Mund an seine Lippen zu führen. Wie in Zeitlupe schließe ich die Augen und fühle, wie seine Lippen sanft die meinen streifen, um in einem vollkommenen Kuss zu verschmelzen. Dieser Kuss ist so intensiv, dass man meinen könnte, meine Lippen wären eine verbotene Frucht für ihn, die er schon immer probieren wollte.

Gebannt vernehme ich seine tiefe und unvergleichbare Stimme, und er legt seine Stirn an die meine. „Ich habe so unendlich lange auf dich gewartet.“

Na, und ich erst!

Ich bringe keinen Ton heraus. Lieber genieße ich das Hier und Jetzt und dass er real ist. Alles andere ist unwichtig. Dabei vergesse ich, mein Tuch festzuhalten, und es rutscht zu Boden.

Oh je, jetzt bin ich wirklich nackt.

Ohne Vorwarnung hebt er mich auf seine muskulösen Arme und trägt mich ins Schlafzimmer auf mein Bett.

Oh mein Gott! Werden wir es jetzt tatsächlich tun? Ich meine … Hilfe, wir kennen uns doch gar nicht. Wer bist du eigentlich … wirklich? Wo kommst du her?

Wieder ein sanfter Kuss, dieses Mal auf meine Schulter, was ein Kribbeln durch meinen gesamten Körper jagt.

Okay!

Die Sonne versinkt hinter den Baumwipfeln. Sanft nimmt er mich in seine Arme, und wir schauen uns den Sonnenuntergang an. Anstatt mich zu verführen und über mich herzufallen, streift er die Decke über meine Blöße, streichelt sanft mein Haar, mein Gesicht, liebkost meinen Rücken mit den Fingerspitzen und hebt mein Kinn, um mich anzusehen. Erst jetzt fällt mir auf, dass seine Schläfe völlig unversehrt ist. Die Verletzung ist weg, auch die Kratzer an seinen Händen. Die Prellungen.

Oha! Keine einzige Wunde mehr zu sehen. Auch keine Narben.

Seine Augen verfolgen meine Blicke, und er wagt ein schüchternes Lächeln. „Ist alles verheilt. Danke, dass du mich gefunden hast.“

Abermillionen Fragen gehen mir durch den Kopf. Wo soll ich bloß anfangen?

„Wieso sprichst du meine Sprache?“

„Ich verstehe weit mehr als dreihundert Sprachen.“

Das macht mich sprachlos. 

Er schaut mich an, als könnte er noch immer nicht glauben, dass ich echt bin. „Nailah“, flüstert er mir zu, doch ich stemme die Hände gegen seine Brust.

„Mein Name ist Jaislyn.“

Wieder dieses Lächeln zum Dahinschmelzen.

„In dieser Welt, aber in meiner Welt warst du Nailah.“

Ich warte verständnislos auf weitere Erklärungen, und da fällt mir Mayleens Mappe ein, die ich mir, meiner Nacktheit zum Trotz, aus dem Wohnzimmer hole. Schweigend zeige ich ihm die Bilder meiner Visionen.

„Du kannst dich an dein altes Leben erinnern?“, fragt er mit einem Hauch von Faszination.

„Ich habe seltsame Visionen und Träume, in denen ich wie eine Kriegerin aussehe und mit dir, Lorius, auf einem Balkon stehe. Ist das dein richtiger Name?“

Er nickt verblüfft und widmet sich wieder den Zeichnungen, während ich mir ein übergroßes T-Shirt anziehe.

„Es ähnelt alles sehr meiner Heimat.“

„Und wo ist das?“

Lorius zeigt auf die erste Zeichnung, die Mayli angefertigt hatte, als ich bei ihr war.

„Ich lebe in Salamanka, einer Parallelwelt.“

„Und wie bist du hergekommen und warum?“

Wieder hält mich sein intensiver Blick gefangen, und er nimmt meine Hände in die seinen.

„Um meiner Liebe willen. Deinetwegen.“

Das muss ich erst mal verdauen. Ich schlucke angesichts dieser Enthüllung, und es fällt mir etwas schwer, ihm weiter zuzuhören.

„Als die Seherin mir sagte, dass sie dich in dieser Welt gefunden hat, musste ich kommen, um dich zu suchen.“

„Warum hast du mich nicht schon eher angesprochen und bist im Laden, wo ich arbeite, einfach verschwunden?“

Betrübt senkt er den Blick und antwortet: „Ich wollte dich nicht aus deinem Leben reißen, dich nicht in Gefahr bringen. Ich war unsicher und unschlüssig. Dass du Erinnerungen hast und mich sogar erkennst, ist unglaublich.“

„Ja, es hat sogar den Anschein, dass böse Kreaturen aus deiner Welt hinter mir her sind und wohl auch hinter dir, sonst hätte ich dich kaum verletzt vorgefunden. Und in einer meiner Visionen musste ich sterben.“ Ich plappere wie ein Wasserfall, will endlich Antworten und all die seltsamen Begegnungen laut aussprechen. Mein Kopf droht sonst zu platzen. 

Bei diesen Worten legt sich ein Schatten über sein Gesicht. Er fährt mit der Hand durch sein Haar und scheint nach den richtigen Worten zu suchen. Da prallen Welten aufeinander, die mich völlig überfordern. Also resigniere ich, kuschele mich zurück in seine Arme und lege meinen Kopf an seine Brust. Sein regelmäßiger Herzschlag beruhigt mich ein wenig, und ich schlummere ein.