Leseprobe Traummann nach Bestellung, bitte!

1. Der Frauenhäuter

Kaum hatte Nicole die Haustür aufgeschlossen, überfiel sie der Gestank nach vergammeltem Kohl. Hätte sie nur vor knapp zwanzig Jahren die Dreizimmerwohnung in direkter Meereslinie an der Costa Blanca gekauft – für lächerliche 25.000 Mark! Die blöde Bude war heute garantiert mehr als das Zehnfache wert. Aber sie hatte das Geld damals ja unbedingt in einen Tauchurlaub in Indonesien und ein BMW-Cabrio stecken müssen. Rein gar nichts hatte sie in Betongold investiert. Wozu auch? Nach dem Abi grinsten einen die fetten Chancen im Leben aus allen Ecken verheißungsvoll an. Blöd nur, dass das Grinsen heute mehr Lücken als Zähne hatte.

Aus diesem Grund saß sie jetzt in einer spießigen Dreizimmerwohnung in einem Stuttgarter Stadtteil fest, der so unglaublich unsexy war, dass es nach Kohl stank. Nicole hielt die Luft an und rannte durchs Treppenhaus nach oben. In der ersten Etage wurde eine Tür aufgerissen.

„Sie, Frau, äh …“

„Was?“ Nicole ließ die Luft aus ihren Lungen und war sofort wieder in ein Kohlfeld gehüllt. Warum aßen die Deutschen nur so gerne dieses stinkende Gemüse? Die Frau vor ihr würde ihr dieses Mysterium sicher gern erklären. Sie war irgendwas zwischen fünfzig und sechzig, stank nach Schweiß, war fett und ihr Haupt wurde gekrönt von einem grauweißen Pixie-Cut. Mit in die Seiten gestemmten Armen musterte sie Nicole strafend – schlagartig fiel es dieser wieder ein: Das musste die Lehrerin sein. Der Makler, über den Nicole die Wohnung gefunden hatte, hatte gebeichtet, dass diese „nicht ganz einfach“ sei.

Das war, Auge in Auge mit dem Drachen, allerdings die Untertreibung des Jahrtausends. In welchem Fach der Feuerspucker wohl unterrichtete, so unfreundlich und fies, wie er Nicole gerade fixierte? Bestimmt hatte er die Fächer „Sticknadeln unter die Fingernägel schieben“ und „Skalpieren“ am hiesigen Gymnasium eingeführt. Die armen Schüler! Nicole schluckte.

„Sie haben diese Woche das Treppenhaus nicht geputzt!“, kam nun der bitterböse Vorwurf. Nicole atmete trotz Kohl auf. Sie durfte Haare und Fingernägel behalten – und hatte so etwas außerdem schon erwartet. Wenn man in ein solches Haus zog, gab es zwangsläufig Schwierigkeiten mit der Kehrwoche.

Um klar zu machen, dass sie nicht mehr in der Schule war, schnappte sie in ähnlichem Drachen-Tonfall zurück: „Doch, natürlich. Ich habe sogar das Wischwasser aufgehoben. Wollen Sie es sehen?“

„Sie können viel behaupten. Wahrscheinlich ist es in Ihrer Wohnung so dreckig, dass das Wasser von dort stammt. Das Treppenhaus haben Sie jedenfalls nicht gewischt. Sonst wäre es hier nicht so schmutzig.“

Bei jedem Wort wabbelte das Doppelkinn des Drachen – ähnlich wie bei Jabba the Hutt aus Star Wars. Kurz blieb Nicole nicht nur wegen dieser Ähnlichkeit die Spucke weg. Überrasche Deinen Feind, zuckte ihr eine alte Indianerregel durch den Kopf. Deshalb beschloss sie, die Strategie zu zuckersüßer Freundlichkeit hin zu wechseln: „Frau, äh …“, ein kurzer Blick auf das Klingelschild half ihr weiter, „… Walter, es tut mir leid, wenn Sie es hier so schmutzig finden. Aber de facto habe ich den Boden gewischt.“ Betont vertrauensvoll beugte sie sich todesmutig vor und tauchte dabei tief in die Schweißwolke des Außerirdischen. „Sehen Sie, Frau Walter: Ich möchte mich hier mit meiner Tochter Lea ganz harmonisch in die Hausgemeinschaft einbringen. Ich putze dafür auch mit Vergnügen die Treppe und die Tiefgarage.“

Sie räusperte sich kurz verlegen. Eigentlich hatte sie das neue Jahr nicht mit so vielen Lügen beginnen wollen. Aber wenn sie in den nächsten Jahren, die sie mit Lea hier hauste, nicht permanent von diesem fiesen Schweißmonster belästigt werden wollte, musste sie sich mit ihm gut stellen.

„Trotzdem verspreche ich Ihnen, dass ich das nächste Mal gerne noch viel mehr Wasser und noch mehr Putzmittel nehmen werde.“

Der Drache kniff die Augen zusammen. Oh, oh …

„Äh, ich kaufe auch ein paar neue Lappen!“, bot Nicole hastig an.

Der Drache blähte die Nüstern.

„… und, äh, einen neuen Eimer. Ja, genau. Ich schütte das Schmutzwasser nach jeder Treppe weg und poliere die noch feuchten Stufen nach. Was sagen Sie dazu?“

Nicole grinste die Nachbarin in der Hoffnung schief an, noch ein Stündchen weiterleben zu dürfen. Dabei kam sie sich vor wie beim Fischmarkt. Gerne hätte sie noch gebrüllt: „Ich muss verrückt sein!“, aber Lehrer verfügten, ihrer Erfahrung nach, leider nur sehr selten auch nur über geringe Ansätze von Humor.

Pixie-Walter machte da keine Ausnahme. Sie gab einen kurzen Zischlaut von sich – Nicole trat instinktiv einen kleinen Schritt zurück, sicher begann der Drache gleich Feuer zu spucken – und kreischte dann los: „Wollen Sie mich verarschen?“

Nicole seufzte tief. Schon beim Einzug vor drei Wochen, kurz vor Weihnachten, war ihr klar gewesen, was diese Wohnung für sie bedeutete: grauenvollstes Spießertum in einer kleinbürgerlichen Nachbarschaft, aber auch eine hervorragende Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel, die sie in fünfzehn Minuten in die Innenstadt brachten; ein großes Zimmer für Lea, ein kleines für sich selbst, ein riesiges, helles Wohnzimmer sowie eine einigermaßen neue Küche für sie beide – und das Ganze für schlappe 1.300 Euro Warmmiete. Im Raum Stuttgart war das der Jackpot. Dass außer dem Spießbürgertum noch ein weiterer Haken an der Sache sein musste, war ihr von Anfang an klar gewesen. Und nun stand der Haken – der garantiert für das fluchtartige Verschwinden ihrer Vormieter verantwortlich war – leibhaftig vor ihr. „Leerer – mit ee“ hatte ihre Mutter immer augenrollend gesagt, wenn Nicole ihr von den neuesten fiesen Einfällen ihrer eigenen „Leerer“ in der Schule berichtet hatte. Und nun stand die Leerste überhaupt vor ihr.

Nicole musterte sie – und wurde plötzlich von einer Wolke voll Mitleid eingehüllt. Sicher hatte die gute Frau Walter auch einmal Träume gehabt. Von einem Wanderwochenende im Schwarzwald. Von einem Töpferkurs mit anderen Leerern. Von einer Hose in Größe 44, in die sie ohne Schuhlöffel und Salatöl hineinpasste. Doch all diese Träume waren längst geplatzt!

Da saß sie nun, in ihrer Zweizimmermietwohnung in Stammheim. Ganz allein. Mit Kleidergröße 48, einem Außerirdischen-Doppelkinn und Knien wie ein Wombat. Und weit und breit war kein beinamputierter Matrose in Sicht, der gerade drei Jahre einsam zur See gefahren war und deshalb auch einen Wombat beglücken würde.

Nicole nickte ihrer Nachbarin bedauernd zu und seufzte mitleidig. Fast hätte sie auch noch Pixie-Walters Arm getätschelt und sie ans Herz gedrückt.

„Haben Sie Blähungen?“, fragte diese jedoch in dem Moment und trat angewidert einen Schritt zurück.

„Was?“, fragte Nicole, jäh aus ihrer Mitleidswolke geschüttelt, irritiert zurück.

„Können Sie auch noch was anderes sagen?“

„Was?“

„Die Kommunikation mit Ihnen ist redundant. Sie stehlen mir meine Zeit. Deshalb ist das Gespräch hiermit beendet“, erklärte der Drache würdevoll und rümpfte die Nase. „Vergessen Sie nicht: Sie sitzen im selben Boot wie ich. Nur sitze ich am Steuer. Guten Tag.“ Sie knallte Nicole die Tür vor der Nase zu.

„Was?“, hauchte diese noch einmal fassungslos und stand einen Moment lang wie ein begossener Pudel vor der Walter-Tür. Dann nickte sie beeindruckt. Da hatte sie gedacht, mit ihren Indianertricks punkten zu können – und hatte sich im Mitleidsnebel selbst erhängt, während der Wombat sie wie eine Praktikantin ausgespielt hatte.

„Respekt, Miss Wombat“, flüsterte sie der Tür zu. „Du wirst zwar in deinem ganzen Leben nicht mehr flachgelegt, aber du gibst dir wenigstens redlich Mühe dabei, dass sich der Rest der Menschheit deshalb genauso mies fühlt wie du.“

Nachdenklich stieg sie die letzte Treppe nach oben. Saß sie wirklich im selben Boot wie Frau Leerer? Gut, sie wohnten im selben Haus und bildeten schon deshalb eine Leidensgemeinschaft. Aber war sie deshalb ebenso frustriert wie der Wombat? Ebenso bösartig und eine Zumutung für die Menschheit? Würde ein einsamer Matrose auf Landgang sie ebenfalls verschmähen? Nicole schüttelte sich kurz wie ein nasser Hund, um das Brainwashing der Nachbarin loszuwerden. Immerhin passte sie sogar in eine große „38“ – und zwar ohne Schuhlöffel. Außerdem hatte sie ein Jodeldiplom und scheuchte tagtäglich acht Erfüllungsgehilfen durch die wilde Welt der Werbung. Zudem hatte sie eine dreizehnjährige Tochter, die sie wunderbar allein großgezogen bekam. Nein, sie war kein Wombat! Sie musste nur wieder einmal zum Yoga gehen, um kurzfristige Schwankungen in ihrem Selbstbewusstsein besser ausgleichen zu können. Das war alles.

Frisch gestärkt durch diese kurze Affirmation mit Kohlduft schloss sie die Wohnungstür auf: „Lea-Mäuschen? Bist du da?“ Sie schlüpfte aus ihren Pumps und tappte ins Wohnzimmer. „Schnäuzelchen? Wo steckst du?“

„In der Hölle!“, kam es muffig vom Sofa zurück.

„Aha! Na, so schlimm wird es wohl nicht sein, oder?“, fragte Nicole betont fröhlich. Sicher hatte es Schwierigkeiten in der Schule gegeben. Mit einem Leerer. Da brauchte ihre Tochter jetzt ihre ganze Unterstützung!

„Nein. Noch schlimmer“, Lea nahm sich ein Sofakissen und donnerte es ein paarmal gegen ihren Kopf.

„Schätzelchen, was hast du denn?“, fragte Nicole betreten, setzte sich neben ihre Tochter und griff besorgt nach ihrem Knie.

„Ich habe eine geistesgestörte Mutter, die mich mit dreizehn noch Mäuschen, Schnäuzelchen und Schätzelchen nennt“, stöhnte da eine Grabesstimme hinter dem Kissen hervor.

Pikiert zog Nicole die Hand zurück, sprang mit verkniffenem Mund vom Sofa und tappte in die Küche. Scheinbar konnte sie es heute überhaupt niemandem recht machen. Wenn wenigstens irgendwo ein leckerer Kerl in Sicht wäre, der sie auf andere Gedanken bringen würde! Es musste ja nichts Festes sein – im Gegenteil. Sie war ihre letzte Affäre mit einem scheinbar erfolgreichen, selbstbewussten Geschäftsführer, der sich nach dem Schlussmachen leider als Psychopath mit Stalking-Ansätzen entpuppt hatte, erst seit dem Umzug los. Nicole schüttelte sich, wann immer sie an ihn dachte. Sicher hatte er schon in den Freundschafts-Alben in der Grundschule als Hobbys „Frauen häuten“ und „Augen ausstechen“ angegeben. Aber so ein netter, knackiger, unabhängiger Bursche, der sie ein Stück weit auf Händen trug und sie Nachbarinnen und Tochter vergessen ließ, der wäre jetzt wirklich nicht schlecht.

Während sie Wasser in einen Topf fließen ließ, in dem sie anschließend Spaghetti kochen wollte, fiel ihr Blick aus dem Fenster. Ein Elend war das. Sie schüttelte missbilligend den Kopf: Da saß direkt gegenüber auf dem Balkon ein fieser, faltiger, dunkelbraun sonnenbankverbrutzelter Lustgreis in eine Daunenjacke gehüllt in der fahlen Januarsonne, und schleckte am Unterarm seiner höchstens dreißigjährigen Katalog-Freundin herum, für die er die Wohnung gemietet hatte.

„Börk!“

Nicole schüttelte sich. Der Typ war mindestens fünfundsiebzig. Ihre Schmerzgrenze lag bei fünfundfünfzig – dabei war sie ein paar Jahre älter als die angeschlabberte Blondine gegenüber.

Sie schüttelte sich noch einmal und fischte dann die Nudeln aus dem Küchenschrank. Sie schnitt die Packungen auf, hob den Deckel vom Kochtopf und legte ihn zur Seite. Da fiel ihr Blick erneut aus dem Fenster und sie erstarrte. Was machte der alte Sack denn da?

Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte Nicole auf die Szene, die sich genau gegenüber von ihr abspielte. Die Blondine lag scheinbar ohnmächtig in einem Liegestuhl, ihr Körper war mit einer Decke abgedeckt, doch ihre Arme waren nackt – und der Opa zog ihr die Haut vom Leib.

Nicole schnappte nach Luft. Was sollte sie tun? Die Polizei rufen? Den Topf mit kochendem Wasser zehn Meter weit aus dem Fenster werfen und hoffen, dass er den Frauenhäuter traf? Einfach nur „Hilfe!“ rufen und die grässliche Situation abbrechen?

Da! Der Häuter zog schon wieder ein riesiges Stück Haut ab, betrachtete es versonnen und legte es dann in ein Glasschälchen auf dem Balkontisch.

Es war nicht zu fassen! Mittags, kurz vor sechzehn Uhr, in einer süddeutschen Vorstadt häutete ein Lustgreis in aller Öffentlichkeit seine nicht einmal halb so alte Gespielin!

Gehetzt ging Nicole in Gedanken ihre Möglichkeiten durch. Polizei. Das war das einzig Richtige. Vielleicht war die Frau noch gar nicht tot! Vielleicht gab es dem Verstümmler einen Kick, wenn sie noch lebte – und unendlich litt! Betäubt und unfähig sich zu wehren! Vielleicht war es sogar besser, wenn die junge Frau starb. Hatte man erst einmal so viel Haut verloren, standen die Heilungschancen nicht zum Besten. Und dennoch – Nicole musste etwas unternehmen.

Mit zitternden Fingern fischte sie ihr Handy aus der Hosentasche, den Blick starr auf den Balkon gegenüber gerichtet.

„Mum? Wann gibt’s endlich was zu futtern?“, fragte da Lea quengelnd aus dem Wohnzimmer.

Nicole erschrak. Was, wenn sie jetzt die Polizei rief und der Typ entkam? Dann hatte er es am Ende auf sie und auf Lea abgesehen.

„Gleich, Mäuselchen, gleich“, antwortete Nicole mit zitternder Stimme. Da fiel ihr Blick auf den Balkon neben dem Tatort. In aller Seelenruhe hockte dort der bräsige Nachbar Anfang vierzig mit dem Deppenpony, den sie selbst den „hoffnungslosen Fall“ und ihre Tochter den „Bauchnabelpuhler“ nannte, weil er bei Sonnenlicht auf dem Balkon gern in aller Ausführlichkeit die Flusen aus seinem Bauchnabel puhlte und sie anschließend in einem Aschenbecher auf dem Balkontisch aufbewahrte. Der war bereits randvoll.

Doch im Moment puhlte der hoffnungslose Fall nicht. Er lümmelte in eine fette Daunenjacke gehüllt lasch in einem ausgeleierten Liegestuhl, hatte ein Basecap ins Gesicht geschoben, den Mund weit geöffnet und schnarchte.

Offensichtlich sonnte man sich in der Vorstadt schon im Januar, auch bei acht Grad und das sogar, wenn es gar keine Sonne gab.

Bei ihrer bisher einzigen persönlichen Begegnung mit dem Schnarcher in der Tiefgarage, die die beiden Häuser miteinander teilten, war Nicole vor allem seine bescheuerte Frisur aufgefallen – und seine grenzenlose Selbstüberschätzung. Denn in der Garage hatte er ihnen keine Gelegenheit gegeben, sich vorzustellen. Er hatte nur abwehrend die Hände gehoben und erklärt: „Ich habe überhaupt keine Zeit“, als ob sie von den Zeugen Jehovas wären und ihm einen Wachturm aufquatschen wollten. Dann hatte er seine auf ein Meter neunzig verteilten hundert Kilo in seinen Angeber-Tesla gequetscht und war mit quietschenden Reifen davongerast.

Nicole hatte mitleidig hinterher geschaut. Sie hätte in der Tiefgarage ihre rechte Hand darauf verwettet, dass der Bauchnabelpuhler auf zwanzigjährige, dünne Rothaarige mit Doppel-D-Cups und Bananen-IQ stand – was der Grund für seinen Dauerstatus „Single“ war.

Doch heute hatte sie kein Mitleid mit ihm, heute war er ihre Rettung! Sie stellte den Herd ab, rannte aus der Wohnung und rief Lea dabei mit zittriger Stimme zu: „Bin gleich wieder da!“ Dann rannte sie auf Strümpfen das Treppenhaus hinunter, durch die Tiefgarage ins Nachbarhaus und dort drei Etagen nach oben. Sie bemühte sich, gar nicht erst einen Blick auf die Wohnungstür des Häuters zu werfen, sondern dauerklingelte beim Bauchnabelpuhler.

Erst nach gefühlten Stunden tauchte der mit mürrischem Gesicht völlig verpennt an der Wohnungstür auf. „Ja?“, fragte er gähnend und musterte die aufgeregt von einem auf den anderen Fuß hopsende Nicole sauer. „Was soll das? Haben Sie einen Knall?“

„Pssst! Äh, nein, nein-nein. Hören Sie!“, zischte sie hastig flüsternd und sah sich um. Doch nichts rührte sich. Zum Glück. „Sie müssen mir helfen“, flüsterte sie deshalb mit vor Aufregung kieksender Stimme. „Da drüben“, sie wies mit dem linken Daumen über ihre Schulter, „wird auf dem Balkon gerade eine Frau gehäutet.“

„Hä?“ Der Puhler starrte sie verständnislos an und kratzte sich dann gähnend am Deppenpony, der unter seiner Kappe hervorlugte.

„Der alte Sack, äh, Mann, der da wohnt – der häutet gerade seine Affäre!“, platzte Nicole etwas lauter heraus. Wie blöd und begriffsstutzig konnte ein Mann nur sein?

„Der macht was? Häuten? Seine Affäre?“ Der Puhler riss nun auch die Augen weit auf und wiederholte noch einmal: „Hä?“

Nicole atmete tief durch. Dass sie in dieser Situation ausgerechnet an einen Bananen-IQ geraten musste! Doch es ging um das Leben der Katalog-Blondine. Deshalb erklärte sie inständig flüsternd: „Hören Sie, wenn Sie nicht schnell reagieren, ist die Frau tot. Ich habe eine Tochter – deshalb habe ich die Polizei nicht gerufen. Nicht, dass der Mörder noch Kumpels hat, die sich aus Rache dann bei uns melden. Sie verstehen?“

„Äh, nein?“ Er musterte Nicole vom Scheitel bis zu ihren nach wie vor hopsenden Füßen – die in Feinstrümpfen mit einigen Laufmaschen steckten. Dann schnüffelte er geräuschvoll an ihr: „Haben Sie etwas getrunken?“

Nicole holte tief Luft und zählte stumm 21, 22, 23. Dann zischte sie: „Jetzt hören Sie doch – Sie müssen den Mord, der da gerade geschieht, verhindern!“ Warum konnte hier nicht ein hochbegabter Schnellblicker wohnen? Warum wohnten in der Vorstadt immer nur Gurken? Sie riss sich zusammen und rief flehend: „Tun Sie doch etwas! Gehen Sie auf Ihren Balkon und schauen Sie selbst!“

„Von mir aus. Äh“, er blickte links und rechts an Nicole vorbei. „Das ist nicht zufällig Verstehen Sie Kamera oder Versteckter Spaß oder sowas?“

„Hör mal“, rutschte Nicole angesichts von so viel Dummheit nun heraus. „Wenn du nicht schnell reagierst, ist die Frau tot! Und du bist Schuld.“

„Haben wir schon zusammen auf dem Misthaufen Trompete gespielt oder warum duzen Sie mich jetzt?“, fragte Mr. Bauchnabel indigniert und verschränkte bockig die Arme vor der Brust.

„Das reicht jetzt. Komm mit!“, Nicole packte ihn am Handgelenk und zog ihn kurzerhand durch seine Wohnung, die exakt wie ihre aufgebaut war, zum Balkon. Dort ließ sie ihn los, hob einen Zeigefinger an die Lippen und schlich geduckt zur Brüstung.

„Kein Mucks jetzt. Komm!“, flüsterte sie. Der Kerl zuckte die Schultern, duckte sich ebenfalls und kniete sich neben sie an die Brüstung.

„Und jetzt?“, fragte er ratlos.

„Na, sieh doch!“ Sie zeigte auf den Nachbarbalkon. Dort zog der alte Mann gerade ein besonders langes Stück Haut vom linken Arm seines Opfers ab und ließ es im Wind baumeln.

„Iiih!“ Nicole wimmerte.

Der Bauchnabelpuhler jedoch sprang auf und brüllte laut: „He! Fred! Was machst du denn da für Sauereien?“

Der alte Mann schaute verblüfft auf und herüber, winkte seinem Nachbarn dann aber fröhlich zu und kicherte. „Klebstoff. Eine feine Sache. Solltest du auch mal ausprobieren, Karsten. Hab meine Maus hier von oben bis unten damit eingeschmiert und ziehe ihr jetzt die Haut vom Leib. Hihihi.“

„Challo, Karsten!“, rief die Blondine, die nun endlich die Augen aufschlug, sehr lebendig und gut gelaunt. Sie winkte ebenfalls fröhlich. „Wir stören dich doch nicht mit unser Spielchen, oder?“

Spielchen? Nicole stöhnte auf und schloss kurz die Augen. So viel Peinlichkeit an einem Tag hatte sie zuletzt als Fünfzehnjährige erlebt, als ihr in der Fünfminutenpause zwischen Mathe und Deutsch beim Lachen Kakao durch die Nase geschossen und auf dem Lehrerpult gelandet war.

„Blödsinn. Weitermachen – und viel Spaß dabei“, rief ihr Nebensitzer auf dem Balkon, winkte dem wilden Pärchen zu und schaute dann vielsagend zu Nicole. „Das kommt davon, wenn man seine spitze Nase in die Dinge steckt, die einen überhaupt nichts angehen“, trompetete er lautstark.

Der alte Häuter und seine Beute reckten neugierig die Hälse, um zu sehen, mit wem er sprach. Doch Nicole reichte es für heute. Auf allen vieren – die klebstoffsüchtigen Nachbarn mussten sie ja nicht gleich sehen, auch, wenn die Geschichte sicher bald die Runde im Haus machen würde – krabbelte sie zurück ins Wohnzimmer.

„Wie gut, dass sich alles als so harmlos aufgeklärt hat“, meinte sie mit zitternder Stimme, rappelte sich so würdevoll wie möglich auf, klopfte den Staub von den Knien und räusperte sich kurz. „Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen.“

„Na, die hätten sicher auch ihren Spaß gehabt“, schoss der Bauchnabelpuhler überheblich zurück. „Hören Sie mal, Frau, äh, kümmern Sie sich doch lieber um Ihren eigenen Mist – und lassen uns hier in Ruhe, ja?“

Nicole schnaufte tief durch. Zuerst die Frau Leerer, dann ihre Tochter, jetzt der Puhler – zweimal war sie nett oder zumindest neutral gewesen. Dreimal war einmal zu viel.

Sie kniff die Zähne zusammen und zischte: „Wissen Sie was? Jemand, der derart überheblich auftritt, sollte etwas mehr Grund dazu haben, meinen Sie nicht?“

Hoch erhobenen Hauptes machte sie auf den zerlöcherten Feinstrümpfen kehrt und marschierte durch die Garage zurück in ihr Haus, die Treppe nach oben durch die nach wie vor offene Wohnungstür – das komplette Wohnzimmer stank bereits nach Kohl – in die Küche zu ihren Spaghetti.

„Wann gibt’s endlich was zu essen?“, maulte Lea, auf dem Sofa in ihr Smartphone vertieft. „Und wieso stinkt’s hier so?“

2. Anlauf mit Stinkesocken

„Hast du Todessehnsucht?“

„Äh, nö, wieso?“ Karsten starrte etwas irritiert auf sein Handy – und verwünschte einmal mehr den Erfinder des Bildtelefonierens. Denn das Bild, das sich Karsten bot, war wenig erfreulich.

„Sag mal, Ulf, was machst du denn um die Zeit im Bett?“, fragte er seinen Freund, der mit verquollenen Augen und wirren Haaren unter einer schlimm versifften Bettdecke hervorblinzelte. Und dabei war er noch nicht mal allein. „Wieso hocken denn Harry, Stefan und Rosemarie auf dir herum?“, wollte Karsten angewidert wissen und schüttelte sich. Ulfs Leidenschaft für Schildkröten hatte er nie ganz nachvollziehen können. Aber bisher hatte sein Kumpel die dusseligen Drachennachfahren mit Erbsenhirn wenigstens nicht mit ins Bett genommen.

„Ey, Alter, warum rufst du an und nervst rum?“, quengelte Ulf gähnend zurück. „Nur, um mir vorzuschreiben, wann ich mit wem ins Bett gehe?“ Immerhin räusperte er sich kurz und setzte dann mit finsterer Miene erklärend hinzu: „Die letzte Nacht war grässlich. Ich war mit einer schlimmen Zicke unterwegs, die ohne Punkt und Komma gelabert hat. Ich bin sie erst losgeworden, als ich ihr von dem Genitalherpes erzählt habe, den ich mir bei Tinder geholt habe. Heute hatte ich dann eine Sitzung nach der anderen – Harry, Stefan und Rosemarie sind deshalb die Einzigen, die ich gerade um mich herum ertragen kann. Die halten wenigstens ihre Klappe. Deshalb habe ich ihren Winterschlaf heute beendet und sie zu mir ins Bett geholt. Da ist es warm und sie kommen langsam wieder in Fahrt.“

„Aha“, meinte Karsten lahm.

„Ja, aha. Dürfte ich jetzt erfahren, warum du mich nicht schlafen lässt?“

„Weil ich dir von der perfekten Frau für dich erzählen wollte“, platzte Karsten heraus. „Sie ist wie für dich gebacken. Meine neue Nachbarin.“

„Danke. Kein Bedarf. Ich habe mir nach dem Reinfall gestern Weiberfrei für mindestens drei Monate verordnet.“ Ulf gähnte erneut herzzerreißend. „Wenn das alles war, würde ich jetzt gerne noch etwas schlafen.“

„Jetzt warte doch mal!“, brüllte Karsten, bevor Ulf ihn wegdrückte. „Sie ist Ende dreißig, wohnt seit Kurzem hier im Haus und hat echt einen an der Waffel!“

„Das hört sich zwar sehr verführerisch an, aber trotzdem: Danke. Kein Bedarf. Nimm du sie.“ Ulf gähnte bis zur Maulsperre.

„Auf keinen Fall. Sie ist viel zu dünn und hektisch – so eine Karrieretussi.“ Karsten schüttelte sich. „Komm doch heute Abend her. Mir ist sowieso langweilig. Ich hab überhaupt keine Lust, mir schon wieder irgendwelche Goldgräbersendungen aus Alaska anzuschauen und das Bier ist auch alle. Du könntest welches mitbringen – und dann gehen wir rüber zu der Irren, ich stelle sie dir vor und ihr werdet glücklich bis ans Ende eurer Tage. Na, wie wär’s?“

„Karsten? Du nervst!“, war die Antwort. „Ich gehe heute überhaupt nirgendwo mehr hin. Ich bleibe hier, brüte Stefan, Harry und Rosemarie aus – und du holst dir dein Bier schön selbst. Wenn’s dir langweilig ist, kannst du damit ja zu der Irren rübergehen. Vielleicht wird’s ja die große Liebe. Bei euch beiden. Viel Spaß damit. Kapla!“

Zack. Mit dem Abschiedsgruß der Klingonen hatte Ulf ihn doch noch weggedrückt. So ein Elend. Und jetzt? Zum Bierholen hatte Karsten überhaupt keine Lust. Auch nicht darauf, zu der Hysterikerin zu gehen. Die benutzte so ein ekliges Parfüm, das ihn spontan an die offenen Beine seiner Großtante Gerti erinnerte. Deshalb war er beim ersten Aufeinandertreffen mit der neuen Nachbarin auch direkt geflohen. Was natürlich nicht sehr nett gewesen war. Auch jetzt gerade hatte er sie nicht sehr höflich behandelt. Vielleicht fand er noch etwas anderes als Bier in seiner Küche, mit dem er die Nachbarin versöhnen konnte? Er warf sein Handy auf den Couchtisch, lief in die Küche und stöberte in den Schränken.

Da! Er strahlte. Einmal Malibu-Likör – der stand da sicher seit seiner Einweihungsparty vor vier Jahren – oder Sektersatz mit künstlichem Erdbeeraroma.

Börk.

Den hatte Chantal, seine letzte überflüssige Affäre, über die er lieber gar nicht mehr nachdenken wollte, hier stehen lassen. Zum Trinken waren sie nicht mehr gekommen. Denn Chantal hatte ihn vor die Wahl gestellt: Entweder sie führten ab sofort eine offizielle, ernsthafte Beziehung – oder sie ging. Sehr erleichtert hatte er ihr hinterhergewinkt. Und jetzt hatte sie nachträglich auch noch etwas Gutes: den fiesen Schaumwein. Das war doch das perfekte Versöhnungsgeschenk für eine Lady.

*** 

Nach dem Essen ließ sich Nicole gerade einen Espresso aus einem der Geräte ausschenken, die dafür verantwortlich waren, dass sie kein Geld für eine Eigentumswohnung besaß, als es an ihrer Wohnungstür klopfte. Nicole beschloss, das Klopfen zu ignorieren. Für den Rest des Tages wollte sie ihre Ruhe haben, die Füße hochlegen und sich vorstellen, welches Leben sie jetzt führen würde, hätte sie vor zwanzig Jahren die Wohnung an der Costa Blanca gekauft.

„Mum? Da ist jemand vor der Tür“, meckerte Lea aus dem Wohnzimmer.

„Gut. Soll da bleiben!“, gab Nicole zurück. Ihr Kaffee duftete himmlisch. Und sie hatte überhaupt keine Lust, schon wieder die Tür zu öffnen und den Kohl reinzulassen. Doch das Klopfen hielt an.

„Hau ab!“, brüllte Lea. Da begann derjenige vor der Tür zu klingeln. Er drückte dabei permanent die Klingel durch, sodass sich Lea laut kreischend zwei Sofakissen auf die Ohren drückte und sämtliche Schimpfworte darbot, die zurzeit an ihrer Schule in Mode waren.

Nicole warf einen bedauernden Blick auf ihren schönen Kaffee und verdrehte die Augen. Das war sicher der Wombat, der sich beschweren wollte, weil Nicole auf schmutzigen Strümpfen durchs Treppenhaus gelaufen war. Allerdings hatte sie jetzt eine deutlich kürzere Zündschnur als noch vor einer Stunde. Das Dauerklingeln kam bei ihr deshalb gar nicht gut an.

Sie stürzte wütend einen Riesenschluck Kaffee in sich hinein und verbrühte sich den Mund, bevor sie die Tasse sauer in die Spüle knallte.

Auf hundertachtzig stapfte sie zur Tür, riss diese ungnädig auf und brüllte: „Mein Gott! Ist es denn so verwerflich, wenn man nicht aufs Putzen steht?“

Doch vor ihr stand nicht, wie erwartet, der Wombat. Vor ihr stand der Flusenpuhler mit einer Flasche Sekt in der Hand.

„Äh, nö“, meinte er verlegen und streckte ihr ungelenk die Flasche entgegen. „So verwerflich ist das nicht. Jedenfalls nicht, wenn man auf Dreck steht.“

Nicole starrte ihn verdutzt an. Was wollte der Kretin? Und was sollte die Flasche?

„Was?“, war deshalb auch das Einzige, das sie herausbekam. Das schien ihr ganz persönliches Wort des Tages zu sein.

„Putzen. Sie haben gefragt, ob es schlimm ist, dass sie nicht gern putzen“, wiederholte er geduldig und lächelte etwas gequält.

Einen Moment lang musste Nicole sich sortieren, dann begriff sie, welche Synapsen sich falsch in seinem Hirn verknüpft hatten. Deshalb atmete sie ein paarmal tief durch und erklärte dann mühsam freundlich: „Aber das habe ich doch nicht zu Ihnen gesagt. Wissen Sie was? Vergessen Sie’s einfach. Und jetzt von vorn: Was wollen Sie denn hier?“

Sie warf einen irritierten Blick auf die Flasche, die der Kerl ihr immer noch entgegenstreckte. War er am Ende Vertreter für Billiggesöff?

„Na, noch mal anfangen. In der Garage neulich hatte ich es eilig. Und vorher hatten Sie es eilig. Das ist doch peinlich, wenn man sich in Zukunft über den Weg läuft. Da dachte ich, ich bringe was zu trinken mit. Sekt. Frauen mögen das doch.“

Nicole schloss kurz die Augen. Dieser Typ lebte nicht nur im spießigsten Teil Stuttgarts, sondern hinter dem Mond. So was Beknacktes, Abgedroschenes hatte sie lange nicht gehört. Was kam als Nächstes? Eine Ausführung darüber, dass Männer am liebsten rülpsend Fußball schauten?

„Gott, ist der Neandertaler peinlich“, meinte Lea da hinter Nicoles Rücken laut und deutlich, sprang vom Sofa und erklärte: „Ich gehe hoch in mein Zimmer. Sag Bescheid, wenn der Grottenolm weg ist.“

Der Nachbar blickte reichlich konsterniert. Nicole, die eigentlich vorgehabt hatte, ihn unter einem Vorwand schleunigst abzuwimmeln, schloss erneut kurz die Augen. So ein Mist! Jetzt musste sie ihn wohl oder übel hereinbitten. Sonst wäre es in Zukunft tatsächlich zu peinlich, ihm über den Weg zu laufen.

„Danke, Lea“, knurrte sie leise vor sich hin. Dann meinte sie etwas lauter und betont munter: „Das ist, äh, war meine Tochter. Lea. Sie liest gerade ein, äh, peinliches Buch. Über Neandertaler und, äh, Olme. Grottenolme. Als Hausaufgabe in, hm, Geschichte und Biologie. Kommen Sie doch herein.“ Das mit dem guten Vorsatz und dem Lügen verschob sie am besten gleich aufs nächste Jahr. Heute hatte sie schon so viel gelogen, dass der Grottenolm geputzt war.

Der Nachbar folgte ihr auf quietschenden Turnschuhsohlen in die Wohnung.

„Könnten Sie vielleicht kurz ihre Schuhe ausziehen?“, fragte Nicole spitz über die Schulter. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht?“

„Na, eigentlich schon. Aber Sie putzen nicht gern. Richtig? Na gut. Dann … auf eigene Gefahr.“ Während er aus den Schuhen schlüpfte, atmete Nicole tief durch – was sie wegen des jähen Geruchs gleich wieder bereute.

Eigentlich hätte sie den Stinker gern auf den Balkon verfrachtet – und dort über die Brüstung geworfen. Doch direkt gegenüber fläzten nach wie vor die Klebstofffans in der Sonne. Die würden Nicole beim Mord an Mr. Bauchnabel beobachten – und dass sie wegen des Sexisten ins Gefängnis ging, kam nicht infrage. Zumal der Stammheimer Knast seit dem mysteriösen Ableben der RAFler nicht den besten Ruf hatte. Deshalb meinte sie zähneknirschend: „Setzen Sie sich doch bitte aufs Sofa. Ich hole zwei Gläser.“

Einen Moment später stand sie mit zwei Sektgläsern in der Hand vor dem Besucher, der etwas ratlos vor zwei Kunstdrucken stand, die an der Wand neben dem Sofa hingen.

„Brancusi“, erklärte Nicole, die ihre sauteuren Drucke wieder einmal liebevoll betrachtete. Jedes Mal ging ihr das Herz auf, wenn sie die klaren, schlichten und eleganten Formen betrachtete. Kunst war etwas Wunderbares. Sie entführte einen aus dem grauen Alltag – was Nicole in den Niederungen der sie umgebenden Vorstadt nur zu gut gebrauchen konnte.

„Gesundheit.“

„Bitte?“ Nicole wurde aus ihren Gedanken gerissen.

„Gesundheit. Sie haben doch eben geniest?“ Der Nachbar sah sie fragend an.

Doch Nicole lächelte nur gequält. Es war wohl etwas viel erwartet, dass der Primat Brancusi kannte. Deshalb deutet sie einladend aufs Sofa und ließ sich selbst mit einem Seufzen darauf nieder.

Ihr Besucher plumpste daneben und betrachtete neugierig die halbfertig eingerichtete Wohnung. Sein Blick blieb staunend an den anderen Drucken hängen. Dabei kämpfte er doch tatsächlich mit einem Grinsen. So etwas Unverschämtes. Nicole biss die Zähne zusammen. Da bat sie den Bodensatz der Gesellschaft schon in ihre Wohnung – und dann machte sich der Bodensatz über ihre Einrichtung lustig!

Nicole kämpfte mühsam das dringende Bedürfnis nieder, ihm die Sektflasche aus der Hand zu reißen und über den Schädel zu ziehen.

Der Nachbar folgte ihrem Blick auf die Flasche und erklärte schnell: „Ich hab sie garantiert nicht geschüttelt.“ Dann popelte er ohne Umstände das Aluminium am Verschluss ab – ein Drehverschluss, kein Korken – und rief laut „Kacke“, als der Inhalt trotzdem überschäumte. Ohne lange zu fackeln, nahm er einen Teil des Flaschenhalses in den Mund und fing den überschäumenden Inhalt mit dem Mund auf.

Nicole fuhr sich mit beiden Händen über Augen und Gesicht. Womit hatte sie das alles nur verdient? Ihr Besucher war mit dem geräuschvollen Schlürfen nun durch und goss die beiden Gläser auf dem Couchtisch randvoll. Das auch noch.

„Also, noch mal hallo“, meinte er dann, nahm beide Gläser auf und reichte ihr eins davon. „Ich bin Karsten.“

Karsten. Ist das ein Name oder eine Diagnose?, hätte sie gern gefragt.

Karsten. Das klang irgendwie nach Kasten. Und zwar einem vernagelten. Bretter, Bretter, Bretter.

„Nicole“, würgte sie heraus, stieß mit ihm an und zwängte einen Schluck des pappsüßen, alkoholhaltigen Schaumgetränks ihre Gurgel hinunter. War das ekelhaft. Also ob eine erwachsene Frau wie sie so einen Mist trinken würde!

„Hmpf“, meinte Karsten und betrachtete ebenfalls angewidert sein Glas. „Dass euch Frauen sowas schmeckt …“

Was sollte Nicole nun sagen? Dass sie nichts lieber tat, als aufgeschäumten Fusel mit künstlich zugesetzten Erdbeer-Aromastoffen im Wert von 59 Cent aus dem billigsten Discounter zu trinken? Sie schwieg lieber und hoffte, dass der Kelch schnell an ihr vorbei ging – beziehungsweise leer wurde. Viel sagen konnte sie sowieso nicht: Das Zuckerzeug klebte ihr bereits die Lippen zusammen.

Sie beschränkte sich deshalb ebenfalls einfach auf „Hmpf“.

„Also: Herzlich willkommen im Einsame-Hexen-Haus“, erklärte er da feierlich.

„Im was?“, fragte Nicole verdutzt. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Zähne. Ihr ganzer Mund fühlte sich seltsam pelzig an. Ähnlich wie nach einer Betäubung beim Zahnarzt. Ob das wieder wegging?

„Na, im Einsame-Hexen-Haus. Hast du denn die anderen Mitbewohnerinnen noch nicht kennengelernt?“

Schon wieder so eine Fangfrage. Mit einem leisen Knackgeräusch löste Nicole ihre zusammengeklebten Zähne voneinander und erklärte: „Nicht wirklich.“

Karsten erklärte eifrig die verschiedenen Parteien: „Im Erdgeschoss links wohnt die alte Petrowski. Eigentlich ist sie ganz nett, aber sie friert in ihrer völlig überheizten Wohnung ständig – auch bei konstanten vierzig Grad. Deshalb macht sie nie ein Fenster auf, sondern lüftet immer nur ins Treppenhaus. Auf der anderen Seite haust die fiese Müller, eine Beamtin kurz vorm Ruhestand. Arbeitet auf der Steuerbehörde. Falls du deine letzte Steuererklärung noch nicht abgegeben hast, mach das lieber schnell. Sie zeigt dich sonst an. Direkt unter dir wohnt die fiese Walter, eine Lehrerin. Keine Ahnung für was. Schweine hüten ist es jedenfalls nicht, hahaha. Denn in ihrer Freizeit putzt sie am liebsten, hat sich aber den Kampf gegen die Wasserknappheit der Erde auf die Fahne geschrieben. Deshalb nimmt sie höchstens zwei Liter Wasser für die komplette Tiefgarage, das Treppenhaus und die Waschküche. Eigentlich verteilt sie den Dreck damit nur. Sich selber wäscht sie dafür gleich überhaupt nie. Du solltest also aufpassen, dass du nicht gerade direkt nach ihr durchs Treppenhaus läufst. Sonst hängt dir ihr Geruch den ganzen Tag in der Nase. Außerdem beschwert sie sich ständig, dass wir anderen den Rasen hinter dem Haus zu stark gießen. Und weil die meisten Angst vor ihr haben, wächst dort inzwischen nichts anderes mehr als Sand.“

Nicole nickte verständnisvoll mit glasigem Blick. Das erklärte zumindest die heftige Reaktion des Wombats, als Nicole im Treppenhaus vorgeschlagen hatte, in Zukunft mehr Wasser zum Putzen zu verwenden. Das hatte sie ja wieder fein hinbekommen.

Ihr Nachbar fuhr derweil fort, sich über den Rest der Nachbarschaft das Maul zu zerreißen. Nicole massierte sich dabei unauffällig mit den Zeigefingern die Schläfen. Wie wurde sie diesen Ausbund an zeitgemäßer Weltoffenheit nur wieder los? Hatte sie sich nicht einen knackigen, amüsanten Kerl als Zeitvertreib gewünscht? Das Universum schien sie irgendwie falsch verstanden zu haben.

Dabei schien sich ihr Besucher kaum wohler in seiner Haut zu fühlen als sie selbst. Er redete immer verworreneres Zeug – während seine Socken immer durchdringender müffelten.

Nicole schloss die Augen und unterbrach seinen Wortschwall schließlich mit den Worten: „Entschuldige mich. Aber ich muss … kurz mal … frische Luft …“

Ohne jeden weiteren Kommentar verschwand sie in der Küche und riss dort das Fenster auf. Gern hätte sie mit ihrem Kopf ein paarmal kräftig gegen die Wand geschlagen – oder besser noch mit Karstens Kopf. Innerhalb von fünf Minuten hatte er sich als ein Relikt aus längst vergessener Zeit erwiesen, als Lästerbacke, die weder Manieren noch Geschmack hatte.

Außerdem war ihr furchtbar schlecht. Der Erdbeer-Schaumweinersatz stand sicher bereits seit zehn Jahren in Karstens Schrank und war seit neun abgelaufen. Zudem stanken seine Socken pestilenzartig. Wie bekam sie das Monster bloß wieder aus ihrem Wohnzimmer?

Sie riskierte einen kurzen Blick auf ihn. Anscheinend beeilte er sich, die abgelaufene Flasche schnellstmöglich im Alleingang zu leeren. Umso besser, dann wurde sie ihn wenigstens fix los. Sie atmete ein paarmal tief durch, dann lief sie zu ihm zurück.

„Und du? Was machst du so?“, versuchte sie ihn von den Themen Socken, Übelkeit und Nachbarschaft abzulenken.

„Ingenieur bei Bosch“, gab er lapidar zurück.

Genau das hatte Nicole vermutet. „Wie nett“, gab sie gequält lächelnd zurück, setzte sich im Stinkesocken-Sicherheitsabstand neben ihn auf die Couch und starrte auf die nach wie vor zu einem Drittel gefüllte Flasche. Der Depp verzog sich bestimmt erst, wenn sie leer war. Was sollte sie nur tun?

„Und, äh, wo habt ihr bisher gewohnt?“, begann er nun verunsichert etwas seichte Konversation, um die peinliche Stille zu vertreiben. Wenigstens gab er sich Mühe.

„Im Stuttgarter Westen, in einer wunderschönen Wohnung mit jeder Menge interessanter, gut riechender Leute um uns herum“, platzte Nicole heraus, räusperte sich aber schnell und meinte: „Leider haben die Kinder unter uns mit einem Adventskranz gezündelt und ihre Wohnung abgefackelt. Deshalb wird da jetzt luxussaniert – und etwas Besseres als das hier habe ich auf die Schnelle nicht gefunden.“

„Aha“, meinte er und betrachtete betreten seine Stinkesocken. Tennissocken von der übelsten Sorte – ehemals weiß, nun gelblich-grau mit einem Loch, aus dem ein großer Teil des rechten großen Zehs herausschaute.

„Ja, aha“, trompetete es da von der Treppe her beleidigt. Lea hatte sich, offensichtlich von Neugier getrieben, wieder aus ihrem Zimmer gewagt und den letzten Satz ihrer Mutter mitgehört.

Nun warf sie die langen hellblonden Haare in den Nacken und schnauzte ihre Mutter an: „Etwas mehr Mühe hättest du dir schon geben können. In dieser Stinkebude fault einem ja die Nase ab. Außerdem“, wandte sie sich an Karsten, „brauche ich morgens über eine Stunde bis zum Gymmi. Aber immer noch besser, ich verbringe den halben Tag in den Öffis, als mir ein Dorfgymnasium hier in der Nähe zu suchen. In Schwäbisch-Sibirien.“

Sie steckte sich einen Finger in den Hals und gab würgende Geräusche von sich.

Karsten gaffte sie mit offenem Mund an. Offensichtlich fiel ihm schlichtweg kein Kommentar ein, der zu dem eben Gehörten passte. Nicole betrachtete fasziniert sein Mienenspiel. Ratlosigkeit und Fluchtgedanken liefen wie Laufbänder kreuz und quer über seine Stirn. Gut so. Sollte er doch gehen! Inzwischen hätte er ja eigentlich kapieren müssen, dass er hier reichlich fehl am Platz war.

Dennoch erklärte Nicole mit einem leichten Anflug von Mitleid: „Das ist Lea. Meine Tochter. Hör nicht auf sie – sie ist dreizehn.“

Es folgte ein weiteres In-den-Nacken-Werfen der Haare – es waren sehr schöne Haare, was Lea überaus bewusst war: „Mum! Du bist ja wohl voll peinlich.“

„Ja. Ich weiß“, meinte Nicole seufzend.

Karsten räusperte sich verlegen. „Und dein Mann?“, wandte er sich an Nicole. Die zog nur fragend die Augenbrauen hoch.

„Also dein Vater“, wandte er sich hilfesuchend an Lea. Die mit einer perfekten Imitation des Gesichtsausdrucks ihrer Mutter ebenfalls fragend die Augenbrauen hochzog. Diese Familienähnlichkeit!

„Also, konnte der euch nicht helfen? Ich meine, wegen dem Adventskranz und so.“ Der Schweiß brach ihm aus. Die Situation überforderte ihn derart, dass Nicole ihm noch maximal zwei Minuten vor Ort gab.

Diese Aussicht entspannte sie so dermaßen, dass sie sich lächelnd im Sofa zurechtkuschelte und ihrer Tochter ein strahlendes Lächeln zuwarf.

Lea verdrehte prompt die Augen. „Erstens heißt es wegen des Adventskranzes und zweitens: Nö. Kann er nicht. Er reitet gerade auf einem Känguru in den Sonnenuntergang, spielt Zahnarzt bei einem Weißen Hai oder saugt Tinte bei einem Tiefsee-Riesenkraken ab. Irgend so etwas Beknacktes. Wie kommst du denn auf die Idee, dass der Brainie uns helfen könnte?“

„Äh, war nur so ein Gedanke“, meinte Karsten hastig.

Nicole beobachtete amüsiert, wie sich immer mehr Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Ihre Tochter hatte etwas gut bei ihr. Karsten war ihr eindeutig nicht gewachsen. Und Lea, das Früchtchen, wusste das ganz genau. Deshalb fragte sie nun zuckersüß: „Wieso glaubst du überhaupt, dass uns irgendein Mann helfen könnte?“

„Ach, nur so ein Gedanke“, wiederholte er schwach, stürzte ein komplettes Glas alkoholisierten Schaumweinersatz in sich hinein und schenkte sich das nächste randvoll.

Die Flasche war leer!

Nicole biss sich auf die Lippen, um ein lautes „Jippieh!“ zu unterdrücken.

Lea erklärte nach einem langen Blick auf Karstens Socken, der diesem nicht entging – er zog schnell die Zehen ein – mit betont hoheitsvollem Tonfall: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es gerade anders herum ist: Wir Frauen müssen den Männern helfen. Die sind ohne uns doch vollkommen überlebensunfähig.“

Nicole hustete dezent in ihre Faust. Für den Satz bekam ihre Tochter auf jeden Fall das schwarze durchsichtige Totenkopf-Top, das Nicole bisher abgelehnt hatte. Natürlich war Lea ätzend und unverschämt – und das durfte sie als gute Mutter nicht durchgehen lassen. Aber es kam doch auch darauf an, zu wem man ätzend und unverschämt war und in welcher Situation. Man musste differenzieren lernen, gerade in Leas Alter. Auf das pädagogische Gespräch, wenn der Stinker endlich weg war, freute Nicole sich jetzt schon.

Der abwechselnd blasse und knallrot verfärbte Karsten lag offensichtlich in den letzten Zügen. Er starrte etwas gequält auf sein Glas – schließlich konnte er erst gehen, wenn selbiges leer war – und schnappte es sich dann mit Todesverachtung, um den kompletten Rest auf einmal in sich hineinzukippen. Leider verschluckte er sich dabei so sehr, dass er den darauffolgenden Hustenanfall nur überlebte, weil Lea und Nicole ihm abwechselnd herzhaft auf den Rücken klopften.

„Na, geht’s wieder?“, fragte Nicole schließlich besorgt, als er halbwegs wieder Luft bekam. Seine Leiche wollte sie noch weniger in ihrer Wohnung haben als sein lebendes Ich.

„Mhm“, antwortete er unter Tränen und warf ihr einen dankbaren Blick zu. Dabei fiel sein Blick auf ihren leicht geöffneten Mund. Er riss die Augen auf und öffnete dümmlich seinen Mund, während er weiter starrte.

„Hab ich was zwischen den Zähnen hängen?“, fragte Nicole irritiert, fuhr mit ihrer Zunge über die Schneidezähne und rückte ein Stück von ihm ab.

„Nö“, gab Karsten zurück. „Wieso?“

„Du starrst die ganze Zeit auf meinen Mund.“

„Ja, weil du schöne Zähne hast.“

Nun schaute er ertappt und betroffen vor sich auf den Boden. Nicole und Lea wechselten einen verständnislosen Blick, bevor sie beide den Nachbarn musterten, als wäre er ein sonderbares Insektengericht auf einem asiatischen Grill.

Schließlich schluckte er trocken, kämpfte die letzten Huster nieder und erklärte dann krächzend: „Ich bin Torwart …“

„Ja, klar“, meinte Lea trocken. „Das habe ich mir gedacht.“

Karsten ignorierte ihren Einwurf und fuhr flüsternd fort: „Vor einem Jahr wollte ich mit vollem Einsatz einen Elfmeter halten. Ich bin einem unhaltbaren Ball nachgehechtet – und dabei recht unglücklich gestürzt. Seitdem habe ich einen Stiftzahn. Der ist aber nicht wirklich gut geworden.“

Er kniff die Lippen zusammen, versuchte, einen Schaumweinrülpser zu unterdrücken und winkte dann ergeben ab. „Ach was. Das stimmt so gar nicht. Die Wahrheit ist, dass ich mit einem uneleganten Hopser versucht habe, einen durchaus haltbaren, halbherzigen Elfmeter zu halten. Dabei bin ich wie ein toter, Tonnen schwerer Wal mit dem Kopf auf den Boden geknallt. Tja. Und beim Aufprall habe ich dummerweise in den knochenharten Boden gebissen und meinen rechten, vorderen Schneidezahn eingebüßt. Schaut, hier!“ Er zog mit dem rechten Zeigefinger die Oberlippe hoch und zeigte den verfärbten Zahn zuerst Lea, dann ihrer Mutter.

„Bäh!“, meinte Lea angewidert.

„Ja, äh, interessant“, kommentierte Nicole den Totalausfall irritiert und schaute dann betreten vor sich auf den Boden. Immerhin hatten ihre Socken, gegen die sie die ruinierten Strümpfe mit Laufmaschen getauscht hatte, keine Löcher. Was man vom Gehirn ihres Besuchers nicht behaupten konnte. Warum erzählte er ihr solche Geschichten? Bei seinen schlimmsten Feinden betrieb man doch keinen Seelenstriptease! Offensichtlich hatte er als Ingenieur nicht viel mit anderen Menschen zu tun. Die nutzten solche Informationen und Unsicherheiten doch schamlos aus! Wäre sie bei Bosch, hätte er jetzt ein Problem. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fragte er plötzlich: „Und, äh, was machst du so? Arbeitsmäßig, meine ich.“

„Ich bin Creative Director in einer Agentur und leite sehr erfolgreich ein Team von zehn Leuten. Das macht zwar viel Arbeit und fordert konstant ungeheuren Einsatz, aber die erstaunlichen Ergebnisse, die man damit erzielen kann, sind doch eine große Bereicherung für die persönliche Entwicklung“, antwortete Nicole selbstbewusst und nicht nur leicht überheblich.

So und nicht anders gab man Informationen über sich selbst Preis, wenn man sich gerade erst kennenlernte! Damit das Gegenüber gleich wusste, mit wem er es zu tun hatte. Wäre das Gesöff nicht so unerträglich, hätte sie jetzt einen kleinen Schluck davon genommen, um ihren Status als erfolgreiche Geschäftsfrau von Welt zu unterstreichen.

„Acht!“, blökte da jedoch Lea in Karstens ehrfurchtsvolles Staunen und Nicoles Selbstzufriedenheit.

„Bitte?“, fragte Karsten irritiert.

„Mum lügt mal wieder. Sie leitet ein Team mit nur acht Leuten. Wenn du dich selbst abziehst, Mum, sind es sogar nur sieben. Und die sind es auch nur, weil du ausnahmsweise gerade einen Prakti und einen Volo hast, dazu noch den Azubi und eine Assistentin. Gerade mal eine Texterin und zwei schwule Grafiker „leitest“ du – und meistens bekommt ihr die langweiligsten Jobs in der ganzen Agentur, die die richtig guten Teams nicht machen wollen. Handtaschen. Handtücher. Farbmischungen – so ’n Zeug“, kommentierte Lea das Ganze gehässig. „Das sagst du jedenfalls selbst immer.“

Nicole schluckte trocken und warf ihrer Tochter einen stinksauren Blick zu. Das Totenkopf-Top konnte Lea vergessen.

Karsten wurde es jetzt endlich auch zu viel. „Ja, äh, vielen Dank für eure, äh, wir kennen uns dann ja jetzt. Noch mal viel Spaß hier – und man sieht sich, äh, sicher bald.“ Er wuchtete sich ächzend aus dem Sofa hoch. Schlagartig besserte sich Nicoles Laune.

„Ja, sicher. Und in der Garage können wir uns ja jetzt auch nett grüßen, nicht wahr?“

„Mal sehen“, meinte Lea, warf sich noch einmal wie in der Shampoo-Werbung die langen, blonden Haare in den Rücken und rauschte hoheitsvoll davon.

„Ja, das ist Lea“, kommentiere Nicole ihren Abgang versonnen.

„War sie, äh, schon immer so, hm, selbstbewusst?“, fragte Karsten, der inzwischen nicht nur auf der Stirn stark schwitzte. Zwar trug er einen Pulli über seinem Hemd, doch sogar der Pulli hatte starke Schweißflecke unter den Armen. Aber das übersah Nicole gern – jetzt, da er sich für immer verabschiedete.

„Ja, sie kam schon so zur Welt“, meinte Nicole deshalb freundlich lächelnd. „Müssen die Gene sein. Ihr Vater ist Professor für Quantenphysik.“

„Na dann …“ Er schaute demonstrativ auf seine dicke Armbanduhr und stammelte. „Oh, schon so spät! Ich muss ja ganz dringend, äh, also, vielen Dank für den Sekt und auf gute Nachbarschaft.“

Er nickte Nicole hektisch zu und rannte dann regelrecht aus der Wohnung. Die Tür warf er mit einem lauten Knall ins Schloss.

„Ist der so blöd oder tut er nur so?“, fragte Lea, die auf einer Haarsträhne kauend wieder im Wohnzimmer auftauchte.

„Der ist so blöd“, antwortete Nicole zufrieden. „Soll ich heute Abend Pizza bestellen? Du hast etwas gut bei mir.“ Nur Pizza. Das mit ihrem Team hatte Lea so viel Abzug in der B-Note gebracht, dass Nicole das Top, an dem Lea so dicht dran gewesen war, mit keinem Wort erwähnte.

Doch da sie das nicht wusste, war sie auch so zufrieden: „Ja, klar. Pizza. Und wieso? Hab ich was richtig gemacht?“

„Weil du das Differenzieren schon ganz anständig beherrschst, mein Häschen.“