Leseprobe Traue niemals einem Earl

Kapitel 1

Frauen brachten nichts als Ärger. Thane Pallister, der Earl of Mansfield, übergab die Zügel seines Reittiers an einen Stallknecht und bereitete sich auf die unvermeidliche Szene vor, die ihm bevorstand. Auf dem langen Ritt von London nach Oxfordshire hatte er ausreichend Zeit gehabt, sich eine Erklärung für seinen Onkel über seine derzeitige missliche Lage mit dem schönen Geschlecht auszudenken. Zwölf Jahre waren vergangen, ohne dass Thane in das Herrenhaus zurückgekehrt war, in dem er seine Jugend verbracht hatte. Als er mit achtzehn Jahren für immer von hier wegging, hatte er angefangen, diesen alten Ort mit jeder Faser seines Seins zu verachten. Es war für ihn vielmehr ein Gefängnis als ein Zuhause gewesen. Doch als er seine Reithandschuhe auszog, wurde er von einem Anflug von Nostalgie überrascht. An diesem ungewöhnlich sonnigen Tag im März sah der Ort so … gewöhnlich aus. Ordentlich gepflegte Buchsbäume rahmten die Front des elisabethanischen Anwesens ein. Das hohe Gebäude war mit Ziegeln, Holz und Sprossenfenstern gebaut worden, in denen sich der blaue Himmel spiegelte. Als sein Blick nach oben wanderte, löste das schräge Dach mit seinen unzähligen Schornsteinen eine Erinnerung aus. Vor langer Zeit war er über diese Schieferplatten geklettert, während sein Cousin Edward an der Treppe zum Dachgeschoss der Dienerschaft gekauert hatte. Aus einer Laune heraus hatte sich Thane mit den Füßen voran in einen der Schornsteine hinabgelassen. Er hatte wohl die vage Vorstellung davon gehabt, sich an den Seiten abzustützen und dann wieder herauszuspringen, um seinen Cousin zu erschrecken. Stattdessen hatte Thane die Bodenhaftung verloren, war den dunklen Schacht hinuntergestürzt und in der Bibliothek gelandet, von Kopf bis Fuß mit Ruß bedeckt. Zum Glück war es Sommer, deshalb hatte kein Feuer im Kamin gebrannt. Aber er hatte Onkel Hugo beim Lesen erschreckt, und der Streich hatte Thane eine Tracht Prügel mit der gefürchteten Weidenrute eingebracht. Damals hatte er ein Talent dafür, in Schwierigkeiten zu geraten. Er war zu unruhig gewesen, um sich auf seine Schularbeiten zu konzentrieren, zu sehr darauf erpicht, der Enge der vier Wände zu entkommen, nur allzu bereit, jeden Akt der Willkür zu vollziehen, um die Langeweile der Routine zu durchbrechen. Gott sei Dank hatten ihm Reife und militärische Disziplin die Fähigkeit verliehen, seine Impulse zu kontrollieren. Zumindest meistens. Er steckte seine Lederhandschuhe in die Taschen seines Mantels und ging die Granittreppe hinauf. Die doppelten Eichentüren, die mit zusammenpassenden Kreuzen beschnitzt waren, hatten einst die Kapelle eines Klosters geziert. Es fühlte sich seltsam an, sich dem Haus als Besucher zu nähern, wo ihm doch als Knabe die Benutzung des Vordereingangs verboten worden war. Ein Diener in dunkelgrüner Livree reagierte auf Thanes Klopfen. Er erkannte die glatten, teilnahmslosen Gesichtszüge unter der formellen weißen Perücke nicht wieder und fragte sich, was aus Sewell geworden war, dem alten Butler mit dem scharf geschnittenen Gesicht, der Thanes Albernheiten mit stoischer Gelassenheit ertragen hatte. Der Diener nahm sein feines Gewand mit einem Blick zur Kenntnis und trat zurück, um ihm Einlass zu gewähren.

„Willkommen in Waverly Park.“

„Ist mein Onkel zu Hause?“, fragte Thane, als er in die schwach beleuchtete große Halle trat. „Sagen Sie ihm, dass Mansfield zu Besuch gekommen ist.“ Die blauen Augen des Dieners zuckten leicht vor Erkenntnis, denn er hatte wohl schon von dem abtrünnigen Neffen des Hausherrn gehört. „Ja, mein Herr. Wenn Sie so freundlich wären, im Vorzimmer zu warten.“ Der Diener deutete auf ein Zimmer auf der rechten Seite und eilte dann den langen Korridor hinunter, der zur Rückseite des Hauses führte. Scheinbar verbrachte Onkel Hugo seine Tage immer noch versteckt in der Bibliothek. Alte Gewohnheiten ließen sich eben nur schwer ablegen. Thane streifte seinen Mantel ab und warf ihn über einen Stuhl. Nachdem er seit dem Morgengrauen an den Sattel gefesselt gewesen war, hatte er nicht die Absicht, wie ein schwerfälliger Gutsherr in einem Raum zu sitzen, der zuletzt während der Herrschaft von Königin Anne dekoriert worden war. Er hatte zu viel auf dem Herzen und das dringende Bedürfnis, nach London zurückzukehren, sobald er hier fertig war. Ein Gefühl der Unruhe überkam ihn. Er hatte sich geschworen, niemals in dieses Haus zurückzukehren. Nur ein Gefühl der Verpflichtung und eine Aufforderung seines Onkels hatten ihn zur Rückkehr bewegt. Ungeachtet ihrer Differenzen in der Vergangenheit schuldete er Onkel Hugo aus Höflichkeit eine Erklärung.

Es wäre die Tat eines Feiglings gewesen, das per Brief zu tun. Thane machte einen bedächtigen Spaziergang durch die Eingangshalle. Hier hatte sich nicht viel verändert. An den eichengetäfelten Wänden hingen immer noch mittelalterliche Schilde und Gemälde, die von Ruß und Alter so dunkel geworden waren, dass es schwierig war, das Motiv zu erkennen. Eine Rüstung stand auf einem Podest unter der Biegung der Treppe. Er ging näher an das Ausstellungsstück heran. Im Brustpanzer war eine Delle, genau dort, wo er sie in Erinnerung hatte. Vor langer Zeit hatte er sich auf einen Stuhl gestellt, den Helm abgenommen, auf seinen Kopf gesteckt und dann Edward durch die Halle gejagt. Unglücklicherweise hatten die schmalen Augenschlitze Thanes Sicht beeinträchtigt, sodass er gegen die Rüstung geprallt war und sie zu Boden geworfen hatte. Das ohrenbetäubende Scheppern hatte den gesamten Haushalt in Aufruhr versetzt. Ein Anflug von Heiterkeit umspielte Thanes Mund. Wie gut er sich daran erinnerte, wie er hier wie ein Teufel herumgerannt war, bei den wenigen Gelegenheiten, wenn sein Onkel nicht zu Hause war. Es war die reinste Freude gewesen, auf Strümpfen über den Marmorboden zu rutschen. Er war in der Gefahr, ertappt zu werden, regelrecht aufgeblüht. Ruhig zu sitzen und zu lesen, hatte ihn nie interessiert. Endlich kam der Diener mit der Nachricht zurück, dass der Hausherr ihn in der Bibliothek empfangen würde. Thane ging den langen Gang hinunter, seine Schritte waren energisch und entschlossen. Er wollte dieses Gespräch hinter sich bringen, wie eine Dosis bitterer Medizin, die geschluckt werden musste. Als er das Ende des Korridors erreichte, bog er links ab und betrat eine geräumige Kammer mit ordentlich aufgereihten, in Leder gebundenen Büchern, die die Regale vom Boden bis zur Decke füllten. Ein Feuer zischte im Kamin. Daneben saß sein Onkel in einem nussbraunen Ohrensessel, die Füße hatte er auf einem ausgefransten Hocker abgestützt und an den Knöcheln gekreuzt. Die Tatsache, dass er so eingesunken wirkte, überraschte Thane. Die Zeit hatte es nicht gut mit dem ehrenwerten Hugo Pallister gemeint, dem jüngeren Zwillingsbruder von Thanes verstorbenem Vater. Die vertraute graue Perücke saß auf Hugos Kopf, denn er hielt hartnäckig an der Mode seiner Jugend fest. Tiefe Furchen flankierten seinen nach unten gezogenen Mund und verliehen ihm ein immerwährendes mürrisches Stirnrunzeln. Er blickte von dem Buch in seinem Schoß auf, als Thane sich näherte. Auf den dünnen Lippen seines Onkels lag kein Lächeln zur Begrüßung, und Thane hatte auch keins erwartet. Die blassblauen Augen, die von der erschlafften Haut unterstrichen wurden, sahen eingefallen aus, obwohl sie so scharf beobachtend waren wie immer. Falls Hugo die entstellende Narbe des Schnitts auf Thanes Wange überhaupt bemerkte, gab er keinen Hinweis darauf. Thane bezweifelte nicht, dass sein Onkel immer noch Groll darüber hegte, dass ihm nach dem Tod von Thanes Eltern vor all den Jahren die Sorge für seinen jungen Neffen aufgezwungen worden war. Manche Dinge änderten sich nie. Thane neigte seinen Kopf in einer leichten Verbeugung. „Hallo, Onkel. Es ist schon eine ganze Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

„In der Tat.“ Hugo klappte das Buch zu und legte es beiseite. „Und wessen Schuld ist das? Ich hätte nicht gezwungen sein sollen, dich hierher zu bestellen. Du bist jetzt seit einem Monat wieder in England und hast dich nicht dazu herabgelassen, mich sofort aufzusuchen.“

„Fünf Wochen“, korrigierte Thane. „Ich bin Mitte Februar aus Belgien zurückgekehrt.“ Und es war eine bitterkalte und ungemütliche Reise gewesen, zusätzlich erschwert durch eine launische Frau im Schlepptau. Sein Onkel winkte mit einer knorrigen Hand. „Umso mehr Grund, dich zu schelten. Und jetzt hol mir einen Whiskey. Ich nehme an, du willst auch eine Erfrischung.“ Mit zusammengepresstem Kiefer ging Thane zum Beistelltisch und schenkte zwei Gläser aus der Karaffe ein. In der Stimme seines Onkels lag ein missbilligender Ton, aber das war nur zu erwarten.

Hugo war ein Pfennigfuchser, der sich nicht so ohne Weiteres von seinem Lieblings-Scotch-Malt trennte. Thane reichte ihm den Drink und stellte sich dann an den Kamin, wobei er seinen Unterarm auf den Kaminsims aus Eiche stützte. Er hatte nicht den Wunsch, dies in einen gesellschaftlichen Besuch zu verwandeln, doch die Höflichkeit, die ihm vor langer Zeit von einer Gouvernante eingetrichtert worden war, veranlasste ihn, zu sagen: „Du siehst gut aus, Onkel. Wie ist es dir ergangen?“

„Ich leide an Gicht und Rheuma, wie du wissen würdest, wenn du dir jemals die Mühe gemacht hättest, mir eine Nachricht zukommen zu lassen. All die Jahre und kein einziges Wort von dir. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo du stationiert bist.“ Sicherlich hatte Hugo nicht erwartet, dass er schreiben würde, als wären sie liebevolle Verwandte. Der Gedanke erschreckte Thane einen Moment lang, bevor er ihn als lächerlich verwarf. Er nahm einen Schluck und ließ den Whiskey seine Kehle hinunterbrennen. Sein Onkel schwang die Beschwerden immer noch wie ein Breitschwert. Er hatte kein wirkliches Interesse daran, von dem Neffen zu hören, der ihm ein Dorn im Auge gewesen war. Wenn Hugo wirklich hätte in Kontakt bleiben wollen, hätte er Thane über das Innenministerium ausfindig machen können. Er hatte sicherlich keine Schwierigkeiten gehabt, die Nachricht von Thanes Rückkehr – und die Umstände, die dazu führten – herauszufinden. „Verzeih mir“, sagte Thane mit einem Anflug von Ironie. „Aber ich war damit beschäftigt, dem König zu dienen.“

„Es ist nicht die Aufgabe eines Adligen, Kriege zu führen. Du hast dich vor deinen Pflichten gedrückt, indem du weggelaufen bist, um der Trommel zu folgen. Der richtige Platz für einen Mann deines Ranges ist hier in diesem Land, wo du über deine Ländereien wachst und deinen rechtmäßigen Sitz im Parlament einnimmst.“ Der Militärdienst war ein hartes Leben gewesen, ein Überleben in Kälte und Schlamm und mit begrenzten Vorräten, das Ertragen des Falles von Kameraden auf dem Schlachtfeld, doch Thane bereute es nicht.

Ein langweiliges, sicheres Leben zu wählen, wäre seinem Temperament zuwider gewesen. „Ich bin heute nicht gekommen, um über die Vergangenheit zu streiten. Vielmehr fand ich, dass du eine Erklärung in Bezug auf mein Mündel verdienst.“

„Das tue ich in der Tat. Dein Verhalten war eine Schande.“ Hugo klatschte mit der Handfläche auf die Stuhllehne. „Als Oberhaupt dieser Familie muss ich dich dafür schelten, dass du eine unschuldige junge Dame in deinem Haushalt beherbergst. Hast du denn gar kein Gefühl für Anstand?“ Trotz seiner Entschlossenheit, ruhig zu bleiben, spürte Thane eine heiße Wut in sich aufsteigen. Seit er die Volljährigkeit erreicht hatte, war er das Oberhaupt der Familie, nicht sein Onkel. Und nach Jahren im Ausland als Kommandeur einer Kavalleriebrigade gefiel es Thane nicht, wie ein niederer Rekrut herabgewürdigt zu werden. „Ich kann dir versichern, dass es keine Anzeichen von Ungebührlichkeit gab. Miss Jocelyn Nevingford wohnt nicht in meinem Stadthaus, sondern in dem Haus direkt neben meinem.“

„Aber es gibt eine Verbindungstür.“ Bösartigkeit blitzte in seinem rheumageplagten Gesicht auf, Hugo streckte Thane einen knorrigen Finger entgegen. „Versuch nicht, mich hinters Licht zu führen. Ich habe Fisk geschrieben, und sie hat mir einen vollständigen Bericht geschickt.“ Mrs Fisk war einst das Kindermädchen in diesem Haus gewesen. Als Thane als fünfjähriger Waisenjunge hierhergekommen war, hatte die Witwe ihn unter ihre Fittiche genommen, ihn zur Schlafenszeit in den Schlaf gesungen und ihn in schweren Zeiten getröstet. Sie war eine der wenigen Personen, denen er vertraute, weshalb er sie gebeten hatte, aus dem Ruhestand zu kommen und die Rolle der Begleiterin für Jocelyn zu übernehmen. Thane konnte es Fisk nicht verübeln, dass sie Informationen geliefert hatte; sie war eine freundliche alte Seele, die nur das Beste in den Menschen sah. Und sie hätte kaum über etwas Unanständiges schreiben können, wenn nichts vorgefallen war. Die schmutzigen Details hatte allein die ätzende Fantasie seines Onkels geliefert. Thane griff nach seinem Glas und starrte auf Hugo herab. „Ein vollständiger Bericht, sagst du?“, sagte er kühl. „Dann wirst du sicher wissen, dass Jocelyn fünfzehn Jahre alt ist. Dass ihre Eltern letzten Herbst gestorben sind, als ihre Kutsche bei einem Regensturm in der Nähe von Brüssel umgekippt ist. Dass sie mit ihnen gefahren ist und nur durch ein Wunder Gottes den Unfall selbst überlebt hat. Ich glaube kaum, dass diese Tatsachen der Nährboden für einen Skandal sind.“

„Es ist ganz sicher ein Skandal, wenn ein Junggeselle ein Mädchen adoptiert, das nicht aus seiner eigenen Familie stammt“, belehrte ihn sein Onkel. „Es muss jemand anderes geben, der sie aufnehmen kann. Es wäre passender, wenn sie zu einem Blutsverwandten ginge.“ Jocelyn hatte eine ältere Großtante in Lancashire, die so entsetzt über die Aussicht war, ein verkrüppeltes Mädchen aufzunehmen, dass Thane eine andere Verwandte erfunden hatte, um Jocelyn nicht der ungastlichen alten Frau aussetzen zu müssen. Außerdem hatte er ihrem Vater, James, Thanes bestem Freund, ein Versprechen gegeben. Vor der Schlacht von Waterloo hatte James Thane das Versprechen abgerungen, im Falle seines Todes für Jocelyn zu sorgen. Ironischerweise hatte James an jenem Tag einen Kugelhagel überlebt, nur um ein paar Monate später bei einem Kutschenunfall sein Leben zu verlieren. Mit belegter Kehle trank Thane seinen Whiskey aus und stellte das Glas auf einem Tisch ab. „Es gibt niemanden“, sagte er entschieden. „Glaube mir, ich habe alles abgesucht.“

„Dann schick sie weg in ein Häuschen auf dem Land. Du hast die Mittel, um alle möglichen Diener einzustellen, die auf die Kleine aufpassen. Das hätte jeder anständige Gentleman getan.“ Hugos misstrauischer Blick musterte ihn von oben bis unten. „Aber seit deiner Rückkehr bist du zweifellos einer dieser Leute geworden, der Glücksspieler und Wüstlinge. Es würde mich nicht überraschen, wenn ich erfahre, dass du böse Absichten mit ihr hegst.“ Thanes Gereiztheit nahm einen deutlichen Aufschwung. „Um Himmels willen, sie hat eine traumatische Verletzung erlitten. Hältst du so wenig von mir, dass ich mich einem einfachen Mädchen aufdrängen würde, geschweige denn einem verkrüppelten?“ Onkel Hugo sah ungerührt aus. Er nippte an seinem Whiskey und blickte über den Rand des Glases. „Das tue ich. Du warst immer der Wilde, ein Taugenichts, genau wie dein Vater.“ Thane konnte die Fangarme des Neides sehen, die jedes Wohlwollen aus der Wesensart seines Onkels herausgepresst hatten. Dennoch riefen diese Worte ein Echo der Unzulänglichkeit hervor, gegen die Thane als Jugendlicher gekämpft hatte. Er gab seine Gelassenheit auf und schnauzte: „Du nimmst es meinem Vater also immer noch übel, dass er drei Minuten vor dir geboren wurde. Wenn es nicht eine Laune des Schicksals wäre, wärst du der Earl of Mansfield.“ Eine wütende Röte verdunkelte Hugos Gesicht. Seine Finger schlossen sich um das Glas in seiner Hand. „Bei Gott, du bist so respektlos wie eh und je. Ich weiß nicht, warum du nicht mehr wie Edward sein kannst. Er war die letzten acht Jahre verheiratet. Und er hat zwei Söhne gezeugt.“ Thane hatte das nicht gewusst. Aber die Nachricht war keine Überraschung. Sein Cousin war immer ein Langweiler gewesen, der den Konventionen folgte. „Dann solltest du dich freuen“, sagte Thane. „Wenn ich ohne Nachkommen sterbe, geht der Titel an dich und dann an Edward und seinen Ältesten. In Wahrheit würde es mich nicht überraschen, zu erfahren, dass du für mein Ableben auf dem Schlachtfeld gebetet hast.“ In Onkel Hugos Augen flackerte etwas auf, so etwas wie Schock. Einer der Holzscheite knackte, dann fiel er in einem Funkenregen zu Boden. Thane hatte das unangenehme Gefühl, dass er über eine Linie getreten war. Hugo schüttelte angewidert den Kopf. „Denk, was du willst. Ich habe dich herbestellt, um dich davor zu warnen, den Ruf des Mädchens zu ruinieren. Wenn du auf diesen törichten Kurs bestehst, dann such dir wenigstens eine Frau, eine von entsprechend hoher Geburt, die dir Respekt einflößt. Tu ein einziges Mal in deinem Leben deine Pflicht, Junge.“ Die Enttäuschung im Ton seines Onkels schmerzte Thane mehr als der Schlag einer Weidenrute. Es war lächerlich, sich darum zu kümmern, was der Mann von ihm dachte. Dieses Gespräch hatte lange genug gedauert. Er machte eine steife Verbeugung. „Ich werde deinen Rat in Betracht ziehen. Guten Tag, Onkel.“ Er drehte sich um und schritt aus der Bibliothek. Eine Frau finden? Eher würde er in der Hölle schmoren, als sich den Forderungen seines Onkels zu fügen. Er hatte weitaus wichtigere Aufgaben zu erledigen, als in den Ballsälen Londons mit kichernden Debütantinnen müßig zu plaudern. Am dringlichsten war sein Treffen mit dem obersten Richter in der Bow Street. Thane konzentrierte sich auf seine geheime Mission. Wenn alles wie erwartet verlief, würde er in den kommenden Wochen tatsächlich sehr beschäftigt sein.

Kapitel 2

Die meisten vornehmeren jungen Damen zählten Nähen oder Singen zu ihren größten Errungenschaften. Nicht jedoch Miss Lindsey Crompton. Wenn es eine Fähigkeit gab, in der sie sich auszeichnete, dann war es das Spionieren.

Nach einem schnellen Blick den verlassenen Korridor hinauf und hinunter, schloss sie die Tür des Arbeitszimmers. Glücklicherweise hatten sich keine anderen Gäste vom Ball in diesen Flügel des Hauses verirrt. Sie hielt eine Kerze hoch und betrachtete einen ziemlich schäbigen Raum mit einem fadenscheinigen Perserteppich auf dem Boden und einem Paar Ohrensessel am unbeleuchteten Kamin. Schatten flackerten über Regale mit verstaubten Bänden, die aussahen, als wären sie seit Jahren nicht mehr aufgeschlagen worden. Ihr blassgrünes Kleid raschelte, als Lindsey zu dem Mahagonischreibtisch eilte, der den Raum dominierte. Das ferne Geräusch von Musikern, die ihre Instrumente stimmten, warnte sie, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte. Wenn sie es versäumte, zum nächsten Tanz in den Ballsaal zurückzukehren, würde Mama sehr wütend sein. Mrs Edith Crompton hatte eine Reihe von geeigneten Adligen als Partner für ihre mittlere Tochter in jedem Set arrangiert. Ihre Mutter wusste es nicht, aber Lindsey war ebenso entschlossen, eine alte Jungfer zu bleiben. Sie hatte kein Interesse daran, einen der kriecherischen Herren zu heiraten, die ihre enorme Mitgift begehrten. Einen aristokratischen Ehemann zu haben, würde ihre Pläne für ihr Leben behindern. Aus diesem Grund hatte sie vor, einen Weg zu finden, jeden einzelnen dieser Narren abblitzen zu lassen. Sie stellte den silbernen Kerzenständer auf den Schreibtisch und rümpfte die Nase über den Gestank von abgestandenem Rauch aus dem Aschenbecher, in dem Lord Wrayford eine Zigarette ausgedrückt hatte. Daneben stand ein leeres Kristallglas in den klebrigen Resten eines verschütteten Brandys. Männer und ihre schlechten Angewohnheiten! Wie konnten sich Frauen nur mit solchem Unsinn abfinden? Leise murmelnd öffnete sie die oberste Schublade und untersuchte den Inhalt. Darin lag ein Sammelsurium von Federkielen, eine silberne Schachtel mit feinem Sand zum Löschen von Tinte, verschiedene Schnüre, Siegellack und ein Stapel cremefarbenes Briefpapier mit einem goldenen W. Nichts von Interesse. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die nächste Schublade. Hier weckte ein durcheinandergewürfelter Haufen Papier ihre Neugierde. Auf der Stuhlkante sitzend, machte sich Lindsey daran, das Durcheinander zu durchforsten. Es war eine Aufgabe, die sie genoss, denn es gab nichts Faszinierenderes für sie als das fragwürdige Vergnügen, in den privaten Besitztümern anderer zu stöbern. Die finanzielle Notlage Lord Wrayfords wurde bald deutlich. Es gab zahlreiche Rechnungen von Schneidern, von Schuhmachern, von Juwelieren und Tabak- und Weinhändlern. Die meisten Rechnungen waren überfällig, nach den vielen Mahnungen von Gläubigern zu urteilen, die sofortige Zahlung forderten. Nicht umsonst war Lord Wrayford ihr hartnäckigster Verehrer.

Oder vielleicht wäre glühend ein passenderer Ausdruck für die Art und Weise, wie er immer auf ihr modisch tief ausgeschnittenes Mieder starrte. Der Gedanke bereitete ihr eine Gänsehaut. Am Tag zuvor hatte er sie auf eine Fahrt durch den Hyde Park mitgenommen, die Kutsche auf einen verlassenen Weg gelenkt und versucht, ihr einen schmierigen Kuss auf die Lippen zu drücken. Ein harter Schlag in die Rippen hatte ihn zurechtgewiesen, aber das hatte nicht ausgereicht, um ihn endgültig zu entmutigen. An diesem Abend hatte er sich mehr als einen Tanz mit ihr gesichert – als ob sie bereits ihm gehörte. Aber es war nicht von Bedeutung. Dieser Ball in seinem Haus war die perfekte Gelegenheit für sie, ihm endgültig einen Strich durch die Rechnung zu machen. Es gab ihr die Chance, eine belastende Information zu finden, die seinem Werben ein für alle Mal ein Ende setzen würde. Leider würden überfällige Rechnungen kaum ausreichen, um die Heiratspläne ihrer Eltern zu durchkreuzen. Lord Wrayford war der Erbe des Dukes of Sylvester – ein klappriger alter Mann, der mit einem Bein im Grab stand. Der bloße Gedanke an Lindsey als Duchess versetzte ihre Mutter in einen Zustand der Verzückung. Und es erfüllte Lindsey mit einem gleichen Maß an Widerwillen. Die Vorstellung, den Rest ihres Lebens damit zu verbringen, langweilige Gespräche mit klatschsüchtigen alten Weibern zu führen, die neueste Mode einzukaufen und endlose Feste zu besuchen. Nichts könnte weiter von ihren eigenen geheimen Ambitionen entfernt sein. Wie lästig es doch war, die erste Erbin der Gesellschaft zu sein! Als sie die Schublade schließen wollte, klemmte etwas im Holz. Sie bückte sich, um genauer hinzusehen, und entdeckte ein zerknittertes Stück Kanzleipapier, das in einer Ritze steckte. Sie löste es, legte das Papier auf den Schreibtisch und glättete die Falten im fahlen Licht der Kerze. Mit schwarzer Tinte war eine kurze Nachricht geschrieben worden, die Schrift war eindeutig männlich.

Diese Notiz ist ein beglaubigtes Duplikat eines Schuldscheins über die Summe von eintausend Goldguineas, ordnungsgemäß gewonnen von Wrayford am 25. März 1816, und zahlbar an mich in voller Höhe bis zum 30. Juni 1816. Mansfield

Der Name traf Lindsey mit einem unerfreulichen Schock. Mansfield … der Earl of Mansfield. Er war der gefeierte Kriegsheld, der immer von kriecherischen Damen umgeben war. Man erzählte sich, dass er bei Waterloo einen waghalsigen Angriff angeführt hatte, der die Franzosen in die Flucht geschlagen und den Verlauf der Schlacht von einer Beinahe-Niederlage in einen Sieg verwandelt hatte. Obgleich Lindsey Mansfield seit ihrem Debüt vor vierzehn Tagen ein paar Mal aus der Ferne gesehen hatte, waren sie sich nie vorgestellt worden. Der beträchtliche Reichtum des Earls erhob ihn in die Riege der Blaublüter, die es nicht nötig hatten, für Geld zu heiraten, und deshalb keinen Grund sahen, Bürgerliche wie sie in der Runde willkommen zu heißen. Obwohl die Cromptons reicher waren als alle anderen außer der königlichen Familie, galten sie als Außenseiter, da ihr Vater sein beträchtliches Vermögen durch den Handel in Indien verdient hatte.

 

Nach dem Schuldschein zu urteilen, den sie in der Hand hielt, war Mansfield alles andere als ein bewundernswerter Mann. Er war ein typischer Schuft aus der Oberschicht, der sein Leben mit Würfeln und Kartenspielen verplemperte. Er zog die Gesellschaft von Taugenichtsen wie Wrayford der von ehrlichen, arbeitenden Menschen vor. Selbst nach fast zwei Jahren in London empfand Lindsey solchen Elitismus als einen geschmacklosen Kontrast zu den entspannten Standards in Indien. Wenigstens hatte sie dort die Freiheit gehabt, ihre eigenen Interessen zu verfolgen, solange sie darauf achtete, dies hinter dem Rücken ihrer Mutter zu tun. Lindsey nahm einen tiefen Atemzug. Sie durfte nicht zulassen, dass persönliche Wertungen ihre Aufgabe hier überschatteten. Emotionen vernebelten nur den scharfen Intellekt, den die Kunst der Detektion erforderte. Alles, was zählte, waren die Informationen, die sie in der Hand hielt. Lord Wrayford schuldete Mansfield eine beträchtliche Summe. Sie erlaubte sich ein Lächeln des Triumphs. Obwohl ihre Eltern nichts dagegen hatten, dass sie einen mittellosen Adligen heiratete, wären sie sicher entsetzt, wenn sie erfahren würden, dass Lord Wrayford eine so hohe Spielschuld angehäuft hatte. Papa würde sich dagegen wehren, dass sein hart erarbeiteter Reichtum in die Hände eines Verschwenders gelegt wurde. Man denke nur daran, wie er sich gegen Colin, den jetzigen Ehemann ihrer Schwester Portia, gewehrt hatte, als jeder ihn für einen wertlosen Lumpen gehalten hatte. Ja, dieses Beweisstück würde sich tatsächlich als nützlich erweisen. Auf die leise tickende Uhr auf dem Kaminsims achtend, bückte sich Lindsey, um die Schublade zu schließen. Es war fast Mitternacht und Zeit für den Abendtanz. Sie musste sich beeilen, um zurück in den Ballsaal zu kommen, bevor ihre Mutter Verdacht schöpfte. Lindsey erhob sich vom Stuhl, hob den silbernen Kerzenständer auf und eilte durch den Raum. Doch als sie die Tür einen Spalt öffnete, hallte das Geräusch von Stimmen auf dem Korridor wider. Lindsey legte den Kopf schief, ihre Sinne waren alarmiert. Es waren zwei verschiedene Arten von Schritten zu hören, eine schwer, die andere leicht. Ein Mann und eine Frau. Sie kamen in diese Richtung. Es würde nicht gut ausgehen, wenn irgendwelche Gäste sie in Wrayfords Arbeitszimmer herumschnüffeln sahen. Oder noch schlimmer, was, wenn Wrayford selbst hereinkäme? Er könnte sie in eine kompromittierende Situation bringen und sie zur Heirat zwingen. Sie sah sich nach einem Versteck um. Hinter dem Schreibtisch oder einer Liege zu kauern, würde sie nur extrem schuldbewusst aussehen lassen. Vielleicht wäre es das Beste, es einfach zuzugeben. Ihre Nerven kribbelten vor Anspannung, und Lindsey drückte sich an die Wand neben der Tür. Die Vertäfelung roch nach staubiger Eiche, die nur selten eine Schicht Bienenwachspolitur gesehen hatte. Sie legte den Kopf schief und versuchte, das leise Geräusch einer Unterhaltung wahrzunehmen. Leider dämpfte die teilweise geschlossene Tür ihre Worte. Sie kam sich ein wenig albern vor, hier herumzuschleichen wie ein heimtückischer Bösewicht in einem der Abenteuerromane, die sie so gerne las. Die Schritte gehörten vermutlich zu den Dienern, die ihren Pflichten nachgingen.

Niemand sonst hatte einen Grund, sich während einer Feier in diesen Raum zu wagen. Portia und Blythe zogen Lindsey ständig wegen ihrer misstrauischen Art auf, und vielleicht hatten ihre Schwestern recht … Die Türklinke rüttelte. Lindsey stellte erschrocken fest, dass sie immer noch den gestohlenen Schuldschein in der Hand hielt. Sie hatte nur einen Augenblick Zeit, ihn zu verstecken. Da das eng anliegende Ballkleid keine Taschen hatte, stopfte sie das gefaltete Papier in das Mieder ihres Kleides. Gerade noch rechtzeitig. Die Tür schwang auf. Ein Mann und eine Frau zeichneten sich als Silhouetten im Halbdunkel des Ganges ab. Seine Hand lag auf ihrem oberen Rücken, er lenkte sie vor sich her ins Arbeitszimmer. Sein dunkler Kopf war nach unten geneigt, als er mit seiner Begleiterin sprach. Es waren ein Herr und eine Dame. Nein, keine Dame. Ein Dienstmädchen. Und zwar ein ungewöhnlich hübsches, schlank und jung, in einem grauen Serge-Kleid mit einer weißen Mütze auf dem blonden Haar. Lindsey beäugte das unpassende Paar. Bevor sie ergründen konnte, was sie hier wollten, blieb ihr Blick an dem großen, breitschultrigen Herrn hinter dem Dienstmädchen hängen. Die Welt kippte aus den Fugen. Mansfield? Er war genau der Gentleman, dessen Unterschrift auf den Schuldschein gekritzelt war, der in ihrem Korsett steckte. Welcher Schicksalsschlag hatte ihn in dieses Zimmer gebracht? Das Dienstmädchen erblickte sie und stieß einen Schrei der Überraschung aus. Sie wich vor dem Earl zurück. Er hob den Kopf und starrte Lindsey direkt an, wobei sich die dunklen Brauen zu einem finsteren Blick senkten. Offensichtlich hatte er erwartet, Lord Wrayfords Arbeitszimmer menschenleer vorzufinden. Mansfields Augen waren von einem so dunklen Braun, dass sie fast schwarz wirkten. Sie schienen ihre Seele zu durchdringen. Lindsey kämpfte gegen den Impuls an, zurückzuschrecken, und hatte das beunruhigende Gefühl, dass er in ihren Geist sehen und ihre unerlaubten Absichten hier erahnen konnte.

Lächerlich. Sie hob ihr Kinn und erwiderte seinen Blick. Sie hatte sich angewöhnt, den Charakter eines Menschen mit einem Blick zu beurteilen. Er war gut zehn Zentimeter größer als sie, und die Kühnheit seines Blicks gab einen Hinweis auf seinen Erfolg beim Militär. Er war wohl die Art von tollkühnem Anführer, der seine Männer dazu inspirierte, ihm in wilde Taten der Tapferkeit zu folgen. Und in Anbetracht seines Übermaßes an maskuliner Anziehungskraft war es kein Wunder, dass Mansfield großen Erfolg bei den Damen hatte. In seinem kaffeebraunen Mantel und der weißen Krawatte machte er eine elegante Figur, die formelle weiße Hose umhüllte lange, muskulöse Beine. Eine dünne Narbe verlief in einem Winkel über seine linke Wange, wahrscheinlich ein Erbe des Schlachtfelds. Diese gemeißelten Züge hatten eine Kühle, die Selbstvertrauen vermittelte und auf Geheimnisse hinwies. Ihr Herz flatterte aus eigenem Antrieb. Sie würde sich selbst belügen, wenn sie leugnete, dass er der attraktivste Mann war, den sie je gesehen hatte. Aber das war ein Grund mehr, sich vor ihm in Acht zu nehmen. Männer seiner Art waren immer eingebildet. Sie betrachteten sich selbst als Königskobras, obwohl sie nach moralischen Maßstäben geringer waren als eine gewöhnliche Gartenschlange. Die Dienstmagd warf einen weiten, flehenden Blick zu dem Earl hinauf. Er blickte zu Boden und nickte ihr fast unmerklich zu. Ohne ein Wort zu sagen, duckte sie sich unter seinen Arm und flüchtete aus dem Arbeitszimmer. Als das Taptap der sich entfernenden Schritte in der Ferne verklang, rasten Lindseys Gedanken. Warum würde der Earl of Mansfield ein Dienstmädchen während einer Feier in einen verlassenen Bereich des Hauses bringen? Warum hatte das Mädchen so alarmiert ausgesehen? Was konnte er nur von jemandem wollen, der so weit unter seiner erhabenen Gestalt stand? Von unschönen Spekulationen geplagt, krallte Lindsey ihre Finger um den Kerzenständer. Ja, was nur! „Bitte entschuldigen Sie mich“, sagte sie kalt und trat auf ihn zu. „Ich wollte gerade gehen.“ Sie war gezwungen, innezuhalten, als er ihr den Ausgang blockierte, indem er im Türrahmen stehen blieb.

Etwas an seiner spekulativen Betrachtung verunsicherte sie. Er kannte sie nicht, sie war nur eine weitere anonyme Debütantin, also würde er sie festhalten? Sein Blick huschte zum Ausschnitt ihres Kleides und verweilte dort einen Moment. Lindsey war sich des gestohlenen Schreibens, das sich zwischen dem Korsett und ihrer nackten Haut befand, sehr wohl bewusst. Ragte eine Ecke des Schuldscheins aus ihrem Mieder heraus? Sicherlich nicht. Sie widerstand dem Drang, sein Interesse zu wecken, indem sie nach unten schaute, um nachzusehen. Mansfield gaffte, weil er ein Mann war. Ein böser Schuft, dem es nichts ausmachte, die Figur einer jungen Frau zu begaffen. Er neigte den Kopf und gewährte ihr einen Blick auf sein dichtes schwarzes Haar.

„Miss Crompton. Was für ein unerwartetes Vergnügen.“ Sie hätte nicht verblüffter sein können – oder misstrauischer. „Woher kennen Sie meinen Namen?“

„Erbinnen sind immer in aller Munde. Besonders die schönen.“ Sein Kompliment verursachte eine merkwürdige Wärme in ihrer Magengrube. Zum Glück war sie keine, die dem öligen Charme eines Mannes zum Opfer fiel. „Kriegshelden sind auch Gegenstand von Klatsch und Tratsch“, konterte sie. „Sie sind Lord Mansfield.“

„Thane Pallister für meine Freunde.“ Thane. Wie ungewöhnlich. Aber er musste verrückt sein, wenn er glaubte, sie würde ihn mit seinem Vornamen ansprechen, wo sie sich doch gerade erst kennengelernt hatten. „Wie freundlich von Ihnen, sich vorzustellen, Lord Mansfield. Wenn Sie jetzt bitte zur Seite treten würden.“ Der Earl ignorierte ihre Bitte erneut. Er lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine ausdruckslose Miene verriet nichts von seinen Gedanken. „Zuerst möchte ich wissen, warum Sie sich unbefugt in Wrayfords Arbeitszimmer aufhalten.“

„Ich wollte ein paar Minuten Ruhe vor dem Gedränge im Ballsaal haben. Haben Sie dagegen etwas einzuwenden?“

„Dieser Raum scheint eine merkwürdige Wahl zu sein, wenn man die Entfernung zur Feier bedenkt.“

„Warum sind Sie dann hier? Oder vielleicht sollte ich so tun, als hätte ich das kleine Stelldichein, das Sie mit dem Hausmädchen geplant haben, nicht bemerkt.“ Er überraschte sie mit einem Lachen. „Sie haben ganz recht. Manche Themen sollte man in höflicher Gesellschaft nie ansprechen. Schon gar nicht vor unschuldigen jungen Damen.“ Die Kerzenflamme überspielte das Grinsen auf seinem viel zu attraktiven Antlitz. Lindsey gab ihm die Schuld für die Röte, die ihre Wangen erhitzte.

 

Ihr fiel auf, dass der Schuft seinen Plan für eine Indiskretion nicht geleugnet hatte. „Ich bin mir der Konventionen durchaus bewusst, Mylord. Aber ich finde es albern, so zu tun, als wüsste man nicht, was sich direkt vor der eigenen Nase abspielt.“

„Eine vernünftige junge Frau. Sie erinnern mich an jemanden.“ Er runzelte die Stirn und schnippte dann mit den Fingern. „Ah, ja. Es war eine Gouvernante, die ich hatte, als ich vielleicht sechs oder sieben Jahre alt war.“

„Eine Gouvernante.“

„Miss Pinchgill war ihr Name. Sie war sehr streng im Umgang mit den Regeln. Immer wenn ich unartig war, hat sie mir auf die Finger geklopft und mich dann stundenlang in die Ecke gesetzt.“ Sein Mund verzog sich ironisch. „Ich hatte es ausnahmslos verdient.“ Lindsey schwankte zwischen Beleidigtsein über den Vergleich und einem Lächeln über das Bild von ihm als schelmischem Jungen. Eines war sicher: Sie durfte kein weiteres Gespräch anregen. „Wie faszinierend“, sagte sie in einem Ton, der andeutete, dass es alles andere als das war. „Und jetzt gehen Sie bitte zur Seite. Es ist höchst unpassend für uns, hier ohne Begleitung zu verweilen.“

„Wie Sie wünschen, Miss Crompton. Es liegt mir fern, die Anstandsregeln zu missachten.“ Mansfield trat zurück in den schwach beleuchteten Korridor und ließ ihr genug Platz, um an ihm vorbeizukommen. Sie ergriff den Kerzenständer und glitt durch die Türöffnung. Deutlich nahm sie seine große, muskulöse Gestalt wahr, die sich in dem Schatten abzeichnete. Eine seltsame Spannung erfasste ihr Inneres, und sie verfluchte die Wirkung, die er auf sie hatte. Hochwohlgeborene Adlige hatten sie schon immer irritiert. Sie verachtete sie als Snobs, die Menschen nach ihrer Abstammung beurteilten. Es konnte keinen anderen Grund geben, warum sie plötzlich bestrebt war, dem Blick dieser verstörenden dunklen Augen zu entkommen. Als Lindsey sich abwenden wollte, schnellte seine Hand hervor. Es geschah so schnell, dass sie nur Zeit hatte, nach Luft zu schnappen. Seine Finger streiften den oberen Rand ihrer nackten Brüste und tauchten in die Vertiefung ein. Ihre Brustwarzen zogen sich in einer sofortigen Reaktion zusammen. Eine Gänsehaut huschte über ihre Haut, als er den Schuldschein geschickt herauszog. „Was haben wir denn da?“ Er warf einen Blick auf das Papier und zog eine Augenbraue hoch. „Ah, genau wie ich vermutet habe. Sie haben in Wrayfords Schreibtisch gewühlt. Das nächste Mal, wenn Sie sich als Dieb aufspielen, würde ich Ihnen raten, die Beute tiefer in Ihrem Mieder zu verstauen.“ Jede Faser ihres Körpers bebte vor Gefühlen. Schock über Mansfields unhöflichen Übergriff auf sie. Wut über seine Dreistigkeit, ihren Busen zu berühren. Sorge, dass er nun den Beweis hatte, den sie brauchte, um Wrayfords Antrag abzuweisen. Ohne auf die Kerze in ihrer Hand zu achten, griff Lindsey wild nach dem Papier. „Schurke! Geben Sie mir das zurück.“ Sie prallte mit ihm zusammen, als er den Schuldschein außerhalb ihrer Reichweite hob. Sein Arm legte sich um ihre Taille und drückte sie hart gegen seine Brust, sodass Lindsey sich in einer ungewollten Umarmung wiederfand. Die Überraschung machte sie unbeweglich. Sie konnte das starke Schlagen seines Herzens spüren, seinen Duft nach exotischen Gewürzen riechen und den schwachen schwarzen Schatten entlang seines Kiefers sehen, wo er sich rasiert hatte. In ihren Fingern juckte es, die dünne Kurve der Narbe nachzuzeichnen, die seine Wange halbierte. In einem schwindelerregenden Moment bemerkte sie, dass seine Augen aus der Nähe betrachtet sehr schön waren. Die Iris war nicht in einem matten Dunkelbraun, wie sie zuerst gedacht hatte, sondern mit goldenen Flecken übersät, die im fahlen Licht ihrer Kerze glitzerten. Seine ebenholzfarbenen Wimpern waren leicht gesenkt, um seine Gedanken zu schützen. Die Geheimnisse, die sie in ihm spürte, hatten eine starke Anziehungskraft. Wenn sie nur lange genug starrte, konnte sie sicher die Tiefen seiner Seele erkennen … Er zuckte zurück und ließ sie abrupt los. „Verdammt!“ Lindsey machte unwillkürlich einen Schritt zurück und sah, wie er an seinem Zeigefinger lutschte. Erst dann wurde ihr klar, was passiert sein musste. Heißes Wachs von ihrer Kerze war auf seine Hand getropft. Das geschah dem Schuft recht. Ihr Körper bebte noch immer von ihrer engen Berührung. Abgesehen von den liebevollen Umarmungen ihres Vaters hatte sie noch nie die Umarmung eines Mannes erlebt. Deshalb fühlte sich ihre Haut wohl auch so brennend heiß an. „Schuft“, schnappte sie. „Sie verdienen weitaus Schlimmeres als das.“ Er hörte auf, seinen Finger zu kühlen, und sah sie finster an. „Sie waren es, die wütend auf mich zugeflogen ist.“

„Weil Sie mir das Papier auf höchst ungebührliche Weise gestohlen haben. Ich will es sofort zurückhaben.“ Mansfield lachte düster und legte seine Hand – und den Schuldschein – auf den Türrahmen, weit über ihren Kopf. Dadurch öffneten sich die Klappen seines Mantels und sein weißes Hemd und die dunkle Weste zogen sich über seine breite Brust. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, als würde er ihren Wert abschätzen. „Was wollen Sie denn mit einem privaten Schriftstück zwischen mir und Wrayford? Sie müssen vorhaben, einen von uns beiden zu erpressen. Da wir uns gerade erst kennengelernt haben, nehme ich an, dass Ihr Ziel Wrayford ist.“

„Erpressung? Wie absurd. Ich habe keinen Bedarf an Geld.“

„Nicht jede Erpressung hat mit Geld zu tun. Vielleicht wollen Sie sich mit diesem Dokument Wrayfords Hand zur Heirat sichern. Sie könnten damit drohen, seine Schulden öffentlich zu machen, wenn er Ihnen kein Angebot macht.“

„Wie bitte?“

„Er ist der Erbe eines Herzogtums. Jede Frau Ihres Standes wäre begierig, den Titel einer Duchess zu erlangen.“ Von Ihrem Stand? Lindsey stieß ein wütendes Schnauben aus. Seine Anmaßung machte sie ebenso wütend wie das fantastische Gefühl seiner Finger auf ihrem Busen. „Abscheulicher Mensch! Es ist Wrayford, der hinter mir her ist. Ich will nichts mit ihm zu tun haben.“

„Ach ja?“ Skeptisch musterte Mansfield sie mit seinem Blick. „Dann haben Sie vor, diesen Schuldschein zu benutzen, um Ihre Eltern gegen ihn aufzubringen?“

„Meine Absicht geht Sie nichts an.“

„Da liegen Sie aber falsch. Mein Name steht auf diesem Papier, und ich glaube, dass alle Schulden zwischen Gentlemen privat gehalten werden sollten. Sie werden es niemandem zeigen.“ Er steckte das Dokument in eine Innentasche seines Mantels. „Guten Abend, Miss Crompton.“ Damit schlenderte er den Gang hinunter, in die entgegengesetzte Richtung des Ballsaals. Lindsey starrte seiner weggehenden Gestalt nach und dachte über eine Reihe wilder Szenarien nach. Sie könnte ihm hinterherrennen und wieder mit ihm um das Papier ringen. Sie könnte ihn an der empfindlichsten Stelle eines Mannes in die Knie zwingen, wie es ihr altes Kindermädchen Kasi ihr für den Fall der Fälle beigebracht hatte. Aber das Ballkleid war zu eng anliegend, als dass sie ihm wirklich Schaden zufügen konnte. Und sie hatte keine Lust, sich jemals wieder in die Nähe von Lord Mansfield zu wagen. Er war zu arrogant, zu herrisch, zu sehr von seinem eigenen eitlen Selbstwertgefühl erfüllt. Aber vielleicht war ja doch nicht alles verloren. Ein Gefühl der Entschlossenheit hob ihre Stimmung. Wenn Mansfield den Schuldschein nicht herausgeben würde, dann würde sie um Himmels willen einen Weg finden, ihn von ihm zurückzustehlen.