Leseprobe Tödliche Regie

1

In den vergangenen 25 Jahren hatte Frank Mellendorf seine Sommer im hohen Norden verbracht. Kälte, Abgeschiedenheit, Einsamkeit. Stunden zum Nachdenken, zum Philosophieren – das war seine Art, um die freie Zeit zu verbringen. Die wenige, die er hatte. Die wenige, die er sich nahm. Als Mittfünfziger jedoch mied er inzwischen die Kälte seiner zweiten Heimat Skandinavien.

Trotz seiner schlanken Figur (»Die werde ich immer und ewig behalten!«) und seiner kräftigen Oberarme war er dem Sport nie zugeneigt gewesen, sodass seinem gesamten Körper irgendwie die Frische fehlte. Dass er an seinem langsam welkenden Körper hätte etwas ändern sollen, wäre Mellendorf niemals in den Sinn gekommen, wenngleich der zweiwöchentliche Friseurbesuch für ihn ebenso zur Pflicht gehörte wie die tägliche Rasur bei einem Coiffeur inmitten seiner holländischen Wahlheimat Rotterdam.

Als Geschäftsführer des Konzerns Oiltravspor war an mehr als drei, vier Stunden Schlaf für ihn nie zu denken gewesen, sodass er sich zumindest diese Besuche beim Barbier und Friseur von seiner kostbaren Zeit abzweigte, zumal es ihm den Abstand ermöglichte, den er für nötig hielt, um seine Gedanken zu sammeln. Smalltalk über das (wieder einmal) triste Wetter Rotterdams, über die Niederlage von Feyenoord gegen Ajax Amsterdam … Mellendorf, einer der erfolgreichsten Ölmagnaten Europas, genoss es, für einen Augenblick die auf ihm lastende Bürde abzulegen.

Wenn er später aus dem Fenster seines Büros hinaus auf den Hafen schaute, galten seine Gedanken jedoch nur dem Unternehmen und dem Geld, das er in diesen Minuten, ja Sekunden verdiente. Tag und Nacht, Stunde für Stunde. In unvorstellbaren Mengen. Wie der Taktgeber eines Stromzählers verbuchte er die eingehenden Dollars. Ticktack. Ticktack. Summen, die die Vorstellungskraft eines »Otto Normalverbrauchers« so weit überstiegen, dass ein ungläubiges Staunen derer, die von seinen Einkünften in der Boulevardpresse lasen, immer vorprogrammiert war. Dabei waren die Schätzungen dermaßen weit von seinem tatsächlichen Vermögen entfernt, dass er sie fast schon hätte als Affront empfinden müssen.

Mellendorf war kein Fantast, verrannte sich nicht in der Vorstellung, dass die Energieversorgung in den nächsten Jahrhunderten durch das schwarze Gold gesichert wäre. Doch solange aus den diversen Quellen, die er rund über den Globus verteilt sein Eigen nannte, die Pracht des klebrigen, stinkenden Rohstoffs sprudelte, richtete er das Hauptaugenmerk des Konzerns darauf aus. Zwar forschten seine Wissenschaftler zudem an diversen Projekten der alternativen Energiegewinnung, doch selbst Mellendorf sah diesen Teil seines Unternehmens derzeit noch nicht als echte Alternative an.

Wenn sich Mellendorf in den Windungen seines überdurchschnittlich entwickelten Gehirns verlor, zwang er sich etwa durch den Blick hinaus aufs unendliche Meer hinter dem Rotterdamer Hafen, wieder Boden unter den Füßen zu finden. Dass er überhaupt Auszeiten benötigte, war für ihn neu und störte ihn.

Nachdem die alternden Gelenke in der Kälte Skandinaviens mehr schmerzten als im Süden, hatte sich Mellendorf im vergangenen Jahr erstmals einen kurzen Sommerurlaub an der Côte d’Azur gegönnt. Rechtzeitig zu den Filmfestspielen war der Milliardär in Cannes eingetroffen, um dort unter seinesgleichen zu sein, auch wenn ihm in Sachen Reichtum kaum einer das Wasser reichen konnte. Aber weil er wusste, dass er bei Weitem die Zehn-Milliarden-Grenze geknackt hatte und somit die Königshäuser Europas zusammengenommen an Reichtum übertraf oder ganze Regionen Südfrankreichs hätte kaufen können, ließ er es gerne beim »Millionär« bewenden.

Das mediterrane Küstenstädtchen Cannes, berühmt wegen seines Glamours und seiner grandiosen Lage, war für Mellendorf das Kontrastprogramm zur Ruhe und Idylle Norwegens. Schnell war ihm klar geworden, dass er hier zwischen all den Stars und Sternchen durchaus abschalten konnte. So streifte der Deutsche den legendären Boulevard de la Croisette entlang, gönnte sich so manches Glas Wein zu den von ihm so geliebten Muscheln in Weißweinsoße und ließ die Stunden an sich vorüberziehen. Die Soße zu den Moules à la crème war für ihn der Inbegriff Frankreichs – cremig und kräftig, charmant und sexy. Dabei erweckte sein Gaumen in ihm die wahren Gelüste, denn sein Blick galt, während er die Muscheln genoss, nicht nur der Schönheit der Landschaft und des Meeres, sondern auch den in einem solchen Sommer-Sonne-Badeort an der Côte d’Azur zur Schau gestellten fleischlichen Reizen. Und Mellendorf genoss Cannes in vollen Zügen – auch in den Nächten.

Mellendorfs Ausflug an die Côte d’Azur endete nach nur fünf Tagen. Es war eine Region, die er schnell kennen- und lieben gelernt hatte, war er doch innerhalb nur weniger Stunden von einem vielbeschäftigten Unternehmer zu einem Touristen mutiert, hatte Energie für die mühsamen Tage an der Spitze eines Konzerns getankt. Vor seiner Abreise hatte er sich noch mit dem Hollywood-Regisseur Michael Mc Lorey getroffen, seit vielen Jahren ein enger Freund von ihm.

Nie zuvor ertappte sich Mellendorf in den Wochen nach einem Urlaub so häufig dabei, dass seine Gedanken immer wieder dorthin zurückkehrten. Er trauerte den Tagen an der französischen Mittelmeerküste nach, sehnte sich danach, wieder die warme Sonne des Südens zu spüren, rauchend am Boulevard de la Croisette zu sitzen und den hervorragenden Wein der französischen Südküste zu genießen.

»Maritt, lass nochmals eine Kiste des Cabernet kommen!«, hatte er seine Sekretärin gebeten, die bereits mit einem der Winzer direkt an der französischen Küste in Kontakt getreten war.

Zwar wusste er, dass das Bouquet, der typische Geschmack des Weines und dieses unanständige Prickeln auf der Zunge längst nicht nur mit dem Produkt zu tun hatten, jedoch wollte er auf diese Weise seine ständig präsenten Urlaubserinnerungen wieder aufleben lassen. Nach der zweiten oder dritten Flasche Wein ließ er es sogar zu, dass er und seine Sekretärin sich ein wenig näher kamen.

Er hatte die gut aussehende Holländerin, die stets hohe Absätze trug und ihre langen Beine mit einem kurzen Rock unterstrich, zu einem Glas des gerade angelieferten Weines in sein Büro eingeladen. Maritt Pescort wollte zunächst ablehnen, erkannte aber in den blauen Augen ihres Chefs, dass er sie an diesem frühen Abend nicht einfach würde ziehen lassen.

Zu mehr als einem Tête-à-Tête war es aber nicht gekommen. Mellendorf hatte Maritt lediglich die Schuhe ausgezogen, nachdem sie ihm berichtet hatte, ihre Füße würden heute besonders schmerzen. Am Abend zuvor hatte sie japanische Geschäftspartner durch das riesige Unternehmensgelände geführt. Mellendorf hatte sie darum gebeten, hatte er selbst doch nur wenig Lust dazu empfunden. Stundenlang war Maritt mit den Gästen durch die öffentlichen Bereiche gelaufen, hatte auf Englisch bzw. Japanisch erläutert, auf welchen Säulen Oiltravspor stand, die Personalführung ihres Chefs erklärt und dem Bild von einem perfekten Unternehmen wieder ein Mosaiksteinchen hinzugefügt. Schuldbewusst hatte Mellendorf seiner Sekretärin kurzerhand die Füße massiert, dann jedoch diesen gemeinsamen Abend jäh beendet.

Maritt war gewitzt genug, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie sich mehr gewünscht hätte.

Statt erbost zu sein, drehte sie sich an der Bürotür noch einmal um und sagte zu Mellendorf: »Chef, Sie sind ein guter Vorgesetzter, ein erfolgreicher Industrieller und ein charmanter Gastgeber. Aber wissen Sie, was Sie noch besser beherrschen als die Leitung Ihres Unternehmens?«

Mellendorf zog die Schultern hoch und setzte eine fragende Miene auf.

»Füße massieren!«, sagte die Holländerin keck, zog die Tür hinter sich zu und wusste, dass sie mit ihrem Kompliment den richtigen Ton und den richtigen Moment gefunden hatte …

Mellendorf musste lachen und fühlte sich gleichzeitig geschmeichelt.

»Ein schönes Kompliment von einer schönen Frau!«, dachte er sich im Stillen und fühlte sich mehr denn je an die Tage an der Côte d’Azur erinnert.

»Danke Maritt«, rief er ihr nach, nachdem er mit einem Sprung zur Tür geeilt war.

»Ein französischer Abend«, murmelte Mellendorf und entschwand in Gedanken auf eine der Yachten, die zwischen Monaco und Marseille zu Tausenden an der Küste vor sich hin wippten und alle ihre eigene Geschichte Nacht für Nacht neu zu erzählen wussten. Geschichten, die für den Deutschen wie gemacht schienen und die der Beginn waren für eine Story, die Mellendorf niemals zuvor für möglich gehalten hätte. Längst befand sich der Industrielle in einem Netz des Verderbens, aus dem es für ihn kein Entrinnen mehr geben sollte.

2

Es war ein Wunder, dass sich der Milliardär in diesem Frühsommer gleich zwei Wochen freinahm und sich in Cannes einmietete. Maritt Pescort hatte ihm in einem First-Class-Hotel an der Côte d’Azur eine Suite reserviert und Mellendorf wie immer alle Unannehmlichkeiten abgenommen, die mit der Planung einer Reise zusammenhängen. Ihre Hoffnung, vielleicht doch mitreisen zu dürfen, wurde zwar enttäuscht, doch ließ sie es sich nicht nehmen, ihren Chef mit einem Küsschen auf die Wange zu verabschieden.

»Rutschen Sie in nichts rein …«, meinte sie vielsagend.

Mellendorf hatte gekontert: »Maritt, Sie wissen doch: Sie haben die schönsten Füße!«

Doch die Holländerin wusste, dass ihr Vorgesetzter schönen Frauen zugeneigt war, dass sie seine Augen geradezu gefangen nahmen.

»Sie stehen in der Verantwortung, einen der wichtigsten Konzerne des Kontinents zu leiten. Sie haben Geld, das Sie niemals in Ihrem Leben werden ausgeben können. Das sind die Voraussetzungen für größte Erfolge, aber Sie geraten eben auch in das Blickfeld von Menschen, die Ihnen nicht wohlgesonnen sind und die Ihnen keinen einzigen Ihrer Euros gönnen. Passen Sie auf sich auf, wenn Sie dort unten am Strand liegen – vor allem, wenn ich nicht bei Ihnen bin und auf Sie achtgeben kann.«

Mellendorf hatte Maritt aufmerksam zugehört.

»Nehmen Sie sich nicht vielleicht ein wenig zu wichtig?«, meinte er nicht ohne Sarkasmus.

Maritt wurde rot.

»Chef, Sie wissen, wie ich das gemeint habe. Ich mache mir nur ein wenig Sorgen, wenn Sie dort unten so durch die Gegend streifen wie ein Nullachtfünfzehn-Tourist. Sie sind mir zu locker! Seien Sie bitte vorsichtig. Wenigstens das müssen Sie mir versprechen.«

Mellendorf schloss Maritt kurz in die Arme und drückte die hübsche Blondine an sich.

»Ich werde heil zurückkehren zu Ihnen. Und das nächste Mal nehme ich Sie mit«, sagte er leise.

Er bekam nicht mit, wie eine Träne über ihre Wange floss.

Mellendorfs Flieger landete in Nizza. Als er die First Class verließ, stand die schwarze, spiegelblank gewienerte Limousine schon für ihn bereit, um ihn in rund vierzig Minuten in das schneeweiße »Palasthotel« direkt an der Küste zu bringen. Er hätte auch seinen Privatjet nehmen können, liebte es aber, mal weniger schnell unterwegs zu sein.

Mit einem eindringlichen Blick musterte der deutsch-holländische Unternehmer kurz den dunkel gebräunten Fahrer.

»Vorsicht!«, schoss es ihm durch den Kopf.

Doch dann schob er die Ängste beiseite, mit denen ein Mann seines Formats regelmäßig zu kämpfen hatte und die auch nicht unbegründet waren, und lehnte sich bequem in seinem klimatisierten Sitz zurück.

»Maritt macht sich viel zu viele Gedanken. Ich bin Milliardär, sicherlich. Aber ich bin lediglich bekannt und nicht berühmt.«

Mit wenigen Handgriffen stellte Mellendorf die Position des lederbezogenen Sitzes auf seine Bedürfnisse ein, sodass seine Beine nahezu schwerelos auf dem ausgefahrenen Fußteil lagen. Er spähte durch die getönten Scheiben der Mammutlimousine hinaus aufs Meer, das sich an der Autobahn auftat, und spürte die Wärme des südeuropäischen Klimas. Aus dem Radio trällerte ein französisches Chanson. Mellendorf konnte endlich abschalten.

Als er die Suite im Hotel betrachtete, nickte Mellendorf zufrieden. Er schlenderte durch die Räume und sah befriedigt die vielen Details, die die Suite modern und zugleich wohnlich erschienen ließen. Besonders das weiße Ledersofa an der riesigen Fensterfront hatte es ihm angetan. Von dort aus konnte er hinaus aufs türkisfarbene Meer schauen und das Treiben unten am Strand direkt verfolgen. Selbstverständlich war dieser nur den Reichsten der Reichen vorbehalten.

Frank Mellendorf konnte schnell trennen zwischen tatsächlicher High Society und dem Mob. Für Letzteren hatte der deutsche Milliardär, der schon mit 22 Jahren Frankfurt verlassen hatte, um sein Vermögen in den Niederlanden zu machen, nur ein müdes Lächeln übrig. Doch diese Snobs waren ihm auch nicht lästig, hatte er doch selbst klein begonnen, und außerdem waren da noch die hübschen Mädchen. Mehrmals schon war es ihm auf seinen Geschäftsreisen gelungen, den Jungmillionären eine der Damen auszuspannen, auch wenn er die Liaison zumeist nach ein, zwei Nächten wieder beendete. Zeit für eine feste Beziehung hatte Mellendorf nie gefunden oder besser gesagt: Er hatte auch nie danach gesucht.

Der Milliardär streckte sich auf dem langen weißen Sofa aus und erinnerte sich an das vergangene Jahr. In einem schicken weißen Anzug mit schwarzem Hemd und schwarzer Krawatte hatte er sein Hotel verlassen, um bei den Filmfestspielen die Stars aus den Staaten zu treffen. Regisseur Mc Lorey stellte ihm alle vor. Großen Gefallen hatte der Deutsche vor allem an den Models seiner neuen Heimat gefunden. Schöne Frauen eben … Aber auch diese Treffen waren an jenem Abend schnell zur Nebensache geworden.

Bei einer kleinen Party an Bord der Yacht La Prestige hatte er die dunkelhaarige, langbeinige Merige kennengelernt. In ihrem wunderschönen braunen Kleid mit bunten Applikationen, das nur das Nötigste verdeckte, war sie ihm an Bord des fünfzig Meter langen Schiffs sofort ins Auge gefallen. Frank Mellendorf hatte nur wenige Minuten gebraucht, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie hatte ihm nicht die kalte Schulter gezeigt, sondern genoss es vielmehr, umschwärmt zu werden.

Mit Frauen verstand sich Mellendorf ebenso gut wie mit dem Umgang mit Geld. Sein Augenmerk galt aber immer dem Erfolg seines Unternehmens. Alles andere rangierte dahinter. In diesen Minuten an Bord der La Prestige war es jedoch anders. Frank zog die hübsche 30-Jährige an einen Tisch und trank mit ihr ein, zwei Gläser Champagner. Die junge Frau war angetan vom Charme des Deutschen, seiner Ausstrahlung und natürlich seinem Vermögen.

Mehr als ein gemeinsames Abendessen mit Geturtel und tiefen, innigen Blicken wurde aber schließlich nicht daraus, auch wenn sich beide mehr gewünscht hätten. Ein heftiger Streit des Bootsinhabers mit einem angetrunkenen Gast beendete die Party schlagartig. Das alles lag ein Jahr zurück.

Als Mellendorf auf der weißen Hotelcouch die Augen wieder öffnete, sah er hinaus auf die Lichter der vielen kleinen Restaurants. Auf dem Meer schipperten die Yachten, am Hafen war reges Treiben angesagt. Er musste eingenickt sein. Seine Rolex verriet ihm, dass er wohl drei Stunden geschlafen hatte. Ein Phänomen, das sich bei ihm in den vergangenen Jahren eingestellt hatte: War er früher quer über die Ozeane gechattet, ohne auch nur an Schlaf zu denken, so machte ihn inzwischen schon ein nicht einmal eineinhalbstündiger Flug müde. Todmüde.

»Ich werde langsam alt«, dachte er sich, als er die Brause der Dusche anstellte.

Aus dem vergoldeten Wasserhahn prasselte ihm das lauwarme Wasser entgegen und perlte in großen Tropfen von seiner Haut. Die Gefühle, die ihn beim Duschen überkamen, verglich er stets mit einem Orgasmus. Das klare Wasser, das er zwischendurch kurz auf kalt stellte, regenerierte seinen Körper und seinen Geist gleichermaßen.

Dreißig Minuten später stand Frank in einem schicken dunklen Zweireiher mit weißem Hemd und lilafarbener Krawatte ausgehfertig in der Tür seiner Suite und blickte noch einmal in die Räume, die Maritt für ihn für die nächsten zwei Wochen gemietet hatte. Seine Gedanken schweiften zurück zum Beginn seines Aufstiegs, zum Start seiner Karriere als Ölmagnat. Damals hatte er von solchen Suiten nur geträumt – und sie in die Collage seiner Ziele aufgenommen. Inzwischen gehörten sie während seiner Geschäftsreisen längst zum vollkommen normalen Standard.

»Wer aber braucht das?«, dachte er sich und hörte sich laut sagen: »Ich!«

Dabei musste er lachen. Mit den Gedanken bei den schönen Füßen seiner Sekretärin zog er die Türe zu, die kaum vernehmbar ins Schloss fiel.

»Wohin darf ich Sie bringen?«, fragte der Liftboy.

»In die Lobby«, entgegnete Mellendorf gedankenverloren und schroff zugleich.

3

Als sich die Tür des Aufzugs öffnete, realisierte Mellendorf erstmals die große Eingangshalle des Hotels. Die beiden riesigen Kronleuchter tauchten die Lobby in ein warmes, diffuses Licht. Zwischen den Größen aus Hollywood war der Unternehmer eher ein Unbekannter. Mellendorf war das nur recht, wollte er sich doch vor allem erholen.

An der Theke hörte er, wie zwei Damen gerade eincheckten. Die Frauen waren rund dreißig Jahre jünger als er. So schätzte Mellendorf sie zumindest. Eine Zeit lang verweilten seine Augen noch auf den Beinen der beiden, die sich in schicken Kostümen rückseitig vor ihm aufgebaut hatten.

»Das kommt mir ja wie gerufen«, dachte Mellendorf, als diese eine Suite buchten, die auf derselben Etage lag wie seine.

Wieder einmal musste er an die Füße Maritts im fernen Holland denken. Und dabei blieb es nicht.

»Ich werde den Rest erkunden müssen. Vorher hören diese Gedanken nicht auf.«

»Frank! Hier!«, riss ihn plötzlich eine laute Stimme aus seinen Gedanken.

»Michael«, rief Mellendorf lautstark, sodass sich die beiden Frauen umwandten und sofort zu tuscheln begannen. Kein Zweifel: Sie hatten ihn erkannt, zogen ihre Röcke zurecht und versuchten, ein möglichst graziles Bild von sich abzugeben. Oder aber war es Mc Lorey, dem die staunenden Blicke galten?

»Egal«, dachte sich Mellendorf und war in Sekunden gedanklich nicht mehr bei den hübschen Damen. Nahezu ein Jahr war es her, als er Michael Mc Lorey zum letzten Mal gesehen hatte. Das tägliche Telefonat der beiden war zwar selten ausgeblieben, wurde aber mit der Zeit zum Online-Chat über den privaten Browser in Mellendorfs Unternehmen. Um sich öfter zu treffen, fehlte sowohl dem Unternehmer als auch dem Regisseur die Zeit.

Beide fielen sich um den Hals und begrüßten sich herzlich.

»Ça va?«, empfing Mc Lorey seinen Freund, und der Deutsche entgegnete ihm launig: »Sprich gefälligst Englisch oder Deutsch mit mir!«

Beide lachten laut, wussten sie doch, dass sie des Französischen nicht wirklich mächtig waren.

Nur wenige Minuten später standen sie an der Bar des Hotels und hatten einen Sudden Comfort in der Hand.

»Oh, Frank, schön, dass du wieder den Weg hierher gefunden hast. Wie lange wirst du dieses Mal bleiben? Drei Tage, zwei oder nur einen?«, fragte der Amerikaner mit seiner tiefen, markanten Stimme und konnte ein schelmisches Grinsen nicht verbergen, kannte er doch die schier übermächtige Arbeitswut seines Freundes nur zu genau.

»Zwei Wochen! Und wenn ich es für nötig, wichtig und schön halte, hänge ich ganz spontan noch eine dritte oder vierte dran«, erwiderte der Deutsche.

Er sollte recht behalten.

In der Hotellobby wurden die Kronleuchter weiter heruntergedimmt. Ein klares Zeichen für nahezu jedermann: Die Croisette lockte, Cannes Partymeile am Hafen, die seit der Entstehung des Filmfestivals in den vergangenen Jahrzehnten so viele Geschichten geschrieben hatte. Entlang der vielen kleinen Restaurants schlenderte die Prominenz oftmals unerkannt zwischen den Touristen umher, die ihre Augen zwar aufhielten, jedoch ihre Helden live oft gar nicht erkannten.

Auch Regisseur Michael Mc Lorey und Ölmagnat Frank Mellendorf verließen an diesem Abend das Hotel. Sie stiegen in eine schwarze Stretch-Limousine und ließen sich die wenigen Meter vom Hotel den Boulevard hinauf zur schwarzen Yacht des Hollywood-Stars chauffieren. Der mächtige Motor dröhnte dumpf, als der Fahrer leicht Gas gab, um die Einfahrt des Hotels zu verlassen. Sechs Liter Hubraum und 550 PS wirkten, um für ein standesgemäßes Verlassen der Anlage zu sorgen. Die Aufmerksamkeit war dem Fahrzeug sicher, doch weder Mc Lorey noch Mellendorf legten es darauf an, gesehen zu werden. Von außen konnte niemand erkennen, wer in diesem Ungetüm saß.

Den nächsten Whisky in der Hand betrachteten Mc Lorey und Mellendorf den Sternenhimmel des Luxusautos und unterhielten sich über die vergangenen zwölf Monate, in denen beide ihr ganzes Leben dem Beruf untergeordnet hatten.

»Ich brauche diese kreative Pause wie nie zuvor«, stöhnte der Regisseur, der erst vor rund sechs Monaten mit ›The Unknown – das Unbekannte‹ einen Millionenseller an den Kinokassen gelandet hatte.

Für Mellendorf, der den Film mehrmals gesehen und von Mc Lorey einen Director‘s Cut geschickt bekommen hatte, war es ein ganz normaler Kinostreifen gewesen. Ein guter – selbstverständlich, drehte Mc Lorey in seinen Augen doch nur sehenswerte Filme. Doch mehr hatte er nie in diesen Film hineininterpretiert. Die internationale Presse hatte Mc Lorey nach dem Streifen jedoch zu einem absoluten Gott unter den Regisseuren aufsteigen lassen. Er wurde seitdem in einem Atemzug mit Steven Spielberg genannt, fand aber aus seiner eigenen Sicht den Vergleich mit Quentin Tarantino viel passender. Dennoch war Mc Lorey in dieser Zeit klar geworden: Um mehr zu sein als all die anderen großartigen Filmemacher, musste er sich auf ein Terrain begeben, das für sich zu erkunden noch keiner je gewagt hatte. Die Ideen sprudelten aus seinem Hirn und die Umsetzung des perversesten Gedankens hatte längst begonnen.

Als das über acht Meter lange Fahrzeug vor der Yacht des Regisseurs vorfuhr, standen die Matrosen bereits parat. Die Tür wurde per Funk geöffnet, eine dunkelhäutige Schönheit im weißen Minikleid reichte zunächst dem Hollywood-Star, dann auch Mellendorf die Hand. Die Freunde gingen an Bord.

Rote Sofas, bestens geeignet für eine Schiffsreise voller Dekadenz, empfingen den Milliardär. Er war gegenüber Mc Lorey zwar der deutlich Reichere, jedoch war ihm Glamour dieser Art über viele Jahre fremd gewesen. Nicht dass ihm der Reichtum unangenehm gewesen wäre. Aber er hatte das nicht erwartet. Im Vorjahr waren die Freunde noch in einem kleinen Schnellboot über die mediterrane See gerauscht. Das war so ganz nach dem Geschmack Mellendorfs, der den Großteil seines Geldes lieber in Investitionen für sein Unternehmen pumpte als in Luxusgüter wie diese Yacht.

Mehr als fünfzig Gäste hatte Mc Lorey geladen. Zum Teil B- oder C-Stars aus Amerika, zum Teil einfach nur junge, hübsche Frauen aus Südfrankreich, die sich auf leichte Art und Weise hier ihr Geld verdienten.

Im Herzen des Schiffes schenkte der Kellner Mellendorf Stunden später den x-ten Whisky ein. Längst hatte er aufgehört zu zählen, der wievielte es an diesem Abend, in dieser Nacht war. Aber irgendwann dachte er, dass es an der Zeit sei zu gehen, und er schnippte nach dem Chauffeur. Zum Abschied kniff er Michael Mc Lorey noch kurz in den Allerwertesten, um dann von Bord zu wanken.

»Die Côte d’Azur ist schon jetzt wieder die richtige Entscheidung gewesen«, grinste er in sich hinein und sank in die weichen Sessel der Limousine.

Mc Lorey sah ihm nach, bis das Auto von der Croisette in Richtung Hotel abbog. Noch war Zeit. Viel Zeit. Und sein erster Schritt für die kühnste, ja verwegenste Tat seines Lebens war bereits organisiert.

Als Mellendorf am nächsten Morgen erwachte, war ihm speiübel. Den Kopf auf den linken Arm gestützt lehnte er sich in Richtung des Nachtkästchens. Er quälte sich nach oben und spürte, wie ihm der Kopf dröhnte. Außerdem hatte er gegen seine sonstige Gewohnheit nackt geschlafen. Um ihn herum lag seine Kleidung wild verstreut. Seine Anzughose hing mit einem Bein über einem Stuhl, Hemd und Krawatte konnte er auf den ersten Blick überhaupt nicht sehen und seinen Slip fand er im Bett.

»Oh, mein Gott, scheiß Alkohol«, jammerte Mellendorf.

Er drehte den Kopf auf die andere Seite und sah, dass er das riesige Wasserbett komplett durchwühlt hatte. Mellendorf atmete tief aus.

Plötzlich hörte er Stimmen aus dem Badezimmer dringen und Wassergeplätscher. Mit einem Sprung katapultierte er sich aus dem Bett. In seinem Kopf federte es, als würde jemand mit seinem Gehirn Badminton spielen. Jeder einzelne Whisky machte sich in seinem Schädel bemerkbar. Seine Haare standen zerzaust nach oben. Mellendorf versuchte, das Hämmern in seinem Kopf zu ignorieren, und lauschte den Geräuschen im Badezimmer.

Die Stimmen waren wieder verstummt, jedoch strömte aus der Dusche weiterhin Wasser. Kurzzeitig überlegte er, nach dem Telefonhörer zu greifen und an der Rezeption um Unterstützung zu bitten, ja um Hilfe zu rufen. Den Gedanken aber ließ er schnell wieder fallen, wollte er sich doch nicht blamieren.

Während er sich mit langsamen Schritten dem Badezimmer näherte, schaute sich Mellendorf nochmals um. Er suchte nach Hinweisen, was in den vergangenen Stunden in seiner Suite passiert sein könnte. Dann hörte er Gelächter. Es war ganz eindeutig das Lachen zweier Frauen, jedoch verstand er kein Wort von dem, was gesprochen wurde. Immer wieder kicherten die Frauen, doch das Plätschern des Wassers und das Rauschen des Wasserhahns überdeckten alles, sodass er sich kein Bild von dem machen konnte, was dort drinnen vor sich ging.

Mellendorf überlegte, was er tun sollte. Ohne jede Hast, aber mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ging er immer näher zur Badezimmertür. Langsam drehte er am Türknauf, bis die Tür einen winzigen Spalt offen war. Das Wasser wurde abgestellt. Er stieß mit dem Fuß gegen die Tür und blickte in die Augen zweier splitternackter Mädchen. Sie konnten sich ihr Lachen nicht verkneifen, als sie ihn so unbekleidet vor sich sahen.

»Guten Morgen, Frank«, hallte es ihm entgegen.

»Gut geschlafen?«, fragte eine der beiden und hüllte sich gekonnt in ein viel zu kurzes Handtuch.

Nun erkannte Mellendorf die zwei hübschen Blondinen wieder. Am Abend zuvor hatte er sie in der Hotellobby noch angehimmelt, ehe ihn Mc Lorey aus seinen Tagträumen gerissen hatte. Er wollte sie gerade fragen, was sie in seinem Badezimmer zu suchen hätten, als ihm eine der beiden bereits im Arm lag und begann, ihn voller Leidenschaft zu küssen. Zunächst wollte er sich dagegen wehren, was jedoch ohne Erfolg blieb. So ergab sich Mellendorf kurzfristig seinem Schicksal und scheute sich nicht, nun auch die andere intensiv zu küssen. Vergessen waren die verheerenden Kopfschmerzen, die ihn noch Minuten zuvor gequält hatten.

Mellendorf ließ sich auf das Bett drängen, doch dann übernahm sein scharfer Verstand wieder die Regie.

»Was ist passiert?«, erkundigte er sich.

»Dumme Frage«, entgegnete die eine der Frauen.

Sie erhoben sich, gingen ohne einen weiteren Kommentar wieder ins Bad und kamen wenige Sekunden später mit einem knappen schwarzen Cocktailkleid bekleidet wieder heraus. Mit einem »Salü!« zogen sie die Tür der Suite hinter sich zu, während Mellendorf sich verwundert im Bett aufsetzte und merkte, wie seine Erektion langsam wieder verschwand.

Er konnte nicht glauben, was er gerade erlebt hatte, versuchte das Geschehene zu rekapitulieren. Er ließ das, an das er sich noch erinnern konnte, Revue passieren, konnte sich aber nur noch an die Party erinnern und an die Limousine, die ihn ins Hotel gebracht hatte. Das war alles, was Mellendorf zu den vergangenen Stunden noch einfiel. Ansonsten herrschte in seinem Kopf Leere. Hatte er Sex mit den beiden gehabt? Wo hatte er sie kennengelernt? Hatte er sie mit zu sich aufs Zimmer genommen? Hatten sie weiter Alkohol getrunken? Oder gar gekokst, wie es ihm Mc Lorey schon auf der Party vorgeschlagen, was er aber abgelehnt hatte?

Wieder wanderte sein Blick durch die Suite. Doch mehr als seine verstreuten Klamotten konnte er nicht sehen. Keine umgekippten oder leeren Weinflaschen, keine Spur von Drogen. Überhaupt gar nichts, was auf eine Orgie hinwies.

Während Mellendorf nach seinen Kleidungsstücken griff, schaltete sich hinter ihm lautlos eine kleine Kamera ab.