Leseprobe Tödliche Realität

Kapitel eins

So sieht’s aus. Ray hält mich für einen Waschlappen. Das tut er seit Jahren. Es fing an, als ich aufhörte, für die Major League Baseball zu spielen. Ein paar Jahre pitchte ich für die Texas Rangers. Ich hatte es echt drauf. Hundert Meilen pro Stunde. Zip, pop. Ich liebte dieses Geräusch. Ich liebte es, dass der Fänger oft seine Hand ausschüttelte, nachdem er einen meiner Fastballs gefangen hatte. So war ich. Jake Longly, Baseball-Held. Jeder sagte das. Sogar die Typen vom Sportsender ESPN.

Nicht jedoch Ray. Den Ausdruck „Waschlappen“ hat er nie wirklich verwendet. Pussy. So nannte er mich lieber. Seine letzte Einschätzung lag vier Wochen zurück.

Nicole Jamison - meine aktuelle Freundin, Gespielin, was auch immer sie war, ich war mir noch nicht sicher - hatte gelacht. Gemein, aber sie amüsiert sich gern auf meine Kosten. Wahrscheinlich stimmt sie ihm sogar zu. Meistens. Allerdings nicht im Bett. In der Kiste bin ich der verdammte Godzilla. Wirklich. Ich denke, sie würde das bestätigen. Tatsächlich rief sie letzte Nacht mehrmals nach Gott, wenn ich mich recht erinnere. Es war Tequila im Spiel gewesen. Vielleicht bin ich es auch gewesen. Gott weiß, dass ich ihn ein paarmal gerufen habe.

Okay, den zilla-Teil habe ich hinzugefügt. Ihr könnt mich also verklagen. Nein, wartet, tut es nicht. Der beste Anwalt der Stadt, Walter Horton, ist mit meiner Ex-Frau, der irren Tammy, verheiratet. Er hat meine Geldbörse bereits einer Darmspiegelung unterzogen. Wahrscheinlich würde er nicht zögern, diesen Prozess zu wiederholen.

Sagen wir also einfach, Nicole und ich haben unseren Spaß.

Trotzdem haben sie und Ray uns für Martial-Arts-Unterricht angemeldet. Irgendetwas Verrücktes, das auf Krav Maga und ein paar weiteren Disziplinen basiert und mit einer Suppe aus Schmerz, Chaos und beträchtlicher Körperverletzung vermischt ist. Der Lehrer ist ein Ex-Mossad-Typ, den Ray von früher kennt. Ben Levitsky. Eins neunzig, schlank und muskulös, mit dem Körper eines Langstreckenläufers. Kein Unsinn. Kein Wunder, dass Ray und er sich gut verstanden.

Ray Longly, mein Vater. Eigentümer von Longly Investigations. Eine Einrichtung, die, abhängig von eurer Definition, Nicole beschäftigt. Wo wir gerade von Beschäftigung sprechen. Ray hat jeden Trick in seinem beachtlichen Repertoire benutzt, um mich in sein Geschäft zu ziehen. Ich jedoch ziehe Captain Rocky’s vor, meine Bar/Restaurant am Strand von Gulf Shores. Dort hänge ich sehr gern mit Pancake ab, der tatsächlich für Ray arbeitet. Er ist ebenfalls der Meinung, ich solle bei Ray unterschreiben. Das wird nicht passieren. Zumindest nicht offiziell.

Trotz dieser Entschlossenheit werde ich allerdings immer wieder in Rays Welt hineingezogen. Und ende damit, wie ich Baseballs auf Auftragskiller werfe oder mit Baseballschlägern auf Alligatoren eindresche.

Captain Rocky’s ist viel sicherer.

Zurück zu Krav Maga. Das ist ein aggressives Kampfsystem, das, von den richtigen Händen - und Füßen, oder was auch immer gerade zur Verfügung steht - ausgeführt, tödlich sein kann. Ben Levitsky hatte seine Karriere beim Mossad vor beinahe zehn Jahren beendet. Ich nahm an, er hatte ein paar Dinge getan, die nicht nett oder legal oder koscher gewesen waren. Heute besaß er ein Studio in Orange Beach, in dem er sein Wissen an Menschen jeder Altersklasse und jedes Ausbildungsstandes weitergab. Nicole und ich hatten bereits eine Trillion Stunden absolviert. Tatsächlich waren es drei Stunden pro Woche seit einem Monat, aber meine Hände fühlten sich an, als wären es Trillionen gewesen. Sie schmerzten, und sie zur Faust zu ballen, war ein längerer Prozess und geschah nicht in einem Augenblick. Das war auf keinen Fall ein gesunder Zeitvertreib. Ich meine, ich konnte meine Finger kaum um ein Bier schließen.

Nicole dachte anders darüber. Sie liebte es. Ihren Händen ging es prima. Tatsächlich war alles an ihr prima. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wir hatten unser morgendliches Training absolviert, gegen Sandsäcke geschlagen und getreten, waren umhergewirbelt und hatten danach ein paar Burritos zum Frühstück gegessen, die mein Koch für uns zubereitet hatte. Ich saß mit Carla Martinez, meiner Managerin, auf der Terrasse des Captain Rocky’s unter einem Sonnenschirm an einem Tisch. Sie war die eigentliche Geschäftsführerin des Ladens. Sie hatte einen Stapel Zeugs, das ich mir ansehen sollte: Schecks und Papiere zum Unterzeichnen, Rechnungen und Bestellungen zum Absegnen und Inventarlisten, die meine Sicht verschwimmen ließen. Papierkram ist nicht mein Ding.

Es war August und die Tagestemperatur, die laut Vorhersage die dreißig Grad weit überschreiten sollte, hatte zu steigen begonnen. Ich hatte bereits zwei Gläser Eistee getrunken und arbeitete an meinem dritten.

Nicole ging am Strand spazieren. In einem roten String-Bikini. Nicht genug Stoff, um damit eine Shotgun zu stopfen. Der Traum eines jeden Exhibitionisten. Das war eine weitere ihrer herausragenden Qualitäten. All das zur Schau gestellte Fleisch zog jede Menge Blicke auf sich. Als sie den Strand heraufkam, drehte sich jeder männliche Kopf in ihre Richtung. Die meisten Frauen sahen ihr ebenfalls nach. Sie sorgte sogar dafür, dass ein Strandfußballspiel unterbrochen wurde. Nun, da sie auf uns zukam, sah ich, dass sie ein paar Verfolger hatte. Zwei alte Knacker mit Metalldetektoren. Ich glaube nicht, dass ihr Fokus weiterhin darauf lag, Münzen zu finden. Perverse.

Wo wir gerade von Fokus sprechen.

„Hörst du mir zu?“, fragte Carla.

„Klar.“

„Was habe ich gerade gesagt?“

„Dass wir mehr Rippchen und Hühnchen bestellen müssen.“

Sie lächelte. „Und ich dachte schon, du wärst wieder in Tagträumen versunken. Schön, dass du multitaskingfähig bist.“

„Das bin ich. Ich bin ein Multitasking-Freak.“

„Ein Freak bist du, ja.“ Sie lächelte wieder.

Wie Nicole genoss es auch Carla, mir eine Lektion zu erteilen. Wenn ich so darüber nachdenke, genossen Ray und Pancake es ebenso.

Sie drehte sich in ihrem Stuhl und sah den Strand hinunter, wo auch ich hinsah. Wo Nicole eine Fußspur dicht am Wasser hinterließ. „Ich hätte es wissen müssen.“

Ich lächelte. „Ich werde dieses Anblicks niemals müde.“

„Du bist besessen.“

„Irgendwie schon.“

„Definitiv. Aber sie ist wunderschön. Wenn ich so gepolt wäre, würde ich sie mir schnappen.“

Ich schüttelte den Kopf. Sie lachte und wandte sich wieder mir zu.

„Keine Angst. Ich mag meine Männer.“

„Das tust du wohl.“

„Nun“, sagte Carla, „du kannst all dein großartiges Multitasking-Talent nun einpacken, denn das war schon alles, was ich für dich hatte.“ Sie stand auf, schob die Papiere zusammen und stopfte sie in einen Ordner. „Was hast du heute noch vor?“

„Nur das hier. Ich glaube, ich bin fertig.“

„Es ist zehn Uhr morgens.“

„Ein langer Tag.“ Ich lächelte. Sie bedachte mich mit einem Blick, den ich schon allzu oft gesehen hatte. Der, der ausdrückte, dass ich unbelehrbar war.

„Übernimm dich nicht“, sagte sie. „Ich muss arbeiten.“

Wie ich sagte, sie hat den Laden im Griff.

Sie hatte sich bereits ein Stück vom Tisch entfernt und drehte sich noch einmal um. „Oh, das hatte ich vergessen. Pancake hat vor einer Weile angerufen. Er wollte wissen, ob ihr hier seid. Sagte, er kommt vorbei.“

„Irgendeine Ahnung, was er wollte?“

„Niemand weiß, was er will.“

Das stimmte. Nicht, dass Pancake dumm gewesen wäre. Weit gefehlt. Er war einer der cleversten Typen, die ich kannte. Aber er war - in Ermangelung eines besseren Wortes - schrullig. Und das ist freundlich ausgedrückt.

Carla fuhr fort. „Ich habe ihn gefragt, aber er sagte, er wolle dein Gesicht sehen, wenn er es dir erzählt.“

Das hörte sich nicht gut an.

„Schätze, du wirst es bald herausfinden.“ Sie lachte und ging in Richtung Bar davon. Nicole erklomm gerade die Stufen zur Terrasse und kam auf mich zu. Und was für ein Gang. Wie auf einem Laufsteg. Das Murmeln der späten Frühstücksgäste erstarb, und Blicke folgten jedem Schritt und jedem Hüftschwung.

Sie streifte das hauchdünne Jäckchen über, das sie über einem der Stühle hängen gelassen hatte, und setzte sich. „Hast du deine Hausaufgaben erledigt?“

„Ja, das habe ich.“

„Guter Junge.“

Junge? Ich erwartete beinahe, dass sie ein paar Leckereien hervorholte und meinen Kopf tätschelte. Eine Belohnung für meine gute Arbeit. Sie tat es nicht. Dann kam Pancake. Seine ganzen zwei Meter und tapsigen 140 Kilogramm. Seine roten Haare waren zerzaust. Seine linke Wange sah aus, als hätte er damit gebremst.

„Was ist mit dir passiert?“, fragte ich.

„Drei Wild Turkeys und ein Fahrrad.“

Weitere Erklärungen gab er nicht ab. Ich versuchte, mir ihn auf einem Fahrrad vorzustellen. Sicher hatten er und ich als Kinder mit unseren Fahrrädern die Gegend unsicher gemacht, aber er war der Belastbarkeit eines Fahrrades entwachsen, bevor wir das Highschoolalter erreicht hatten. Das Einzige, was ihn nun sicher von A nach B bringen konnte, war sein riesiger Pick-up. Ein Fahrrad konnte es jedenfalls nicht.

„Hast du eine antibakterielle Salbe draufgeschmiert?“, fragte Nicole.

„Hab bisschen Dreck reingerieben.“ Er lächelte. „Das wird schon gehen.“ Als wir Kinder waren, hatte es auch funktioniert, also warum nicht?

„Ray ist hierher unterwegs“, sagte er.

„Tatsächlich?“, fragte ich. „Warum?“

Ray mied das Captain Rocky’s, als wäre es eine Giftmülldeponie. Irgendetwas musste im Busch sein.

„Er hat einen Job für euch zwei“, sagte Pancake.

„Ich arbeite nicht für Ray.“

„Ich aber“, sagte Nicole. „Worum geht’s?“

Pancake lachte. „Du wirst es lieben.“

„Was?“, fragte ich und wollte es nicht wirklich wissen, obwohl meine Neugier ein wenig geweckt worden war. Oder war es Furcht? Immer, wenn Pancake etwas wie „du wirst es lieben“ oder „warte, bis du das hier hörst“ oder „hier, halt mal mein Bier und sieh dir das an“, sagte, war es unmöglich vorherzusagen, was passieren würde. Oft endete es im Chaos.

„Ich denke, das überlasse ich Ray. Möchte es ihm nicht verderben.“

„So schlimm?“, fragte Nicole.

Pancake nickte. „Oh ja. Wir haben schon einen Haufen verrücktes Zeug gemacht, aber das schlägt alles.“

„Cool“, sagte Nicole.

Nein, wahrscheinlich nicht einmal nah an cool dran.

Kapitel zwei

Fünfzehn Minuten später erschien Ray. Er setzte sich zu uns an den Tisch und sagte kein Wort. Carla stellte eine gekühlte Dose Mountain Dew vor ihn. Ray und Mountain Dew verband eine starke Beziehung. Beinahe pathologisch. Ich glaube, er trank jeden Tag ein Dutzend davon.

„Noch etwas?“, fragte Carla.

„Das wird ausreichen“, sagte Ray schließlich. „Danke.“

„Wink einfach, wenn du deine Meinung änderst.“ Sie ging zurück nach drinnen.

„Was liegt an?“, fragte ich.

„Es gibt da etwas, von dem ich möchte, dass ihr beide es überprüft.“

„Ich arbeite nicht für dich“, sagte ich.

Er zuckte mit den Schultern. „Nicole aber. Und du wirst ihr folgen, wohin auch immer sie geht.“

Darauf hatte ich keine Antwort. Hauptsächlich, weil es stimmte.

„Also, was hast du für uns, Boss?“, fragte Nicole.

Boss?

„Das Bescheuertste, was ich je gehört habe“, sagte Ray. Pancake lachte. „Das und noch viel mehr.“

„Die Spannung bringt mich um“, sagte ich.

„Mich auch“, ergänzte Nicole. Schätze, ich habe nicht genügend Sarkasmus in meine Frage gelegt. Für sie. Nicht für Ray. Er bedachte mich mit einem Blick, bevor er fortfuhr.

„Ich habe einen Anruf von einem Anwalt drüben in Jacksonville erhalten“, begann Ray. „Er möchte, dass wir uns mit seinem Klienten treffen und sehen, ob wir helfen können.“

„Wobei?“, fragte ich und bedauerte es sofort. Ich hatte keine Ahnung, warum ich mich da einmischte. Es war besser, im Bau zu bleiben und zu hoffen, dass Ray vorbeizog.

„Um zu beweisen, dass er nur fünf Menschen getötet hat und keine sieben.“

„Was?“, rief Nicole aus.

Ray nahm einen großen Schluck Mountain Dew. „Sagt euch der Name Billy Wayne Baker etwas?“

Nicole sah zuerst ihn an und dann mich.

„Kommt mir bekannt vor“, sagte ich.

„Ein verurteilter Serienmörder“, sagte Ray. Ich nickte. Seine Geschichte begann im meinem Kopf Wurzeln zu schlagen. „Ich erinnere mich an ihn. Vage. Hat drüben in Florida ein paar Leute umgebracht.“

„Genau der. Sieben Opfer. Mehrfach lebenslänglich.“

„Nicht die Todesstrafe?“, fragte ich.

„Das ist Teil der Abmachung. Er hat alle Morde zugegeben. Hat dem Staat einen Haufen Geld erspart. Hat siebenmal lebenslänglich bekommen. Ohne Bewährung natürlich.“

„Ist er der Klient?“, fragte Nicole.

„Sicher.“

„Woher hat jemand, der lebenslänglich sitzt, das Geld, dich zu beschäftigen?“, fragte ich.

„Hat er nicht. Aber laut seinem Anwalt - ein Typ namens Winston McCracken - existiert ein Wohltäter, der die Bezahlung übernimmt.“

Nichts daran klang richtig. „Serienmörder haben jetzt Wohltäter?“

Ein weiterer Schluck Dew. „Billy Wayne offenbar schon.“

„Wer ist es?“, fragte Nicole. „Der Geldgeber?“

„Keine Ahnung. Das ist Teil der Abmachung. Er bleibt vollständig anonym.“

Ich konnte es nicht fassen. Ein Serienmörder, der seine Taten gestanden hatte, wollte nun einen Rückzieher machen und hatte jemanden gefunden, der das Geld hatte, die Untersuchung wieder aufzurollen? Wer zur Hölle sollte das tun? Und warum?

„Das ergibt keinen Sinn“, sagte ich. „Er möchte, dass wir beweisen, dass er zwei der Menschen, für deren Mord er sich verantwortlich erklärt hat, gar nicht umgebracht hat? Wie jetzt? Ist fünfmal lebenslänglich besser als siebenmal?“

Ray ballte eine Hand zur Faust, öffnete sie wieder und streckte seine Finger. Er blickte prüfend auf sie hinab.

„Ich weiß nur, was McCracken gesagt hat. Deswegen möchte ich, dass ihr euch das mal anseht.“

Die Situationen, in die Ray mich in der Vergangenheit gebracht hatte, waren allesamt unglaublich merkwürdig gewesen. Oder merkwürdig unglaublich? Dasselbe, schätze ich. Er hatte mich zu Dingen angestiftet wie die ehebrecherische Barbara Clammer auszuspionieren, die natürlich prompt direkt vor meiner Nase ermordet wurde. Gut, das war vielleicht nicht mein bester Tag. Oder ich sollte versuchen herauszufinden, wie der Hollywoodstar Kirk Ford neben der toten jugendlichen Nichte eines Gangsterbosses aus New Orleans aufwachen konnte. Das waren tatsächlich unglaubliche und merkwürdige Fälle gewesen, aber ich musste zugeben, dass das hier etwas ganz anderes war.

„Ich bin fasziniert“, sagte ich.

„Ich kann darin Stoff für ein Drehbuch erkennen“, fügte Nicole hinzu.

Ich schüttelte den Kopf. „Natürlich tust du das.“ Sie schüttelte meinen Arm. Meinen von all dem Krav-Maga-Mist bereits schmerzenden Arm. Nicht erst zu erwähnen, dass meine Hände zu sehr wehtaten, um irgendwen zu schlagen. Auf Nicole traf das offenbar nicht zu.

„Wie lautet der Plan, abgesehen davon, Jake in der Spur zu halten?“, fragte sie.

„Mich? In der Spur?“

„Keine leichte Aufgabe.“ Sie zerzauste meine Haare.

„Ich kann dir dabei nicht helfen“, sagte Ray. „Gott weiß, ich habe es versucht. Aber was den Fall betrifft, wäre der erste Schritt ein Gespräch mit McCracken. Die Lage sondieren. Er sagte, er könnte euch zu Billy Wayne mitnehmen.“

„Der sich wo befindet?“

Union Correctional Institute. Drüben bei Raiford.“

„Wir sind dran“, sagte Nicole.

Natürlich sind wir das.

„Wann?“, fragte ich.

„Morgen Nachmittag. In seiner Kanzlei in Jacksonville.“

„Recht spontan“, sagte ich.

„Was denn? Hast du etwas anderes zu tun?“

Ich war mir sicher, dass ich das hatte, aber mir fiel absolut nichts ein.

Kapitel drei

Winston McCrackens Kanzlei lag im Geschäftsviertel des Stadtkerns von Jacksonville, nicht weit vom berühmten Jacksonville Landing entfernt, einem zentralen Ort am Fluss St. John, an dem Touristen Unterhaltung und Essen geboten wurde. Es dauerte fast fünf Stunden, um von Gulf Shores, Alabama, dorthin zu gelangen. Es hätte eigentlich länger dauern sollen, aber Nicole saß am Steuer. Ich nehme an, die 450 Pferde unter der Haube ihres weißen Mercedes SL550 keuchten und schäumten, als wir sie auf dem Parkdeck ausruhen ließen. Sie sandten klickende Geräusche und Hitzewellen in die bereits heiße Luft über der Motorhaube.

Das Gebäude sah ziemlich gewöhnlich aus. Einfache Betonfassade mit einer dieser gläsernen Drehtüren als Eingang. Ich hasse diese Dinger. Ich kann meinen Schritt nie an die Drehgeschwindigkeit anpassen. Nicole hatte kein Problem und schoss direkt hindurch, während ich einen Hopser, einen Hüpfer und einen Sprung machen musste, um einen Stoß in den Rücken zu vermeiden. Und selbst dann bekam ich einen kleinen Schubs.

McCrackens Kanzlei nahm den halben vierten Stock ein. Der Warteraum war leer und die Empfangsdame, eine humorlose junge Frau, die einen schlechten Tag zu haben schien, führte Nicole und mich zu McCrackens Büro. Ein Eckraum mit Aussicht auf zwei weitere Gebäude. Viele Gebäude. Kein Meerblick. Vielleicht befand er sich nicht hoch genug in der Nahrungskette der Anwälte, um einen solchen zu verdienen.

McCracken begrüßte uns und bot uns Kaffee oder Softdrinks an, was wir ablehnten. Er sah mich kurz an, ließ seinen Blick dann aber auf Nicole ruhen. Wir schüttelten uns die Hände und nahmen dann in mäßig bequemen Stühlen ihm gegenüber Platz. Riesige Rechtsbücher füllten die Regal hinter ihm. Nur auf einem lagen ein Dutzend Baseballs neben dem Foto einer Frau und drei Mädchen. Hübsche Familie. McCracken hatte eine massive Verteidigung aus Töchtern zu Hause. Er tat mir ein kleines bisschen leid, denn er war in seinem eigenen Haus in der Unterzahl.

Er schien es jedoch mit Fassung zu tragen. Offenbar war er Mitte fünfzig, hatte ein rundes Gesicht, intensiv blickende, braune Augen und eine halbmondförmige Brille, die weit unten auf seiner Nase saß. Gekleidet war er in ein weißes Hemd mit goldenen Manschettenknöpfen und eine gelbe Krawatte. Seine graue Anzugjacke hing an einer Garderobe an der Wand zu seiner Linken. Die Papiere auf seinem Schreibtisch waren ordentlich gestapelt.

„Danke, dass Sie vorbeigekommen sind“, sagte er.

Ich nickte, sagte aber nichts.

Nicole sagte: „Wir von Longly Investigations sind froh, dass Sie sich an uns gewendet haben.“ Sie lächelte. „Und mehr als nur ein bisschen neugierig.“

McCracken hob eine Augenbraue und eine Schulter. „Es ist definitiv eine ungewöhnliche Situation.“

„Erzählen Sie uns, worum es geht“, sagte ich.

„Bevor wir dazu kommen, möchte ich sagen, was für eine Ehre es für mich ist, Sie zu treffen.“

„Mich?“, fragte ich.

„Ich bin ein großer Baseballfan.“ Er drehte seinen Stuhl zu dem Regal hinter ihm und deutete auf die Reihe von Baseballs, die seiner Familie Gesellschaft leisteten. Er wandte sich wieder mir zu. „Ich habe Ihre Karriere verfolgt. Sie waren großartig.“

Ich liebte diesen Typen. Offenbar hatte er etwas für Sport übrig. Nicole schüttelte nur ihren Kopf.

„Danke, aber das liegt Jahre zurück.“

„Trotzdem könnten Sie sicher noch einen guten Fastball werfen.“ Er lächelte. „Und nach dem zu urteilen, was ich über diese ganze Victor-Borkov-Affäre gelesen habe, können Sie das tatsächlich.“ Er lachte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Wir saßen in der Bredouille und Baseballs waren die einzigen Waffen, die mir zur Verfügung standen.“

Das stimmte. Borkov hatte uns gefangen genommen und war mit uns auf den Golf hinausgefahren. Mitten in der Nacht. Sein Plan war es gewesen, uns an einen eisernen Ring zu ketten und uns über Bord zu werfen. In sehr schwarzes und sehr tiefes Wasser. Keine angenehme Vorstellung. Wer denkt sich solche Dinge aus? Es gelang mir, seine zwei Schergen mit Baseballs auszuschalten. Sie hatten nicht mehr als 130 Kilometer pro Stunde drauf, aber es hatte gereicht, um sie außer Gefecht zu setzen, damit Nicole und ich vom Heck der Dreißig-Meter-Jacht springen und neun Meter ins kalte Wasser eintauchen konnten. Von dort retteten uns Ray und seine Kumpels von den Special Forces, bevor sie Borkov und seine Crew ausschalteten. Das war eine Nacht.

„Da wir gerade von Baseballs sprechen“, sagte McCracken. „Wenn Sie so freundlich wären.“ Er zog eine Schublade auf und nahm einen sauberen, weißen, offensichtlich neuen Baseball heraus. „Vielleicht ein Autogramm?“ Er hielt mir den Ball und einen Stift hin. Ich signierte den Ball und gab ihn ihm zurück. Breit lächelnd sah er darauf hinab. Er erhob sich, legte den Ball zu den anderen und kehrte zu seinem Platz zurück. „Danke. Eine wunderbare Ergänzung für meine Sammlung.“ Er rieb sich die Hände. „Zum Geschäft. Sicher kennen Sie Billy Wayne Baker.“

„Ein wenig“, sagte ich.

„Er ist ein geständiger Serienmörder. Sieben Opfer. Offiziell. Ich gehörte zum Team seiner Verteidiger. Wir haben es nicht vor Gericht geschafft - was in diesem Fall etwas Gutes ist, denke ich. Hätte es einen Prozess gegeben, würde er jetzt wahrscheinlich im Todestrakt sitzen.“

„Hätte denn kein Anwalttrick funktioniert?“, fragte ich.

McCracken lächelte. „Guter Punkt. Sicher, wir hatten ein paar Sachen, aber am Ende hätten sie nicht gereicht. Die Anklage hatte alle Karten in der Hand. Sie hatten für jeden Mord DNS.“

„Also hat er wirklich alle sieben Morde begangen?“, fragte Nicole.

„Sie meinen, weil die DNS nicht lügt?“ McCracken hob eine Braue und lächelte sie schief an.

Sie erwiderte sein Lächeln. „Etwas in der Art.“

„Er hat alle Morde gestanden, richtig?“, sagte ich.

„Das hat er.“

„Und nun will er widerrufen?“

„Zwei von ihnen, ja.“

„Warum nur zwei?“, fragte Nicole. „Er würde trotzdem sein Leben lang im Gefängnis bleiben.“

McCracken nickte. „Mehrmals lebenslänglich, um genau zu sein.“ Er kratzte sich am Kinn. „Billy Wayne ist ein ungewöhnlicher Mensch. Ein Serienmörder? Sicher. Als solcher brutal. Aber er hat ein tiefes Empfinden für Gerechtigkeit.“

„Tatsächlich?“, fragte ich nach. „Ist er nicht nachts bei seinen Opfern eingebrochen, um sie zu vergewaltigen und zu töten?“

„Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.“

Ich zuckte mit den Schultern.

Wir hatten in Billy Waynes Hintergrund gegraben. Pancake hatte es getan. Er hatte vierzig Seiten über Billy Waynes Mordserie ausgedruckt, die ich laut vorgelesen hatte, während Nicole quer durch Florida nach Jacksonville flog.

McCracken nahm seine Brille ab und legte sie vor sich auf den Tisch. „Tatsächlich hat er sich den Zugang zu den Häusern seiner Opfer meist erschlichen. Wie Sie sehen werden, wenn Sie ihn treffen, gibt es an ihm mehr als man denken mag. Er ist klug, charmant, sehr belesen. Aus ihm hätte alles werden können. Er war ein hervorragender Jurastudent an der Florida State, als er zu morden begann. Das ist jetzt wenig mehr als vier Jahre her. Er hat zwei Jahre weitergemacht, bis er vor ein paar Jahren gefasst und eingesperrt wurde.“

„Und die Gerechtigkeit kommt wo ins Spiel?“, fragte ich.

„Ich weiß, dass es seltsam klingt, aber Billy Wayne glaubt, dass er für seine eigenen Taten verantwortlich ist. Er ist bereit, den Preis dafür zu bezahlen. Deshalb hat er gestanden und einen Prozess vermieden.“

„Und um die Todesstrafe vom Tisch zu bekommen“, sagte ich.

„Das war ich. Was Billy Wayne wollte, war die Wahrheit sagen.“

„Und was ist die Wahrheit?“, fragte Nicole.

„Er hatte immer gesagt, dass er zwei dieser Morde nicht begangen hat.“

„Welche zwei?“

„Das wollte er nicht sagen.“

„Was soll das heißen?“, fragte sie.

„Was ich gesagt habe. Und nicht nur das, er sagt, er weiß, wer sie begangen hat.“ Nicole zog die Brauen zusammen. „Aber er sagt es nicht?“ McCracken klopfte ein paarmal mit seinem Zeigefinger auf den Tisch und schüttelte seinen Kopf. „Nein. Er wollte seinen Tag vor Gericht haben. Bei der Urteilsverkündung. Er wollte dem Richter sagen, dass er nur fünf Menschen ermordet hat.“

„Und hat er das?“, fragte ich.

„Er bekam keine Gelegenheit dazu. Ich habe ihn aufgehalten.“

„Warum?“

„Wenn Billy Wayne in Bezug auf einen der Morde sein Wort nicht gehalten hätte, hätte die Anklage den Deal platzen lassen. Das war nicht verhandelbar.“ McCracken kniff sich in die Nasenwurzel und seufzte. Er sah mich an. „Am Ende interessierte es die Anklage nicht wirklich, wer wen umgebracht hatte, aber sie hätten den Vorschlag nicht angenommen, wenn er nicht alle sieben gestanden hätte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Gott bewahre, dass irgendwelche ungelösten Fälle zurückbleiben würden. Wie dem auch sei, wir - also die Anklage und ich - trafen uns mit dem Richter. Erzählten ihm, was Billy Wayne wollte. Natürlich machte die Anklage klar, dass der Deal platzen würde, wenn Billy Wayne sein Geständnis widerrufen würde. Ich sagte, dass er offiziell alle Morde gestehen würde, jedoch wollte, dass festgehalten wurde, dass er zwei davon nicht begangen hatte. Beinahe hätte der Richter die Abmachung da zunichte gemacht. Sagte, wenn Billy Wayne etwas gestand, was er nicht getan hatte, sollte es vielleicht einen Prozess geben, in dem er es beweisen könnte.“

„Aber das tat er nicht“, sagte Nicole.

McCracken schüttelte den Kopf. „Ich musste ein wenig reden, aber letzten Endes überzeugte ich den Richter, dass es für Billy Wayne in Ordnung war - ich habe tatsächlich diesen Ausdruck verwendet - ein volles Geständnis abzulegen. Dann musste ich noch Billy Wayne überreden, der aber schließlich zustimmte.“

„Klingt nach einem rechtschaffenen Bürger“, sagte ich.

McCracken lächelte. „Ich verstehe Ihre Skepsis. Wäre ich an Ihrer Stelle, würde ich vermutlich zum selben Schluss kommen. Aber ich kenne Billy Wayne. So gut wie jeder ihn kennt.“ Er nahm einen schwarzen Montblanc-Füller von seinem Tisch, betrachtete ihn und legte ihn beiseite. „Er ist ein kranker junger Mann, ein brutaler Killer, doch er hat ein gewisses Verantwortungsgefühl und, wie ich bereits sagte, ein Gerechtigkeitsempfinden.“

„Also, warum jetzt?“, fragte Nicole. „Sein Urteil, oder sein Geständnis, liegt Jahre zurück. Warum rührt er jetzt alles wieder auf?“

„Während ich Billy Wayne damals überzeugt habe, sagte ich ihm, dass er eines Tages die Gelegenheit bekommen würde, seine Geschichte zu erzählen. Er entgegnete, dass niemand ihm glauben würde, wenn er alle Morde gestand, woraufhin ich sagte, dass ihm sowieso niemand glauben würde.“ Er zuckte mit den Schultern. „Damals nicht und vielleicht niemals, Geständnis hin oder her. Das jeglicher Widerruf auf taube Ohren stoßen würde. Außer, es würden neue Beweise auftauchen.“

„Taten sie das?“, fragte Nicole.

„Nein. Aber Billy Wayne ist davon überzeugt, dass welche existieren. Es muss sie nur jemand finden.“

„Und da kommen wir ins Spiel?“, fragte ich.

McCracken nickte. „Sieht so aus.“

„Billy Wayne hat also auf der Lauer gelegen und nun einen Wohltäter gefunden“, sagte ich. „Jemanden, der anonym bleiben möchte, wie ich gehört habe.“

„Ich kann Ihnen sagen, dass diese Person ein besonderes Interesse an Verbrechen, an forensischer Forschung und an allem, was mit Strafverfolgung zu tun hat, hat. Er unterstützt seit Jahren Kriminallabore und polizeiliche Vereinigungen. Er besitzt eine der größten Sammlungen des Landes von Erstausgaben der Kriminalliteratur.“

„Ein Verbrechensfan?“, fragte Nicole.

McCracken lächelte. „Das könnte man so sagen.“

„Wie viele Menschen wissen, dass Billy Wayne zwei der Morde leugnet?“, fragte ich.

„Natürlich die Anklage und der Richter. Aber ich glaube nicht, dass sie Billy Wayne tatsächlich geglaubt haben. Oder dass es sie auch nur interessiert hat. Ich glaube, sie dachten, dass er nur ein wenig das System stören wollte. Dazu kommen das ganze Chaos und die Gerüchte, die vor ein paar Jahren infolge des Ganzen entstanden. Ich nehme an, dass jeder, der sie gehört hat, diesen Teil der Geschichte von Billy Wayne Baker längst vergessen hat. Also, eigentlich wissen es nur sein Wohltäter und ich.“

„All die Jahre hat er zu der Sache geschwiegen?“, hakte ich nach.

McCracken nickte.

„Warum? Hört sich doch so an, als würde ein Zeitungsreporter, jemand vom Fernsehen oder ein Krimiautor seiner Geschichte lauschen und etwas daraus machen wollen.“

„Ich weiß nur, dass er sagte, dass er nicht mehr sicher wäre, wenn er zu hohe Wellen schlagen würde.“

„Vor anderen Gefangenen?“, fragte Nicole.

„Oder vor den Wachen“, sagte McCracken. „Er sagte, wenn er mit dem Finger in die richtige Richtung zeigen würde, könnten Dinge ins Rollen geraten - seine Worte.“

„Aber nun möchte er die Gelegenheit beim Schopf ergreifen?“, fragte ich.

McCracken kehrte seine Handflächen nach oben. „So sieht es aus. Er hat sich klar ausgedrückt, dass er nicht einfach nur freigesprochen werden möchte, sondern Beweise will, dass er die Wahrheit gesagt hat.“

Das klang sinnvoll. Irgendwie. Billy Waynes Behauptung seiner Unschuld, wenn auch nur in Bezug auf zwei der Morde, würde nicht viel ändern. Außer, dass es ihn vielleicht zu einer Zielscheibe im Gefängnis machen würde. Wenn er jedoch wirkliche, echte Beweise hätte, wäre es anders. Was er zu erreichen hoffte, wie das sein Leben in irgendeiner Weise ändern sollte, erkannte ich noch immer nicht, aber vielleicht ging es um die Sache mit der Gerechtigkeit. Was auch immer das war.

„Wie sind dieser anonyme Typ und Billy Wayne in Kontakt getreten?“, wollte Nicole wissen.

„Er hat Billy Wayne einen Brief geschrieben. Sie haben eine Korrespondenz begonnen. Billy Wayne hat offenbar Vertrauen zu ihm gefasst und ihm seine Geschichte erzählt. Der Typ glaubte ihm und beschloss, ihm zu helfen. Dann wandte er sich an mich. Zu sagen, ich wäre überrascht gewesen, beschreibt es nicht ganz. Also rief ich Ray an und hier sitzen wir nun.“

„Was ist der nächste Schritt?“, fragte ich.

„Ich habe ein Treffen mit Billy Wayne für Sie vereinbart.“

„Wann?“

„Morgen. Neun Uhr.“ Er sah Nicole an. „Ich schlage vor, dass nur Jake geht. Weibliche Besucher verursachen im Union Correctional immer einen Aufruhr.“ Er lächelte. „Besonders, wenn sie aussehen wie Sie. Ohne Zweifel würden sie ausrasten.“

„Was ist so schlimm an einem kleinen Aufruhr?“, sagte sie. Großer Gott.