Leseprobe Todesbund

Kapitel 1

Der Mann an der Tür musste keine Worte benutzen, um seine Autorität zu demonstrieren. Er war beinahe so groß wie der Durchgang und seine Schultern hatten die sprichwörtliche Breite eines Schranks. Die schwarze talarartige Robe, die er trug, verstärkte den Eindruck. Das einzig Kleine an dieser Gestalt war die auffallend zarte, kerzengerade Nase. Wahrscheinlich hatte es noch niemand geschafft, so nahe an ihn heranzukommen, um sie zu verunstalten.

David senkte die Lider, blieb in einem Sicherheitsabstand von einem Meter stehen und murmelte: »David Kingsley. Ich bin eingeladen.«

Unerwartet verzog der Hüne die Lippen zu einem Lächeln. »Herzlich willkommen, Herr Kingsley. Sie werden bereits erwartet. Ich führe Sie.« Er ließ David eintreten und verriegelte die Tür von innen mit einem elektrischen System.

Obwohl David die räumlichen Gegebenheiten kannte, sah er sich um – die Szenerie beeindruckte ihn jedes Mal aufs Neue: das riesige, getäfelte Foyer, oberhalb der Holzkante die Bilderreihe mit Porträts von Menschen in altmodischen Gewändern aus verschiedenen Epochen.

Insgesamt führten vier Türen tiefer in das Haus hinein: zwei an der dem Eingang gegenüberliegenden Seite, eine an der linken und eine an der rechten Wand. Was sich hinter der letzten verbarg, war David bis jetzt verborgen geblieben.

Nun öffnete der Mann genau diese. »Hier entlang, Herr Kingsley.«

Von einem Absatz führte eine schmale Treppe ins Untergeschoss.

Sie stiegen hinab und betraten einen typischen Kellerraum mit weiß getünchten Wänden, Regalen, schnörkellosen Schränken und zwei Tiefkühltruhen.

David folgte dem Mann durch ein zweites, vergleichbares Abteil und einen Gang entlang, der vor einer Stahltüre endete – sie war ebenfalls elektrisch gesichert.

Der Hüne tippte einen Code in das Zahlenfeld, betätigte den Hebel und zog die massive Konstruktion auf. »Bitte, vor mir. Und achten Sie auf einen angemessenen Abstand zu den Herrschaften.«

David nickte ihm zu und trat über die Schwelle. Jäh hielt er in der Bewegung inne und blickte sich voller Erstaunen um. Im Gegensatz zu dem normalen Kellerbereich, den er eben passiert hatte, handelte es sich bei diesem Raum eindeutig um einen uralten Bau mit gewölbter Decke, grob geformten Wänden aus Mauerziegeln und Fels sowie einem abgetretenen Steinboden. In Nischen und auf mehrarmigen Ständern flackerten unzählige Kerzen. Automatisch drängten sich David Bilder einer Krypta und zugleich eines Weinkellers auf.

Vor einem dunkelgrünen Samtvorhang standen drei Stühle mit überlangen Rückenlehnen. Eine Frau und zwei Männer saßen darauf und fixierten ihn. Sie trugen das gleiche Gewand wie der Riese, allerdings in einem hellen Grau, und ihre Gesichter waren mit Masken verhüllt.

Entgegen seinem Naturell verspürte David Ehrfurcht, und eine tiefe Ergriffenheit durchflutete ihn. Bis jetzt hatte er der Umstände halber nur an Treffen in den USA teilgenommen – sie waren laut, bunt, schrill. Der Unterschied zu dieser würdevollen und mystischen Kulisse war frappierend. Genau das war ein leuchtendes Beispiel dafür, warum er sich so sehr nach der alten Heimat gesehnt hatte. Und nun lag Europa endlich in Griffweite – dank ihr, seinem honey-bunny.

In der Tat hatte sie mehr für ihn getan und war ihm treuer ergeben, als er je zu hoffen gewagt hatte. Gleichwohl war er es, der aufgrund seiner Persönlichkeit und Historie das geeignete Bindeglied zwischen den USA und Europa darstellte. Schier unbegrenzte Möglichkeiten taten sich auf und er hatte vor, diese für sich zu nutzen.

Die Basis der Gruppierung war stabil und zuverlässig. Er brauchte nichts weiter tun, als die Fäden zu ziehen und die Gegebenheiten in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. Er war ein Magnet und legte er es darauf an, hingen die Menschen an seinen Lippen – honey-bunny war gegenwärtig der beste Beweis. Dessen ungeachtet musste er mit Bedacht vorgehen, nicht zu kühn und nicht zu zögerlich, eloquent und mit der Demonstration seiner Überlegenheit. Demzufolge streckte er die Wirbelsäule durch und sah der Frau direkt in die Augen.

Sie reagierte prompt. »Du wolltest mit uns reden, David.« Ihre Stimme klang ruhig und erhaben.

»Ja?!« Die Worte irritierten ihn. Meinte sie, er würde sie wegen der Maske nicht erkennen? Es war drei Tage her, als sie das letzte Mal gemeinsam in einem Café gesessen hatten. Warum tat sie jetzt so geheimnisvoll und nichtsahnend?

Vermutlich lag ihr bloß daran, die Magie des Moments zu wahren – dem würde er gerne entsprechen. Also entgegnete er: »Ich hatte nicht damit gerechnet, die Unterhaltung in solch einem Rahmen zu führen. Die Atmosphäre ist … beeindruckend.«

»Bringe uns dein Ansinnen dar«, sagte sie, ohne seine Bemerkung zu kommentieren.

Unmerklich stöhnte David auf. Wie viele Stunden hatte er damit zugebracht, ihr seine Pläne zu erläutern? Ach, was soll’s, dachte er versöhnlich. Dann will sie meine Ausführungen eben noch einmal zusammengefasst präsentiert bekommen. Er räusperte sich. »Ich bin der Meinung, dass wir umformiert gehören. Wir streben nach Wissen und Erkenntnis, setzen die Resultate jedoch in keiner Weise für uns ein. Meine Befähigung ist es, Menschen zu bannen und ihnen einen Fokus zu vermitteln. Ihr ahnt nicht, wie weit uns das bringen könnte.«

»Und was wäre das Fazit?«, fragte der Mann, der rechts neben ihr saß.

»Macht natürlich, was sonst?« David zuckte mit den Schultern. Wie verbohrt konnte man sein? Es reichte. Besonnenheit in allen Ehren, das war allerdings zu viel. Er war doch kein Bittsteller! »Wenn ihr wüsstet, wer ich in Wahrheit bin und was ich in der Vergangenheit zustande gebracht habe, gäbe es kein Zögern von eurer Seite.« Obwohl ihm klar war, welches Risiko er mit der Aussage auf sich nahm, schwankte er nicht. Diese Wichtigtuer sollten ruhig erfahren, dass sie es nicht mit irgendjemandem zu tun hatten. Er würde sie lehren, dankbar und fügsam zu sein.

»Wir sind über deine Absichten im Bilde, David. Sie sind so unehrenhaft wie gefährlich«, antwortete der andere Mann.

David kniff die Augen zusammen. Zurückhaltung war einfach nicht sein Stil. »Nicht sie sind gefährlich, sondern ich bin es.«

Die Frau beugte sich vor. »Du strebst nach Herrschaft und willst uns für deine persönlichen Zwecke ausbeuten. Diese Intention bedroht unsere Geheimnisse. Das dürfen wir nicht zulassen, David.«

»Eure Geheimnisse sind der Grundstock für etwas Größeres.« Er fixierte sie. »Wie Lemminge laufen sie hinter uns her, weil wir ihnen das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein. Nutzen wir das nicht aus, sind wir schlichtweg … dämlich.«

Ohne Hast stand sie auf und vollführte eine knappe Handbewegung. »Schweig!« Wenngleich sie nicht lauter sprach als zuvor, hallte ihr Befehl von den Wänden wider.

David hatte ihren Wink zwar registriert, beschäftigte sich aber dermaßen intensiv mit einer passenden Entgegnung sowie der Frage, warum ihr Schweig! so gut gewirkt hatte, dass er dem Zeichen keine Wichtigkeit beimaß. Selbst als sich der Hüne im schwarzen Talar von seinem Platz an der Tür löste und direkt auf ihn zuging, erachtete er sich in keiner Notlage.

Gerade wollte David antworten, als er im Schein der Kerzen etwas aufblitzen sah. Bereits im nächsten Augenblick – sein Gehirn hatte den Lichtstrahl noch nicht zugeordnet – sprang der Mann auf ihn zu, packte ihn im Nacken an den Haaren und riss seinen Kopf zurück. Zeitgleich drückte er ihn mit voller Wucht hinunter, sodass David seine Knie beugen musste. Er schrie auf und versuchte sich zu befreien, doch die Stärke des Riesen überstieg seine Kraft um ein Vielfaches. Der Griff war eisern, und David fühlte sich wie in einem Schraubstock gefangen.

»Du sprichst von Macht. Erfahre nun die unsere«, ertönte ihre Stimme gehaltvoll.

Durch die Fixierung war Davids Blickfeld auf einen Ausschnitt der Gewölbedecke eingeschränkt. Auf einmal verspürte er einen Druck in seinem Brustkorb, genau hinter den Rippen. Presste ihm dieser Kerl mit der freien Hand die Faust in den Leib? Wenigstens ließ er jetzt seinen Kopf los. Das Ziehen an den Haaren war unangenehm gewesen.

David schüttelte sich, um die Schultermuskeln zu locken, als ihn unvermittelt ein unbeschreiblicher Schmerz durchzuckte. Erneut schrie er auf und blickte an sich hinab. Auf der linken Seite ragte oberhalb des Schlüsselbeins der Schaft eines Dolches empor, und rund um die Einstichstelle färbte sich sein weißes Hemd rot. Ist das überhaupt ein Dolch – oder ein Schwert?, überlegte er und wunderte sich parallel über die Sinnlosigkeit dieses Gedankens. Was zählte es, welche Waffe in ihm steckte?

David atmete flach, worauf der brennende Schmerz abflaute und in ein rhythmisches Pochen überging. Es tat weiterhin höllisch weh, doch auf diese Weise würde er eine Weile lang durchhalten. Schmeckte er Blut?

Mit einem gurgelnden Geräusch, das überlaut in sein Gehirn vordrang, versuchte er Speichel zu sammeln, um den Schluckreflex auszulösen. Weder Zunge und Rachen noch der Schlund reagierten allerdings auf seine Bemühungen. Warum schaffte er es nicht, diese simple, automatische Handlung durchzuführen? Generell nahm ihn ein verstörendes Empfinden ein: Sein ganzer Körper wurde weich, als verlören sämtliche Muskeln die Spannung und bestünden aus einer gallertartigen Masse.

Ein leichter Schwindel erfasste David und sicherheitshalber ließ er sich langsam auf die Knie sinken. Dabei registrierte er am Rande, dass die Klinge aus ihm herausgezogen wurde. Als er sich mit den Händen auf dem Boden abstützen wollte, um nicht zu kippen, geriet er in Schieflage. Unter Aufbringung all seiner Kraftreserven fing er den drohenden Sturz mit einer ruckartigen Bewegung ab. Der Schmerz, der daraufhin schlagartig in seinem Brustkorb aufflammte, brachte ihn für eine Sekunde beinahe um den Verstand. Keine schnellen Bewegungen, ermahnte er sich. Und bleib wach – konzentriere dich. Das ist deine einzige Chance.

Davids Verstand arbeitete nach wie vor so gewissenhaft, dass er buchstäblich mitbekam, wie seine Sinne allmählich schwanden. Habe ich denn eine Chance? Das Luftholen fiel ihm immer schwerer und eine bleierne Müdigkeit legte sich über ihn. Noch seine eigenen Anweisungen im Bewusstsein – keine schnellen Bewegungen, wach bleiben – ließ er die Beine zur Seite gleiten und streckte sich auf dem Boden aus. Die kalten Steine riefen einen Schauer hervor, und er erzitterte. Von selbst begannen seine Lider zu flattern und verschwommen nahm er die drei Gestalten wahr, die regungslos vor ihm standen.

Sie sind näher gekommen, um mir beim Sterben zuzusehen, wähnte er und begriff plötzlich die Ausweglosigkeit seiner Situation in vollem Ausmaß: Ich sterbe.

Es war der letzte Gedanke, den er klar erfasste, dann legte sich Dunkelheit über ihn.

Kapitel 2

Nick hängte das Sakko über den Stuhl, der vor dem kleinen Schreibtisch stand, lockerte die Krawatte und ließ sich auf das Bett fallen. Der Tag hatte alle Sinne gefordert und der Abschlussdrink mit den Kollegen aus dem Seminar war trotz seiner guten Englischkenntnisse eine Herausforderung gewesen – vier verschiedene amerikanische Dialekte strengten an. Es half wenig, dass er seine Assistentin Samantha Smith in den vergangenen Wochen dazu verdonnert hatte, fast ausschließlich Englisch mit ihm zu reden. Das fein modulierte british english erschien im Vergleich zum breiten Südstaatenslang oder der Mundart aus dem Nordwesten nahezu wie eine andere Sprache.

Es war spät geworden und Nick überlegte, ob er Luisa noch anrufen sollte – bei ihr in Österreich graute gerade der Morgen und bestimmt war sie wach. Sie hatte Nachtdienst im Krankenhaus, und selbst wenn sie zum Schlafen gekommen war, weckte sie gegen fünf Uhr die innere Uhr.

Nick drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Nur kurz wollte er den Tag Revue passieren lassen. Dann würde er das Handy aus der Sakkotasche holen, mit Luisa telefonieren und sich nach einer Dusche endgültig zur Ruhe begeben. Morgen lief es in ähnlicher Gangart weiter und er hatte vor, nicht die kleinste Information zu verpassen. Schaffte man es, beim FBI einen Seminarplatz zu bekommen, musste man das ausnutzen.

Das Thema Fallanalyse war für ihn maßgeschneidert und obwohl er bereits über umfangreiche Kenntnisse verfügte, drang er auf diese Weise noch tiefer in die Materie vor. Zudem bestätigte er sein vorhandenes Wissen und rundete es ab. Besonders der Vortrag einer Kriminalpsychologin, die für ihre Profilings mitunter unübliche Wege beschritt, war hochinteressant gewesen.

Deutlich spürte Nick, wie er gemeinsam mit seinen Gedanken langsam in den Schlaf überglitt. Er mochte diesen Zustand und beschloss, ihm nicht entgegenzuwirken. Sein Gehirn verarbeitete in dieser Phase das Erlebte am besten.

Das Klingeln seines Handys ließ Nick jäh hochschnellen. Wer rief ihn um diese Zeit – egal ob Quantico oder Wien – an? Sofort war er hellwach. Eine Eigenschaft, die er während seiner Zeit beim Bundeskriminalamt verinnerlicht hatte und nie wieder verlieren würde. Er sprang aus dem Bett, machte zwei weite Schritte zu seinem Sakko und zog das Telefon heraus. Die Nummer, die auf dem Display angezeigt wurde, kannte er: das Bundeskriminalamt Deutschland.

»Nick Stein.« Er registrierte, wie rau seine Stimme klang, und hustete.

»Guten Morgen. Mein Name ist Jan Löve vom zentralen Fahndungsdienst.« Der Mann räusperte sich. »Habe ich Sie geweckt?«

Nicks Blick streifte den antiquierten Radiowecker, der auf dem Schreibtisch stand. Es war halb vier Uhr in der Nacht – er war nicht nur eingedöst, sondern hatte stundenlang fest geschlafen. »Ja, aber das liegt an der Zeitverschiebung. Sie erreichen mich in den USA. Kein Problem. Was kann ich für Sie tun?«

»Ja, also … Sie waren leitender Ermittler in dem Fall des Flüchtigen David König – schwere Körperverletzung, Gründer der Sekte Sonne Seven, Anstiftung zum Mord, Drahtzieher –«

»Sie müssen mir seine Verbrechen nicht aufzählen. Mir ist jedes Detail bekannt.« Unweigerlich blitzten in Nicks Kopf die schrecklichen Bilder von damals auf: die alte Villa in der Stadt Baden, riesige, hölzerne Kreuze, die gepeinigten Täter am Ende tot auf dem Boden liegend, und David König selbst, der wahre Schuldige.

»Entschuldigen Sie, Herr Doktor Stein. Natürlich, Sie haben ein Buch darüber geschrieben. ›Stille Schuld‹ ist quasi Pflichtlektüre in unserem Beruf. Ich habe es auch gelesen – äußerst spannend und lehrreich.«

»Das freut mich.« Nick fühlte förmlich, wie seine Ungeduld stieg. »Zum Grund Ihres Anrufes …«

»Ja, genau. Vor fünf Tagen wurde in Konstanz die Leiche eines gewissen David Kingsley aus Athens im Bundesstaat Georgia gefunden.«

»Hat der Tote etwas mit König zu tun?« Seit sich David König in Wien der Verhaftung entzogen hatte, war er wie vom Erdboden verschluckt. Gab es endlich einen ersten Hinweis?

»Und ob. Dem Abgleich zufolge handelt es sich nämlich um ihn.«

Nick benötigte einen Moment, um die Information zu verarbeiten. David König war tot? Dieser Mann hatte seine berufliche Karriere beeinflusst und spukte schon so lange durch seine Albträume, dass ihm die Nachricht wie eine Illusion erschien. »Wie ist er gestorben?«, fragte Nick schließlich.

»Er wurde erstochen.«

Nick schluckte, um den Knoten loszuwerden, der sich in seinem Hals gebildet hatte. »Wem ist es zu verdanken, dass die Daten des Toten mit der Fahndungsliste verglichen wurden?«

»Dem leitenden Beamten vor Ort. Er hat es routinemäßig angeordnet.«

Nick atmete tief durch. Der Mann vom Fahndungsdienst rief nicht nur an, um ihn über David Königs Tod zu informieren. Bestenfalls erhielte er als ehemals zuständiger Kriminalkommissar eine schriftliche Benachrichtigung. Es musste einen weiteren Grund geben, und den wollte er schnellstmöglich eruieren. »Was kann ich für Sie tun, Herr Löve?«

»Gemäß unseren Aufzeichnungen sind Sie für unbestimmte Zeit vom BKA Wien freigestellt und arbeiten aktuell als freier Analytiker und Berater«, antwortete Jan Löve prompt. »Wir würden Sie gern offiziell in die Untersuchung einbeziehen. Keiner kennt die früheren Umstände sowie die Person David Königs besser als Sie.«

Nicks Erwiderung kam in derselben Geschwindigkeit. »Ich bin dabei. Ist die Polizei in Konstanz einverstanden?«

»Sie befürwortet Ihre Anwesenheit. Herr Doktor Stein, Sie sagten eingangs, Sie befinden sich gerade in den USA?«

»So ist es, in Quantico – ich nehme an einem Profilingseminar für FBI-externe Personen teil.« Nick erinnerte sich, dass er den Ausdruck Profiler vor einigen Jahren noch strikt abgelehnt hatte und jedem Artikel in den Medien mit Stirnrunzeln begegnet war, in dem man ihn als solchen bezeichnet hatte. Inzwischen zählte das Wort zu seinem üblichen Sprachgebrauch.

»Wie ich erwähnt habe, lebte David König alias Kingsley in Athens. An der dortigen Universität war er als Assistent im Bereich Literatur geführt. Seine Reise nach Europa erfolgte im Auftrag dieses Fachbereichs. Und er war mit einer Professorin von der University of Georgia liiert …« Jan Löve ließ seiner Ausführung keinen Punkt folgen.

Nick wusste sofort, worauf er hinauswollte. »Übermorgen ist das Seminar zu Ende. Soll ich einen Zwischenstopp einlegen und mich in Athens umsehen?«

»Ja, es wäre eine gute Gelegenheit. Die Behörden waren kooperativ, aber das Telefonat mit der Lebensgefährtin Königs gestaltete sich schwierig, wie wir von Christian Mayer erfahren haben. Er ist der leitende Ermittler in Konstanz.«

»Wenn Sie mir seine Handynummer schicken, rufe ich ihn an«, entgegnete Nick und hüstelte. »Herr Löve, ich arbeite fest mit einem kleinen Team zusammen, ebenfalls ehemalige Beamte des BKA Wien.«

»Das wissen wir. Sprechen Sie sich diesbezüglich mit Christian Mayer ab, von unserer Seite bestehen keine diesbezüglichen Einwände. Die Beratungsvereinbarung senden wir Ihnen per Mail. Unterzeichnen Sie mit digitaler Signatur, und wenn Fragen auftauchen, wenden Sie sich vorläufig an mich.«

»In Ordnung. Ich setze mich gleich mit Christian Mayer in Verbindung – bei Ihnen in Deutschland hat der Tag schon begonnen.«

»Ja, so ist es. Entschuldigen Sie bitte die nächtliche Störung.«

»Das macht nichts.« Jetzt, da die notwendigen Informationen ausgetauscht worden waren, geriet das Gespräch ins Stocken. Ohne großes Aufheben brachte Nick es zu Ende. »Vielen Dank für Ihren Anruf. Auf Wiederhören.«

Erst als das Display des Handys schwarz wurde, löste sich Nick von seinem Platz und ging zurück zum Bett. Mit einem Seufzer setzte er sich auf den Rand. An Schlaf war nicht mehr zu denken – er war hellwach und sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. David König …

Vor allem die psychische Belastung, die mit dem schrecklichen Fall rund um diesen Mann einhergegangen war, hatte Nick letztlich dazu bewogen, seine Arbeit als Kriminalkommissar beim BKA Wien stillzulegen – Samantha Smith und Peter Westernschmidt, seine engsten Mitarbeiter, waren ihm gefolgt. Aber die Angelegenheit hatte noch weitere Kreise gezogen, die in der Folge auch sein Privatleben beeinflusst hatten: Dank seiner Entscheidung, das BKA zu verlassen, war er zur Ruhe gekommen und hatte es geschafft, die zerrüttete Beziehung mit Luisa zu reparieren. Heute lebten sie zusammen in einem Haus in seiner Heimatstadt Mödling bei Wien – der beste Schritt überhaupt. All die Affären und One-Night-Stands hatten ihn jahrelang an der Oberfläche dahintreiben lassen. Daraus zog man keine Kraft, das war ihm mittlerweile deutlich bewusst.

Ich muss Sam und Peter Bescheid geben, dachte er und aktivierte das Handy. Jan Löve hatte ihm indessen die Kontaktdaten von Christian Mayer geschickt. Ihn würde er nach Samantha und Peter anrufen.

Als Erstes wählte er Samanthas Nummer. Es klingelte nur einmal, bis sie sich meldete. »Good morning, darling. How nice is that, wenn sich mein Boss zu nachtschlafender Stunde nach mir sehnt. Wie läuft das Seminar?«

»Dir ebenso einen schönen guten Morgen, Sam. Die Vorträge sind hochinteressant, deshalb rufe ich jedoch nicht an. Wir haben einen neuen Fall.«

»Ich hoffe, er gestaltet sich spannender als der Letzte. A tiny bit Aufregung würde mir nicht schaden. Mit Robert zusammen zu sein ist nicht kolossal abenteuerlich.«

Normalerweise wäre Nick ohne zu zögern auf Samanthas Randbemerkung über Robert angesprungen und hätte mit einem spitzen Kommentar auf ihn abgezielt. Im Augenblick fiel ihm allerdings nichts Zündendes ein. Er war zu aufgewühlt. »Sam, sie haben David König gefunden. Er wurde ermordet.«

»What? O my god.« Es folgte ein Moment des Schweigens. »Und wir werden in die Ermittlung involviert?«

»So ist es. Ich wurde vom Fahndungsdienst des BKA Deutschland angerufen. König ist in den USA untergetaucht und im Auftrag der University of Georgia nach Europa zurückgekehrt. Seine Freundin ist Professorin an der Uni dort. Übermorgen nach dem Seminar fliege ich zu ihr«, fasste Nick zusammen.

»I can’t believe this«, murmelte Samantha. »Wo hat man seine Leiche gefunden?«

»In Konstanz. Mehr weiß ich gegenwärtig selbst nicht. Die Unterlagen werden wir bestimmt bald erhalten.«

Samantha räusperte sich. »Nick, wann hast du das letzte Mal mit Arno telefoniert?«

»Das ist einige Wochen her. Wir haben uns lose auf einen Drink nach meiner USA-Reise verabredet.« An Arno Hammer hatte Nick noch gar nicht gedacht. Er war damals Teil des Teams gewesen und von David König schwer verletzt worden. »Sam, würdest du es übernehmen, ihn zu informieren? Er hat ein Recht darauf. Sag ihm, ich melde mich, sobald ich zu Hause bin.«

»Sure thing. Was ist mit Peter?«

»Den wollte ich eigentlich nach dir in Kenntnis setzen, aber vielleicht kannst du mir auch diesen Anruf abnehmen. Ich muss den leitenden Beamten kontaktieren, und Luisa benachrichtigen.« Nick senkte die Stimme. »Kommst du damit klar, Sam? Ich meine, mit den Erinnerungen und so.«

»It’s not easy, but I can deal with it. Mach dir um mich keine Sorgen.«

Kapitel 3

Während des Gesprächs war Robert die ganze Zeit um Samantha herumgeschlichen. Das tat er immer, wenn Nick anrief. Die Beziehung zwischen den beiden Männern war diffizil und Samantha vermutete, dass Robert schlichtweg auf Nick eifersüchtig war. Dabei ging es nicht um sie als Frau – sie war fünfzehn Jahre älter als Nick und sein buddy –, sondern um die Zeit, die sie mit ihm verbrachte, und um ihre innige Freundschaft.

Als Rechtsmediziner hatte Nick Robert stets geschätzt, menschlich jedoch fand er wenig freundliche Worte. Sie selbst war früher sogar noch kritischer gewesen. In der Tat zählte ihr Lebensgefährte nach außen hin nicht zu den Sympathieträgern, wie etwa Nick einer war. Zu hochnäsig und gefühlskalt verhielt er sich anderen Menschen gegenüber. Dahinter verbarg sich allerdings ein nachdenklicher wie fürsorglicher Charakter, der auf die falsche Art um Anerkennung buhlte.

In vermeintlicher Seelenruhe goss sich Samantha einen Kaffee ein und nahm am Küchentisch Platz. »David König ist ermordet worden. Erinnerst du dich an den Namen?«

Sofort setzte sich Robert ebenfalls. »Und ob! Ein Rechtsmediziner darf keine Regung zeigen, das wäre unprofessionell, aber was ich gesehen und im Zuge der Autopsien herausgefunden habe, verfolgt mich bis heute.«

»Ich hatte keine Ahnung, wie nahe dir die Sache gegangen ist«, bemerkte Samantha.

Er senkte den Blick. »Das musstest du auch nicht, niemand.«

Samantha musterte ihn. Sie hatte den Eindruck, dass Robert weitersprechen wollte. Also ermunterte sie ihn mit einer auffordernden Handbewegung.

Bereitwillig ging er darauf ein. »Grundsätzlich ist ein Toter, der auf meinem Tisch landet, für mich wie das Haar für den Frisör. Vor mir liegt kein Mensch, sondern ein notwendiges Utensil, das ich benötige, um meine Aufgabe zu erfüllen. Natürlich sehe ich die Akten ein, doch dort finden sich ebenso nur sachliche Beschreibungen.« Wieder schwieg Robert.

»Your way of thinking ist kein Geheimnis für mich. Come on, weiter.«

Er nickte. »Die Causa König an sich war schon außerordentlich. Man stelle sich das vor! Mitten im einundzwanzigsten Jahrhundert finden in einem westeuropäischen Land – unserem Österreich – Kreuzigungen und Folterungen statt. Du weißt, dass ich mich von jeher für Geschichte interessiere. Das war der Auslöser, mich intensiv mit der Antike und Religionen zu beschäftigen. Ich könnte in jeder beliebigen Schule unterrichten. All diese –«

»Darling …« Ließe Samantha Robert jetzt dahinphilosophieren, würde er endgültig abschweifen und käme nie auf den Punkt.

»Selbstverständlich, entschuldige. Zum Thema! Durch dich – wir waren bereits ein Paar – habe ich zusätzliche Einblicke, vor allem auf der Gefühlsebene, erhalten: Grausame Täter, die zugleich Opfer waren, ein manipulativer Sektenführer, der furchtbare Rache übte – all dies hat meine Perspektive verrückt und für immer verändert.«

»Dann hast du von mir mehr erfahren, als dir lieb war?«, fragte Samantha.

»Nein, gar nicht!« Robert hob die Hand. »Seither ist es zwar schwieriger, die Contenance zu wahren, aber ich bin dadurch zu einem noch besseren Rechtsmediziner geworden – obendrein womöglich zu einem besseren Menschen. Ich lese in den Ermittlungsakten zwischen den Zeilen und erkundige mich beim zuständigen Kommissar. Es ist, als hätte ich den letzten Schliff erhalten.«

Samantha lächelte. »Das ist das schönste Kompliment, das du mir je gemacht hast. Thank you.« Sie senkte die Lider und presste die Lippen aufeinander. Nun war es an ihr, etwas zu gestehen. »Nick wurde in dem Mordfall als Berater engagiert. I know, wir wollten übernächstes Wochenende nach Salzburg zu dem Charity-Golfturnier fahren, aber ich lasse Nick nicht allein. Es handelt sich immerhin um David König.« Sie streckte die Wirbelsäule durch. »Außerdem brenne ich selbst darauf, diese unerledigte Angelegenheit abzuschließen. Der Mann geistert genauso durch meine Träume.«

»Ich helfe mit!« Um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, ließ Robert die Faust auf den Tisch niedersausen. Das Geräusch, das er erzeugte, ließ ihn zusammenzucken. »Herrje, so laut sollte es nicht klingen. Ehrlich, Sam, ich möchte dabei sein. Golf haben wir noch für den Rest unseres Lebens.« Er rieb sich über das Kinn. »Meinst du, Nick hat etwas dagegen, wenn ich mich involviere? Ich weiß doch, dass er mich nicht ausstehen kann und nur deinetwegen in der Runde duldet.«

Samantha verdrehte die Augen. »Du erwähntest zuerst die Wahrung deiner Contenance. No offence, but wahrscheinlich ist sie es, die dich anmaßend und impertinent wirken lässt. Nick schätzt deine Arbeit über alles. Schafft du es, ihm deine menschliche Seite zu zeigen, garantiere ich dir seine Achtung auch im privaten Bereich.« Abrupt schob Samantha den Stuhl zurück und stand auf. »Jetzt muss ich einige Telefonate führen.« Sie schickte Robert eine Kusshand und steckte sich die neuen kabellosen Kopfhörer ins Ohr – ein Geschenk Roberts.

Kapitel 4

Der Sheriff parkte den Wagen am Straßenrand und zeigte auf das Haus, vor dem sie standen. »Okay, let’s go, Doctor Arni.« Er grinste Nick an.

»Is my dialect really so telling?«, erkundigte sich Nick, während er die Autotür öffnete.

Der Sheriff, der indessen ausgestiegen war, nickte. »Yep.«

Nick wandte sich dem Gebäude zu und betrachtete es. Genauso stellte er sich ein Haus im Herzen der Südstaaten vor: Die Fassade bestand aus Holz und war weiß gestrichen. Auf der linken Seite befand sich eine offene Veranda, deren Dach direkt in einen Überbau mündete, der sich etwa sechs Meter fast über die gesamte Länge zog und von vier Säulen gehalten wurde. Ein gepflasterter Weg führte zum Eingang und teilte die saftig grüne, akkurat geschnittene Wiese in zwei Hälften. Begrenzt wurde der Gartenbereich von niedrigen Sträuchern. Tara in Miniausführung, dachte Nick und gesellte sich an die Seite des Sheriffs.

Der wies mit dem Kinn nach vorne. »Don’t forget that Mrs Professor is a bit nuts.«

Zur Bestätigung, dass er keinesfalls vergessen hatte, senkte Nick den Kopf. Der Sheriff hatte ihm ausführlich von seiner Unterhaltung mit Dorothy Franklin berichtet: Der Gesprächsverlauf sei merkwürdig und verstörend gewesen. Zudem hätte sie ihn mit Nichtachtung gestraft. Ganz so, als wäre er ihrer nicht würdig.

Nick war bereit für die verrückte Professorin und eine literaturlastige Stunde.

Als sie die Eingangstür erreichten, drückte der Sheriff die Klingel. Aus dem Inneren des Hauses erklang ein heller Ton und kurz darauf waren Schritte zu hören. Die Tür wurde aufgezogen und im Rahmen erschien eine hochgewachsene, elegant wirkende Frau.

Sie warf einen abschätzigen Blick auf den Sheriff und nickte ihm zu, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit Nick. »Herzlich willkommen, Herr Doktor Stein. Es freut mich, Sie kennenzulernen. Bitte, kommen Sie herein.« Wenngleich sie langsam und mit Akzent redete, war ihr Deutsch einwandfrei.

Nick ergriff ihre ausgestreckte Hand, deutete einen Handkuss an, und sagte: »Ich bin verwundert und erfreut, meine Muttersprache zu vernehmen. Danke für diesen besonderen Empfang.«

»Die deutsche Sprache zu beherrschen, ist mir ein besonderes Anliegen. Sie ist wie die Wurzel eines Baumes – Basis und Halt.« Gepaart mit einer einladenden Geste trat sie zur Seite, ließ Nick und den Sheriff ein, schloss die Tür und ging voran. Über die Schulter hinweg fragte sie: »Es macht Ihnen doch nichts aus, im Garten zu sitzen? Ich habe Eistee vorbereitet.«

»Ich liebe Wärme und frische Luft«, entgegnete Nick.

»Es gibt Menschen, die sich in ihren klimatisierten Häusern verbarrikadieren und nicht zu schätzen wissen, was die Natur und der Himmel über uns zu bieten haben. Es ist schön, dass Sie anders denken.«

Wie sich Nick erinnerte, hatte ihm der Sheriff erzählt, anlässlich seines Besuches darauf bestanden zu haben, im Haus zu bleiben. Ob sie noch weitere Pfeile in ihrem Köcher hortete, um diese im Laufe des Gesprächs auf ihn abzuschießen? Nick war gespannt zu erfahren, warum Dorothy Franklin dem Sheriff dermaßen ablehnend gegenüberstand. Schätzte sie ihn tatsächlich geringer – wenn ja, warum? – oder missfiel er ihr einfach als Person? Außer Acht lassen durfte Nick zudem nicht, dass der Sheriff der Überbringer der Nachricht von David Kingsleys alias David Königs Tod gewesen war. Es handelte sich um kein neues Phänomen, dem Boten die Schuld zu geben.

Mit Dorothy Franklin an der Spitze durchquerten sie im Gänsemarsch das Wohnzimmer und hielten vor dem Durchgang zum Garten. Sie zog die Schiebetür aus feinmaschigem Gitter zur Seite und trat vor ihnen ins Freie.

Nick folgte ihr auf dem Fuß und gab einen erstaunten Laut von sich. »Mein Gott, das ist ja wunderschön! Wie ›Der geheime Garten‹.« Seine Überraschung war nicht gespielt. Auf den allerersten Blick wirkte das Gelände für das oberflächliche Auge unter Umständen verwildert, doch bei genauer Betrachtung trat deutlich hervor, dass der Eindruck hervorgerufen wurde. Die Rasenflächen zwischen den hohen Rosensträuchern, die sich um schmiedeeiserne Bögen schlangen, waren genauso sorgfältig geschnitten wie die Wiese vor dem Haus. Auf dem fast waagrecht gewachsenen Ast eines Baumes mit rosafarbenen Blüten hing eine weiße Schaukel, und umgeben von Büschen entdeckte Nick zwei Holzbänke.

Dorothy Franklin lächelte zurückhaltend. »Setzen Sie sich auf einen der dem Garten zugewandten Stühle, Herr Doktor Stein. Sie scheinen sich nicht sattsehen zu können.« Sie schenkte drei Gläser Eistee im Stehen ein, dann nahm sie ebenfalls Platz.

Der Sheriff entschied sich für einen Stuhl am anderen Ende des Tischs.

»Spielten Sie gerade auf ›Der geheime Garten‹ von Frances Hodgson Burnett an?«, fragte sie nach einem Moment des Schweigens.

»Ja, genau dieses Buch ist mir in den Sinn gekommen, Frau Doktor Franklin.«

»Nennen Sie mich bitte Dorothy. Es erstaunt mich, dass Sie dieses Werk kennen. ›Der kleine Lord‹ erhält seit seinem Erscheinen eindeutig mehr Gehör.«

»Ich lese sehr gerne. Leider lässt es meine Zeit kaum zu, diese Passion adäquat auszuleben.« Nick drehte sich dem Sheriff zu. »Excuse me for speaking german.«

Der hatte sich zurückgelehnt, nippte an seinem Eistee und sah auf den Garten hinaus. »Ah, that’s okay. Keep going.«

Dorothy beachtete die Meldung des Sheriffs nicht. »Wie ich im Internet nachgelesen habe, sind Sie selbst Autor.«

»Nur eines Sachbuchs, das zweite befindet sich in Arbeit. An einen Roman würde ich mich allerdings nicht heranwagen.«

»Vielleicht wandeln Sie doch einmal auf den Spuren Agatha Christies und erschaffen Figuren wie Miss Marple oder Hercule Poirot – um die berühmtesten anzuführen. Wussten Sie, dass sie unter einem Pseudonym auch romantische Geschichten schrieb?«

Nick schüttelte den Kopf. »Das war mir bisher nicht bekannt. Wie interessant.«

»Welchen Doktortitel haben Sie?«, fragte Dorothy Franklin unvermittelt.

»Kriminalpsychologie.« Nick betrachtete die Frau aufmerksam. Ohne Zweifel lenkte sie die Unterhaltung in eine bestimmte Richtung, wobei sie durchaus geschickt vorging und ihn offensichtlich zugleich austestete. Aber was überprüfte sie? Seine Eignung als angemessenen Gesprächspartner?

»Ich muss Ihnen etwas gestehen, Herr Doktor Stein. Als man mir Ihren Besuch ankündigte, habe ich mir Ihr Buch als E-Book heruntergeladen und es gelesen. Dank meines Berufs bin ich es gewohnt, Texte rasch – wie sagt man auf Deutsch? – durchzuschauen.« Kurz warf sie einen Blick auf den Sheriff, dessen Lider drohten zuzufallen.

Nick horchte auf. Steckte seine persönliche Verbindung zu David König hinter ihrem Verhalten? Es war nicht unmöglich, dass sie den Zusammenhang zwischen seinen Erläuterungen über David König, den er natürlich unter geändertem Namen in seinem Buch analysierte, und ihrem David Kingsley hergestellt hatte. Vom Sheriff hatte sie erfahren, wer ihr verstorbener Geliebter in Wahrheit gewesen war, und mit etwas Geschick hatte sie anhand der alten Medienberichte die Elemente problemlos zusammenbringen können.

Nick faltete die Hände. »Sie wissen, warum ich hier bin?« Ein besserer Moment würde sich nicht bieten, um zum eigentlichen Thema hinzuführen. Deutlich leichter fiele es ihm, die richtigen Worte zu finden, zeigte Dorothy Franklin nur den Hauch einer Gefühlsregung. Ihre Selbstbeherrschung war jedoch beispielhaft. Dabei musste sie tief in ihrem Inneren etwas empfinden: Trauer, Verzweiflung, Wut, Angst, Erlösung – viele Tendenzen könnte Nick verstehen. Fast wünschte er sich, sie a bit nuts – wie der Sheriff es ausgedrückt hatte – zu erleben, dann hätte er zumindest einen Anhaltspunkt.

Dorothy nickte. »Ja, Herr Doktor Stein, das ist mir bewusst. Und ich bin froh, dass Sie es sind.«

Was meint sie mit ›dass ich es bin‹?, überlegte Nick, doch noch bevor er einhaken konnte, redete sie bereits weiter.

»Dieser Gesetzesvertreter ist unerträglich.« Mit dem Kinn zeigte sie auf den mittlerweile schlafenden Sheriff. »Ein gewöhnlicher Tölpel, der in eine Uniform gesteckt wurde und meint, sie würde ihn zu einem beachtenswerten Menschen machen. Er entstammt der untersten Stufe und nichts Reines steckt in diesem Individuum. Aber das ist das Resultat, wenn man zulässt, dass sich Völker vermischen.«

Einen Augenblick lang starrte Nick Dorothy Franklin verblüfft an. Dies war weit mehr als eine bloße rassistische Andeutung – sie hatte sich förmlich geoutet. Er dachte an ihre Bemerkung über die deutsche Sprache. Eingangs hatte er ihr keine Bedeutung beigemessen.

Obwohl es ihn reizte, zu reagieren, hielt er sich zurück. Schließlich war er nicht hier, um über Themen dieser Art zu diskutieren. »Erzählen Sie mir bitte von David Kingsley, Dorothy«, antwortete er so sanft, wie es ihre Aussage für ihn zuließ. »Wie haben Sie einander kennengelernt?«

Dorothy neigte den Kopf. »Ach, es handelte sich im wahrsten Sinne des Wortes um Schicksal. Ein Kollege der Fakultät und ich saßen in einem Restaurant nahe der Universität und erörterten den religiösen Aspekt eines Werks. Wir waren etwas lauter geworden und David, ebenfalls Gast, hat unsere Kontroverse aufgeschnappt. Anstatt sich jedoch über unsere hitzige Diskussion zu beschweren, bot er Hilfe an. Sein Bibelwissen war umfangreich, und er brachte uns einer Lösung näher.« Dorothys Blick wanderte umher. Es war, als spräche sie zu sich selbst. »Mein Kollege ging, David blieb. Bei mir fand dieser weitgereiste Mann eine Heimat.«

Um ihren Redefluss aufrechtzuerhalten, stellte Nick die erstbeste Frage, die ihm spontan einfiel: »Woher stammte David Kingsley ursprünglich?«

»Aus dem mittleren Westen. Ich habe mir den Namen des Dorfs nicht gemerkt, wo er geboren wurde – er hat ihn nur ein- oder zweimal erwähnt. David redete nicht gern darüber, seine Kindheit dürfte nicht besonders schön gewesen sein. Lange Zeit hat er in Europa gelebt und dort Religionswissenschaften und anschließend Germanistik studiert. Deshalb kannte er sich so gut in der Bibel aus und sprach dieses wunderbar elegante Deutsch. Er hat mich viel gelehrt.«

Nick lächelte zustimmend und hoffte, dass es aufrichtig wirkte. »Warum hat er sich damals in Athens aufgehalten, als Sie einander zum ersten Mal begegneten?«

»Er fühlte sich den Südstaaten zugetan – in mannigfacher Hinsicht – und hatte überlegt, hierherzuziehen.« Ein versonnener Ausdruck huschte über Dorothys Gesicht. »Wir waren von Anfang an ein Herz und eine Seele, wie man sagt. Zwei Lebewesen, die im selben Takt dahinschreiten. Herkömmlich werden Geheimnisse in Büchern niedergeschrieben, unser Mysterium stand in den Sternen. Fernab von …« Abrupt brach sie ab und flüsterte: »Das weiße Kaninchen … The white rabbit?«

»Was meinen Sie, Dorothy?«

»Oh, nichts. Es war bloß ein abwegiger Gedanke. Vergessen Sie meine Frage. Ich war … an einem anderen Ort.« Jäh schien sie verwirrt.

Nick spürte, dass sie abzugleiten drohte. Noch war er mit seinem Interview jedoch nicht am Ende angelangt. »David zog sofort bei Ihnen ein?«

»Ja, es war die einzige logische Konsequenz. All unsere Träume hatten sich durch den anderen erfüllt. Wir waren füreinander geschaffen und wollten jede mögliche Minute gemeinsam verbringen. Mein Haus ist groß genug für ein Paar und mit seinem Wissen war es leicht, ihm eine Assistentenstelle an der Universität zu verschaffen. Er involvierte sich rasch in das Gefüge und wurde zu einem äußerst geschätzten Mitglied.«

»Dann reiste er im Auftrag der Universität nach Konstanz?« Wenngleich Nick die Antwort bereits kannte, formulierte er David Königs Rückkehr nach Europa als Frage. Auf diese Weise war die Chance größer, eine detaillierte Information zu erhalten.

Dorothy nickte. »Viele Fakultäten betreiben einen regen Austausch. David erbot sich, für ein Projekt, das mehrere Universitäten einschließt, nach Konstanz zu fliegen. Allein wegen seiner Sprachkenntnisse war er die geeignete Person für diesen Auftrag.«

»Das wären Sie ohne jeden Zweifel auch gewesen«, warf Nick ein.

»Danke. Ich konnte Athens leider nicht verlassen. Meine Kurse laufen und die Reise war für einen unbestimmten Zeitraum geplant. Wir wussten nicht, ob er zwei Wochen oder drei Monate bleiben würde.«

Nun war es Nick, der auf den schlafenden Sheriff wies. »Er hat Ihnen die Nachricht von David Kingsleys Tod überbracht – und nicht nur das.«

Dorothys Miene erstarrte und jeglicher Anflug von Wärme verschwand. »Dass David ein gesuchter Verbrecher namens David König war? Ja, das hat er. Welch irrationale Behauptung!« Kurz schwieg sie. »Ich erahne Ihre Gedanken, Herr Doktor Stein. Sie sehen mich hier ruhig sitzen und überlegen, was ich tief in meinem Inneren empfinde. Ich verrate es Ihnen: Am liebsten würde ich vor Trauer und Wut zerbersten. Aber Schreie und Wehklagen bringen mich nicht voran.« Erneut pausierte sie. »Ihr Buch beinhaltet den Bericht über einen Sektengründer und Anstifter zum Mord. Es war nicht schwer, im Internet Artikel darüber zu finden – und diesen Namen: David König.«

Nick senkte den Kopf. Seine Vermutung war also richtig gewesen. »Dass es sich um dieselbe Person handelt, ist nachgewiesen, und ich habe die Fotos des Leichnams gesehen: Ihr David Kingsley war David König.«

»Ich hatte gehofft, einen gewissen Zweifel bei Ihnen zu bemerken, nachdem ich dies alles über David erzählt habe. Weiterhin sind Sie allerdings von der Behauptung überzeugt. Für die Möglichkeit, dass Sie absichtlich in die Irre geführt wurden, erscheinen Sie nicht zugänglich. Ich hätte einen größeren Geist erwartet.« Unvermittelt stand Dorothy auf. »Ich denke, es ist genug. Lassen Sie mich jetzt allein.« Mit zusammengebissenen Zähnen zischte sie: »Und wecken Sie ihn.«

Als hätte er seinen Namen vernommen, öffnete der Sheriff die Augen. Er rieb sich mit den Handflächen über das Gesicht und beugte sich nach vorn.

Nick erhob sich und deutete eine Verbeugung an. »Dennoch vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Als Ermittler habe ich immer eine letzte Frage: Was meinten Sie mit ›the white rabbit‹?«

Die Veränderung sowohl der Mimik als auch ihrer Haltung ging schlagartig vonstatten. Sie streckte die Wirbelsäule durch, hob das Kinn und zog zeitgleich die Mundwinkel hinunter. Mit einem verächtlich taxierenden Blick entgegnete sie mit eiskalter Stimme: »Nichts. Nehmen Sie Ihren unwürdigen Gleichgesinnten und verlassen Sie mein Haus. Sie finden selbst hinaus.«

Wie auf Befehl sprang der Sheriff auf. Er nickte Dorothy Franklin zu und forderte Nick mit einem knappen »Let’s go!« auf, ihm zu folgen.

»Leben Sie wohl, Dorothy, und … mein Beileid.« Nick sah sie ein letztes Mal an, dann wandte er sich ab.

Der Sheriff hatte indessen die Schiebetür aufgezogen und bedeutete Nick mit einer dezenten Geste zu kommen.

Schweigend durchschritten sie den Wohnraum und verließen das Haus.

Erst als sie im Auto saßen, sagte der Sheriff: »I thought it would be better to give you guys some space.« Er zwinkerte Nick zu. »I just pretended to be asleep.«

»Do you speak German?«, erkundigte sich Nick, um herauszufinden, ob der Sheriff das Gespräch mitverfolgt hatte.

Der schüttelte den Kopf. »I didn’t understand a single word, but I’m pretty sure you’ll tell me what was said.«

»Of course.« Nick seufzte auf. »Do you know what ›the white rabbit‹ means?«

»No idea.« Der Sheriff zuckte mit den Schultern und startete den Wagen. »I told you she’s crazy. Remember, Doc Arni

Kapitel 5

Samantha und Peter saßen auf Nicks Terrasse und starrten gebannt auf den Durchgang. Als Nick endlich mit Arno Hammer im Schlepptau erschien, sprangen sie sofort auf.

Arno zog Samantha in seine muskulösen Arme. »Sam, wie schön, dich wieder zu treffen.«

Sie verschwand förmlich in der Umarmung des hünenhaften Mannes. »My dear! Ich freue mich ebenfalls.«

Arno löste sich von Samantha und streckte Peter die Hand entgegen. »Wir haben uns seit einer geraumen Weile nicht mehr gesehen, aber immerhin einige Male gehört. Wie läuft das Privatdetektivdasein?«

Peter lachte und klopfte Arno auf die Schulter. »Gut, wenn ich solch einen hilfreichen Kontakt bei der Polizei habe. Komm bloß nie auf die Idee, den Dienst zu quittieren – wie wir es getan haben.« Er drehte sich Nick zu und fügte erklärend hinzu: »Hin und wieder nutze ich Arno schamlos aus.«

»Wie du es mit mir machst. Der Unterschied liegt darin, dass Arno handfeste Informationen liefert, und ich dir auf die Sprünge helfe.« Nick grinste. »Setz dich, Arno. Was möchtest du trinken?«

Arno zeigte auf die Karaffe mit Wasser, die in der Mitte des Tisches stand. »Vorläufig nur das, danke – und zugleich danke, dass ihr mir gleich Bescheid gegeben habt.«

»Das war selbstverständlich. Wir alle haben tief in diesem Fall gesteckt und es war für jeden schwer, die Ereignisse zu verarbeiten«, antwortete Nick.

Arno nickte. »Das ist wahr. Ich meine es nicht wortwörtlich, aber dieser Mann hat bekommen, was er verdiente.« Abwägend musterte er Nick. »Und du wurdest als Berater für die Suche nach seinem Mörder engagiert – ein logischer Schluss seitens des BKA in Deutschland. Wie geht es dir damit?«

Nick blies die Backen auf. »Das ist nicht einfach zu beschreiben. Ich fühle eine Mischung aus Erleichterung, weil König niemandem mehr Schaden zufügen kann, Entsetzen, wie ich es bei jedem Mord empfinde, und Neugierde, wer ihn ermordet hat.«

»Meinst du, es steckt mehr dahinter?«, fragte Arno. »Der Tote ist schließlich David König.«

»Bevor du gekommen bist, haben wir uns darüber unterhalten. Du kennst meine grundsätzliche Vorgehensweise. Es wäre falsch, jetzt schon eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Die Angelegenheit ist brandneu und gerade erst auf meinem Tisch gelandet«, entgegnete Nick ausweichend. »Die Bandbreite reicht von einer Zufallstat bis hin zum geplanten Mord.«

»Nick ziert sich like a virgin, weil er den neutralen Blick unbedingt behalten will. That’s fine.« Samantha spitzte die Lippen. »Peter und ich sind allerdings nicht gezwungen, auf diese Weise anzupacken. David König ist nun einmal David König, also sage ich mit den Worten meines längst verblichenen Landsmannes: Something is rotten in the state of Denmark.«

Sachte klopfte Peter mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Und ob da etwas faul ist – ich denke wie Sam.«

Arno zog die Brauen hoch. »Mein Informationsstand endet bei der Mitteilung, dass David König in Konstanz ermordet wurde. Klärt mich auf, was seitdem geschehen ist.«

Nick gab bereitwillig Auskunft. »Ich habe meinen Aufenthalt in Quantico genutzt und bin im Anschluss an das Seminar nach Athens geflogen. König hat dort mit falschen Papieren und einem exzellenten Lebenslauf gewohnt. Gemeinsam mit dem ansässigen Sheriff habe ich Königs Freundin besucht.« Nick öffnete eine Aktenmappe, entnahm ihr einige Ausdrucke und reichte sie Arno. »Das Gesprächsprotokoll, eine Abschrift des Sheriffs und die Zusammenfassung über David Kingsley.«

Auf der Stelle begann Arno zu lesen. Als er fertig war, gab er Nick die Unterlagen zurück. »Wie du damals bereits vermutet hast, muss er weitreichende Kontakte gehabt haben. Man flieht nicht in ein anderes Land und erhält ohne Verbindungen prompt eine neue Identität – noch dazu so eine. Dank seiner Bibelfestigkeit nahm man ihm Theologie zweifellos ab, und auch das Germanistikstudium ist nachvollziehbar – König war ein hochgebildeter Mann und Deutsch seine Muttersprache.«

»Die Kingsley-Papiere werden in Deutschland gerade geprüft«, bemerkte Nick. »Der Sheriff hat sie im Zuge seines Erstbesuchs bei Dorothy Franklin mitgenommen. Alles ist da: Urkunden, Zeugnisse, Diplome. Wie mir der leitende Ermittler am Telefon gesagt hat, scheint es sich um hochwertige Fälschungen zu handeln.«

»War diese Dorothy Franklin wirklich so schräg drauf?«, fragte Arno.

»Die gesamte Atmosphäre war eigenartig, nahezu unwirklich. Und sie? Nun, du hast es eben gelesen. Ich habe nichts unerwähnt gelassen.«

Arno stöhnte auf. »Mich würde brennend interessieren, ob David König zufällig auf sie gestoßen ist, oder ob er das Aufeinandertreffen inszeniert hat. Sie war ein maßgeschneidertes Opfer für ihn.«

»Das werden wir wohl nie erfahren. Mein Gefühl sagt mir, dass er sie ausgewählt hat«, antwortete Peter und spann seinen Gedanken weiter. »In diesem Fall gab es gewiss einen bestimmten Grund, und würden wir diesen kennen, könnten wir an der Stelle ansetzen.«

»Just as well war er auf der Suche nach einem Unterschlupf, und hat in Dorothy Franklin eine geeignete Option gefunden: Single, abgehoben, realitätsfremd, auf der geistigen Ebene beheimatet. Dazu ein Haus mit Zaubergarten und in der Folge einen Job an der Uni.« Samantha schüttelte den Kopf. »Ich glaube ja auch nicht, dass ein Mann wie König seine ureigenen Intensionen aufgibt. Nichtsdestoweniger liegt es im Bereich des Möglichen – Sicherheit geht bei Gefahr vor Größenwahn, das gilt für jeden Menschen, Narzisst oder nicht.«

Nick hob die Hände. »Selbst wenn ich aufgrund von David Königs Profil überzeugt bin, dass er eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hatte, ist es keine beglaubigte Diagnose. Es verhält sich genauso wie mit den Überlegungen, die ihr gerade in puncto Dorothy Franklin anstellt. Ungern wiederhole ich –«

»Jaja, schon gut, Boss.« Samantha beugte sich vor und tätschelte Nicks Unterarm. »Wir sind achtsam und versteifen uns auf nichts – pures Brainstorming, Darling.«

Nick seufzte auf. »Das ist mir bewusst, und je eher wir auf Basis der ersten Einsichten die verschiedenen Spuren auflisten, desto rascher kommen wir voran.«

»Habt ihr daran gedacht, dass er womöglich eine neue Sekte gründen wollte?«, erkundigte sich Arno.

Samantha schickte ihm einen Kuss. »Muskeln ins Gehirn, please! Das meinte ich doch mit ureigenen Intensionen

Arno nickte ihr zu. »Dann wird er seine Kenntnisse über die Bibel eventuell abermals eingesetzt haben, dieses Mal untermauert mit einem Studium.« Er fuhr sich über das auf zwei Millimeter gekürzte Haar und fixierte Nick. »Lass mich mitmachen – offiziell oder inoffiziell. Du weißt, dass mein Wissen, altes wie neues Testament, dem Königs um nichts nachsteht. Vielleicht kann ich helfen. Wie ihr war ich an dem Fall beteiligt und habe zum Team gehört.«

»Von mir aus mit größter Freude, jedoch nicht unter der Hand. Kläre das mit deiner Dienststelle ab, und ich kontaktiere den deutschen Kriminalkommissar. Letztlich entscheidet er.«

Samantha räusperte sich. »Wenn wir beim Thema sind: Robert hat ebenfalls seine Unterstützung angeboten. Er will unbedingt dabei sein. Die Sache damals hat ihn so sehr berührt, dass er heute noch darüber nachdenkt. Zum ersten Mal, seit wir ein Paar sind, hat er sich nicht über meine Arbeit beschwert und sogar ein Golfturnier anstandslos gecancelt. Das bedeutet immens viel.«

»Du musst uns Robert nicht schönreden.« Nick blickte in die Runde und blieb an Peter hängen. Seine Homosexualität hatte Robert mehr als einmal zu unangebrachten Bemerkungen verleitet. »Was sagst du dazu?«

Peter zuckte mit den Schultern. »Sofern sich Robert beherrscht, gefiele mir seine Rückenstärkung gut.« Er drehte sich Samantha zu. »Mach ihm klar, dass ich kein einziges Wort über Schwule hören möchte.«

Sie klimperte mit den Wimpern. »Aber ich nenne dich doch auch meinen süßen Gayjungen.«

»Du bist Sam. Dir steht alles frei.« Peter grinste.

Arno lehnte sich zurück. »Bevor ihr euch in einer Endlosschleife von Neckereien ergießt, würde ich gern erfahren, wie der weitere Plan aussieht.«

»Es gibt keinen.« Nick griff nach seinem Glas und trank einen Schluck. »Morgen früh fliege ich nach Konstanz und treffe mich mit dem zuständigen Chefermittler, Christian Mayer. Danach bin ich hoffentlich schlauer. Tja, die Zeiten haben sich geändert – andere bestimmen über den Verlauf.« Würde ich die Entscheidungen treffen, wäre ich längst auf der Suche nach David Königs Halbschwester. Mit ihr und dem Leid in dem Kinderheim hat im Grunde alles begonnen, dachte er. Warum aber sollte er indessen nicht zumindest Nachforschungen anstellen? Es war immer besser, vorbereitet zu sein. Nicks Kopf ruckte hoch. »Sam, für dich habe ich zwischenzeitlich eine Aufgabe: Finde heraus, was aus Franziska Küner geworden ist. Ist sie nach wie vor in derselben Einrichtung? Unter Umständen hat sie sich gefangen und befindet sich normal unter uns. Lebt sie überhaupt noch?«

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen.

Schließlich nickte Samantha und murmelte: »Good God, Franziska Küner – die Geister, die ich rief.«