Leseprobe Tod in feiner Gesellschaft

Kapitel 1

April 1899

Schwarz – nein. Schwarz – auch nicht. Schwarzer Seidenkrepp? Um Himmels willen, bloß nicht! Ich raffte die lästigen Kleider zusammen und warf sie auf eine Sitzbank, damit meine Zofe sie später wegräumte, dann sah ich mich in meinem Ankleidezimmer um. Man konnte es in einem Wort beschreiben – Trauer. Nicht einmal in meinen wildesten Träumen hätte ich mir je ausgemalt, im Alter von nur siebenundzwanzig Jahren verwitwet zu sein. Für mich fühlte es sich jedoch kaum anders an, als verheiratet zu sein.

Auch wenn ich eine gewisse Vernarrtheit zugeben muss, hatte ich Reggie nicht aus Liebe geheiratet. Ich war mit meiner Mutter aus New York angereist und sie hatte die Partie arrangiert. Ich schätze, Liebe hatte schon etwas damit zu tun. Reggie liebte mein Geld und meine Mutter war ganz vernarrt in seinen Titel. Als wir heirateten wurde ich zur Countess of Harleigh. Meine Familie gewann die Tragweite des Adelstitels und die Familie Wynn gewann mich, Frances Price, eine Bürgerliche. Ach, und etwas mehr als eine Million US-Dollar.

Und wie die typischen Aristokraten, die sie waren, benahmen sich die Wynns bis heute, als hätte man sie betrogen.

Ich hatte ein ganzes Jahr der Trauer mit ihnen ausgehalten. Schon wahr, zunächst hatte ich mich elend gefühlt und hatte kein Interesse daran gehabt, mich in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. Obwohl nur zwei Menschen die wahren Begebenheiten um den Tod meines Ehemanns kannten, war ich sicher, dass viele so ihren Verdacht hegten. Es ist nämlich so: Mein Ehemann starb vor etwas mehr als einem Jahr – im Bett seiner Geliebten.

Bei einer Feier auf dem Land.

Auf unserem Anwesen auf dem Land.

Was für ein reizender Mann er doch gewesen war.

Ich betrachtete das Kleid, das ich heute Abend tragen würde. Es war ein sattes Königsblau. Hach, endlich kehrte Farbe in mein Leben zurück. Die Trauerzeit war vorbei.

Meine Zofe Bridget klopfte kurz an und trat dann ein. „Sind Sie bereit, das Kleid für das Abendessen anzuziehen, Mylady?“ Ihre Augen glänzten vor Freude, als sie das Kleid auf dem Bett liegen sah. „Sie tragen das Blaue?“

Ich lächelte. „Mein erster Schritt in Richtung Unabhängigkeit.“

„Nun, ich bin ganz dafür.“ Sie drehte mich um und fing an mein Kleid zu lockern. Dank ihrer geschickten Finger trug ich nach wenigen Minuten das blaue Abendkleid, was gut war, denn am Abend kroch die Kälte stets herein. Bridget reichte mir ein leichtes Tuch für meine nackten Schultern und führte mich zur Frisierkommode, um mir das Haar zu frisieren.

„Ich kann mich gar nicht erinnern, das Bild je gesehen zu haben“, sagte sie, zog die Haarnadeln heraus und brachte die Locken in Form.

„Ich habe meine Sachen zum Packen zusammengesucht.“ Ich nahm die gerahmte Fotografie, die auf der Frisierkommode stand, in die Hand. „Das Bild wurde vor langer Zeit gemacht. Es muss vor sieben Jahren gewesen sein, denn Rose war noch ein Baby.“

Ich lächelte die vertrauten Gesichter an. Es war ein Familienporträt mit Reggies Eltern. Ich hatte einige schöne Erinnerungen an die Familie und ich gab mir große Mühe, ihnen alle Ehre zu machen. So eine schlechte Partie war ich nicht gewesen. Einigermaßen hübsch, groß und mit dem dunklen Haar meines Vaters und dazu die blauen Augen meiner Mutter sowie ihr heller Teint. Kinn, Nase und auch Zähne allesamt nicht besonders auffällig. Und ich wusste genau, wie sich eine Countess zu verhalten hatte. Meine Mutter hatte mich seit meinem zehnten Lebensjahr dazu herangezogen. Außerdem hatte ich ihnen sogar ein Kind geschenkt. Ja, Rose war eine Tochter und kein Sohn, doch ich hätte schon versucht, ihnen einen Erben zu schenken, wenn es Reggie gekümmert hätte.

Doch abgesehen von den schönen Erinnerungen, war das alltägliche Leben mit dieser Familie unerträglich geworden. Es war Zeit, sie hinter mir zu lassen.

„Ist es so recht, Mylady?“

Ich stellte das Bild wieder auf den Tisch zurück und sah kurz in den Spiegel. Und dann noch einmal genauer, wie gebannt. „Meine Güte, das ist ja ein wahres Kunstwerk, das du erschaffen hast.“

Bridget presste die Lippen aufeinander, dann antwortete sie: „Sie tragen ein modisches Kleid, da brauchen Sie eine passende Frisur.“ Sie nickte entschieden, sodass mir klar war, dass es da nichts zu diskutieren gab.

„Es ist bloß so – hochgetürmt.“

„Die Extrazentimeter sorgen für mehr Selbstbewusstsein.“

Damit war es besiegelt. „Vielen Dank, Bridget. So ist es perfekt.“ Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr. „Es ist noch zu früh, als dass ich schon zum Abendessen hinuntergehen kann, doch du solltest zu deinem Abendessen gehen. Ich bleibe noch hier oben und sammle einige meiner Habseligkeiten zusammen.“

Sie ging mit einem Knicks. Ich ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Was sollte ich mitnehmen, wenn ich auszog? Und bei welchen Dingen würde meine angeheiratete Verwandtschaft darauf bestehen, dass sie zum Herrenhaus gehörten? Wenn man bedachte, dass ich seit einem Jahr von meinem Auszug geträumt hatte, hatte ich wenig wirkliche Pläne geschmiedet. Insgeheim hatte ich mich gesorgt, dass allein zu leben, meine finanziellen Mittel überstieg und ich die Idee als einen albernen Wunsch aufgeben müsste. Nur Bridget wusste von meinen Plänen, da sie letzte Woche unter dem Deckmantel einer geschäftlichen Angelegenheit mit mir nach London gereist war. Während meiner dreitägigen Reise hatte ich meinen Anwalt getroffen, der Termine mit einem Makler ausgemacht hatte, sodass dieser mir fünf Häuser zeigte – davon vier definitiv unerschwinglich.

Doch eines war perfekt. Und in dem Moment begriff ich, dass ich wirklich dazu in der Lage war, vorausgesetzt, ich konnte mich gegen die Einwände meines Schwagers und meiner Schwägerin durchsetzen. Bridget hatte ich zur Geheimhaltung verpflichtet, doch ich wäre nicht gerade überrascht, wenn schon einige der Bediensteten Bescheid wüssten. Graham und Delia musste ich es daher mitteilen, bevor es jemandem herausrutschte.

Ich blinzelte einige Male. Himmel, war es dunkel hier. Ich ging zum Nachttisch und drehte an der Petroleumlampe. Schon besser. Dank der Lampe und dem Feuer im Kamin war der Raum nun in ein warmes Licht getaucht.

Hmm. Selbstverständlich würde ich meine persönlichen Dinge mitnehmen, meine Kleidung und meinen Schmuck. Ich sah zur Frisierkommode – die versilberte Haarbürste, mein Kamm und Spiegel, Kristallfläschchen und Zerstäuber. Wessen Eigentum sie waren, war eindeutig. Dann drehte ich mich um und sah zum großen Himmelbett mit dem wunderschön geschnitzten Kopf- und Fußteil aus Rosenholz. Ich würde es vermissen, aber Anspruch auf das Bett zu erheben – obwohl ich dafür gezahlt hatte – würde mir mehr Ärger einbringen, als es wert war. Ich fuhr mit der Hand über die glatte Tagesdecke aus Seide. Die würde ich aber mitnehmen.

Eine Stimme riss mich aus meiner Bestandsaufnahme. Jemand sprach im Studierzimmer meines Schwagers, das direkt unter meinem Zimmer lag, und die Stimme wurde immer lauter. Ich stand ganz still und wartete – lauschte den dumpfen Worten – bis mein Name fiel. Na also. Natürlich sprachen sie über mich. Sie sprachen ständig über mich.

Ich ging zur anderen Seite des Betts und schob die Ecke des uralten Aubusson-Teppichs zur Seite, unter dem sich ein etwa fünfzehn Zentimeter großes Loch im Boden versteckte. Das Loch führte zu einem weiteren in Grahams Studierzimmer und dazwischen verlief sogar eine Rohrleitung. Die Löcher zwischen den Zimmern der Familienmitglieder waren Überbleibsel eines Versuchs, Gasleitungen zu verlegen. Doch als die Arbeiter erfuhren, dass Graham sie nicht zeitig – oder je – bezahlen würde, brachen sie die Arbeiten ab. Das hatte zur Folge, dass das Haus zwar weiterhin kalt war, die Löcher entpuppten sich jedoch als ausgezeichnete Mittel zum Mithören. Graham hatte ein Gemälde seiner Söhne über das Loch gehängt, doch das machte kaum einen Unterschied.

Es war eine wahre Leistung, mich in dem schmalen Rockteil meines Kleids auf die Knie niederzulassen. Ja, natürlich weiß ich, dass es sich für eine Dame nicht schickt, andere zu belauschen, aber ich sehe es als eine Art Selbstverteidigung an. Das letzte Jahr über haben Graham und Delia, mein Schwager und seine Frau, eine ganze Reihe von Plänen geschmiedet, die stets mein Geld involvierten. Also hörte ich zu, wenn sie über mich sprachen. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Ich lehnte mich weiter zum Loch im Boden hinunter und verzog das Gesicht, als mir die muffige Luft aus dem Rohr in die Nase stieg.

„Die Balkone an der Nordseite bröckeln, Graham.“ Das war Delias Stimme. „Wir können keine Gäste empfangen, solange die Balkone nicht ersetzt sind.“

Graham murmelte etwas über Trauerzeiten und ich stellte mir vor, wie Delia die Augen verdrehte.

„Also wirklich, Graham. Hast du schon einmal in den Kalender gesehen? Unsere Trauerzeit ist längst vorüber. Wenn wir die Arbeiter nicht bald herbestellen, werden wir keine neuen Balkone bis zum Sommer haben.“

Ein Stuhl knarzte, sodass Graham das, woran auch immer er gerade gearbeitet hatte, nun niedergelegt haben musste und sich seiner Frau widmete. „Meine Liebe, wir können uns keine Reparaturarbeiten leisten. Noch nicht. Nicht diesen Sommer. Du musst Geduld haben.“

„Das werde ich nicht. Du meinst wohl, dass wir warten können, bis deine Investitionen sich auszahlen, aber bis dahin wird das Herrenhaus zerfasern.“

Ich hob den Kopf etwas und formte die Worte lautlos mit den Lippen. Das konnte nicht stimmen. Delia musste während des Sprechens im Raum umhergegangen sein. Nun, ich hatte ja nie behauptet, dass es die perfekte Vorrichtung zum Lauschen war. Ich versuchte zu enträtseln, was sie gesagt haben könnte, und massierte dabei den Schmerz in meinem Nacken. Manchmal fragte ich mich, ob das Lauschen die Schmerzen wirklich wert war. Moment mal! Das Haus wird verfallen. Das musste es sein. Ich schnaubte verächtlich. Als wäre es nicht schon lange auf dem besten Weg dahin.

Ich presste das Ohr wieder gegen den Boden und versuchte, ihre Unterhaltung zu verstehen. „Sie hat das nötige Geld, Graham.“ Damit meinte Delia mich. „Und sollte es ihr jemals ausgehen, muss sie bloß ihren Vater um mehr Geld bitten.“

„Ja, aber ich habe bereits vor, sie um Mittel zu bitten. Es funktioniert nicht, wenn wir beide fragen.“

Himmel, sie redeten über mich, als wäre ich eine Bank. Graham erklärte dann etwas über die landwirtschaftlichen Innovationen, die er auf dem Hof von Harleigh ausprobieren wollte. Arme Delia. Sie wünschte sich nichts mehr, als eine feine Dame zu sein, doch immer wieder durchkreuzte das Schicksal ihre Vorhaben. Sie war nicht reich genug gewesen, um einen Erstgeborenen zu heiraten, und nun hatte sie einen zweiten Sohn abbekommen. Als sie dann endlich zur Countess wurde, zerfiel das alte Herrenhaus und das Geld war beinahe aufgebraucht.

„Aber ich kann doch wohl um etwas Geld für das Haus bitten? Wie sollen wir sonst die Reparaturen vornehmen lassen?“

„Du kennst meine Antwort darauf.“ Graham sprach leider so leise, dass ich ihn kaum hörte. Leider – denn ich war wirklich neugierig, wie Graham plante seine finanziellen Sorgen zu lösen.

„Sprich es nicht aus.“ Delia antwortete in einem so scharfen Ton, als wolle sie ihm mit jeder Silbe einen Schlag in die Rippen versetzen. „Du weißt genau, was ich von deiner Antwort halte.“

Oje. Wenn Delia Grahams Pläne so sehr missfielen, dann musste er ihre Ausgaben beschränken wollen, während er weiter Gelder in das Anwesen versenkte.

Ich hörte die Tür knarren, dann Schritte und das Rascheln eines Rocks neben dem Bett.

Herrje, das war ja meine Tür! Ich riss den Kopf hoch und versuchte wieder auf die Füße zu kommen. Doch stattdessen kippte ich zur Seite und lag plötzlich zusammengekrümmt da. Jenny, eines der Hausmädchen, ließ das Bettzeug fallen, das sie in mein Zimmer gebracht hatte, und eilte herüber, um mir aufzuhelfen.

„Bitte entschuldigen Sie, Mylady“, sagte sie und bot mir ihren Arm, damit ich mich hochziehen konnte. „Ich hatte Bridget unten gesehen und dachte, Sie seien schon zum Abendessen hinuntergegangen.“

Wie peinlich. Mit einem Ohr am Boden und dem Hintern in der Luft musste ich wie ein Wurm ausgesehen haben, der durch das Zimmer kroch. Ich stand auf und versuchte mich zu fassen – und mir rasch eine Erklärung auszudenken. Als ich zu Jenny sah, war ihr Blick bereits auf das Loch im Boden gerichtet. Oh weia. Das würde ich nicht wegerklären können. Das Hausmädchen war jung, fröhlich und manchmal eine Plaudertasche. Wie konnte ich sie davon abhalten, darüber zu sprechen?

„Jenny, vielleicht hast du im unteren Stockwerk bereits Geflüster gehört, dass ich in die Stadt ziehen werde. Hättest du Interesse daran, mich zu begleiten? Ich kann dir einen guten Lohn versprechen.“

Sie riss die Augen weit auf und nickte.

„Hervorragend.“ Ich lächelte sie an und schätzte ihre Fähigkeiten ab. Es hätte schlimmer kommen können. „Warum rückst du nicht den Teppich zurück und wir unterhalten uns morgen darüber? Bis dahin kein Sterbenswörtchen über meinen bevorstehenden Umzug.“

Als sie sich hinabbückte und der Aufgabe nachkam, erklang der Gong zum Abendessen. Ich strich meinen Rock glatt und ging zur Frisierkommode hinüber, um zu sehen, ob ich meine Frisur zerzaust hatte. Ich atmete tief durch. Der Umzug würde meinen Schwager und meine Schwägerin sicherlich überraschen und ich rechnete mit Widerstand. Heute würde es kein gemütliches Abendessen mit der Familie geben.

 

Delia fiel mein Kleid sofort auf. Sie nickte mir zustimmend zu, als ich in den Salon eintrat, in dem die Familie sich vor dem Abendessen traditionell zusammenfand. „Was für ein hübsches neues Kleid, Frances. Es ist schön zu sehen, dass du nicht mehr in Trauer bist. Nicht wahr, Graham?“

Ich sah über ihren Kopf hinweg kurz zu meinem Schwager, der eifrig damit beschäftigt war, uns Getränke einzuschenken und die Andeutungen seiner Frau zu ignorieren. Nicht nur die Trauerzeit der Familie war vorbei, nein, ich gab auch Geld für mich aus.

Blinzelnd sah ich wieder zu Delia hinab. Sie war knapp fünf Zentimeter kleiner als ich, was mich immer wieder überraschte, denn ihre spindeldürre Figur ließ sie größer wirken. Auf genau die gleiche Weise verschleierten ihr herzförmiges Gesicht, die blonden Locken und das stetige Lächeln auf ihren Lippen, dass sie den Mut einer Kriegerin besaß. Sie jagte den Pächtern und Dorfbewohnern Angst ein, aber sie stand mir auch als Verbündete bei, als ich Teil der Familie wurde und meinen Platz finden musste. Ich hatte sie gern – trotz der Unterhaltung, die ich belauscht hatte, und wie sehr sie an meinem Geld und dem lästigen Herrenhaus, das nur hohe Kosten verursachte, hing. Sie versuchte bloß das Beste aus einer misslichen Lage zu machen.

„Ich bin froh, dass du es gutheißt.“ Ich drückte ihre Hand und wartete, dass Graham sich zu uns gesellte.

Der Salon hatte sogar Gasbeleuchtung, doch sie war gedimmt. Die dunklen, schweren Möbel und Teppiche, die an Altersschwäche litten, unterstrichen die düstere Stimmung noch. Nach langem Streit hatte ich mir erlaubt, die Vorhangstoffe austauschen zu lassen. Hellere, die das Sonnenlicht am Tag hereinließen, doch wenn der Abend anbrach, wurde es im Salon düster.

Graham trat zu uns und reichte mir ein Glas Sherry. Als ich mich umdrehte, fiel mir ein Stück Baugerüst vor dem Fenster auf und ich fragte mich, ob Delia wohl schon die Arbeiter angestellt hatte, um an den Balkonen zu arbeiten. Armer Graham.

Ich schüttelte die Sorgen ab und lächelte den beiden zu. „Ich fürchtete, es könnte euch empören, dass ich die Trauerkleidung abgelegt habe, aber es ist nun über ein Jahr vergangen. Ich hielt es für an der Zeit, daher habe ich letzte Woche einige Teile fertigen lassen, als ich in London war.“

„Einige Teile“, wiederholte Delia und warf ihrem Mann einen vielsagenden Blick zu. Seine ausdruckslose Miene zeigte keine Reaktion. Er sah nicht schlecht aus, doch Reggie war definitiv der attraktivere der Brüder gewesen. Graham war die abgespeckte Version seines Bruders. Sein Haar war eher aschblond als blond und er war durchschnittlich groß und durchschnittlich gebaut. Für ihn sprach jedoch, dass er sehr viel verantwortungsbewusster war als Reggie und er seine Ehefrau wirklich gernzuhaben schien. Das brachte ihm bei mir jede Menge Punkte ein.

 

Wir setzten uns nicht, da der zweite Gong schon bald erklingen und unsere Unterhaltung unterbrechen würde. Wir blieben in der Nähe der Tür stehen und plauderten. Als der Gong ertönte, gingen wir wie gut erzogene Jagdhunde, die dem Klang des Horns folgten, ins Esszimmer hinüber.

„Ich vermute, du hast bereits gesehen, dass die Renovierungen in die nächste Runde gehen“, sagte Delia, als ein Diener ihr den Stuhl am einen Ende des riesigen Tischs heranschob. Dann eilte er zur langen Seite des Tischs, wo ich wartete, dass er mir den gleichen Dienst erwies.

„Baugerüste sind zumeist Vorboten der Renovierung.“ Ich sprach mit durchdringender Stimme, um an beiden Tischenden gehört zu werden, dann wartete ich kurz, bis meine Worte von der Kassettendecke zurückhallten. Wie albern, so formal zu Abend zu essen, wenn wir doch nur zu dritt waren. Der fast drei Meter lange Mahagoni-Tisch war mit großen Blumengestecken geschmückt und sah bei Kerzenschein hübsch aus. Doch wen um alles auf der Welt wollten sie damit beeindrucken? „Soll es ein größeres Projekt werden?“

Delia legte eine Hand auf die Brust und seufzte voll falschem Kummer. „Solche Projekte sind immer größer als man erwartet, doch ein solch altes, ehrwürdiges Bauwerk erfordert jede Menge Pflege.“

„Über zwei Jahrhunderte alt, musst du wissen“, fügte Graham vom anderen Tischende hinzu.

Ich war mit dem Alter und damit, wie viel die Erhaltung des Hauses kostete, bestens vertraut. Ich lächelte anerkennend. Der Diener brachte die Suppe, daher ließen wir das Thema einen Augenblick lang ruhen. Das einzige Geräusch im Raum waren seine Schritte, während er mit dem Tablett in der Hand den Tisch umrundete.

„Nun“, sprach Delia, während sie ihre Konsommee löffelte, „Graham und ich würden dem Herrenhaus gern seine einstige Pracht zurückgeben.“

„Irgendwann in der Zukunft, meine Liebe.“ Graham sah seine Frau böse an. „Aktuell braucht der Hof von Harleigh eine Geldspritze.“ Er wandte sich an mich. „Als Elder Countess stimmst du mir sicherlich zu. Schließlich bist du noch immer Teil dieser angesehenen Familie.“

Ich zwang mich, mich bei diesem Titel, der einer Grabinschrift glich, nicht zu schütteln. Elder Countess, also wirklich! Ein weiteres Leid, das ich Reggie zu verdanken hatte.

Als ich den herabwürdigenden Titel verdaut hatte, merkte ich, dass sie noch immer um mein Geld stritten. Als einziges Familienmitglied, das welches hatte, musste natürlich die Elder Countess für alles zahlen. Auch noch das! Mein Blick schweifte zu der Anrichte hinüber, wo der Butler Crabbe den Wein zum nächsten Gang dekantierte. Der Diener stand bereit, um die Suppenschalen abzuräumen. Es erschien mir unschicklich, die Finanzen vor ihnen zu besprechen, doch ich konnte Grahams und Delias Andeutungen nicht ignorieren, da sie sonst glauben würden, sie hätten meine Zustimmung. Ich hatte vorgehabt, zu warten, bis sich die Bediensteten zurückzogen, bevor ich meine Neuigkeiten verkündete, doch sie ließen mir keine Wahl.

„Nichts liegt mir näher am Herzen, als die Familie zu unterstützen, doch ich fürchte, meine Geldmittel sind anderweitig gebunden.“

Delias schmeichlerisches Lächeln verblasste. „Was willst du denn damit sagen, Darling?“

Ich hatte die ganze Woche darauf gebrannt, und ihren kleinen Plan dadurch zu vereiteln, machte das Ganze noch aufregender. „Nun, ich habe spannende Neuigkeiten.“ Ich hielt inne und sah von Delia zu Graham und zurück. „Als ich letzte Woche in London war, habe ich ein Haus gepachtet.“

Delias Kinnlade fiel herunter und ich hörte, wie Graham sich am anderen Tischende verschluckte. Als ich zu ihm sah, wischte er sich den Mund mit seiner Serviette ab. Er atmete noch, also war alles in Ordnung. „Soll das heißen, du hast ein Haus für die Ballsaison gepachtet?“

„Nein. Ich habe ein Erbpachtgrundstück gekauft. Die Pacht läuft noch achtzig Jahre, daher war eine große Anzahlung nötig, doch mein Anwalt hat gut verhandelt und – nun ja – jetzt ist das Haus mein.“ Die letzten Worte sang ich fast.

Graham starrte mich an, als hätte er es noch immer nicht richtig verstanden. „Ein Haus, sagst du? Ein Haus?“

„Ja!“ Ich krallte die Finger in meine Handflächen, um meine Begeisterung zu zügeln, aber bei nochmaliger Überlegung – warum eigentlich? Ich lehnte mich zu Graham. „Bevor du etwas sagst, mein lieber Schwager, ich weiß, dass du meine Anwesenheit lange dulden musstest und mir nie das Gefühl geben wolltest, ich sei hier im Weg. Aber ihr zwei seid jetzt der Earl und die Countess of Harleigh. Ich diene hier keinem Zweck mehr und sollte weiterziehen. Ihr wart das letzte Jahr über äußerst freundlich zu mir, aber ich weigere mich, mich euch noch länger aufzubürden.“

Nimm das, Graham.

„Aber ein Haus. Solche Kosten!“

„Graham.“ Delia rügte ihn und machte einen finsteren Blick. „Pas devant les domestiques.“

Ich tauchte den Löffel in meine Suppe und versteckte mein Gesicht hinter dem duftenden Dampf, der aufstieg. Nicht vor den Bediensteten. Das war der Grund, weshalb Delia diese Unterhaltung angezettelt hatte. Ich freute mich, dass ich es geschafft hatte, den Spieß umzudrehen. Sie konnten kaum frei aussprechen, was sie von meinem Umzug hielten – zumindest noch nicht.

„Du musst dich nicht um mich zu sorgen, Graham. Mein Vater hat ausreichend für mich vorgesorgt, sodass ich einen angemessenen Haushalt für meine Tochter arrangieren kann. Schließlich muss ich mein Leben weiterleben und euch eures weiterleben lassen.“

Mein Lächeln verging mir etwas, als ich Grahams hochroten Kopf sah. Meine Güte, ich hatte vergessen, dass er ein schwaches Herz hatte. Daran hätte ich denken sollen, bevor ich ihn so erschreckte. Es war schließlich nicht meine Absicht, ihn krank zu machen.

Graham zog die Augenbrauen zusammen, während er zusah, wie der Diener die Suppenschüsseln abräumte. Er wollte etwas entgegnen, doch Delias Stimme durchbrach die Stille zuerst.

„Bist du sicher, dass es eine gute Idee für Rose und dich ist? Nicht, dass ich deine Meinung ändern will.“

Natürlich wollte sie das nicht. Keine Hausherrin wollte die vorherige Hausherrin noch jahrelang um sich haben. Ich war Delia ein Dorn im Auge, seitdem Graham und sie letztes Jahr hier eingezogen waren. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis ich mir die Loyalität der Dienerschaft von Harleigh Manor verdient hatte, und nun sträubten sie sich, diese Loyalität stattdessen Delia zu schenken. Egal wie häufig ich die Bediensteten und Pächter öffentlich an Delia verwies, kamen sie mit ihren Fragen und Problemen doch immer noch zu mir. Und ich musste zugeben, dass ich sie insgeheim dazu ermutigte.

Delia rang mit ihren zwei größten Sehnsüchten – Ansehen und Geld. Ich hatte gehofft, dass sie mich unterstützen würde, schließlich freute sie sich darauf, die einzige Countess auf Harleigh Manor zu sein und somit die Hausherrin. Doch sie wusste auch, wie viel schwieriger es sein würde, mir Geld abzuschwatzen, wenn ich nicht anwesend war.

Da ihre Entscheidung so oder so ausfallen konnte, brauchte sie noch einen Schubs in die richtige Richtung. „Ich werde nur eine kurze Zugfahrt entfernt sein, Delia. Wir sehen uns, wenn du zur Ballsaison in die Stadt kommst.“

Der Diener stand neben Delia und hielt ihr den Hauptgang hin. Sie musterte mein unschuldiges Lächeln und nahm sich vom Rindfleisch. „Ich muss sagen, ich freue mich für dich, doch ich hätte furchtbare Angst, allein zu wohnen. Ich hoffe, du hast dir eine gute Gegend ausgesucht.“

Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte gejubelt. Der Kampf mochte noch nicht gewonnen sein, aber ich hatte das erste Gefecht für mich entschieden. „Das Haus ist in Belgravia auf der Chester Street. Weit weg von jeglicher Kriminalität. Wir werden nächste Woche, gleich nach Ostern, umziehen. Dabei fällt mir ein, es gibt einige Möbelstücke, die ich gern mitnehmen würde.“

„Natürlich. Du wirst bekannte Dinge in deinem neuen Haus haben wollen. Warum schreibst du mir nicht eine Liste und gibst mir deine Adresse, dann veranlasse ich, dass sie dir geliefert werden.“

Da nahm Grahams eben noch knallrotes Gesicht einen grünlichen Stich an und er erhob keinen Widerspruch mehr. Tatsächlich sagte er die restliche Mahlzeit über kein Sterbenswörtchen mehr, doch er starrte Delia und mich weiter böse an. Ich hatte das ungute Gefühl, dass es zu leicht gewesen sein könnte, doch gerade war ich zu froh, um mich darum zu sorgen.

Kapitel 2

Wenn ich einen Ratschlag geben dürfte – wenn man eine Flucht plant, sollte man nicht die Wachen informieren. Ich wünschte nur, jemand hätte mir diesen Ratschlag erteilt, bevor ich mein Vorhaben verriet. Graham und Delia hatten eine ganze Woche Zeit, um mich zu bearbeiten und von meiner Entscheidung, allein auszuziehen, abzubringen. Ich würde den Schutz meiner Familie verlieren, sagten sie, und mich in Herr-Gott-weiß-welche Gefahren bringen. Ich würde aus der feinen Gesellschaft verstoßen werden und Schande über den Familiennamen bringen. Die Damen würden mich als „leicht“ abtun. Die Herren würden mich nur ausnutzen.

Ich hörte mir ihre Sorgen an, doch die Wahrheit war, dass wenn sie die Kontrolle über mich verloren, sie auch die Kontrolle über mein Vermögen verlieren würden. Sie konnten mich von meinem Entschluss jedoch nicht abbringen und schließlich kam der Umzugstag und ich fand mich in meinem ganz eigenen Zuhause wieder.

Und ich liebte es. Womöglich war es das kleinste Haus, in dem ich je gelebt hatte, aber es gehörte nur mir. Ich fand es gemütlich und clever aufgeteilt, sodass es alles bot, was man brauchte. Im dritten Stock gab es einen weitläufigen Raum, der als Kinderzimmer und Schulzimmer herhalten würde, und zwei Schlafgemächer: eines für Rose und eines für ihr Kindermädchen Nanny. Das Erdgeschoss bestand aus einem großen Salon, einem Esszimmer und einer Bibliothek. Darüber lagen vier Schlafgemächer mit eigenen Bädern. Es gab sogar elektrisches Licht. Ziemlich modern. Doch das Beste war, dass mein Haus am Ende der Reihe lag, sodass es an der Ecke zu den Wilton Mews, den Stallungen hinter der Chester Street, stand und ich so eine Vielzahl von Fenstern hatte, die das Haus hell und freundlich wirken ließen. Und ziemlich karg. Die Einrichtung war spärlich. Als ich mich im Salon umsah, überlegte ich, was ich alles kaufen musste, und die Liste wurde immer länger.

Auch meine Dienerschaft war gerade noch dürftig besetzt, doch ich wusste noch nicht recht, was ich benötigte. Ich hatte die Hausdame Mrs. Thompson, die auch als Köchin diente. Jenny, das Hausmädchen von Harleigh Manor, war genau wie meine Kammerzofe Bridget mitgekommen, um für mich zu arbeiten, und Nanny natürlich auch. Mrs. Thompson hatte noch ein Küchenmädchen und einen Küchenjungen mitgebracht. Kein Butler, kein Diener. Brauchte ich die denn überhaupt? Möglicherweise würde es sich als praktisch erweisen, einen Mann für schwere Arbeiten um sich zu haben. Andererseits konnte ich, wenn nötig, auch jemanden vorübergehend einstellen, wie ich es schon beim Umzug getan hatte. Kommt Zeit, kommt Rat.

„Soll ich den Türklopfer anbringen, Mylady?“

Ich drehte mich um und sah Jenny mit einem Türklopfer aus Messing in der Hand im Türrahmen stehen. Die Vorfreude machte mich ganz hibbelig. „Ich weiß, dass es albern ist“, sagte ich mit einer abwerfenden Handbewegung, „aber ich würde ihn gern selbst anbringen.“

Auf Jennys Gesicht breitete sich ihr freundliches Lächeln aus. „Ganz und gar nicht albern, Mylady. Es ist schließlich das Erste, das an Ihrem neuen Haus angebracht wird, und das macht es doch irgendwie offiziell. Ich würde es auch selbst machen wollen, wenn es mein Haus wäre.“ Sie ging voraus in den Flur und öffnete die Haustür. Draußen blieben wir an der Tür stehen und warteten, als würde der Klopfer sich selbst anbringen. Die Tür war frisch in einem satten Dunkelgrün gestrichen, das sich hübsch von der weißen Fassade abhob. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich den Haken, der überstrichen worden war. Na also!

Ich drehte den Türklopfer in der Hand und suchte nach einer Möglichkeit, ihn am Haken zu befestigen, als ich hörte, wie sich auf dem Gehweg Schritte näherten.

„Na so was! Mir scheint, ich habe eine neue Nachbarin.“

Ich warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, wessen tiefe, gedehnte Stimme ich da hörte. Herrje. Das konnte doch nicht wahr sein.

„Lady Harleigh, welch Überraschung.“

Überraschung beschrieb nicht einmal ansatzweise wie ich mich fühlte, als ich in das Gesicht von Honorable George Hazelton blickte. Entsetzen traf es wohl eher. Hatte er mich gerade Nachbarin genannt?

Ich schätze, dieser Zeitpunkt ist so gut wie jeder andere, um die Geschichte unseres letzten Treffens zu erzählen. Nur zwei Personen kennen alle Einzelheiten des Tods meines Ehemannes. Eine von ihnen ist natürlich die Dame, in dessen Bett er starb: Alicia Stoke-Whitney. Die andere Person ist George Hazelton.

 

Reggie und ich veranstalteten eine Jagdgesellschaft auf dem Lande zu der wir eine gemeinsame Gästeliste erstellt hatten. Einige meiner Freunde, einige seiner Freunde und außerdem Graham und Delia. Die Ereignisse des Tages waren keiner Erinnerung wert, abgesehen vom Regen, der die Flüsse übertreten ließ und die Straßen überschwemmte. Die Jagd wurde abgesagt. Ohne eine vorgegebene Beschäftigung spielten Reggie und die anderen Männer zahllose Runden Billard und tranken jede Menge. Beim Abendessen war Reggie ganz benebelt, benahm sich fürchterlich und die meisten von uns gingen kurz darauf zu Bett.

Was ich niemals vergessen werde, ist, wie Alicia Stoke-Whitney mich mitten in der Nacht wachrüttelte. Ich blinzelte einige Male, bis ich das Gesicht der Person, die im weißen Nachtkleid über mein Bett lehnte, klar erkannte.

„Alicia? Stimmt etwas nicht?“ Während ich meinen Morgenrock überzog, stand sie nur stumm da. Und als sich meine Augen schließlich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, wie aufgewühlt sie wirkte. Alicia war rothaarig mit heller Haut und sogar im Dunkeln erkannte ich an ihrer roten Nase und den Augen, dass sie geweint hatte. Ich schwang die Beine aus dem Bett, stand auf und griff nach ihrem Arm. „Was ist passiert, Darling?“

„Es ist Reggie.“ Sie sah mich bestürzt an. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich es ausdrücken soll.“

Etwas in ihrer Stimme ließ mich erschaudern. „Was ist Reggie zugestoßen?“

„Versuch, ruhig zu bleiben“, sagte sie und tätschelte meinen Arm. „Und versuch, leise zu sein.“

Wenn sie glaubte, dass mich das beruhigen würde, hatte sie sich geirrt. Ich griff ihre Schultern und schüttelte sie. „Was ist passiert, Alicia?“

Sie setzte mehrfach zum Reden an, doch es kam kein Laut heraus. Schließlich brachte sie mühsam heraus: „Er ist tot.“

Die Worte wirkten wie ein eiskalter Schwall Wasser. Ich war plötzlich hellwach, aber ich konnte nur nach Luft schnappen und die unverständliche Laute von mir geben, die ‚Wo?‘ und ‚Wie?‘ bedeuten sollten. Ich sah verschwommen. In meinen Ohren klingelte es. Es musste ausgesehen haben, als würde ich ohnmächtig werden, denn Alicia schob mich zurück zum Bett und drückte meinen Kopf unangenehm zu meinem Schoß hinab. Mit zittriger Stimme flüsterte sie: „Es tut mir so leid. Es tut mir so leid.“

Es dauerte ein paar Minuten, aber schließlich hörte der Raum auf, sich zu drehen, und ich konnte wieder hören. Ich hob den Kopf und sah, dass ihr Tränen über die Wangen strömten. Mich überkam die erste leise Vorahnung. Wieso war sie es, die mir diese Nachricht überbrachte? „Wie hast du ihn gefunden? Ist jemand bei ihm?“
„Frances“, schluchzte sie. „Ich kann dir nicht sagen, wie schrecklich ich mich deshalb fühle.“ Sie schniefte. „Er ist in meinem Schlafgemach.“

Ich starrte sie verständnislos an. „In deinem Gemach?“ Ich weiß nicht, ob ich so naiv war oder ob der Schock mich besonders begriffsstutzig machte, aber mein verwirrter Gesichtsausdruck brachte sie noch mehr zum Weinen.

„Oh Gott, du wusstest es nicht. Er war mit mir zusammen, Frances. Es tut mir so leid.“

Es ist nicht so, dass ich nicht wusste, dass mein Ehemann Affären – sehr viele Affären – hatte, aber niemand hatte mir diese Tatsache je so unverhohlen ins Gesicht gesagt. Nie zuvor hatte ich so viele Emotionen in so kurzer Zeit durchlaufen – Verwirrung, Angst, Erschütterung, Trauer und schließlich Wut. Himmel Herrgott! In unserem eigenen Haus? Und dann hatte er auch noch die Dreistigkeit besessen, in ihrem Bett zu sterben. Der Gedanke ließ mich ernüchtern. Dieser verdammte Kerl!

„Frances.“ Der drängende Ton in Alicias Stimme holte mich zurück in den Augenblick. „Wir müssen etwas tun.“

Wir? Wir müssen etwas tun? Die beiden hatten weitergemacht, als hätte unsere Ehe nichts bedeutet. Wie genau war ich Teil dieser Gleichung geworden? Ich atmete tief ein. So ungerecht es auch war, musste ich ihr leider doch zustimmen. Wir mussten etwas unternehmen.

„Bring mich zu ihm“, zischte ich.

Wir schlüpften aus meinem Zimmer und huschten den Flur entlang, wobei unsere Morgenmäntel auf dem Teppich raschelten, als wir an der Haupttreppe vorbeikamen und in den Gästeflügel bogen, wo Alicias Schlafgemach lag. Ich wartete, während sie die Tür aufschloss. Zu schade, dass ihre Tür zuvor nicht verschlossen gewesen war, dachte ich verbittert.

Das Zimmer war dunkel, aber die Wandleuchter im Flur warfen einen schwachen Lichtkegel über das Himmelbett, wo Reggie auf dem Rücken lag. Ein Arm hing seitlich vom Bett. Ich bewegte mich zentimeterweise vorwärts und Tränen stiegen mir in die Augen. Er sah in der Tat leblos aus. Ich hob sein Handgelenk und fühlte nach seinem Puls.

Nichts.

Die Tränen wurden immer mehr. Ich blinzelte sie weg und unterdrückte ein Schluchzen. Mist! Wieso weinte ich überhaupt? Um das, was hätte sein können? Ich war eine Närrin, eine Idiotin. Er hätte sich niemals geändert. Er sah keinen Grund sich zu ändern. Er lag im Bett einer anderen Frau und das nackt, verflucht nochmal.

Meine Güte! Er war tatsächlich nackt. Nun, ich schätze, so hätte er sich gewünscht zu sterben, wenn er die Wahl gehabt hätte.

Ich wandte mich Alicia zu, die hinter mir wartete, und flüsterte: „Was genau ist passiert?“

„Ich fürchte, er muss einen Herzanfall bekommen haben. Nachdem wir … “ Sie zuckte mit den Schultern und ich vermutete, dass sie vielleicht sogar errötete. War das denn zu glauben? Erwartungsvoll zog ich die Augenbrauen hoch und wartete auf ihre Erklärung.

Mit gedämpfter Stimme fuhr sie fort: „Nun, danach schliefen wir ein. Ich wachte eine Weile später auf und versuchte Reggie zu wecken, um ihn in sein Gemach zurückzuschicken. Aber ich konnte ihn nicht wecken.“

Sie legte die Hände auf die Wangen und zog die Luft scharf ein, als würde sie versuchen sich so zu beruhigen. „Ich kann nicht glauben, dass er mir das angetan hat.“

„Ich bezweifle, dass er gestorben ist, um dich zu ärgern“, fauchte ich.

„Nein, natürlich nicht. Aber er hätte in seinem eigenen Bett sein sollen. Dann müsste ich mich mit diesem Desaster nicht beschäftigen.“

Ich blickte sie entgeistert an. „Ich wurde betrogen. Reggie ist tot. Dich sehe ich hier weniger als die geschädigte Partei.“

Entrüstet drehte ich mich zum Gehen, doch sie klammerte sich an meinen Arm. „Frances, geh nicht.“ Im schwachen Licht konnte ich erkennen, dass sie vor Angst zitterte, also legte ich ihr einen Arm um die Schulter, um sie zu beruhigen, und staunte darüber, wie sich unsere Rollen plötzlich gedreht hatten.

Über ihren Kopf hinweg blickte ich zu Reggie. „Du hast vermutlich recht mit dem Herzanfall“, sagte ich. „Graham und er haben beide Arrhythmie, aber Reggie war nie gut darin, sein Medikament regelmäßig zu nehmen.“ Der stete Konsum von Alkohol und Zigarren half da auch nicht gerade.

Ich nahm einen tiefen Atemzug und stieß Alicia von mir. Womöglich sollte ich ihr danken, dass sie mich so wütend machte. Ich schien davon wieder einen klaren Kopf zu bekommen. „Ich fürchte, wir werden es erfahren, wenn wir den Arzt rufen, aber zunächst müssen wir ihn zurück in sein Gemach schaffen. Und wir sollten ihm wohl sein Nachthemd anziehen. Wäre er in seinem eigenen Bett schlafen gegangen, hätte er es getragen.“

Alicia hastete umher und fand das Herrennachthemd, das über einem Stuhl hing. Ich kletterte hinter ihn und schob ihn in eine aufrechte Position, während sie versuchte, die Ärmel über seine Arme zu streifen. Es war eine anstrengende Angelegenheit, da Reggie sich nicht sonderlich kooperativ zeigte. Natürlich war das keine Überraschung. Als wir es geschafft hatten, ließ ich mich außer Atem gegen das Kopfbrett sinken und kämpfte gegen die nächste Flut Tränen an. Ich warf Alicia einen Blick zu, die mit einer Hand den Bettpfosten umklammernd neben dem Bett stand. Sie war durchschnittlich groß und hatte eine schlanke Figur. Wie eine Welle brach Angst über mich herein, als ich mir der Wahrheit bewusst wurde. „Wir werden ihn nicht alleine bewegen können. Wir schaffen es niemals den Flur hinunter.“

Alicia nickte zustimmend. „Wem vertraust du?“

Sie sah mit feuchten Augen zu mir auf. War es Furcht oder hatte sie Reggie wirklich gerngehabt? Wie dem auch sei, die Ironie ihrer Frage schien ihr entgangen zu sein. Wem ich vertraute? Ich war mir nicht sicher. „Da uns beiden daran gelegen ist, dass dies ein Geheimnis bleibt, muss ich dir wohl vertrauen, aber wir brauchen einen Mann.“ Ich ging die Optionen durch. „Vielleicht Formsby, Reggies Diener?“

„Nein!“ Selbst im spärlichen Licht konnte ich das Entsetzen auf Alicias Gesicht erkennen. „Glaubst du denn, ich hätte dich geweckt, wenn ich glaubte, man könne ihm trauen? Das hier ist ein zu brisanter Klatsch, um ihn einem Bediensteten zuzuspielen. Außerdem ist Formsby nun ein Bediensteter ohne Herr. Er würde mit Sicherheit reden“, sagte sie und betonte die Worte mit einem eifrigen Nicken. „Er hat keinen Grund, es nicht zu tun.“

Das war ein gutes Argument. Ich strich gedanklich Formsby von der Liste und dachte über die Alternativen nach. „Der einzige Mann hier, der einen guten Grund hat, nicht zu reden, ist dein Ehemann.“

Sie riss vor Staunen den Mund auf. „Bist du wahnsinnig?“

Mit einer Geste erinnerte ich sie daran leise zu sprechen. „Wer bietet sich sonst an?“ Allmählich ging mir die Geduld mit ihr aus. Sie hatte zu dieser Situation beigetragen. Wieso konnte ihr Ehemann uns nun nicht helfen? Ich schob Reggie von meinen Knien und kletterte vom Bett. „Denk darüber nach. Wenn einer von Reggies Freunden davon wüsste, würden sie es uns ewig vorhalten. Sie würden uns stets daran erinnern, wenn sie Geld oder einen Gefallen brauchten. Dein Ehemann ist unsere beste Wahl.“

Alicia tat den Vorschlag ab. „Unsere Ehe hängt am seidenen Faden, Frances. Er würde es als Beweis nutzen, um sich von mir scheiden zu lassen, und deinen Familiennamen mit durch den Dreck ziehen“, fügte sie hinzu und stieß mit dem Finger in meine Richtung. „Es muss jemand anderen geben.“

Du meine Güte. Es wäre lachhaft gewesen, wenn es nur nicht so entsetzlich gewesen wäre.

„Dann müssen wir wohl zaubern“, entgegnete ich gereizt. „Wir müssen einen Gentleman in diesem Haus finden, der so ritterlich ist, dass er für eine Dame einen Toten bewegen würde, und so integer ist, dass er diesen Gefallen niemals gegen sie verwenden würde. Existiert denn ein solcher Musterknabe überhaupt?“

Ich sah nach unten und merkte, wie ich die Hände wrang. Ich zwang die Finger auseinander und kam zu einem Entschluss. Es musste George Hazelton sein, der Bruder meiner besten Freundin Fiona. Ich kannte ihn gesellschaftlich, aber nicht gut. Er hatte die Feier bloß als Fionas Begleitung besucht, da ihr Mann aufgrund von Angelegenheiten auf ihrem Anwesen verhindert war. Als sie und ich uns während meiner ersten Ballsaison kennenlernten, war er zum Studium außer Landes. Seitdem war er meist auf dem Familienanwesen in Hampshire oder geschäftlich im Ausland.

Als ich ihn schließlich kennenlernte, hielt ich ihn für einen typischen Lebemann; jünger als Reggie und seine Freunde, vielleicht Mitte dreißig, tadellos gekleidet, groß, dunkelhaarig und wenn auch nicht sonderlich attraktiv, hatte er einen von Natur aus einladend herausfordernden Blick, dem nur wenige Frauen widerstehen konnten. Aber ich spürte auch etwas sowohl Freundliches als auch Mutiges in ihm – genau die Eigenschaften, die Alicia und ich nun brauchten. Vielleicht war es das, warum ich ihm traute. Vielleicht war es reiner Instinkt.

„Ich glaube, Mr. Hazelton ist zu trauen. Ich weiß nur nicht, ob er uns helfen wird.“

Alicia nagte auf ihrer Unterlippe und überdachte meine Wahl. „Wenn du ihm traust, müssen wir ihn einfach überzeugen.“

Wir konnten kaum an Mr. Hazeltons Tür klopfen, ohne die Gäste in den Nebenzimmern zu wecken, also schlüpften wir einfach hinein. Da das Bettenhüpfen eine der bevorzugten Beschäftigungen der Feiern auf den Landsitzen war, schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel, dass er allein war. Das Licht vom Flur war hell genug, um zu sehen, dass nur eine Gestalt im Bett schlummerte. Alicia schloss die Tür leise hinter uns und tauchte den Raum in Finsternis.

Wir warteten an der Tür, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und ich knuffte Alicia mit dem Ellenbogen. Sie riss die Augen weiter auf und formte mit den Lippen die Worte „Warum ich?“.

Gütiger Himmel! Das war also der Moment, an dem sie schüchtern wurde? Ich deutete zum Bett und schob sie voran.

„Ladys?“

Die unerwarteten Worte ließen uns beide zusammenzucken.

„So geehrt ich mich auch fühle, dass Sie sich um mich streiten, so fürchte ich, dass mir der Grund nicht gefallen wird.“

Die verschlafene Stimme ertönte vom Bett. Ich drehte mich um und sah Mr. Hazelton, oder zumindest seinen Kopf, die nackten Schultern und Arme. Der Rest war nur ein schemenhafter Umriss unter der Bettdecke. Fragend zog er eine Augenbraue hoch und allmählich dämmerte mir, wie das für ihn aussehen musste. Zwei Frauen in seinem Gemach, die Nachtkleider und Morgenröcke trugen, würden für gewöhnlich wohl um einen sehr anderen Gefallen bitten, als wir es vorhatten.

Ich musste ihm also rasch den Kopf zurechtrücken. „Verzeihen Sie, dass wir Ihren Schlaf stören, Mr. Hazelton, aber ich fürchte, es hat sich etwas Tragisches ereignet. Mein Ehemann ist … ist verstorben …“ Weiter kam ich nicht, denn Schluchzer schüttelten meinen Körper. Ich schlug die Hände über den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken, aber ich konnte es nicht zurückhalten. Ausgerechnet jetzt? Konnte ich mich denn nicht noch eine halbe Stunde unter Kontrolle halten?

„Kümmern Sie sich um sie.“ Hazelton flüsterte die Anweisung Alicia zu, während er die Bettdecke zurückschlug und in sein Ankleidezimmer eilte.

Alicia legte einen Arm um mich und setzte mich auf das Bett. „Gut gemacht“, flüsterte sie. „Nun wird er alles für Sie tun.“

Entsetzt sah ich sie an. Meine Güte! Wenn das ihr Ernst war, hatten Reggie und sie einander wahrlich verdient. Der Schreck über ihre Bemerkung hatte den glücklichen Nebeneffekt, dass er mich aus meinem dämlichen Weinanfall riss. Nach einigen tiefen Atemzügen hatte ich mich wieder unter Kontrolle, gerade als Mr. Hazelton zurückkehrte, der nun eine Hose, Pantoffeln und einen Morgenrock trug.

Er sah mit mitfühlendem Blick zu mir herab. „Mein herzliches Beileid, Lady Harleigh. Wie kann ich Ihnen von Nutzen sein?“

Ich erklärte ihm die Situation so taktvoll wie möglich und beobachtete, wie sein Ausdruck sich von Sorge zu Überraschung mit einem Hauch Tadel veränderte. Ich bin sicher, er galt in erster Linie Alicia, aber vielleicht auch mir. Eine wahre Dame sollte sich niemals in einer solchen Situation wiederfinden, auch wenn ich nicht weiß, wie ich es hätte verhindern sollen. Ganz gleich, wie er über mich dachte, war ich doch erstaunt und dankbar, dass er einwilligte, uns dabei zu helfen, Reggie in sein Gemach zu bringen. Und ich habe mich seitdem schuldig gefühlt, ihn in mein schreckliches Drama mit hineingezogen zu haben.

Man stelle sich also meine Verlegenheit vor, ihn auf mein neues Zuhause zukommen zu sehen.

„Mr. Hazelton. Besuchen Sie Ihren Bruder?“ Schon beim Sprechen musste ich den Impuls zu flüchten unterdrücken. George Hazelton war der letzte Mensch, den ich heute sehen wollte – nein, den ich je wiedersehen wollte. Und ich war sicher, dass es ihm mit mir genauso ging.

„Meinen Bruder?“

„Ihren Bruder.“ Ich zog die Augenbrauen hoch. „Den Earl. Gehört ihm nicht die Nummer 19?“ Ich nickte zum Haus direkt neben meinem. Ich wusste ganz genau, dass der Earl das Haus gepachtet hatte, es jedoch leer stand, da er den Familiensitz in Mayfair geerbt hatte.

„Aber ja. Es ist Brandons Haus, aber er hat keine Verwendung mehr dafür. Da es mich dieser Tage häufiger in die Stadt zieht, habe ich entschieden, es ihm abzunehmen.“

„Dann leben Sie nun also hier?“ Ich hatte es also wirklich fertiggebracht, ein Haus direkt neben George Hazelton zu pachten.

Er nickte. „Ganz richtig. Und Sie müssen die neue Nummer 18 sein.“ Seine Mundwinkel zuckten nach oben und ich sah die leichten Fältchen, die sich um seine grünen Augen bildeten. Ein aufrichtiges Lächeln? An mich gerichtet? Ich konnte mir nicht sicher sein. Und das war genau das Problem an der Sache: Bei ihm war ich mir nie sicher.

Es war leicht zu glauben, dass seine Manieren viel zu ausgefeilt waren, um mich je verächtlich zu behandeln. Tatsächlich hatten mich seine tadellosen Manieren nach Reggies Tod einige Male in den Wahnsinn getrieben. Er war stets freundlich und höflich, aber erinnerte er sich hinter der Fassade wohl daran, wie er mich hatte retten müssen?

Gerade eben hätte er bloß nicken oder den Hut antippen und vorbeigehen können. Stattdessen trat er zu mir an meine Eingangsstufen und hieß mich in der Nachbarschaft willkommen. Mich, die Frau, die sich ihm aufgedrängt hatte, den Leichnam ihres Ehemannes aus einer skandalösen Situation zu entfernen. Was ging nur in ihm vor?

Ich zwang mich zur Vernunft und lächelte zurück. Hoffentlich merkte er nicht, dass mein Lächeln nicht aufrichtig war. „Ich habe das Haus erst diese Woche bezogen. Wir waren gerade dabei, den Türklopfer feierlich aufzuhängen.“

„Ich bitte darum, fahren Sie fort.“ Er machte eine elegante Handbewegung in Richtung der Tür.

Ich hatte Jenny vollkommen vergessen und als ich mich umdrehte, hätte ich ihr um ein Haar mit dem schweren Türklopfer aus Messing gegen den Schädel geschlagen, wenn sie sich nicht rasch genug geduckt hätte. Als er schließlich hing, applaudierten sie und Mr. Hazelton. Dabei kam ich mir ziemlich albern vor, besonders als ein Mann auf der Straße stehenblieb und zu uns blickte. Der Mann war aus der Arbeiterschicht und trug einen abgetragenen braunen Mantel, in dem er in dieser vornehmen Nachbarschaft ziemlich fehl am Platz wirkte. Er tippte zum Gruß an den Hut und ging weiter, sodass ich mir keine weiteren Gedanken machte.

„Gut gemacht“, sagte Hazelton. „Ich freue mich zur Feier des Tages hier zu sein.“ Er streckte die Hand aus, die ich unwillkürlich ergriff. „Willkommen in der Nachbarschaft, Lady Harleigh. Zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden, wenn ich zu Diensten sein kann.“

Hatte ich es mir nur eingebildet oder war er mit einem besonders schlimmen Grinsen gegangen?