Leseprobe Tage der Stürme

Prolog

Auf See, Sommer 1708

Das Mädchen stand allein an der Reling und starrte in die Ferne. Die Seemänner um sie herum, die ihre Arbeit an Deck verrichteten, beachtete sie nicht. Nur wenn sie ihr zu nahe kamen, warf sie ihnen giftige Blicke zu. Die lauten Rufe störten sie, doch viel mehr noch das Gelächter. Niemand sollte fröhlich sein, während sie in die Verbannung geschickt wurde!

Endlos erstreckte sich das Meer vor ihr, hinter ihr, um sie herum. Nicht einmal Seevögel gab es noch in dieser blauen Einsamkeit aus Wind und Wellen. Sie stellte sich vor, ein Vogel zu sein. Vom Himmel aus gesehen wäre das riesige Handelsschiff nur ein winziger Fleck und sie selbst nicht mehr als ein Staubkorn. Der Gedanke behagte ihr nicht, und sie schüttelte ihn rasch ab.

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Sonne, ein sattgelber Kreis am flammend roten Himmel, machte sich auf den Weg, am Horizont zu versinken.

Flammend rot, dachte das Mädchen und ballte die Fäuste. Wie meine Wut. Wie können sie mir das nur antun?

Ein Windstoß blies ihr die Kapuze vom Kopf, ergriff Besitz von ihrem offenen blonden Haar und zerrte es in alle Richtungen. Sie ließ es geschehen, schloss die Augen und genoss das Gefühl, das der wilde Wind auf ihrem Gesicht hinterließ, denn es zeigte ihr, dass sie noch am Leben war.

Wie aber würde ihr weiteres Leben aussehen? Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als ausgerechnet nach Paris geschickt zu werden. Der Gedanke an die verhasste Stadt verursachte ein Kribbeln in ihrem Nacken, böse Vorahnungen ergriffen von ihr Besitz.

Würde sie sie dort treffen?

Und was würde dann geschehen?

Wenn ihr Großvater wüsste, wohin man sie verbannte! Doch er konnte ihr nicht helfen – nun nicht mehr. Sie musste sich allein aus dieser misslichen Lage befreien.

Und das würde sie!

Die Sonne war fast vollständig verschwunden, als die ruhige, tiefe Stimme neben ihr erklang.

»Komm herein. Das Essen wird kalt.«

Sie riss sich von dem Anblick des brennenden Himmels los und ging mit festen Schritten auf das Heckkastell zu. Ein letzter tiefer Atemzug, bevor der stickige Schiffsbauch sie für die Nacht verschlang, dann trat das Mädchen ein.

1

La Rochelle, Oktober 1708

Ich schrie auf, als der Ziegel um Haaresbreite mein Gesicht verfehlte und vor meinen Füßen zerschellte. Zitternd presste ich mich in einen nahen Hauseingang, entschlossen, keinen einzigen Schritt mehr in diesem Unwetter zu tun.

Nisani bog sich vor Lachen und brüllte über das Tosen des Sturms hinweg: »Laure, du Angsthäschen. Komm schon!«

Sie packte meine Hand und zog mich vorwärts. Mit rasendem Herzen versuchte ich, auf dem rutschigen Straßenpflaster mit meiner Cousine Schritt zu halten. Dann kam erneut etwas auf uns zugeflogen. Es war ein dickes Holzbrett, doch der Wind wirbelte es so mühelos herum wie ein vertrocknetes Blatt. Nisani sah es nicht kommen. Sie hatte sich eben zu mir umgedreht, um mich zur Eile anzutreiben. Ich stürzte mich auf sie und stieß sie mit aller Kraft zur Seite. Das Brett krachte nur wenige Schritte von uns entfernt auf den Boden, wurde wie von Geisterhand wieder aufgehoben und weitergetrieben. Für einen winzigen Augenblick zeigte auch Nisanis Gesicht einen Anflug von Schrecken, dann aber lachte sie wieder.

»Uns zwei bekommt doch so ein laues Lüftchen nicht klein! Vorwärts, Cousinchen, wir müssen zu Hause sein, ehe es völlig dunkel ist, sonst dreht Maman uns die Hälse um.«

Das laue Lüftchen war in Wahrheit ein ausgewachsener Sturm, der nichts an seinem angestammten Platz ließ. Er peitschte das Meer auf und warf Schiffe und Boote wie Spielzeuge von einer Seite auf die andere. Er drückte das Wasser in das Hafenbecken, bis es überlief und die Straßen der Stadt überschwemmte. Viel zu lange waren wir draußen geblieben, hatten die frische, salzige Luft und die Freiheit ohne unsere jüngeren Brüder genossen. Nisani und ich hatten stundenlang geredet, gelacht und dabei zugesehen, wie sich die Wolken zusammenballten und der Himmel sich bedrohlich schwarz färbte. Wir hatten die Schaumkronen auf den unruhigen Wellen betrachtet, die Nasen in den Wind gestreckt und schließlich die ersten dicken Tropfen mit unseren Zungen aufgefangen. Als wir endlich bemerkt hatten, dass das Wetter eine unbekannte Heftigkeit annahm, war es bereits zu spät gewesen.

Regen prasselte in Sturzbächen auf uns herab, während wir den langen Weg vorbei am Tour de la Lanterne zum Haus meiner Tante rannten. Immer wieder mussten wir ausweichen, damit wir nicht von herumfliegendem Unrat getroffen wurden. Über uns grollte es schauerlich, und Blitze begannen, den finsteren Himmel zu erhellen. Ich fand nicht länger Halt in meinen Schuhen, verlor beinahe das Gleichgewicht, als ich durch das knöchelhohe Wasser patschte. Immer schwerer wurde mein Umhang, der sich vollgesogen hatte, und bald musste ich das Kleidungsstück ausziehen, um nicht davon zu Boden gedrückt zu werden. Es bot ohnehin keinen Schutz mehr; mein Kleid war schon vollständig durchnässt. Auch meine Cousine trug ihren Mantel über dem Arm. Ihr Zopf hatte sich gelöst, und das schwarze Haar ringelte sich um ihren Kopf, wie immer, wenn es nass wurde.

Wir rannten am Kai entlang, als plötzlich ein einsames Wagenrad auf mich zu wirbelte. Ich machte einen Satz nach rechts, um ihm auszuweichen, geriet ins Straucheln und wäre um ein Haar ins Hafenbecken gestürzt, hätte Nisani mich nicht im letzten Augenblick gepackt und zurückgerissen. Einer meiner Schuhe rutschte von meinem Fuß, fiel hinab und verschwand in den Fluten. Übelkeit wallte in mir auf, und ich fühlte mich, als würden meine Beine nachgeben, doch meine Cousine zog mich fest an sich und hielt mich umklammert. Ich spürte durch den dünnen Stoff ihres Kleides, dass sie zitterte und Mühe hatte, ihren rasenden Atem zu beruhigen. Sie küsste mich auf das Haar, dann ließ sie mich los.

»Komm, Laure. Wir sind fast daheim.«

Die Blitze und das Grollen kamen nun gleichzeitig, und ich schrak zusammen, als es ganz in der Nähe schauderhaft krachte. Doch ich rannte weiter, immer hinter Nisani her, deren Schritte viel fester waren als meine.

Dann hatten wir es geschafft. Ich lachte und schluchzte gleichzeitig, als ich das Haus vor mir sah, das unsere Rettung vor dem Unwetter war. Auch Nisani kicherte haltlos und brüllte: »Wir sind die Größten! Laure und Nisani, die Bezwinger der Elemente!«

Der strömende Regen kitzelte mein Gesicht, und ich hatte mich noch nie so erleichtert, so frei und so unerhört ungehorsam gefühlt. Den Gedanken daran, was mir beinahe geschehen wäre, verdrängte ich erfolgreich. Triefend nass und aus vollem Halse lachend, stürmten wir durch die Tür in das Haus von Nisanis Eltern.

Tante Adelais kam in die Halle, die Hände in die Hüften gestützt. »Nisani, Laure! Da seid ihr ja endlich, Mädchen. Ich hatte solche Sorgen um euch!«

Ich verstand sie, dennoch konnte ich nicht aufhören, wie verrückt zu kichern. Nisani erging es nicht besser. Die bis auf die Haut durchweichten Kleider klebten an unseren Körpern, aus den Haaren rannen Bäche. Um uns bildete sich im Nu eine Pfütze auf den Holzdielen, und Marie, die Magd, kam herbei und nahm uns kopfschüttelnd die tropfenden Umhänge ab.

Da liefen auch schon unsere vier jüngeren Brüder auf uns zu und brüllten durcheinander:

»Habt ihr die Blitze gesehen?«

»Und den Donner gehört?«

»Wie es regnet!«

»Maman, ich möchte hinaus! Wenn Laure und Nisani es dürfen, will ich es auch!«

Tante Adelais befahl der Meute das sofortige Zubettgehen und scheuchte sie fort. Unter großem Geschrei und Getrampel wurde der Aufforderung Folge geleistet. Ich bewunderte meine Tante zutiefst, der es scheinbar mühelos gelang, die Buben zu bändigen. Ich selbst verlor regelmäßig die Geduld mit ihnen.

»Zieht die nassen Kleider aus«, sagte meine Tante nun zu Nisani und mir. »Ich lasse euch warme Milch bereiten. Das Abendessen habt ihr verpasst.«

Aus Tante Adelais’ Mund klang das wie der schlimmste Vorwurf, da sie selbst nie eine Mahlzeit ausließ. Ich starrte auf meine Füße und biss mir auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen.

Marie kam mit einem Arm voller Tücher zurück, drückte uns je eines in die Hand und ließ den Rest auf den Boden fallen. Missmutig murmelnd begann sie, die Wasserlachen aufzuwischen, die wir hinterlassen hatten. Wir bemühten uns, unsere Heiterkeit zu unterdrücken, und gingen mit vorsichtigen Schritten durch die Halle.

Da erst bemerkte ich, dass Nisanis Zwillingsbruder Nicolas auf halber Treppe stand. Er musterte mich kurz, schüttelte lächelnd den Kopf, dann blieb sein Blick an seiner Schwester haften, während er langsam weiter die Stufen hinabging. Ich beobachtete seine Miene. Sie veränderte sich, wann immer er Nisani betrachtete. Die Verbundenheit zwischen ihnen war vom ersten Moment an vorhanden gewesen, berichteten ihre Eltern. Auch jetzt sprach aus seinen Augen eine so große Zuneigung, dass es schien, als seien die beiden keine Geschwister, sondern ein Liebespaar.

Ich konnte nicht verhindern, dass Neid in mir aufstieg. Lag es daran, dass ich mit meinen wesentlich jüngeren Brüdern keine solch ebenbürtige Verbindung spürte, oder vielmehr daran, dass mich noch nie ein Mann auf diese Weise angesehen hatte? Ich wusste es nicht. Es gab zwar niemand Bestimmten, dessen Aufmerksamkeit ich mir gewünscht hätte, doch ich war längst nicht mehr das kleine Mädchen, für das mich alle hielten.

Neben Nisani wirkte ich mit meinem glatten, braunen Haar und den hellgrauen Augen langweilig, das war mir bewusst. Die Fülle der schwarzen Wellen, die ihren Kopf umrahmte, der feuersprühende Blick und ihre hochgewachsene, wohlgeformte Gestalt mit den schmalen Schultern und breiten Hüften waren wie dafür gemacht, Männern zu gefallen. Alles in allem war sie ein Ausbund an Lebendigkeit, selbstbewusst, manchmal launisch und ein wenig schroff, doch ebenso überschwänglich liebevoll.

Ich dagegen war die liebe Laure, stets freundlich, still und hilfsbereit. Dass auch ich Gefühle hatte, versteckte ich zumeist erfolgreich. Es hatte Zeiten gegeben, in denen ich gewünscht hatte, mein hübscher Cousin würde mich so ansehen, wie er seine Schwester betrachtete. Diese Anwandlungen waren glücklicherweise vergangen. Offenbar gab es auch keine andere Frau, die ihm gefiel, denn zum Missfallen seiner Eltern war er, ebenso wie Nisani, nicht gewillt, sich über seine familiäre Zukunft Gedanken zu machen.

Nicolas war am Absatz der schmalen Treppe stehen geblieben. Ich drängte mich zuerst an ihm vorbei, Nisani folgte mir. Ich hörte ihn hinter mir scharf einatmen, dann erklang Tante Adelais’ Stimme.

»Nicolas? Komm bitte, dein Vater erwartet dich im Arbeitszimmer.«

Sie schien noch immer erbost über die Verschmutzungen, die wir angerichtet hatten, denn ihr Tonfall klang missmutig.

»Ja, Maman.« Nicolas musste sich räuspern, um die Worte herauszubringen.

Sein Verhalten verwunderte mich. Ich drehte mich auf der Treppe um und sah ihm nach, wie er meiner Tante den Flur entlang folgte. Dadurch bemerkte ich, dass auch er sich noch einmal zu uns umsah – oder vielmehr zu Nisani. Ich konnte die Gefühle nicht deuten, die in diesem Blick lagen, doch sie verwirrten mich zutiefst. Rasch lief ich meiner Cousine nach, hinauf in unser Zimmer.

»Was ist los mit Nicolas?«, fragte ich, nachdem ich die Tür hinter uns zugezogen hatte.

»Was soll mit ihm sein?« Nisanis Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an.

Manchmal war es lästig, dass man zu keinem der Zwillinge etwas über den anderen sagen konnte, ohne dass er sogleich eine verteidigende Haltung einnahm, obwohl überhaupt kein Angriff erfolgt war.

»Ich finde, er verhält sich seltsam«, beharrte ich dennoch. »Er ist still und nachdenklich.«

Nisani zuckte mit den Schultern. »Komm, ich helfe dir aus deinem Kleid.«

Ich gab klein bei und versuchte nicht, sie weiter über Nicolas auszufragen. Ich ließ sie die Schnürung in meinem Rücken öffnen, reckte die Arme in die Höhe, und Nisani zog mir den nassen Stoff über den Kopf. Dann begann sie, mich abzutrocknen.

»Du zitterst ja, Cousinchen. Schnell, kleide dich an und wickle dir das Tuch um den Kopf. Und dann geh hinunter und trink deine heiße Milch.«

»Sprich nicht mit mir, als sei ich fünf Jahre alt«, gab ich missmutig zurück, musste jedoch zugeben, dass ich tatsächlich fror.

Nisani lachte. »Ich meine es doch nur gut. Du wirst dich erkälten.«

»Und du nicht?«

»Mir ist nicht kalt. Und ich mag keine Milch trinken. Lass mich ruhig allein und sag Maman, dass ich mich gleich hinlege.«

»Bist du sicher?«

»Natürlich. Ich ziehe mich ebenfalls um und gehe dann schlafen.«

Ich zog ein trockenes Kleid an, wickelte meine Haare ein und verließ das Zimmer. Im Großen und Ganzen war ich glücklich im Haus meiner Verwandten, doch es gab Augenblicke, da sehnte ich mich unendlich nach meinen Eltern und unserem Zuhause. Dies war ein solcher Moment. Irgendetwas war seltsam mit den Zwillingen, und ich hatte wenig Lust, mich in ihre Probleme hineinziehen zu lassen. Auch wenn ich Nisani als meine beste Freundin betrachtete und gerade ein ebenso gefährliches wie aufregendes Erlebnis mit ihr geteilt hatte, gab es zuweilen Stimmungen zwischen uns, die mir nicht gefielen.

Meine Mutter nahm an einer Kunstausstellung in Paris teil, deshalb waren sie und mein Vater am Ende des Sommers dorthin gereist. Zwar finanzierte der König momentan aufgrund von anderen hohen Ausgaben keine Salons, doch eine Gruppe von Malern hatte sich entschlossen, auf eigene Faust weiterhin Ausstellungen im Louvre-Palast abzuhalten.

Mit einer Kutsche voller Gemälde waren die beiden aufgebrochen. Ich hatte mir so gewünscht, sie würden mich mitnehmen, doch leider war dies nicht geschehen. Angeblich musste ich für die kleinen Brüder da sein und Tante Adelais unterstützen. Natürlich hätte ich dafür Verständnis gehabt, wenn es denn die Wahrheit gewesen wäre. Ich spürte jedoch, dass sie mich nur nicht mitnahmen, weil sie mich für zu jung hielten. Gewiss, ich war überaus behütet aufgewachsen in unserem beschaulichen La Rochelle.

Aber Paris! Maman hatte mir in leuchtenden Farben davon vorgeschwärmt. Zwar war es eine riesige Stadt und ihre Erlebnisse dort nicht ausschließlich schön, doch was sie mir ansonsten berichtet hatte, reichte aus, um eine ungeheure Sehnsucht in mir zu wecken. Auch ich wollte all die Gebäude sehen, die Kirchen und Kathedralen, Paläste und Gärten, den breiten Fluss, der die Stadt in zwei Hälften teilte …

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, da Nicolas soeben Onkel Pauls Arbeitszimmer verließ und mir in der Halle entgegenkam. Er lächelte mich an, doch sein Blick hatte etwas Suchendes. Hielt er schon wieder nach Nisani Ausschau?

Tante Adelais trat ebenfalls in die Halle. Ich beobachtete, wie sich Nicolas rasch aus dem Blickfeld seiner Mutter entfernte und die Treppe hinaufeilte. Adelais schickte sich an, Onkel Paul aufzusuchen, da bemerkte sie mich. Die Sorgenfalten in ihrem Gesicht glätteten sich.

»Komm, Laure«, sagte sie. »Wir gehen in die Küche. Marie hat gewiss die Milch fertig. Wo ist Nisani?«

»Sie hat sich bereits hingelegt. Sie verspürte keinen Appetit auf Milch.« Geschweige denn auf Gesellschaft, setzte ich in Gedanken hinzu. Ich verstand sie. Auch ich genoss es, wenn ich einmal unser Zimmer für mich allein hatte, so wie daheim. Ich nahm mir vor, die nächste Stunde unten zu verbringen, um ihr ein wenig wohltuende Einsamkeit zu gönnen.

Adelais runzelte die Stirn, dann nickte sie.

»Du zitterst ja, Kind. Willst du dich auch lieber hinlegen?«

»Nein. Ich habe zu großen Hunger.«

Meine Tante lachte. »Das verstehe ich gut. Es ist unmöglich, hungrig schlafen zu gehen.«

Im Gegensatz zu mir sah man ihr durchaus an, dass sie den Mahlzeiten gern und reichlich zusprach, dies tat ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch. Die vollen Wangen, die üppigen Brüste und die ausladenden Hüften harmonierten vollkommen mit den strahlend blauen Augen, die denen meines Vaters glichen, dem langen Haar und ihrer liebreizenden Stimme. Wenn meine Tante sang, verstummte alles um sie herum und lauschte verzaubert.

Marie hatte tatsächlich bereits zwei Becher warme Milch bereitgestellt. Die Magd schien ihren Ärger überwunden zu haben, denn sie begrüßte mich lächelnd. Ich trank gierig, um meine vor Kälte starrenden Glieder aufzuwärmen, und bemerkte, dass das Getränk mit Honig gesüßt war. Verzückt leckte ich mir die Lippen. Tante Adelais nahm Nisanis Becher und leerte ihn in einem Zug.

»Ich muss noch einmal mit deinem Onkel sprechen. Marie wird dir etwas kalten Braten vom Abendessen bereiten. Ich bin gleich zurück.«

Ich nickte und ließ mir den Rest der Milch schmecken. Langsam wurde mir wärmer, obwohl das Herdfeuer nur noch glimmte.

 

***

 

Adelais betrat das Arbeitszimmer ihres Mannes und stellte sich neben den Schreibtisch. Paul blickte auf, und seine eben noch ernsten Züge wurden weich.

»Wie schön, Liebste. Du kommst mich besuchen. Es wird leider ein langer Abend, da ich mir reichlich Arbeit mit nach Hause genommen habe.«

Adelais beugte sich hinab und küsste den vollen, schwarzen Haarschopf ihres Gatten.

»Heute ist es einmal kein freudiger Besuch. Können wir über etwas sprechen?«

»Du siehst besorgt aus. Was ist geschehen?«

»Es geht um unsere Kinder.« Adelais zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihren Mann. »Um Nisani und Nicolas.«

»Was ist mit ihnen?«

»Ich denke, sie lieben sich.«

Paul lachte. »Das sollten sie, sie sind schließlich Zwillinge.«

»Das sind sie nicht, und das weißt du genau! Hast du bemerkt, wie Nicolas seine Schwester ansieht?«

»Wie sieht er sie denn an?«

»Wie ein Hund die Ware des Metzgers. Als wolle er sie verschlingen. Vorhin, als sie pitschnass nach Hause kam und das Kleid an ihrem Körper klebte, konnte er seinen Blick nicht von ihr wenden.«

Paul runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass du dir dies nicht bloß einbildest?«

»Ganz sicher!« Adelais sprang auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Er begehrt sie. Und warum auch nicht? Sie sind keine leiblichen Geschwister.«

Mit größter Selbstbeherrschung war es Adelais, die ihr Herz gewöhnlich auf der Zunge trug, gelungen, das Geheimnis über die Jahre zu bewahren. Einzig ihr Mann, ihr Bruder und seine Frau kannten die Wahrheit. Doch damit war es nun vorbei! Sie fürchtete, platzen zu müssen, wenn sie sich nicht endlich offenbaren konnte.

»Paul, wir müssen es ihnen sagen!«

»Das geht nicht, Liebste. Denk doch an deine Eltern. Deine Mutter hat sich nie gänzlich von dem Schlag erholt, den sie erlitt, als Lucien so schwer verletzt wurde. Soll sie erfahren, dass ihre geliebte Enkelin in Wahrheit die Tochter der Frau ist, die daran die Schuld trug?«

»Du meinst, sie würde es Nisani spüren lassen?«

»Ich denke schon.«

»Dann sagen wir es nur den Kindern.«

»Was soll das nützen? Sie wüssten, dass sie zusammen sein dürften, aber sie könnten es dennoch nicht.«

»Also müssen wir es offenbaren und die Auswirkungen auf meine Eltern in Kauf nehmen.«

Paul schüttelte den Kopf. »Mir wäre das Gerede gleich, Liebste, doch bedenke: Wir sind auf das Wohlwollen der Kunden angewiesen, deine wie meine Familie. Wir waren uns alle einig, dass niemand jemals etwas erfahren darf. Lianne hat es nicht einmal ihren Eltern erzählt. Nur wir zwei, sie und Lucien kennen die Wahrheit. Und so muss es bleiben.«

Adelais ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und fuhr sich durch das lange Haar. »So kann es nicht weitergehen. Ich sehe doch, dass es Nicolas quält.«

»Er wird darüber hinwegkommen. Wir schicken ihn für eine Weile fort. Im nächsten Monat bricht ein Handelszug mit Ware für den Winter nach Tours auf, den könnte er begleiten. Dann wäre er erst einmal für einige Wochen fort.«

Adelais seufzte. »Und wenn sie sich aufrichtig lieben? Können wir ihnen diese Gefühle verwehren?«

»Wir sehen weiter, wenn Nicolas zurückkehrt.« Paul ergriff die Hand seiner Frau und küsste sie. »Es wird alles gut, hab keine Sorge.«

»Das hoffe ich.« Adelais erhob sich. »Arbeite nicht mehr so lange. Ich brauche dich an meiner Seite.«

»Warte im Bett auf mich.« Paul grinste und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Adelais musste lachen. »Du bist unmöglich! Ich gehe jetzt zu Laure und leiste ihr beim Essen Gesellschaft.«

2

Nicolas hatte gewartet, bis die Küchentür hinter seiner Mutter und Laure ins Schloss gefallen war, dann war er die Treppe hinaufgerannt. In seinem Zimmer angekommen, ließ er sich auf das Bett fallen und vergrub den Kopf in den Händen.

Verflucht, sie war seine Schwester!

Er durfte nicht auf diese Weise an sie denken. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass ihm heiß wurde, wenn er sie sah oder auch nur von ihr träumte, an sie dachte. Wie das Kleid an ihrem Körper gehaftet hatte … Der Gedanke nahm ihm den Atem.

Es ist Sünde!

Nicolas sprang auf und lief zum Fenster, dann zur Tür, immer hin und her. Was sollte er nur tun? Fünf Jahre schon quälten ihn unanständige Gefühle für Nisani, seit ihrem gemeinsamen vierzehnten Geburtstag, als sie ihn in die Arme genommen und neckend auf den Mund geküsst hatte. In jenem Augenblick hatte er sich zum ersten Mal gewünscht, der Kuss möge nie zu Ende gehen. Seitdem hatte er lange Zeit jeden Sonntag Angst vor dem Kirchgang gehabt, in der Befürchtung, der Priester würde ihm ansehen, was er fühlte. Diese Furcht war vergangen, doch gebeichtet hatte er seine unkeuschen Gedanken nie, zu sehr schämte er sich. Er hatte gehofft, die geschwisterlichen Gefühle ihrer Kindheit würden zurückkehren, dieser Wunsch jedoch hatte sich nicht erfüllt. Von Tag zu Tag wurde es schlimmer, und an diesem Abend hatte das Dilemma seinen Höhepunkt erreicht.

Wäre ich doch nur nicht in dem Augenblick die Treppe hinuntergegangen!

Er hätte sich umdrehen und wegrennen sollen, aber es war zu spät gewesen. Laure hatte niedlich ausgesehen in der triefenden Kleidung, Nisani jedoch war dahergekommen wie die Versuchung in Person. Das Begehren war in ihm aufgewallt und hatte sich nicht eindämmen lassen. Heißer Schmerz war in seine Lenden gefahren, als er sie so gesehen hatte, die vollkommenen Formen ihres Körpers unter dem engen Kleid abgezeichnet, die Brüste und die Hüften überdeutlich zu erkennen. Sie hatte sich über die Lippen geleckt, um einen Wassertropfen aufzufangen. Wie sehr er diesen Mund küssen wollte! Dann hatte sie sich an ihm vorbeigedrängt, um die Treppe hinaufzugehen, und ihr rundes Hinterteil hatte seine Männlichkeit gestreift. Mit Mühe nur hatte er sich davon abhalten können, sie in seine Arme zu reißen.

Es ist Sünde!

Er schlug mit beiden Fäusten gegen die Wand, wieder und wieder, dann ebenso mit dem Kopf. Wie von Sinnen fügte er sich Schmerzen zu, um sich zur Vernunft zu bringen, denn sein Körper reagierte schon bei dem bloßen Gedanken an die Begegnung auf der Treppe mit Erregung.

Er wandte der Tür den Rücken zu und blieb schwer atmend mitten im Raum stehen, die schmerzenden Fäuste gegen sein Glied gepresst, um es zur Ruhe zu zwingen. Da vernahm er das leise Quietschen der sich öffnenden Tür. Und gespiegelt im Fenster, erhellt vom Schein der Laterne auf seinem Nachttisch, sah er, wer eingetreten war.

»Was tust du?«, fragte Nisani sanft. »Ich habe Geräusche gehört.«

»Geh wieder, Schwester. Ich möchte allein sein.« Er hörte selbst, wie gequält seine Stimme klang.

Sie ging nicht, sondern kam näher. Er sah ihr Spiegelbild und sein eigenes, die miteinander verschmolzen. Er hielt den Atem an, als sie eine Hand auf seine Schulter legte.

»Bitte, Nisani. Geh.«

»Ich möchte nicht.«

Sie versuchte, ihn zu sich umzudrehen. Als er sich nicht rührte, trat sie um ihn herum und stellte sich dicht vor ihn. Sie trug noch immer das nasse Gewand. Ihre Hände strichen wie unabsichtlich über ihren Körper, als genieße sie das Gefühl der eng anliegenden Kleidung.

»Ist dir nicht kalt?« Krampfhaft bemühte er sich, sie nicht anzusehen und das Gespräch in eine unverfängliche Richtung zu lenken.

»Nein.«

Er sah sie an. Er wollte es nicht, doch er konnte nicht anders.

Die Situation war verwirrend, beinahe unwirklich. Das flackernde Licht der Laterne zauberte Glanzpunkte in die schräg stehenden Augen und auf die feuchten Lippen seiner Schwester, das ganze Haus war in Stille getaucht, was sonst nicht einmal sonntags vorkam. Das Donnergrollen klang nur noch von fern zu ihnen herein, vor dem Fenster herrschte Dunkelheit. Es war, als wären sie vollkommen allein auf der Welt.

Nicolas unternahm einen letzten Versuch, sich Nisanis Zauber zu entziehen. Er trat zwei Schritte zurück und sagte: »Du musst dich dennoch umziehen, sonst wirst du krank.«

Sie folgte ihm nach, ließ nicht zu, dass er Abstand zwischen sie beide brachte. Ihre Augen leuchteten. Die Luft war erfüllt von dem Duft nach Regen, feuchtem Haar und Bienenwachs. Seine Hand hob sich wie ohne sein Zutun und legte sich auf die schwarzen Locken.

»Hilfst du mir aus dem Kleid?«, fragte sie tonlos.

Oh Gott, was geschieht hier? Sie darf mich nicht so reizen! Weiß sie denn nicht, was sie tut? Was ich drauf und dran bin zu tun?

»Nisani …« Seine Stimme klang rau vor Erregung. Sie war so nah, so greifbar. Sie wollte, dass er sie auszog. Sie wandte ihm den Rücken zu und deutete auf die Schnürung ihres Kleides. Mit zitternden Fingern löste er die Bänder, bis das Gewand nur noch locker um ihren Körper hing. Enttäuschung erfasste ihn. Es verlangte ihn danach, wieder ihre Formen zu sehen, die kleinen, prallen Brüste, das Hinterteil, das ihn so verlockte. Da fiel der Stoff zu Boden, sie drehte sich um und stand nackt vor ihm.

All seine Fantasien hatten ihn nicht darauf vorbereitet, was er nun sah. Nicolas stöhnte auf und riss Nisani in seine Arme. Er war nicht länger ihr Bruder, nicht einmal ein Mensch, er war nur noch Verlangen. Zu lange hatte er sich nach ihr verzehrt, nun war es um seine Beherrschung geschehen. Er presste seine Lippen auf ihre Brüste, nahm erst eine Brustwarze, dann die andere in den Mund. Er hörte sie ein leises, wohliges Geräusch ausstoßen und verstand es als Zustimmung. All seine Gedanken versanken in einem Strom der Leidenschaft, jedes Schuldgefühl verlor sich in dem Duft ihrer Haut, der feuchten, kühlen Weichheit unter seinen Händen. Er umschloss ihre Pobacken, drängte ihren Körper gegen seinen. Ihr Kopf sank auf seine Schulter, er spürte, wie sie die Zähne in den Stoff seines Hemdes schlug.

Er schob sie von sich, riss sich mit schnellen Bewegungen alle störende Kleidung herunter, dann packte er sie abermals. Diesmal biss sie in seine Haut, und der Schmerz jagte einen erneuten Lustschauer durch seinen Leib. Ihre Hände griffen nach seinem Hinterteil, so wie seine nach ihrem, sie pressten ihre Unterleiber aneinander, bewegten sich auf und ab, stöhnten im Gleichklang. Nicolas drehte Nisani um, lehnte ihren Körper gegen die Wand, bedeckte ihn mit seinem, biss in ihren Nacken, rieb sich an ihrem Rücken. Sie schrie auf, und er wandte sie wieder zu sich um und verschloss ihren Mund mit einem heftigen Kuss. Sie öffnete sich ihm, die Lippen ebenso wie den Unterleib. Und während seine Zunge in ihren Mund drang, suchte auch sein Glied einen Weg in sie hinein, tastete sich immer weiter vor. Zitternd vor Erregung zog sie ihn mit sich, und gemeinsam fielen sie auf das Bett. Sie spreizte die Beine, wölbte sich ihm entgegen, bot ihm ohne jede Furcht ihre geheimste Stelle dar, und er kniete sich über sie und stieß zu, wieder und wieder, härter und härter. Schließlich ergoss er sich in sie, fühlte aber, dass seine Lust noch nicht gestillt war.

Auch ihr Leib war noch auf das Äußerste angespannt, zitterte vor Verlangen, sie stöhnte mit geschlossenen Augen und geöffneten Lippen. Er ließ seine Zunge über ihre Brüste wandern, den flachen Bauch entlang, fuhr dann über das lockige Haar ihrer Scham. Kehlige Laute erklangen aus ihrem Mund, ihr Körper erschauderte, begann zu zucken. Da spürte er, dass auch er ein weiteres Mal bereit zur Vereinigung war. Er drang wieder in sie ein, und während sie noch bebte, entlud sich seine Lust ein zweites Mal.

Dann war es vorbei. Schweißnass und schwer atmend lagen sie nebeneinander. Das vollkommene Glücksgefühl dauerte genau so lange, bis sich sein Kopf geklärt hatte. Dann traf ihn wie ein Schlag, was er getan hatte, was sie beide getan hatten.

»Nisani«, stöhnte er verzweifelt auf. Langsam erwachte auch sie aus dem Traum, den sie soeben durchlebt hatten, und blickte ihn verwirrt an.

»Was war das?«

»Ich weiß es nicht.« Nicolas spürte, wie Tränen in ihm aufstiegen.

»Ich muss hinübergehen«, wisperte Nisani. »Laure kommt jeden Moment herauf. Wenn sie mich sucht …«

Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Nicolas war klar, dass sie nicht beieinander liegen bleiben konnten. Er wollte noch etwas sagen, doch er wusste, dass Worte nicht helfen würden und die Lage weder ungeschehen noch besser zu machen vermochten.

Er ließ sie los, und sie nahm ihr Kleid und schlich, nackt wie sie war, davon. Bleierne Müdigkeit breitete sich in Nicolas’ Körper aus, doch es war nicht die wohlige Erschöpfung, die er zuweilen gespürt hatte, wenn er seine überschäumende Erregung bei den Dirnen nahe den Häfen abgebaut hatte. Vielmehr drückte die Schwere seiner Schuld ihn nieder, er fühlte sich leer, endlich körperlich befriedigt nach all den Jahren der Sehnsucht, doch so unglücklich, wie er nur sein konnte. Er hatte seine Schwester geschändet! Sie hatte es ebenso gewollt wie er, doch das war keine Entschuldigung. Sie war ein unschuldiges Mädchen gewesen, eindeutig jungfräulich, und er hatte ihr dies genommen, sich mit ihr in Blutschande vereinigt, sie ebenfalls zur Sünderin gemacht. Wie sollte er mit dieser Schuld weiterleben? Wie sollte er ihr je wieder in die Augen sehen, wie seinen Eltern? Er hatte bei Nisani gelegen, sie besessen, sich in sie ergossen. In seine Schwester! Gequält schluchzte er auf, die Tränen rannen nun ungehemmt über seine Wangen. Nie wieder konnte er seiner Familie unter die Augen treten.

Sie wollte es doch!, schrie der Teufel, der in ihm wohnte. Sie hat dich verführt!

Nein! Sie ist ein Kind, sie hat dir vertraut, brüllte sein Gewissen.

Nach Stunden des Wachliegens und Umherwälzens, während die Stille im Haus nicht mehr verzaubernd, sondern erdrückend war, erkannte er, dass beides stimmte. Doch das machte es nicht besser. Noch immer fühlte er ihre Hände auf seinem Körper, ihre Zähne in seinem Fleisch, und erneut erfasste ihn Erregung. Er hatte sie einmal – nein, zweimal! – besessen, und er wollte es wieder, würde es immer wieder wollen, für den Rest seines Lebens.

Das Grauen vor sich selbst ließ ihn erzittern. Als sich die Nacht ihrem Ende neigte, wusste Nicolas, was er zu tun hatte.