Leseprobe Superloser

Kapitel 1

Das ist sie also, die letzte Nacht meines Lebens. Ich bin überrascht, dass es nicht regnet. Dafür ist mir warm. Obwohl es bereits auf ein erträgliches Maß abgekühlt ist, schwitze ich wie ein Polarbär, den man in der Sahara ausgesetzt hat. Kein Wunder, das Tragen der beiden Fünfzehn-Kilo-Gewichtsscheiben durch die halbe Südstadt ist wahrlich kein Zuckerschlecken. Außerdem scheuert das Hanfseil an meinem Hals wie verrückt. Vielleicht hätte ich es nicht ganz so fest zuziehen sollen.

Dennoch bin ich zufrieden. Ich habe alles bis ins kleinste Detail geplant. Schließlich will ich wenigstens das Letzte, was ich tue, richtig machen. Zuversichtlich und mit einem beinahe euphorischen Kribbeln in der Magengegend schleppe ich mich über den Rhein. Die geschnorrte Zigarette klemmt lässig hinter meinem Ohr und wartet auf ihren großen Auftritt. Eigentlich bin ich ja Nichtraucher, aber besondere Momente verlangen nach besonderen Maßnahmen.

Es ist nicht mehr weit. Ich passiere bereits die im Mondlicht glitzernden Vorhängeschlösser, die zu Abertausenden am Geländer der Hohenzollernbrücke befestigt sind und um die Wette glänzen. Wie stumme Wächter beobachten sie mich auf meinen letzten Metern.

Schließlich bleibe ich stehen und starre stumm auf das größte Schloss weit und breit. Wieder und wieder lese ich die darauf eingravierten Buchstaben: M + J forever.

Ich bin mir nicht sicher, aber »forever« ist ein großes Wort und sicherlich dazu gedacht, eine längere Zeitspanne als drei Monate zu umfassen. Meine Idee war es nicht. Ich war für ein schnödes »In Love« oder meinetwegen auch ein solides »together«. Aber wenn eine Traumfrau wie Malena einem wie mir das »forever« anbietet, hinterfragt man nichts, sondern beginnt zu träumen. Und die Zeit mit ihr war nichts anderes als ein Traum: zu schön, um wahr zu sein.

Vielleicht war es dekadent, ein Vorhängeschloss aus reinem 925er-Sterling-Silber als Zeichen unserer Liebe an eine rostige Eisenbahnbrücke zu hängen. Auf jeden Fall war es kitschig.

Malena liebt Kitsch. Das hat der Kitsch mir voraus.

Schon damals hätte ich skeptisch werden müssen. Denn es gibt noch eine andere Sache, wodurch sich unser Liebessymbol von den anderen Schlössern unterscheidet: Es ist ein Kombinationsschloss. Was die Tradition an sich recht merkwürdig erscheinen lässt, da es eben keinen Schlüssel gibt, den man zum Zeichen der ewigen Liebe auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen des Rheins versenken kann. Dafür haben wir die Zahlen der Kombination aufgeteilt. Zwei für mich, drei für Malena.

Ein schlechter Deal.

Jetzt sind es nicht nur die Gewichtsscheiben, die an mir zerren. Nachdenklich streiche ich mir übers Gesicht und bleibe an der Narbe am Kinn hängen, die sich anfühlt wie ein deplatzierter Schwangerschaftsstreifen. Ein langer schmaler Strich vom Grübchen bis hinters Kinn. Zugezogen habe ich sie mir als Zehnjähriger, als sich meine auf dem Gepäckträger eingeklemmte Briefmarkensammelmappe gelöst und in den Speichen des Hinterrads verfangen hat. Kopfüber bin ich über den Lenker geflogen und konnte den Sturz gerade noch so mit dem Gesicht abfangen.

Merkwürdig, dass ich mich gerade jetzt wieder daran erinnere. Beinahe so, als würde sich der Film meines Lebens schon jetzt abspielen wollen. So ist das eben, wenn man hochkant aus dem Paradies geschmissen wird. Ohne Abmahnung und Vorankündigung.

Leben, du kannst so grausam sein.

Besonders gern erinnert sich mein masochistisches Langzeitgedächtnis daran, wie Malena vor drei Monaten in mein Leben trat. Es war Liebe auf den ersten Blick. Dachte ich. Mittlerweile weiß ich, dass ich vermutlich nur das Glück hatte, dass sie bei unserem ersten Treffen gerade auf neue Kontaktlinsen eingestellt wurde. Doch für mich war es nicht irgendeine Liebe. Es war die Liebe. Gut, vielleicht hätte ich ihr das mal sagen sollen. Aber ich habe geglaubt, zwischen uns bestünde ein unsichtbares Band, das die Worte unnötig werden ließ.

Zumindest dachte ich das bis zu dem Tag, an dem Malena mir offenbarte, dass sie sich in einen anderen verliebt habe. Leider nicht in irgendeinen, sondern in ihn. Pedro. Meinen besten Freund seit dem ersten Tag im Kindergarten. Damals, in der Seesterngruppe.

Das war schlimm.

Die Liebe sei eine launische Diva, hat er später zu mir gesagt. Man könne nie wissen, wen sie als Nächstes umarme. Gegen Gefühle sei man machtlos, sie machten auch nicht vor der Freundin des besten Freundes Halt. Und dann meinte er noch, dass ich mich für sie freuen solle. So von Freund zu Freund.

Nur ein Teil von mir macht ihm einen Vorwurf. Vermutlich weiß er gar nicht, wie sehr er mir damit den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Er war von Anfang an der Meinung, dass wir nicht zueinanderpassen würden. Schon allein deshalb, weil wir beide rothaarig sind und er die Befürchtung hegte, dass das Universum implodieren könne, wenn sich zwei Rothaarige … na ja.

Aber Malena und ich wussten es besser. Das Universum und der ganze Rest waren auf unserer Seite. Zumindest am Anfang. Dennoch ist die Tatsache nicht von der Hand zu weisen, dass wir nie in derselben Liga gespielt haben. Ich, der erfolglose Außenseiter. Sie, das angehende Supermodel. Ich mache mir nichts vor: In einer Theke für frische Molkereiprodukte bin ich der in die Ecke geschobene Analogkäse, der zwar am Verkauf teilnehmen darf, aber nie so wirklich dazugehört. Und bis vor drei Monaten war das auch in Ordnung so, ein Umstand, mit dem ich mich abgefunden hatte. Meinetwegen hätte es auch gern so weitergehen können. Schließlich ist es ein beruhigendes Gefühl zu wissen, wo sein angestammter Platz in der Nahrungskette ist. Aber dann musste mir ausgerechnet Malena über den Weg laufen. Der aromatische Brie, der tatsächlich ein Auge auf mich geworfen hatte, das in Wachspapier eingewickelte Möchtegernmolkereierzeugnis. Natürlich hatte ich nie eine Chance, neben ihr zu bestehen. Doch wenn man einmal auf einer Käseplatte neben edlem Blauschimmel, Gruyère und in Schnittlauch gerollten Ziegenkäsetalern glänzen durfte, will man nicht mehr zurück als Streusel auf eine Fertigpizza, umgeben von labberigem Pressschinken.

Es waren die tollsten drei Monate, die ich je hatte. Und, da mache ich mir nichts vor: die ich jemals haben werde. Und das sage ich nicht nur, weil es gleich vorbei sein wird. Also, mein Leben.

Nein, das sage ich, weil es stimmt.

Sie fehlt mir. Heute sind es zwölf Tage ohne sie. Zwölf Tage seit Pedro. Seitdem hat bei mir eine neue Zeitrechnung eingesetzt. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Nicht mehr lange, bis ein weiterer Tag seit der Apokalypse anbricht. Demnach wären es in drei Minuten und drei Sekunden dreizehn anno Pedro. Dreizehn Tage ohne sie. So lange ist es her, dass mein bester Freund mir meine Malena geraubt hat.

Doch dazu wird es nicht kommen. Für mich wird die pedroanische Zeitrechnung bei Tag zwölf stehenbleiben.

Ich stoße ein sardonisches Lachen aus. Wie vergänglich so ein »forever« doch sein kann. Da hängen sie nun, meine hart verdienten siebenhundertfünfzig Euro, und grinsen mich hämisch an. Natürlich hätte ich das Schloss am liebsten von diesem verfluchten Brückengeländer entfernt, einschmelzen lassen und mir von dem Geld einen Besuch im Pascha gegönnt. Blöd nur, dass mich bei drei Ziffern genau eintausend Zahlenkombinationen davon abhalten. Eintausend Möglichkeiten zu scheitern. Sinnbildlicher kann meine Lebenssituation nicht umschrieben werden.

Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe in diesen drei Monaten. Ich habe Malena nie gesagt, was ich für sie empfinde. Und ich glaube, sie nahm es mir ernsthaft krumm, dass ich sie nie gemalt habe, obwohl sie mich oft dazu aufgefordert hat. Doch wie hätte ich ihr mit meinem jämmerlichen Talent gerecht werden können? Nein, zu versuchen, ihre unfassbare Schönheit auf eine Leinwand zu bannen, würde an Blasphemie grenzen. Sie hat das nie verstanden.

Allmählich werden die Hantelscheiben in meinen Händen unerträglich schwer. Vorsichtig, damit ich mir nicht die Finger zwischen den Scheiben einquetsche, lege ich sie auf dem Boden ab, der übersät ist mit grauen Kaugummiflecken und schwarzweißer Taubenkacke. Schön, dass ich meine letzten Minuten auf der Welt aus der Sicht eines Monochromaten wahrnehmen darf.

Ich überprüfe den Sitz des Seils und kontrolliere noch einmal die Knoten, die ich exakt so gebunden habe, wie es die Anleitung aus dem Internet vorgegeben hat. Wenn alles nach Plan läuft, sollte sich die Schlinge um meinen Hals mühelos von selbst zuziehen, wenn ich die Scheiben in den Rhein fallen lasse. Das andere Ende des Seils ziehe ich durch die Löcher der Gewichte und zurre sie mit einem dreifachen Doppelknoten fest. So weit, so gut, das sollte halten.

Jetzt kommt der schwierigste Part. Mit dem zusätzlichen Gewicht muss ich nun irgendwie über das Brückengeländer. Das tue ich, indem ich die Scheiben hochhieve und sie auf dem schmalen Geländer ablege. Das klappt nur mit akkuratem Ausbalancieren. Es ist in dieser Phase meines minutiös geplanten Selbstmords wichtig, keine falsche Bewegung zu machen. Jede noch so kleine Erschütterung würde die Gussscheiben aus dem Gleichgewicht bringen und von dem Geländer fallen lassen, und das perfekte Timing wäre unweigerlich ruiniert.

»Was wird das denn?«, reißt es mich da nuschelnd aus meiner Gedankenwelt.

Gleichzeitig spüre ich einen sanften Druck auf meiner Schulter. Vor Schreck mache ich einen reflexartigen Hüpfer nach vorne und knalle mit dem Becken frontal gegen das Geländer. Doch für das Suhlen im Schmerz bleibt mir keine Zeit, da die Hantelscheiben drauf und dran sind, sich in Richtung Rhein zu verabschieden. In der letzten Sekunde bekomme ich sie zu fassen.

Atemlos blicke ich in das Gesicht eines vom Leben in Mitleidenschaft gezogenen Mannes jenseits der fünfzig, dessen schiefes Grinsen einen abgebrochenen Schneidezahn entblößt. Abgebrochen beschreibt seinen Anblick generell ganz gut. Ihm fehlt sogar eine halbe Augenbraue. Vielleicht ist er doch jünger, als er aussieht? Der buschige Bart und die filzigen, langen grauen Haare, die unter einer verschlissenen Wollmütze herauslugen, lassen sein wahres Alter schwer erkennen. Auch wird es sein Geheimnis bleiben, warum er sich offenbar LED-Leuchtstreifen unter die Mütze gepackt hat, die blass durch den grobmaschigen Wollstoff scheinen. Vielleicht ist es auch eine Weihnachtsbaumlichterkette.

Obwohl er mir eigentlich egal sein sollte, kann ich meinen Blick nicht von ihm abwenden. Selbst für Kölner Verhältnisse stehe ich einer echt schrägen Erscheinung gegenüber. Seine Hand umklammert eine Schnapsflasche mit klarem Inhalt. Der schmutzige Trenchcoat flattert ihm um die dünnen Beine, die in einer zerschlissenen und vor Dreck stehenden Cordhose stecken. Ein unangenehmer Geruch geht von ihm aus – eine Mischung aus altem Schweiß und grünen Gummibärchen.

Er grinst noch immer, was im diffusen Licht der orangefarbenen Brückenbeleuchtung wirklich gemeingefährlich aussieht. Mein Blick verliert sich in der Schwärze seiner lückenhaften Zahnreihe. Jeden Moment rechne ich damit, dass er ein langes Tranchiermesser hinter dem Rücken hervorzieht, um auf mich einzustechen. Einfach nur, weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort bin. In Großstädten passiert so was ja andauernd.

Allein beim Gedanken reagiert mein Körper mit Gänsehaut. Das vertraute Gefühl der Angst macht sich in mir breit, was mich sehr verwundert. In einer solchen Situation sollte ich wahrlich nicht den Tod fürchten.

»Schutt in den Rhein abladen ist verboten!«, klärt mich der Penner mit einem vorwurfsvollen Blick auf die Hantelscheiben auf. Sein Blick aber ruht verdächtig lange auf dem Strick um meinen Hals.

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Also schweige ich.

»Warum trägst du einen Matrosenanzug?«, fragt er mich frei heraus.

Okay, womöglich habe ich meine letzte Nacht auf Erden nicht ganz so perfekt geplant. Vielleicht hätte ich mit den letzten Stunden meines Lebens etwas Sinnvolleres anstellen können, als Dienst an einer Industriefritteuse zu schieben und tiefgefrorene Meerestiere in siedendem Öl zu ertränken. Ich bin eben pflichtbewusst. Bis zum letzten Atemzug.

»Das ist meine Arbeitsuniform«, erkläre ich. Warum, weiß ich selbst nicht. »Ich arbeite in einem Fastfood-Restaurant, und da trägt man so was. Die Schnipsende Krabbe. Schon mal gehört?«

Er sieht nicht so aus, als könnte er mir folgen. »Und warum ist sie rosa?«

Damit stellt er die erste berechtigte Frage des Abends. Und die verdient eine ehrliche Antwort.

»Hab mich verwaschen.«

Mein Gedächtnis versetzt mir einen weiteren Schlag mitten in die Magengrube. Denn es war Malenas rotes Höschen, das sich zwischen meine Arbeitsuniformen geschmuggelt hat. Jetzt habe ich als weitere Erinnerung an sie einen Satz rosafarbener Matrosenanzüge, mit denen ich mich jeden Tag aufs Neue der Lächerlichkeit preisgeben darf. Aber auch damit ist jetzt Schluss.

»Geht mich ja auch nichts an.« Er vollführt eine abwehrende Geste. »Aber was haste damit vor?« Jetzt kommt er endlich zum Offensichtlichen. Sein Blick wandert abwechselnd zu den Hantelscheiben auf dem Geländer und dem Seil um meinen Nacken.

Allmählich wird mir der Kerl doch zu aufdringlich. »Nichts, was Sie etwas angehen würde. Ich möchte jetzt gern allein sein.«

Der Penner kommt meiner Aufforderung nicht sofort nach, sondern zögert. Er mustert mich argwöhnisch. Die anderthalb Brauen gehen nach oben, was die eine Gesichtshälfte in eine asymmetrische Schräglage rutschen lässt. Schließlich öffnen sich seine rissigen Lippen, und er sagt: »Da haste dir aber ein lauschiges Plätzchen zum Alleinsein ausgesucht. Wenn du mich brauchst, ich steh da drüben.«

»Ich brauche niemanden«, sage ich scharf, und um auf Nummer sicher zu gehen, zische ich: »Verschwinden Sie!«

Er weicht erschrocken zurück und hält sich die Schnapsflasche schützend vor die Brust. »Da hastet gehört!«, sagt er. Aber nicht zu mir. Sein Blick geht steil nach oben. »Braucht keine Hilfe.«

Ich bin verwirrt und auch erleichtert, als er es bei einem gleichgültigen Schulterzucken belässt und weiterschlurft. Komische Leute gibt es in dieser Stadt.

Ich beobachte ihn skeptisch. Er hat es nicht eilig, sondern torkelt von Geländer zu Geländer und singt dabei irgendetwas davon, wie er über den Äquator balanciert ist und jetzt seine Segel streicht. Einige Meter von mir entfernt bleibt er stehen und lehnt sich über das Geländer. Dann beginnt er, aus den Tiefen seiner Stirnhöhlen lautstark eine Ladung Schleim zu ziehen und sie mit Schwung ins Wasser zu spucken. Er scheint mit ganzer Inbrunst bei der Sache zu sein und freut sich grölend, als er ein vorbeifahrendes Schiff mit seiner Rotzbombe erwischt.

Zugegeben, den Soundtrack meines Freitods habe ich mir irgendwie anders vorgestellt. Aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert.

Und wenn schon. Beinahe ist es mir recht, dass ich da nicht allein durchmuss. Ganz langsam, beinahe in Zeitlupe, hieve ich mich mit den Armen am Geländer hoch, klettere mit dem rechten Bein voran über das Gitter und setze mich neben die Gewichte.

Ich atme mehrmals tief durch. Mein Herz schlägt den Takt einer brasilianischen Sambagruppe beim Einmarsch in den Hippodrom. Den Karneval in Rio hätte ich ja schon mal gerne in echt gesehen …

Drauf gepfiffen. Jetzt bin ich bereit!

Bin ich das wirklich?

Plötzlich fallen mir all die Dinge ein, die ich noch nicht getan habe. Den Bausparvertrag auflösen, am Strand von Malibu von einer Rettungsschwimmerin gerettet werden, alle 719 Pokémon befreien. Ich atme die Nachtluft tief ein und versuche, jeden positiven Gedanken von mir abzustreifen. Alles kein Grund zur Panik. Darauf bin ich vorbereitet. Die Website der Selbsthilfegruppe der anonymen Suizidalen hat mich eindrücklich gewarnt, dass dies passieren würde. »Schalter umlegen und durchziehen«, lautete der Rat von Elvis 77. Es war sein letzter Eintrag, was den Tipp umso wertvoller macht.

»Also«, sage ich laut. »Ich zieh es jetzt durch.« Mit einem tiefen Seufzer dränge ich die positiven Gedanken nach hinten. Noch einmal werfe ich einen Blick auf das verblichene Zifferblatt meiner Swatch, die ich schon seit dem zehnten Lebensjahr trage. Sie ist ein Geschenk von meinen Eltern, weil ich damals, als mein Kinn zusammengenäht wurde, so tapfer war. Wer hätte gedacht, dass dies meine letzte Uhr bleiben würde. Ich seufze erneut. Meinen Eltern hätte ich gern Lebwohl gesagt. Doch wegen einer derartigen Lappalie wollte ich ihnen nicht die Weltreise versauen.

23:59 Uhr. Just in time, denke ich.

Gleichzeitig verfluche ich den Penner, der mir meinen großen Moment versaut, indem er, dicht ans Geländer gedrückt, im hohen Bogen in den Rhein pisst und dabei Viva Colonia singt. Ja, er war dabei, aber prima war das deshalb noch lange nicht. Viva am Arsch!

Die laue Nachtluft saugt sich in meinen Lungen fest. Da sitze ich nun auf dem Geländer, lasse die Beine baumeln und blicke zum Fluss hinab. Unter mir erkenne ich die Umrisse eines Schiffes. Es hat Sand geladen. Mir kommt Malenas Lieblingssong der Band Tonbandgerät in den Sinn. Schiffe aus Papier, die niemals sinken, summe ich leise vor mich hin. Das Binnenschiff hat den Rhein aufgewirbelt. Weiße Kronen tanzen auf den Spitzen der Wellen, die rhythmisch gegen das tiefschwarze Ufer schwappen. Ich bin gespannt, ob ich auch Wellen schlage. Wenigstens einmal in meinem Leben.

Vorsichtig, um ja keine Erschütterung auszulösen, greife ich in die Hosentasche und ziehe das Handy heraus. Mit einer Hand löse ich die Tastensperre. Mit der anderen greife ich nach der Zigarette hinter dem Ohr und stecke sie mir in den Mund. Ungefähr zur gleichen Zeit wird mir bewusst, dass ich gar kein Feuerzeug dabeihabe. Genervt schnippe ich den glimmfreien Stängel in den Rhein. Er verschwindet in der Dunkelheit. Gleich mache ich es ihm nach. Dabei erfüllt es mich mit Genugtuung, dass es Pedros Hantelscheiben sind, die meinen Körper daran hindern werden, zurück an die Oberfläche zu steigen.

Laut einer Studie, die ich kürzlich beim Zahnarzt gelesen habe, hegen dreißig Prozent aller Jugendlichen bis fünfundzwanzig Suizidgedanken. Mit meinen achtundzwanzig bin ich zwar knapp über dem Schnitt, aber dennoch in guter Gesellschaft. Nur werde ich mich heute zu den sieben Prozent begeben, die es wirklich bis zum Ende durchziehen. Wie Elvis 77. Mein Held. Dem Leben mit stur in den Abgrund gerichteten Augen und einem feisten Lächeln im Gesicht Lebewohl sagen. Goodbye, arrivederci, au revoir. Bla-bla.

Obwohl das schon eine beträchtliche Höhe ist. Was wollte ich mir mit dieser Art zu sterben noch gleich beweisen? Auf die letzten Minuten meine Höhenangst bekämpfen? Damit ich nicht vollends versagt habe? Wenn es wirklich einen Gott gibt, werde ich mir wohl in Kürze eine ordentliche Standpauke anhören müssen.

Andererseits: Werde ich ihm begegnen, wenn ich mir das Leben nehme? Ist da nicht eher eine andere Abteilung für mich zuständig? Ein paar Stockwerke tiefer? Und, was noch viel wichtiger ist: Hätte ich mir die Gedanken vielleicht früher machen sollen, bevor ich mich mit Eisenscheiben, die es locker mit meinem Eigengewicht aufnehmen können, auf ein baufälliges Brückengeländer hocke?

Genieße den Augenblick, rufe ich mir in Erinnerung. Er zählt schließlich zu den letzten.

Ich schaue mich um. Was für eine Nacht! Kein einziges Wölkchen. Sternenklare Sicht. Zum Malen schön. Gut, das ist dann doch eine Sache, die ich vermissen werde. Das Malen. Kurz driften meine Gedanken ab zu all den unvollendeten Werken, die sich in meiner Kellerparzelle stapeln und niemals ihre Vollendung finden werden. Obwohl, was soll das Gejammer, ich hätte ohnehin nie den Mut aufgebracht, sie der Öffentlichkeit zu präsentieren. Denn ich hätte mich sofort vor einen Zug geschmissen, wenn mir jemand Talentfreiheit nachgesagt hätte. Nicht, dass es irgendetwas an meiner aktuellen Situation ändern würde …

Aus dem Augenwinkel nehme ich in einiger Entfernung eine Bewegung wahr. Ich wende den Kopf. Der Penner reißt mich mit seinem wilden Gefuchtel aus dem Abschied von der Welt. »Nein, nein und noch mal nein!«, höre ich ihn rufen. »Bin doch nicht der Samariter. Und wenn du dich auf den Kopp stellst und mit den Ohren wackelst. Ich hab genug!«

Dem stimme ich zu. »Ich auch«, rufe ich nach oben und drücke die Kurzwahl eins.

Erst ist das Freizeichen zu hören, aber bereits nach dem dritten Tuten knackt es. Sie hat also noch nicht geschlafen. Es ist gut, wenn sie hellwach ist und genau versteht, was ich ihr zu sagen habe.

»Hallo?«, höre ich Malenas Stimme in meinem Ohr. Glockenklar und elfengleich. Als würde sie unmittelbar neben mir stehen.

Meine Kehle schnürt sich derart zu, dass ich trocken schlucken muss. »Hey, ich bin’s, Jonas«, krächze ich in gespielt guter Laune.

»Jonas!«, ruft sie ins Telefon.

Sie freut sich, ich kann es förmlich spüren. Mein Herz macht einen Hüpfer. Vielleicht ist doch noch nicht alles zu spät, vielleicht … Dann höre ich seine Stimme. Pedro.

»Ist er bei dir?«, frage ich.

Die gespielt gute Laune ist dahin. Er ist bei ihr, und ich bin bei mir. Das ist so unfair.

Es wird still am anderen Ende der Leitung. Mist, ich bin kurz davor, es zu vermasseln. Also setze ich enthusiastisch nach: »Ich möchte dir bloß alles Gute zum Geburtstag wünschen.«

Ich höre, wie sie tief Luft holt. »Aber doch erst morg… Oh, das nenne ich ja mal überpünktlich.«

»Ich weiß doch, dass dich meine Unpünktlichkeit immer so gestört hat.«

Sie hält inne. Ihr Zögern zieht sich hin wie Kaugummi. Schließlich sagt sie: »Das ist so lieb von dir. Weißt du, Pedro und ich … Ich meine … Es tut mir wirklich alles so leid. Aber deine Freundschaft bedeutet mir …«

»Warte bitte«, unterbreche ich sie. »Ich muss dir unbedingt etwas sagen, bitte hör mir …«

Die nächsten Worte werden von einem heranbrausenden Güterzug verschluckt, dessen vibrierender Dieselmotor das ganze Brückengeländer zum Beben bringt. Ich klemme das Telefon zwischen Schulter und Ohr ein und umklammere meinen Hantelscheibenberg. Das Grollen des schweren Zuges ist ohrenbetäubend, und ich fühle mich wie ein Artist auf einem Drahtseil, das zwischen zwei Wolkenkratzern gespannt ist. Die Lokomotive passiert nun meine Höhe und bringt einen starken Luftzug mit sich. Um mehr Halt zu bekommen, verhake ich mich mit den Beinen zwischen den Gitterstreben. Ein überraschend eisiger Wind bläst mir unter das Matrosenshirt und beschert mir eine millimeterdicke Gänsehaut.

»Was sagtest du?«, fragt Malena, als der Lärm verebbt.

»Ich sagte, dass ich …«

»Himmel, wo bist du denn? Was war das für ein Krach?«

»Das tut jetzt nichts zur Sache«, entgegne ich. »Ich muss dir etwas sagen.«

Während ich so dasitze und ihr endlich sagen will, dass sie die Liebe meines Lebens ist, wird es plötzlich richtig dunkel um mich herum. Irritiert blicke ich nach oben und erschrecke so sehr, dass ich fast von der Brücke falle. Der ehemals sternenklare Himmel hat sich binnen Sekunden zu einer düsteren Gewitterwolke zusammengezogen.

»Was ist denn das?«, frage ich laut.

»Was meinst du?«, höre ich Malenas Stimme. Sie scheint plötzlich ganz weit weg. »Jonas, bist du noch dran?«

Es knistert in der Leitung, die Verbindung ist auf einmal erstaunlich schlecht.

»Ich will dir nur sagen, dass …«, setze ich erneut an. Ich muss die Worte herausbrüllen, um sie selbst zu verstehen.

Wieder zittert es unter meinem Hintern. Derart heftig und in keiner Weise mit dem Beben vergleichbar, das die Diesellok verursacht hat. Diese Erschütterung ist tiefer und bedrohlich. Nahezu … bösartig.

»Scheiße!«, höre ich den Penner rufen.

Damit hat er die Lage auf den Punkt gebracht.

Nur einen Augenaufschlag später rumst und kracht es, als würde das Universum nun doch mit dreimonatiger Verspätung implodieren.

Und da ergreift mich die Panik.

Der Penner hat sich wieder gefangen und ballt die Fäuste gen Himmel. »Na, komm doch!«, schreit er wie ein Wahnsinniger. »Ist das alles, was du draufhast?«

Mein erster Gedanke gilt der Brückenstatik, die vermutlich endlich unter dem Gewicht der Abertausend Vorhängeschlösser einknickt. Hatten Experten ja lange genug vor gewarnt. Aber damit ist nicht der tosende Donner erklärt, der von überall herzukommen scheint. Der Krach zerreißt förmlich die Luft. Ich würde mir gern die Ohren zuhalten, was aber nicht geht, weil ich ja nach wie vor die vermaledeiten Hantelscheiben umklammert halte und das Handy außerdem immer noch zwischen Kiefer und Schulter hängt. Aus den Augenwinkeln nehme ich das Flattern mehrerer aufgescheuchter Tauben wahr. Oder sind es Fledermäuse?

Dann wird es ganz laut, und ich sehe einen schlohweißen Blitz, der sich unmittelbar hinter mir auf den Gleisen der Brücke entlädt. Aber er verschwindet nicht, als er in die Schienen einschlägt. Er baut sich zu einer grellen und immer breiter werdenden Windhose auf, die sich rasant auf mich zubewegt.

Ich versuche zu schreien, doch der Wirbelwind scheint sämtlichen Sauerstoff aus der Luft zu saugen. Sogar aus meinen Lungenflügeln. Plötzlich habe ich Angst zu ersticken – was ich in Anbetracht meines Vorhabens derart dämlich finde, dass ich lachen muss. Zumindest so lange, bis ich erkenne, dass der blitzende und kreischende Tornado nur noch wenige Meter von mir entfernt ist.

Gott, ist das grell!, denke ich und schirme die Augen ab. Es ertönt ein weiterer Knall unmittelbar neben mir. Vorsichtig spähe ich durch meine Finger und sehe die Welt untergehen.

Der Wind zerrt an meinen Haaren. Dann prallt etwas mit voller Wucht gegen mich. Und auch wieder nicht. Es fühlt sich beinahe so an, als ginge es … durch mich hindurch. Als streife etwas meinen Brustkorb, meine Eingeweide. Meine Seele. Ich fühle mich befleckt und beschmutzt und auf eine unangenehme Art intim berührt.

Dann ist es schlagartig vorbei.

Der Lärm, die Helligkeit, das Gefühl. Von jetzt auf gleich ist da nichts mehr.

Ohne mein Dazutun kippe ich vor Schreck nach vorne. Zum Glück habe ich die Beine zwischen die Streben geklemmt. Ich kann mich gerade noch mit den Fingerspitzen am Brückengeländer festhalten, währenddessen verabschieden sich die Gewichte und treten ihre Reise in Richtung Rhein an. Mit Inbrunst formen meine Lippen ein »Nein!«. Ich bin jedoch nicht imstande, einen brauchbaren Laut hinterherzuschießen. Dafür sitzt der Schock zu tief.

Aber eines weiß ich sicher: Noch bin ich nicht so weit. Es gibt noch so vieles, was ich Malena erzählen will. Ich will nicht sterben!

Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich dem Seil um meinen Hals zu, wie es Meter um Meter in die Dunkelheit gezogen wird. Meine Finger krallen sich in das rostige Eisen des Brückengeländers.

Bald wird er kommen, der Ruck, der mich mit aller Gewalt nach unten zerren wird.

Auf drei fliegt uns das Leben um die Ohren, schießt mir Malenas Lieblingslied durch den Kopf.

Also, Malena, auf drei, auf zwei, auf uns …

Dann ist er da, der Moment, von dem so viele reden. Die Schwelle des Todes, in der das ganze Leben noch einmal vor dem geistigen Auge abläuft. Es ist erschreckend, denn alles, was ich sehe, bin ich – schwitzend an der Industriefritteuse der Schnipsenden Krabbe.

Im nächsten Augenblick spannt sich das Seil bedrohlich, und mein Kopf wird noch ein weiteres Stück nach vorn gezogen. In meinem Nacken breitet sich eine Wärme aus, dann fängt er an zu brennen, als hätte jemand Benzin drüber gegossen, ein Streichholz dran gerieben und angezündet. Es tut höllisch weh.

Und dann ist es plötzlich vorbei. Fassungslos sehe ich dem Ende des Seils hinterher, das eben noch die Haut meines Nackens abgehobelt hat und nun den Gewichten nach unten folgt.

Kann das sein?

Ich löse eine Hand vom Geländer und reibe mir das wunde Genick. Meine Gefühle fahren Achterbahn. Ich lebe. Und brülle meine Erleichterung in die Nacht hinaus.

»Ich leeeebe!«

Ich lache und gröle. Es klingt morbide und schräg. Und sieht auch bestimmt total bescheuert aus, wie ich da auf der falschen, der Außenseite des Brückengeländers hänge, eine Gallionsfigur der Ironie des Lebens.

Ich verstumme abrupt. Sollte ich mich wirklich freuen? Mich nicht eher dafür verfluchen, dass ich sogar für den Freitod zu blöde bin?

Vor allem: Warum genau lebe ich noch?

Irgendetwas hat wohl nicht funktioniert. Ich verdächtige die Strickbauanleitung aus dem Internet.

Vielleicht hätte ich diese Knotentechnik zuvor auf ihre Tauglichkeit überprüfen sollen. Na ja.

Mit zittrigen Knien schwinge ich mich über das Geländer und bin froh, wieder halbwegs festen Boden unter den Füßen zu haben. Die Freude gewinnt schnell die Oberhand. Ich lebe! Grund genug, mir die Erleichterung von der Seele zu schreien. Ich tanze. Ausgelassen. Das erste Mal in meinem Leben, ohne ausgelacht zu werden. Ist ja auch kein Publikum da.

Apropos Publikum. Auf einmal ist es nicht nur das schmerzhafte Kratzen im Hals, das mich verstummen lässt. Vielmehr mischen sich in meine Kakophonie aus inbrünstigen Lauten Schreie, die definitiv nicht von mir stammen.

Mit trockenem Mund horche ich in die Nacht hinein. Das ist keine Einbildung, das ist eindeutig ein Hilferuf. Aus der Richtung des Penners kommend, der aber nicht mehr an seiner Stelle steht und kölsche Gassenhauer zum Besten gibt.

So schnell es meine wackeligen Beine zulassen, laufe ich dem Hilferuf entgegen. Das Bild, das sich mir zeigt, als ich über das Geländer blicke, ist derart skurril, dass ich erneut in ein hysterisches Lachen verfalle. Unter mir hängt der Penner, mit einer Hand am Sockel des Geländers festgekrallt, die andere fest die Flasche Korn umklammernd. Die Cordhose hängt ihm bis zu den Waden runter. Sein zu mir aufschauendes Gesicht wird von dem orangefarbenen Licht der Brückenlaterne angeleuchtet, die direkt über uns in der tiefschwarzen Nacht schwebt. Die Wollmütze und die darunter verborgene Christbaumkette scheinen sich gen Rhein verabschiedet zu haben.

Immer mehr Insekten, die zuvor die Laterne umschwirrt haben, finden den Weg zu uns hinab. Der kalte Angstschweiß und das fischige Frittierfett in meinen Poren ziehen sie in Scharen an.

Trotz weicher Knie und Puddingarme mobilisiere ich meine letzten Reserven und beuge mich über das Geländer. Dankbar ergreift der Kerl meine ausgestreckte Hand. Er ist leichter, als er aussieht. Dennoch gelingt es mir nur unter dem größten Kraftaufwand, ihn über die Brüstung zu ziehen.

Erschöpft und völlig fertig sitzen wir anschließend nebeneinander auf dem Boden und schweigen uns an. Er lässt mich die ganze Zeit über nicht aus den Augen, was mir sehr unangenehm ist. Ich belasse es dabei, ihn aus dem Augenwinkel zu beobachten. Er scheint auf etwas zu warten.

»Alles okay?«, frage ich, als mir die Stille zu doof wird.

»Weiß nich.« Er mustert den Nachthimmel, der wieder seine funkelnden Sterne preisgibt.

»Komische Nacht, wa?«

Dem stimme ich mit einem Nicken zu. Schließlich hält er mir die Kornflasche hin, in der noch ein etwa daumenbreiter Rest von einer Flaschenseite zur anderen schwappt. Ich nehme sie wortlos entgegen und leere sie in einem Zug. Mit einem lauten Rülpser werfe ich die Flasche in den Rhein.

Der Penner sagt noch immer nichts, aber ich sehe ihm an, dass er enttäuscht darüber ist, dass ich den Rest vom Fest nicht mit ihm geteilt habe. Trübselig sieht er der Flasche hinterher. Schließlich steht er auf und klopft sich den Staub von der Hose.

»Also, dann …« Noch einmal zeigt er mir sein lückenhaftes Lächeln, wendet sich ab und geht.

Nach ein paar Metern hält er inne, schaut wieder nach oben und breitet theatralisch seine Arme aus.

»Ernsthaft jetzt?«, bellt er den Mond an. »Mehr hast du nicht drauf?«

Eine Antwort erhält er offenbar nicht. Jedenfalls kann ich keine hören. Stattdessen dringt ein übles Lachen aus seinem Mund. Mit den Händen klopft er sich kichernd auf die Brust, tastet, von Lachkrämpfen geschüttelt, seine Beine ab, fährt sich glucksend übers Gesicht, als könnte er nicht glauben, dass er noch lebt. Dieses Bild befriedigt mich. Auch ohne ein Dankeschön. Sein Lachen will einfach nicht verebben. Es ist beinahe ansteckend.

Ich kann nichts weiter tun, als ihm nachzuschauen, wie er zwar leicht schwankend, aber zielsicher von der Brücke wandert und dabei Songfetzen in den Wind spuckt. Ich bewundere ihn. Zu jedweder anderen Aktion bin ich noch nicht in der Lage. Also bleibe ich auf dem kühlen staubigen Boden sitzen und schaue zu, wie die Silhouette des Mannes immer kleiner wird und sich schließlich ganz in der Schwärze der Nacht verliert.

Da sitze ich nun und lebe noch.

Was mache ich denn jetzt?

Die Antwort ist ernüchternd: Ich habe keine Ahnung.

Immerhin habe ich vor meinem Freitod keine gehässigen Briefe an all die Leute geschickt, denen ich schon immer mal die Meinung geigen wollte. Pedro. Malte Raffelsiefer, meinem Chef. Gudrun Enkelhuber, meiner Sportlehrerin in der Fünften. Zum Glück weiß niemand, dass ich mich umbringen wollte. Das wäre peinlich, so im Nachgang. Aber vielleicht wäre es auch gar niemandem aufgefallen.

Mittlerweile ist mein Hintern eingeschlafen. Ein unangenehmes Kribbeln, gefolgt von schmerzhafter Taubheit, breitet sich von den Pobacken bis zu den Oberschenkeln aus. Mühsam richte ich mich auf und stelle mich ans Geländer. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass ich jetzt dort unten auf dem Grund des Rheins liegen könnte.

Ich habe mir noch nie Gedanken über die Zeit danach gemacht. Über das Leben nach dem Tod. Ob es da noch etwas gibt und überhaupt. Aber ich hoffe inständig, dass Elvis 77 mich nicht sehen kann.

Kapitel 2

Gefangen in meinem ganz persönlichen Déjà-vu, sitze ich auf dem Brückengeländer und fühle das kalte Metall an meinen Händen. Wieder erlebe ich den Moment, in dem sich die Gewichte selbstständig machen. Doch diesmal hält das Seil um meinen Hals. Mit einem starken Ruck werde ich kopfüber ins Schwarze gezogen.

Ich falle.

Unter mir erkenne ich das immer größer werdende Binnenschiff mit der holländischen Flagge am Bug. Nein, so darf es nicht zu Ende gehen! Doch als ich mich dem im Mondlicht schimmernden blank polierten Deck nähere, zieht jemand den Stöpsel, und der gesamte Rhein wird mitsamt Schiff und mir in einen gigantischen Strudel gezogen. Eine kolossale Kraft zerrt mich in immer schneller drehenden Kreisen ganz tief hinein in den Schlund ohne Grund, der nur aus Licht zu bestehen scheint.

Grelles Licht. Schmerzhaft grelles Licht. Ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich drehe mich immer schneller und schneller, während es sekündlich heller wird.

Dann reißt es mich aus der Tiefschlafphase. Ich finde mich aufrecht sitzend in meinem Bett wieder. Meine Beine zucken und strampeln. An sie wurde das Signal noch nicht weitergegeben, dass alles nur ein Traum gewesen ist. Ebenso wenig gelingt es mir, die Augen zu öffnen. Dafür sind die Sonnenstrahlen, die sich durch die Ritzen der Jalousie in mein Schlafzimmer drängeln, viel zu blendend.

Ich reibe mir die Reste der REM-Schlafphase aus den Augen und schätze die Uhrzeit aufgrund der Helligkeit im Zimmer auf zehn am Morgen, was eine weitere Panikattacke in mir auslöst. »Fuck, fuck, fuck! Ich hab verpennt!«, schreie ich mir selbst entgegen.

Seltsamerweise fühlt es sich an, als hätte ich nur wenige Minuten geschlafen. Mein Schädel brummt. Vermutlich Nachwehen des billigen Fusels, der nicht nur meinen Kopf über Nacht in ein mit Glassplittern gespicktes Wattepad verwandelt hat, sondern auch ein Kurzhaarfell auf meiner Zunge hat wachsen lassen.

Bäh!

Mir ist heiß, mein ganzer Körper ist mit einem Schweißfilm bedeckt. Und gütiger Gott: Ist das hell! Ich muss die Augen wieder zusammenkneifen. Mit ungelenken Bewegungen ertaste ich den Wecker und halte ihn mir vors Gesicht. Ich wage es, die Lidspalte erneut ein Stückchen zu öffnen, ignoriere den explosionsartigen Schmerz hinter meiner Stirn und verstehe die Welt nicht mehr. Die rote Digitalanzeige zeigt drei Uhr elf an.

Das irritiert mich nun doch. Andererseits sind Stromausfälle in diesem Viertel seit dem Einsturz einiger U-Bahn-Schächte keine Seltenheit. Aber die Zahl blinkt nicht, und draußen ist helllichter Tag. Habe ich so lange geschlafen? Unmöglich.

»Ich muss Malte anrufen«, beschließe ich.

Es kann unmöglich drei Uhr am Nachmittag sein. Aber warum blinkt die verdammte Zahl nicht, wenn es doch ein Stromausfall war, der meinen Wecker ins Nirwana geschickt hat?

Meine Blase weiß zwar auch keine Antwort auf meine drängende Frage, meldet sich aber dennoch unaufgefordert zu Wort. Ich hieve mich aus dem Bett und bereue es augenblicklich. In meinem Kopf platzt eine weitere Schmerzblase mit einem dumpfen »Plopp«. Ich brauche dringend Kopfschmerztabletten. Und übel ist mir auch. Herbe Erinnerungen des vorabendlichen Korns dringen beim Aufstoßen an die Oberfläche und machen es sich auf meiner Zunge bequem. Der bittere Geschmack löst in meinem Magen eine Rebellion aus, genau wie die Aufzeichnungen der vergangenen Stunden, die der hauseigene Erinnerungstechniker in meinem Hirn gerade wieder auf die Mattscheibe zaubert. Sie lähmen mich mit einer unendlichen Traurigkeit. Nichts, aber auch gar nichts bekomme ich im Leben hin. Noch nicht einmal, es zu beenden.

Matt und schlapp und mit halboffenen Augen wanke ich in Richtung Toilette. Mein Unterbewusstsein registriert, dass ich das Badezimmerlicht über Nacht habe brennen lassen. Warum habe ich das getan? Keine Ahnung. Ebenso wenig weiß ich, warum ich ausgerechnet an Malena denken muss, als ich auf der Klobrille sitze und sich meine Blase plätschernd entleert. Doch auf einmal ist sie wieder allgegenwärtig. Vor meinen imaginären Augen sehe ich sie in eben diesem kleinen Badezimmer stehen. Die perfekten weißen Zähne putzend, mit nicht mehr bekleidet als dem Snoopy-Slip, den ich ihr aus dem H&M mitgebracht habe.

Irgendwas in meiner Leistengegend zieht sich zusammen. Ob sie ihn auch heute Nacht trägt?

Vermutlich nicht. Pedro kann Comic-Unterwäsche nicht ausstehen.

Ganz schön still hier. Ungewöhnlich still. Warum eigentlich? Erst jetzt fällt mir auf, dass das Geräusch der Lüftung fehlt, die mich daran hindern soll, in meinem fensterlosen Badezimmer einen unwürdigen Erstickungstod zu sterben. Normalerweise schaltet sich der Ventilator automatisch mit der Beleuchtung an. Vermutlich ist die Sicherung aufgrund des Dauerbetriebs rausgeflogen. Eine unheilvolle Wolke in Gestalt meiner ebenso unförmigen Hausmeisterin, Frau Mutschler, projiziert sich auf die Innenseiten meiner Lider. Der Gedanke, sie morgen kontaktieren zu müssen, um den Schaden zu melden, lässt mich erschaudern.

Geht ja schon mal echt super los, der erste Tag meines neuen Lebens.

Ich wische mir über die schweißnasse Stirn und fische die Sandkörner aus meinen Augen. Die beste Idee, seitdem ich wach bin, denn es wird sofort lichter. Meinen Augen geht’s also gut. Ist doch auch schon mal was.

Ich stelle mich vor das Waschbecken und schaufele mir eiskaltes Leitungswasser ins Gesicht. Das tut gut und belebt die Sinne. Der verchromte Wasserhahn schimmert gespenstig, was ihn beinahe kunstvoll erscheinen lässt. Ich richte mich auf, drücke mein Kreuz durch und werde mit dem erwarteten Knacken in der Wirbelsäule belohnt.

Zufrieden lächele ich meinem Spiegelbild entgegen.

Gleichzeitig frage ich mich, wer einen Deckenleuchter hinter mir aufgestellt hat.

Ruckartig drehe ich mich um. Doch da ist nichts. Kein Deckenfluter. Kein Scheinwerfer. Nicht mal ein Halogenspot.

Aber da war doch …

Noch einmal begutachte ich das Spiegelbild. Sehr intensiv und gründlich. Wenigstens in einer Angelegenheit habe ich mich nicht getäuscht. Einen Deckenfluter gibt es nicht. Aber … Und dann kapiere ich es.

Die Quelle des grellen Lichts bin ich.

Mein gesamter Hinterkopf ist umgeben von einer leuchtenden Aura, derart hell, dass mein rotes Haar kaum noch als solches zu erkennen ist. Mein Gott, ich sehe aus wie ein fleischgewordener billiger Photoshop-Effekt!

Das ist der Moment, in dem ich das Waschbecken zweckentfremde und sich mein gesamter Mageninhalt ins Freie rettet. Während ich mir sturzflutartig die Seele aus dem Leib kotze, überlege ich mir bereits, wie ich die Bröckchen aus dem Waschbeckensieb herausgefischt bekomme. Malena hasst verstopfte Flusensiebe.

Ich komme noch einmal in den Genuss des bitteren Fusels, der sich ein zweites Mal den Weg durch meine Speiseröhre brennt. Irgendwann lässt der Würgereiz nach. Um den Geschmack der bitteren Galle loszuwerden, spüle ich meinen Mund mit wohltuendem kalten Leitungswasser aus, das zu meinem größten Erstaunen süß schmeckt. Wie gezuckert.

Ausgelaugt wage ich einen weiteren Blick in den Spiegel und schaffe es diesmal, meinen Magen bei dem sich mir bietenden Anblick im Zaun zu halten.

Das grelle Ding über meinem Kopf ist immer noch da.

Was, verfluchte Kacke, ist das?

Ratlosigkeit macht sich in mir breit. Ich versuche, mir die Helligkeit aus den Haaren zu reiben – was natürlich nicht funktioniert. Stattdessen kribbelt es in meinen Handflächen, als ich direkt in die Lichtquelle hineinfasse. Erschrocken ziehe ich die Finger zurück. Allmählich droht die Panik von mir Besitz zu ergreifen.

Ich übe mich in analytischer Gelassenheit, wie ich es in meinem abgebrochenen Kunststudium gelernt habe: Erst das verstehen, was man sieht, dann zum Pinsel greifen.

Also dann. Meine Hände machen sich mit wissenschaftlicher Präzision ans Werk. Allzu viel gibt es für sie nicht zu tun. Im Spiegel sehe ich zwar, wie meine Hand durch eine leuchtende Aura gleitet, fühle aber keinen nennenswerten Widerstand. Egal, was ich auch anstelle, meine Synapsen sind einfach nicht in der Lage, die eingehenden Informationen zu verarbeiten.

Vielleicht sollte ich es noch mal mit dem Magen und dem Waschbecken versuchen. Die Kombination war ja eben ganz erfolgreich.

Ich weiß nicht, ob es an der Übelkeit und den Kopfschmerzen liegt oder ob es einfach nur die vollständige Verzweiflung ist, die diese Situation in mir auslöst. Doch plötzlich öffnen sich die Schleusen. Zunächst ist es eine einzelne Träne, die sich aus meinem Auge stiehlt. Ein einzelner, abgehackter Schluchzer. Dann ist der reißende Fluss nicht mehr aufzuhalten. Alle negativen Emotionen haben endlich den Weg ans Tageslicht gefunden und fordern nun meine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Bitte schön. Können sie haben.

Ich ergieße mich in Sturzbächen der alles umfassenden Hoffnungslosigkeit und versuche das Aufheulen zu unterdrücken. Ich habe Angst, meine unmittelbaren Nachbarn könnten sich in ihrer nächtlichen Ruhe gestört fühlen. Ich leuchte mich vom Waschbecken durch den Flur bis ins Wohnzimmer und bleibe ratlos in der Mitte des Raums stehen. In Sachen Ratlosigkeit bin ich mittlerweile ganz gut.

Um ganz sicherzugehen, ziehe ich auch den integrierten Spiegel im Wohnzimmerschrank zurate. Dasselbe niederschmetternde Ergebnis. Das Wohnzimmer ist stockdunkel. Die einzige Lichtquelle geht von mir aus.

Ich. Bin. Das. Licht.

Wieder meldet sich mein Magen mit unkontrollierten Zuckungen zu Wort. Mehr Opfergaben kann er meinem Körper nicht abverlangen. Also lasse ich ihn krampfen und warte geduldig, bis er sich wieder beruhigt. Ich habe gerade ohnehin nichts Besseres vor. Mit meinen völlig entleerten Gedärmen und dem Restalkohol im Blut erlebe ich eine außerkörperliche Erfahrung, wie ich sie sonst nur aus den Esoterikzeitschriften meiner Mutter kenne. Ich stehe also so da, schaue mich selbst an und denke dabei die ganze Zeit: Gott, bist du hell.

Eine Stunde später stehe ich noch immer in der Mitte des Wohnzimmers und versuche, das Unfassbare zu begreifen. Alle paar Minuten wandert meine Hand wie fremdgesteuert zu meinem Kopf. Jedes Mal ziehe ich sie ängstlich zurück, sobald ich die Aura durchdringe und das Kribbeln einsetzt. Das ist aber auch ein gruseliges Gefühl.

Mücken und Motten, manche davon echt groß, umkreisen mich inzwischen, als wäre ich ein Planet mit eigener Umlaufbahn. Oder eine Straßenlaterne. Ich habe vergessen, das Fenster zu schließen. Als es so viele Insekten im Zimmer sind, dass ich anfange, mich zu ekeln, schließe ich die Augen und schaukele wie in Trance hin und her, vor und zurück. Vielleicht schlafe ich aber auch im Stehen und träume das alles.

Nein, ich träume nicht. Ich bin hellwach. Vor allem bin ich hell. Aber eben auch wach. Das weiß ich so genau, weil die Müllabfuhr gerade dabei ist, die vor meinem Fenster stehenden Tonnen zu leeren. Wäre auch zu schön gewesen.

Mittlerweile bereue ich es mehr denn je, gestern Abend derart jämmerlich versagt zu haben. Ich werde Pedro das mit seinen Gewichten erklären müssen. Ängstlich, resigniert und von oben bis unten mit Traumata vollgepackt verstecke ich mich schließlich unter der Bettdecke. Aber auch dort ist es hell.

Unaufhaltsam kriecht der Morgen näher. Über mir hat mein übergewichtiger Nachbar mit seiner Frühgymnastik begonnen. Bei jedem Aufkommen seines massiven Körpers auf der Matte quietschen und ächzen die Trampolinsprungfedern so jämmerlich, dass ich Mitleid bekomme. Wie jeden Morgen. Nur gut, dass ich ein toleranter Mensch bin und mich nicht traue, den Weg der direkten Konfrontation einzuschlagen.

Der erneute Drang meiner Blase zwingt mich aus meiner Bettdeckenhöhle zurück ins Bad. Dort betrachte ich mich noch einmal eingehend im Spiegel und versuche, das Ding auf meinem Schädel unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu analysieren. Eine echte Herausforderung, schließlich bin ich Kunststudent und kein Quantenphysiker. Und selbst das ist geschmeichelt, da ich das Studium abgebrochen habe. Im dritten Semester.

Dieses Ding, das meinen gesamten Hinterkopf umgibt, ist hell. Unglaublich hell. Am intensivsten leuchtet es an den Stellen, an denen es mich berührt, also im kompletten hinteren Bereich meines Schädels. Dort kribbelt es auch am stärksten. Wenngleich ich mich allmählich daran gewöhne und nicht mehr ständig dem Impuls nachgebe, daran kratzen zu müssen. Schließlich weiß ich nur zu gut, dass das Schuppen und fettiges Haar verursacht. Ich mache mir nichts vor: Beides kann ich in meinem jetzigen Zustand am allerwenigsten gebrauchen.

Die Helligkeit des Scheins reicht bis zur Badezimmerdecke und leuchtet einen Radius von schätzungsweise einem halben Meter um mich herum aus. Unauffällig ist das nicht. Soweit die Fakten.

Dann kommt mir eine Idee. Ich nehme ein Handtuch vom Haken und werfe es mir über den Kopf. Entgegen meiner Erwartung, das Textil würde auf dem leuchtenden Ring aufliegen, sehe ich nun einfach aus wie ein Trottel, der sich ein Handtuch auf den Kopf gelegt hat. Ganz normal, eigentlich. Doch die Helligkeit kämpft sich durch die groben Maschen des Stoffs und sieht ein bisschen aus wie die Härchen, die sich durch die Nylonstrumpfhose eines schlecht rasierten Frauenbeins drücken. Nur eben leuchtend.

Malenas Beine sind ja immer superglatt. Als hätte sie keine genetische Veranlagung zum Beinhaarwuchs.

Malena.

Meine Herzklappen übernehmen sich mit der Blutzufuhr.

Als würde sich der Gedanke an sie damit schneller vertreiben lassen, schüttele ich hastig den Kopf.

Dennoch mag ich das Handtuchergebnis. Die Aura ist mithilfe des Frottees weitestgehend verschwunden. Also bastele ich mir einen provisorischen Turban, so wie ich es schon oft gesehen habe, wenn Malena aus der Dusche kam, und betrachte das Ergebnis im Spiegel. Vorübergehend ist das akzeptabel. Zumindest würde ich es so bis zum Bäcker schaffen, ohne allzu große Aufmerksamkeit zu erregen.

Mein Alter Ego lacht mich aus. Vor wenigen Stunden wollte ich mich noch von der Brücke stürzen, jetzt kümmere ich mich um die Meinung anderer Leute.

Hier und da blitzen noch einzelne Lichtstrahlen aus den Umwicklungen hervor. Ich ziehe die Handtuchenden fester, und die Strahlen verschwinden.

Was jedoch bleibt, ist das riesige Fragezeichen auf meiner Stirn. Was, zur Hölle, ist das? Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals etwas von einer derartigen Erscheinung gehört zu haben.

Dabei gibt es ja die unglaublichsten Dinge: Menschen, die auf einmal keine Kälte mehr spüren oder von jetzt auf gleich dauerhaften Schluckauf bekommen. Über Nacht ergrauen. Oder verblöden. Aber von einem spontanen Heiligenschein habe ich wirklich noch nie gehört.

Verdutzt glotze ich mein Spiegelbild an, das meine Gedanken verbalisiert: »Heilig über Nacht?« Dann hebt es die Schultern und zieht unschlüssig die Unterlippe nach unten.

Noch einmal nehme ich das Handtuch herunter und betrachte den Schein genau. Es ist schwer zu widersprechen, aber diese Aura wirkt tatsächlich in etwa so wie die Nimbusse, die ich bereits zu Hunderten auf alten Gemälden und in Kirchen gesehen habe. Zuletzt bei meinem Kunststudium, als wir die italienische Renaissance durchgenommen haben.

Ja, in der Tat, je länger ich diesen Vollmond in meinem Nacken betrachte, desto mehr sieht er aus wie ein Heiligenschein. Nicht so ein Teil, das einige Zentimeter über dem Kopf schwebt. Nein, mein Schein geht in einer einzigen fließenden Bewegung von mir aus. Beinahe so, als leuchte mein Hinterkopf von innen.

Das ist spooky.

Aber noch sehe ich keinen Grund zur Beunruhigung. Es ist ja nicht so, dass mir irgendetwas wehtut. Also versuche ich, mein schweißkaltes Spiegelbild zu beruhigen: »Das wird irgendeine Allergie sein.«

Der Gedanke gefällt mir. Und so abwegig ist das nicht, schließlich bin ich gegen alles Mögliche allergisch. Ich kann mich nicht länger als fünf Minuten im selben Raum mit einem felligen Lebewesen aufhalten, egal ob Hund, Katze oder Chinchilla – interessanterweise auch nicht mit Tante Ulla aus Wesseling. Ich kann keine Milchprodukte zu mir nehmen, ohne einen sturzflutartigen Durchfall auszulösen. Nickel auf meiner Haut geht gar nicht, da sich dadurch innerhalb von Sekunden juckende und nässende Rötungen bilden, die ich mir blutig kratzen muss. Und zur Zeit der Pollenflüge droht mir regelmäßig der Erstickungstod, sodass ich die meisten Frühlinge meines jungen Daseins in geschlossenen Räumen verbracht habe. Ja, vermutlich bin ich sogar allergisch gegen das Leben selbst.

»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragt mein Spiegelbild, das sich mit meiner Antwort nicht so recht zufriedengeben will.

Ich zur Beruhigung: »Mach dir mal keinen Kopf, das wird schon nichts Schlimmes sein. Wenn es heute Nachmittag noch da ist, gehen wir zum Arzt und lassen uns ein paar Tabletten verschreiben.«

Spiegelbild: »Und wenn der auch keinen Rat weiß?«

»Keine Ahnung«, gestehe ich mir schließlich selbst ein. »Dann lassen wir uns eben einen Bart wachsen und pilgern nach Santiago de Compostela?«

Das Spiegelbild nickt zufrieden. »Klingt nach einem Plan.«