Leseprobe Sünderblut

Sonntagmorgen

1

Die Frau hockte am Bordstein und keifte, er habe sie den ganzen Abend beobachtet. Er sei ihr mit seinen Blicken regelrecht auf die Pelle gerückt. Sebastian hatte keine Ahnung, wie er in diese Situation geraten war. Offenbar glaubten die beiden Männer, die Ehre der Frau verteidigen zu müssen.

»Was hast du gemacht?«, fragte der Riese.

»Gar nichts, wirklich nicht.«

»Denkst du, sie lügt uns an?«

Der Riese hielt ihn am Kragen, während ihn der deutlich kleinere Mann gegen die Mauer drückte. Die muskulösen Oberarme des Größeren zeichneten sich unter seinen Pullover ab, jede seiner Bewegungen strotzte vor Kraft.

»Ich frag dich ein letztes Mal«, drohte der Riese. »Was hast du gemacht?«

»Angegrabscht hat er mich«, schrie die Frau.

»Du Schwein«, brüllte der Zwerg. »Du perverses Schwein, du.«

Allmählich verdampfte in Sebastian die Wirkung des Alkohols. Er sehnte sich nach seinem Bett, nach einem Sonntag auf der Couch. Erst ausschlafen, dann bei einer Folge X-Factor die Reste aus dem Kühlschrank plündern. In einem Anflug von Trotz sagte er:

»Ich hab’s nicht nötig, so eine Schlampe anzumachen.«

Eine Faust traf Sebastian am Kinn, woraufhin sein Gesicht gegen die Mauer klatschte. Dann packte ihn der Riese an den Haaren, zog seinen Kopf zurück und stieß ihn gegen den Beton. Schwarze Flügel zerschnitten Sebastians Blick, als stünde er inmitten einer Schar Krähen. Er kniff die Augen zusammen, doch das Geflatter wollte nicht enden. Die Arme schützend über den Kopf gehoben, rutschte er zu Boden.

»Niemand nennt Vanessa eine Schlampe«, sagte der Riese.

»Ja ja«, stöhnte Sebastian, »ich hab’s kapiert.«

»Das kannst du deiner Mutter erzählen.«

»Ehrlich, ich nehme alles zurück.«

Einen Moment lang klärte das Adrenalin Sebastians Blick. Er sah den Riesen mit dem Fuß Schwung holen, sah einen Turnschuh, der plötzlich das Licht aus seinen Augen riss. Als ihm das Jochbein brach, zerstob auch der letzte Gedanke an einen gemütlichen Sonntag. Jetzt lenkten ihn nur noch Angst und Schmerzen. Er hatte den Wunsch, sich zu entschuldigen, wollte um Nachsicht betteln, wollte sagen, dass es ihm leidtue. Aber sein Mund brachte nur Gestammel hervor. Gleichzeitig prasselte eine Triole des Jähzorns auf ihn nieder:

»Er hat mich eine Schlampe genannt.«

»Das wird ihm eine Lehre sein.«

»Du perverses Schwein, du.«

Sebastian sackte seitwärts, wandte sein Gesicht zur Mauer, krümmte sich zusammen. Schwere Tritte trafen ihn am Hinterkopf, und er verlor für Sekunden das Bewusstsein.

Sobald er wieder aufwachte, spürte er eine warme Flüssigkeit über seine Lippen rinnen. Blut, Speichel, vielleicht Urin. Seine Zunge fühlte sich taub an, unter seiner Nase zerplatzten blutige Bläschen. Dann aus der Ferne eine Stimme:

»Scheiße, ich hab mich dreckig gemacht.«

 

2

Zwei Straßen weiter verabschiedete sich die Frau von den Männern. Der größere machte Anstalten, sie zu begleiten. Er umschlang ihre Hüfte, hauchte ihr Liebesschwüre ins Ohr. Als sie ihn wegschubste, brüllte er, sie solle sich nicht so haben, früher sei sie gern mit ihm in die Kiste gesprungen. Erst recht betrunken.

Der kleinere Mann fasste ihn bei den Schultern und versuchte, ihn in eine andere Richtung zu zerren. Daraufhin schnauzte ihn der größere an. Sie gerieten in ein halbherziges Gerangel, bis sie bemerkten, dass die Frau fort war. Das gefiel dem Großen nicht. Er verpasste seinem Begleiter eine Schelle, was der Kleinere mit einem affektierten Lachen quittierte. Nach etwa zehn Minuten Fußweg schlugen auch die Männer getrennte Wege ein.

Den größeren umhüllte das Morgengrauen wie ein störrisches Fell. Er ballte die Fäuste und zuckte unkontrolliert mit den Schultern. Ohne sich umzuschauen, wechselte er die Straßenseite, trat einen Mülleimer vom Laternenmast und kickte ihn über den Bordstein.

Im Eingangsbereich eines Zehngeschossers verharrte er vor dem Klingelschild, als würde ihm jeden Moment geöffnet werden. Anscheinend erwartete ihn niemand: keine Familie, keine Freunde, kein neues Opfer. Selbst die Frau, die er hatte beschützen wollen, schlief lieber in ihrem eigenen Bett. Der Gewaltausbruch hatte ihn erschöpft, den Rest besorgte der Alkohol. Er brauchte eine Viertelstunde ins achte Stockwerk hinauf, danach eine Ewigkeit, um die Tür zu öffnen. Er furzte und lachte und sagte:

»Du blöde Schlampe.«

Während er über die Schwelle torkelte, öffnete sich hinter ihm die Tür zum Treppenhaus. In seinem Rausch nahm er weder den Durchzug noch das Klappen der Tür wahr. Er merkte nicht einmal, dass ein anderer für ihn die Wohnung schloss.

Geräuschlos. Und von innen.

Montag

1

Er passierte unter einer Brücke hindurch die A4 und lief weiter nach Süden. Smog bläute die Luft, und er versuchte möglichst flach zu atmen. Ob er seine Lunge tatsächlich schonte, wusste er nicht. Henry Kilmer war kein Arzt. Henry Kilmer war Polizist.

Sobald das Rauschen des Verkehrs abebbte, drosselte er das Tempo. Er durchquerte ein Gewerbegebiet, rechts ein Autohaus, darauf ein Baumarkt mit Außenlager. Das Funkeln der Großstadt lag nun hinter ihm, und er begann sich zu entspannen. Zehn Minuten später erreichte er Zöllnitz, eine Gemeinde am Rande Jenas.

Er lief an Fachwerkhäusern und Einfahrten vorbei, umrundete den Dorfplatz, die Kirche und die schwarze Kaisereiche. Über eine Brücke, unter der ein Bächlein floss, verließ er den Ort. Aus Asphalt wurde Sand, aus Fachwerk ein Wirrwarr knorriger Apfelbäume. Ringsum auf den Weiden ein Nebel, der an gärende Milch erinnerte. Ende September waren die Temperaturen rapide gesunken, nachts bis unter fünf Grad. Henry spürte den Anflug eines Kälteschauers und steigerte das Tempo, bis er in Sichtweite eines Waldes kam.

Unter Tannen und Fichten führte ein Pfad auf eine Höhe von dreihundert Metern. Er schaltete seine Stirnlampe ein und tauchte in die Dunkelheit. Bäume, vom letzten Sturm entwurzelt, versperrten ihm den Weg; mal duckte er sich unter den Stämmen hindurch, mal kletterte er über sie hinweg. Krallenartige Wurzeln griffen nach seinen Schuhen, unsichtbare Löcher stellten ihm Fallen.

Henry war noch nicht am Gipfel angelangt, da befiel ihn die Erinnerung an einen ehemaligen Mitschüler. Patrick mit der flinken Faust und der gemeinen Lache. Patrick, der Schrecken seiner Kindheit. Trotz der Anstrengung glaubte Henry, die Narbe hinter seinem rechten Ohr zu spüren. Zigarettenausdrücken – darin hatte Patrick Kramer großes Talent bewiesen. Ein Zustand zwischen Frust und Scham erfasste Henry, aber er lieferte sich diesen Gefühlen nicht aus. Er hatte gelernt, das böse Blut mit einem Paar Laufschuhen und einer unwegsamen Strecke zu bändigen. Auf den letzten Metern beschleunigte er und hielt erst am Ziel ein.

Unter den mächtigen Bäumen wirkte das aus zwei Stämmen geschlagene Gipfelkreuz geradezu kümmerlich. Gleich einem Boxer begann Henry vor dem Kreuz zu tänzeln, schlug dabei wilde Haken in die Luft, als hätte er noch Kraft für zehn solcher Gipfel. Als wäre Patrick nicht der Schrecken seiner Kindheit, sondern ein Niemand aus der letzten Reihe. Je stärker seine Muskeln brannten, desto mehr beruhigte sich das Glühen hinter seinem Ohr. Aus dem schrecklichen Patrick wurde der Junge, dessen Leben Henry auf dem Gewissen hatte. Der Frust verging, doch die Scham blieb. Schließlich stakste er auf der Nordseite abwärts, passierte zwei Ortschaften und rannte unter der A4 hindurch nach Lobeda-Ost.

 

2

Punkt 6:30 Uhr trat Henry aus dem Fahrstuhl in das getäfelte Foyer. Sein Apartment befand sich in einem ehemaligen Hotel, das sich von den umliegenden Plattenbauten kaum unterschied. Mitte der Neunziger waren die Betreiber Bankrott gegangen, woraufhin eine Gesellschaft das Anwesen erworben hatte. Binnen kurzer Zeit waren sämtliche Gästezimmer zu kleinen Wohnungen umgestaltet worden. Heute verrieten allenfalls die Täfelung im Foyer und der alte Tresen die einstige Nutzung.

Als sich vor Henry die automatische Eingangstür öffnete, erhaschte er einen Blick auf sein Spiegelbild. Das Haar fiel in den Seitenscheitel, die buschigen Brauen stachen hervor. Das braune Jackett über der schwarzen Jeans machte ihn in der Scheibe fast unsichtbar. Henry war kein Mensch, der durch seine Kleidung im Gedächtnis anderer zu bleiben hoffte.

Er trat aus dem Wohnblock, schob seine Umhängetasche auf den Rücken und winkte zur Straße hinunter. Linda Liedke, seine Kollegin, stand mit ihrem Passat in der zweiten Reihe. Grauer Qualm waberte aus dem Fenster auf der Fahrerseite. Während Henry einstieg, drückte Linda ihre Zigarette im Aschenbecher aus und wedelte gleichzeitig die Luft nach draußen.

»Entschuldige«, begrüßte sie ihn.

»Das stört mich nicht«, entgegnete er.

»Unhöflich ist es trotzdem.«

Henry zuckte die Achseln und platzierte seine Umhängetasche im Fußraum. Linda hatte ihr Handy mit dem Radio verknüpft, und aus den Boxen raunte Chris Reas Stimme. On the Beach. In jeder Hinsicht das Kontrastprogramm zu dieser Gegend, dieser frühen Stunde: Sommerwinde, Strand und heiße Nächte statt Plattenbau und Frühnebel.

»Gut geschlafen?«, fragte Linda.

»Sechseinhalb Stunden.«

»Ist das gut?«

»Fast wie Wochenende.« Mit einem Grinsen schnallte sich Henry an.

Nachdem Linda das Fenster geschlossen hatte, startete sie den Wagen und fuhr in Richtung Zentrum. Sie bat ihn, er solle sich ihren Rucksack schnappen. Sie habe ein Geschenk für ihn. Henry holte den Rucksack von der Rückbank, stellte ihn auf seinen Schoß und zog ein vergilbtes Taschenbuch heraus.

»Meinst du das?«

»Nein, ich mein das Schminkzeug.«

Linda ließ das Lachen einer Krähe hören, wobei ihr das blondierte Haar über die Lederjacke hüpfte. Mit ihren zweiundfünfzig Jahren hätte sie Henrys Mutter sein können, und er dank seines Humors – wie sie einmal spöttisch bemerkt hatte – ihr Großvater. Im Gegensatz zu ihrem Opa, der längst unter der Erde weilte, schien Henry allerdings lernfähig.

Lindas Lachen kippte in ein heftiges Husten, und sie hielt sich die Armbeuge vor den Mund. »Hab ich aufm Trödel erstanden«, sagte sie heiser.

»Und erlöse uns von dem Bösen«, las Henry vor. »Die Geschichte des Yorkshire Rippers.«

»Klingt nach Schund«, kommentierte Linda.

»Und da musstest du an mich denken?«

»Keine Sorge, wir haben alle unsere Laster.«

Henry bedankte sich und verlor kein Wort darüber, dass er den Bericht längst gelesen hatte. Offenbar sah Linda in seiner Vorliebe für True Crime Stories ein Laster, womit sie möglicherweise nicht ganz falsch lag. Neben diesem Buch reihten sich in seinem Bücherregal hunderte ähnlicher Titel: The Family über die Tate-Morde. Wer ist Jeffrey Dahmer, Jack the Ripper – Die blutige Wahrheit und viele mehr. Er ließ die Seiten unter dem Daumen hinweggleiten, überflog die Fotos von Opfern und Tatorten, das Grauen in kühlem Schwarzweiß.

»Bekommst du von dem Zeug keine Albträume?«

»Nein, im Gegenteil.«

»Das klingt nach ’nem perversen Geheimnis.«

»Ich sammle solche Bücher seit meiner Kindheit«, erklärte Henry. »Damals hab ich geglaubt, sie würden mich vor diesen Menschen schützen.«

»Du meinst vor Serienmördern?«

»Ja, im Grunde schon.«

»Verstehe. Das war quasi die Geburt des Kriminalisten.«

»Eigentlich war es der Versuch, weniger ängstlich zu sein.«

»Die Wahrscheinlichkeit, dass du einem Serienmörder begegnest, ist fast null. Das weißt du, oder?«

»Klar« stimmte Henry zu. »Das mit den Büchern ist heute reine Nostalgie.«

Er rang sich ein Grinsen ab und schob das Geschenk in seine Umhängetasche.

Als Linda die gewohnte Route zum Präsidium verließ und stattdessen in die Einfahrt zum Uniklinikum schwenkte, fragte Henry, was denn anliege.

»Gefährliche Körperverletzung«, antwortete Linda.

»Ist das Opfer ansprechbar?«

»Laut meinen Informationen schon.«

»Gibt es Zeugen?«

»Dreimal darfst du raten.«

Linda informierte ihn, wie der Geschädigte hieß und wo der Übergriff stattgefunden hatte. Henry rieb sich erwartungsvoll die Hände. »Soll ich ihn befragen?«

»Ich bitte darum.«

 

3

Obwohl Henry in der Nähe wohnte, war er zum ersten Mal auf dem Klinikgelände. Turmkräne, Zäune und Bauwagen drängten sich an die bereits existierenden Gebäude. Frauen und Männer mit Helmen und Warnwesten liefen von A nach B, lenkten schwere Transporter oder winkten Autos durch die Absperrungen. Der Neu- und Umbau des Uniklinikums war das Mammutprojekt Thüringens.

Linda begab sich in die Cafeteria, während Henry eines der oberen Stockwerke ansteuerte. So wie ihn schon die Baustelle verblüfft hatte, beeindruckten ihn nun die lichtdurchfluteten Flure. Die Glastüren und Panoramafenster schufen eine Atmosphäre der Transparenz, die jeden Gedanken an schummerige Krankenhäuser vertrieb.

Mit dem gläsernen Fahrstuhl fuhr er in die dritte Etage. Station 230, Unfallchirurgie. Dort zückte er seinen Ausweis und ließ sich von einer Pflegekraft zum Krankenzimmer führen. Unterwegs informierte die Frau ihn über die Verletzungen von Herrn Rode: gebrochenes Jochbein, Bruch des äußeren Nasenknochens, Fraktur des Unterkiefers, Prellung der Rippen. Leichte Gehirnerschütterung, die eine Ohnmacht verursacht hatte. Gedächtnislücken waren nicht auszuschließen. Henry wartete vor dem Zimmer, bis die Pflegekraft sich verabschiedete.

»Guten Morgen, Herr Rode.«

Eine kraftlose Stimme grüßte zurück, woraufhin Henry sich mit Namen und Dienststelle vorstellte. In Nasenhöhe umhüllte ein Verband das Gesicht des Opfers. Eine Tamponade zwang den Siebenundzwanzigjährigen zur Mundatmung. Zweifellos würde sich Henrys Alter, das nur fünf Jahre über dem des Opfers lag, bei dieser Befragung kaum positiv auswirken. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war Sebastian Rode von gleichaltrigen Männern in die Mangel genommen worden.

Laut eigener Aussage hatte er am Samstag um 23:00 Uhr den Rosenkeller besucht. Der Rosenkeller, meist Rose genannt, war ein bei Studenten beliebter Klub. Der gebürtige Jenenser studierte an der hiesigen Universität Erziehungswissenschaften. Er berichtete, gegen 4:30 Uhr den Klub verlassen zu haben. Am Botanischen Garten sei er dann in die Fänge dieser Gruppe geraten. »Zwei Männer und eine Frau.«

»Sind Sie den Personen schon im Klub begegnet?«

»Nein, ich habe die vorher noch nie gesehen.«

»Haben Sie einen Verdacht, weshalb man Ihnen nachstellte?«

Rode richtete sich auf und stieß mit dem Ellbogen das Kopfkissen zurecht. »Ich glaub, die waren einfach in Prügellaune.«

»Die Frau auch?«

»Die Schlampe hat sie überhaupt erst aufgestachelt.«

»Inwiefern?«

»Sie hat irgendwelchen Mist behauptet.«

»Was für Mist?«

»Na, Mist eben.«

»Können Sie das genauer erläutern?«

»Angeblich hätte ich sie angebaggert.«

»Und? Haben Sie?«

Rode zögerte mit einer Antwort. Bei Geschädigten hielt sich oft die Meinung, sie gäben bessere Opfer ab, wenn sie gleichzeitig vorbildliche Bürger wären. Für Henry fiel das nicht ins Gewicht. Einbruch blieb Einbruch, Diebstahl blieb Diebstahl, auch wenn das Opfer die eigenen Kinder verdrosch. In bemüht sachlichem Tonfall wiederholte Henry die Frage.

»Quatsch«, feuerte Rode zurück. »Ich steh nicht auf Schlampen.«

»Sind Sie in der Lage, die Personen zu beschreiben?«

»Nicht richtig … Ging alles furchtbar schnell.«

»Falls die Gruppe im Klub war, ist sie garantiert jemandem aufgefallen.«

»Die Frau allemal.« Rode rutschte hin und her, als suche er noch immer eine bequeme Position.

»Weshalb? Trug sie auffällige Kleidung?«

»Nein, der hat ihr Blinker-Blinker gereicht.«

»Soll heißen?«

»Na, schöne Augen hat sie allen gemacht. Wollte wohl gratis ein paar Drinks abstauben. Und jetzt …« Er stieß seinen Ellbogen ins Kopfkissen »… Schauen Sie mich an. Sowas kriegt man als Dank für seine Großzügigkeit: einen Freiflug ins Krankenhaus.«

Auf diesen Zorn war Henry nicht vorbereitet gewesen. Er wandte den Blick ab und betrachtete die Blumen neben dem Bett. Seine Intuition sagte ihm, dass der Strauß eher das Mitbringsel einer besorgten Mutter war als das einer festen Partnerin. Henry sammelte sich und gab der nächsten Frage den Anschein einer Behauptung. »Sie sind der Frau also bereits im Klub begegnet.«

»Ja, aber nur ganz kurz«, antwortete Rode.

»Reicht dieses ganz kurz aus, um sie zu beschreiben?«

»Die Schlampen sehen doch alle gleich aus.«

Henry versuchte sich von Rodes Zorn nicht einschüchtern zu lassen. Er mimte ein kummervolles Gesicht und öffnete sein Notizbuch. Beim Anblick von Stift und Papier fühlten sich auch die unwichtigsten Zeugen wichtig, was bei Rodes Geltungsbedürfnis gewiss keine Rolle spielte.

Er erklärte, sie sei knappe 1,70 Meter groß gewesen. Habe einen Rock und ein hauchdünnes Oberteil getragen. Er beschrieb die Frau so eindringlich, dass ganz kurz eine völlig neue Dimension gewann. Henry skizzierte nach seinen Worten eine Person, die am Ende einer Comicfigur glich.

»So in etwa?« fragte er ihn.

»Größerer Vorbau.«

Henry beschrieb ein W auf ihrem Brustkorb.

»Und ein Piercing.«

»Wo?«

»An der rechten Brustwarze.«

»Sie wirken so sicher.«

»Das Ding schimmerte durch den Stoff. Praktisch unübersehbar.«

»War es ein Ring oder ein Stecker?«

»Stecker, eindeutig.«

Henry fügte ein Piercing in Form eines kurzen Strichs hinzu. Er war kein guter Zeichner, und bestenfalls hatte Linda schon den offiziellen bestellt. Der nannte sich heutzutage Bildersteller und trug statt Papier und Stift einen Laptop bei sich. Immerhin verrieten Henrys Skizzen neben seinem mangelnden Talent einiges über die Wahrnehmung von Opfer und Zeugen. In Rodes Fall blieb das Gesicht der Frau so charakterlos wie eine leere Sprechblase. An den Brüsten hatte Henry mehr Korrekturen vornehmen müssen als am restlichen Körper zusammen.

Seine Beschreibung der Männer entbehrte dagegen jeglicher Details. Den größeren bezeichnete Rode als muskulösen Riesen, den kleineren als Zwerg. Der Riese habe einen weißen Pullover und Sneakers getragen, der Zwerg ein T-Shirt mit Aufdruck. Das Motiv sei ihm entfallen, meinte Rode. Längst hatte der Zorn ihm den Sabber in die Mundwinkel getrieben. Sebastian Rode gehörte nicht zu den Opfern, die großes Mitleid erweckten. Zum Schluss klärte Henry ihn über den Fortgang der Ermittlungen auf, wünschte ihm gute Besserung und verabschiedete sich.

Linda wartete draußen im Eingangsbereich mit einem Kaffee und einer Zigarette. Zu ihren Füßen dampfte ein Becher Tee. Henry präsentierte ihr seine Zeichnung, woraufhin sie meinte, dass die Identität der Frau wohl rasch zu ermitteln sei. Eine Frau ohne Beine müsse ja auffallen. Das sei nicht auf seinem Mist gewachsen, entschuldigte sich Henry, sondern allein die Sicht des Opfers. An ihrem Kaffee nippend, antwortete Linda mit einem Augenrollen.

 

4

Linda lenkte den Wagen über die Erlanger Allee. Aus den Boxen schnarrte ihre niemals endende Playlist mit Chris Rea-Songs. Henry schaute zum Fenster hinaus und ließ sich von der Musik und der Gegend berieseln. Sie fuhren in die Altstadt und weiter zur Straße Am Anger. Mit dieser Gegend wurde in Reiseführern und Prospekten geworben: Jena, die Stadt der Frühromantiker, der Naturwissenschaftler und Philosophen.

Das Präsidium befand sich östlich der Innenstadt und westlich der Saale, einem Nebenfluss der Elbe. Henry erinnerte das Gebäude an eine Schule, insbesondere die grauen Korridore und die ewig langen Treppen. Im Büro angekommen, füllte er zunächst Wasser in die Kaffeemaschine, dann hängte er das Jackett über seinen Drehstuhl und nahm Platz.

Gleich an seinem ersten Arbeitstag hatten er und Linda ihre Schreibtische zusammengeschoben, sodass sie einander gegenübersaßen. In Anbetracht der Bürogröße wäre das zwar nicht nötig gewesen, aber Linda hatte ihn mit ihrer Erfahrung überzeugt. Auf diese Weise ließe sich effizienter arbeiten, hatte sie argumentiert. Informationen würden schneller von einem Tisch zum anderen wandern, törichte Ideen schneller im Papierkorb landen. Außerdem könne sie so, da die Laptops Rücken an Rücken standen, unbeobachtet im Internet surfen.

Auf Lindas Seite war die Wand mit bunten Urlaubsfotos verziert. Sonne, Strand und Palmen, und dazwischen lächelten immer wieder die Gesichter ihrer Familie. Stefan, ihr Mann, und Leonie, ihre fünfzehnjährige Tochter.

Während die Kaffeemaschine leise gluckerte, wählte Henry eine der Nummern, die er vom Inhaber des Rosenkellers erhalten hatte. Ein möglicher Zeuge, der in der Tatnacht am Einlass der Rose gearbeitet hatte. Sobald Henry ihm Namen und Dienststelle genannt hatte, erklärte er dem jungen Mann, es ginge um eine Frau und zwei Männer. Nein, er müsse nicht ins Präsidium kommen, er und seine Kollegin würden vorbeikommen. Nein, es würde nicht lange dauern. Nein, sie seien in Zivil und völlig unauffällig. Und ja, sie würden pünktlich sein.

Die zweite Telefonnummer gehörte einer Nadine Wegener. Sie hatte in der Nacht von Samstag auf Sonntag hinter der Bar gestanden. Sie wirkte keineswegs erschrocken über den Anruf der Polizei. Bereits am Sonntagmorgen habe sie von der Tat erfahren. Sie sei noch mit einem Kollegen ins Flower Power gezogen, für einen Absacker, wie sie meinte. Auf dem Weg dorthin habe sie den Rettungswagen gesehen und sofort an eine Prügelei gedacht. Selbstverständlich habe sie Zeit, sagte sie in ironischem Tonfall. Sie sei Studentin.

Als Linda mit einem Paket Kuchen ins Büro trat, hatte Henry zwei Termine ausgehandelt. Seine Planung würde sie erfreuen: Beide Besuche waren in einem Rutsch abzuwickeln.

»Aber vorher was zum Beißen.« Sie hielt Henry eine Aluschale hin. »Frisch aus der Kantine.«

»Sieht lecker aus«, sagte er ohne Überzeugung.

»Aber?«

»Ich bin auf Diät.«

»Du bist doch nur Haut und Knochen.«

Henry berührte seinen Pullover. »Schwarz macht eben schlank.«

»Das klingt nach einer faulen Ausrede.«

»Okay, du hast mich ertappt. Ich mag keine Streusel.«

»Und wenn ich die Dinger für dich abpule?«

»Sorry, ich bin allergisch auf Zucker.«

Diesen Dialog führten sie mindestens alle zwei Wochen. Seiner Behauptung zuwider meinte Linda, sie sähe genau, dass ihm der Speichel im Mund zusammenliefe. »Los, nimm schon, dein Blick ist ja unerträglich!«

»Entschuldige mich«, sagte er übertrieben höflich. »Ich muss aufs Klo.«

»Keine Eile«, rief sie ihm nach. »Der Kuchen vergammelt nicht.«

 

5

Gegen 11:15 Uhr verließen die Kommissare die Westendstraße 3. Der mögliche Zeuge hatte sich – nach Lindas Worten – als Nullnummer erwiesen. Er wollte niemanden gesehen haben, auf den Sebastian Rodes Beschreibung passte. Zu Fuß liefen sie in die Talstraße, wo die zweite Zeugin einen sanierten Altbau bewohnte.

Das Auftreten der Polizisten schien Nadine Wegener keineswegs zu verunsichern. In ihrem Job als Barkeeperin gehörten aufdringliche Typen bestimmt zur Routine, dachte Henry.

Die junge Frau bat die Beamten in die Küche und servierte ihnen zwei Tassen Kaffee. Als Henry dankend ablehnte, sagte er auf ihren fragenden Blick hin, dass er passionierter Teetrinker sei. Seine Bitte, sie solle sich bloß keine Umstände machen, blieb erfolglos. Mit einem Seufzen stellte Nadine Wegener den Wasserkocher an.

Henry musterte die Tattoos auf ihrem Oberarm und ihrer Schulter. Efeuähnliche Schnörkel umrankten die Zeichnung eines Pin-up-Girls. Henry dachte unwillkürlich an den Serienkiller Billy Cook, der Anfang der fünfziger Jahre sechs Menschen getötet hatte. Auf den Fingern seiner linken Hand waren die Wörter Hard Luck tätowiert gewesen. Zwei Buchstaben für jeden Finger.

Linda begann in aller Nüchternheit, das Äußere der Gesuchten zu beschreiben.

»Die ist jeden Samstag da«, erklärte Nadine Wegener.

»Kennen Sie ihren Namen?«

»Nein.«

»Und den ihrer Begleiter?«

»Sind fast nie dieselben.«

»Nicht dieselben, mit denen sie kommt? Oder nicht dieselben, mit denen sie geht?«

»Nicht dieselben, mit denen sie am Tresen abhängt.«

Lindas Gesicht formte ein Grinsen, als Frau Wegener Henry eine Tasse Kamillentee hinschob. Er öffnete sein Buch und tat, als würde er eine Notiz ablesen. »Wir suchen einen hageren Mann und einen mit kräftiger Statur.«

»Sie meinen, einen Fettsack?«

»Nein, eher ein muskulöser Typ.«

Nadine Wegener kniff die Augen zusammen und schaute zum Fenster. Dieses Verhalten beobachtete Henry des Öfteren: demonstratives Grübeln. Der Versuch, zu signalisieren, man bemühe auf energische Weise das Gedächtnis.

Nach einer Weile meinte die Zeugin, sie könne sich an beide Typen erinnern. Leider wisse sie ihre Namen nicht, aber den Kleineren habe sie schon außerhalb vom Klub gesehen. Sie verfiel wieder in ihr nachdenkliches Schweigen, und Henrys erwartungsvoller Blick prallte an ihr ab wie das Betteln um ein Freibier.

»Und?«, sagte Linda ungehalten.

Die Frau zuckte zusammen.

»Wir warten!«

»Ich glaub, der arbeitet in diesem Spieleladen.«

»Im Einkaufscenter?«

»Ja, genau.«

Linda bedankte sich und zückte eine Visitenkarte. Auf der Rückseite notierte sie ihre Telefonnummer. Natürlich hätte die Nummer auch auf der Karte abgedruckt sein können. Das Nachtragen bewirkte allerdings beim Zeugen den Eindruck, es handle sich um ein Exklusivangebot der Kommissarin. Als sei man ein ganz besonderer Zeuge, einer, dessen Hilfe unentbehrlich war. Henry schätzte Linda für diese kleinen Tricks, die er in keinem Lehrbuch finden würde.

 

6

Das Gamestar im Einkaufscenter Goethe-Galerie führte Computer- und Konsolenspiele. Linda und Henry schauten sich in aller Ruhe um, schlenderten zwischen den Regalen umher und präsentierten einander die skurrilsten Cover. Linda erzählte, dass ihre Tochter für Egoshooter schwärme. Stefan, ihr Mann, sei Leonies stärkster Gegner. Zu zweit würden sie ganze Sonntage verzocken. Henry stellte sich Lindas Mann als eine Art Superdad vor. Er selbst fand Ballerspiele langweilig. Er zeigte ihr eine klobige Schachtel, die fünfundzwanzig Klassiker enthielt. »Ich mag Boulderdash und Tetris

»Hätte ich mir denken können«, sagte Linda. »Direkt aus der Mottenkiste.«

Henry schob die Box zurück, und sie suchten gemeinsam die Kasse auf. Der Verkäufer trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck Last Survivor. Die Haare fielen ihm lässig in die Stirn, seine Arme waren dürr und blass. Oberflächlich betrachtet entsprach er kaum dem Bild eines Schlägers. Aber was bedeutete das schon, ermahnte sich Henry. Wenn Drogen im Spiel waren, konnte sich ein Dackel blitzartig in einen Wolf verwandeln. Die Kommissare zückten ihre Ausweise und sagten, was man auch hätte ablesen können: Namen und Dienststelle.

Der Verkäufer, an dessen T-Shirt ein Namensschild klemmte, erklärte mit unsicherer Stimme, sie würden keine indizierten Spiele führen. Er strich sich die Haare aus der Stirn und zog einen Ordner unter der Theke hervor. »Hier drinnen ist unser gesamtes Sortiment aufgelistet.«

»Tut uns leid, Herr Zabel«, erklärte Linda. »Wir sind wegen einer anderen Sache hier.«

Thomas Zabels Blick irrte im Laden umher. Kein Kunde verschaffte ihm Zeit, sich eine Ausrede zurechtzulegen, kein Lieferant wartete vor der Glastür.

»Sebastian Rode liegt im Krankenhaus«, sagte Linda und fixierte Zabel.

»Armer Kerl.«

»Sie wissen, wer Sebastian Rode ist?«

»Wir standen unter Alkohol.«

»Ist das ein Geständnis?«

Er senkte den Blick und zupfte am Ausschnitt seines T-Shirts.

»Wollen wir das in aller Öffentlichkeit besprechen?«, fragte Linda ihn. »Oder wollen Sie vielleicht den Laden schließen?«

»Nein, das geht nicht«, antwortete Zabel kleinlaut.

»Wir können Sie auch einpacken.«

»Einpacken?«

»Aufs Präsidium mitnehmen.«

»Aber ich hab nix getan.«

»Das ist manchmal zu wenig.«

Thomas Zabel schloss den Laden ab und führte sie durch die Hintertür in ein enges Kabuff. Um einen Plastiktisch und zwei Stühle türmten sich Kartons bis unter die Decke. Während Linda und Zabel Platz nahmen, lehnte sich Henry an die Wand. Allein die Belehrung über seine Rechte und Pflichten als Zeuge genügte, um den Mann einzuschüchtern. Als Linda endete, platzten die Worte förmlich aus ihm heraus. Er sei noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Nie und nimmer. Keine Drogen, keine Strafzettel. Aber Philipp, der sei ein echter Haudrauf-Typ. Wenn der loslege, bleibe kein Gegenstand an Ort und Stelle. Er bemühte einen Vergleich, den Henry nicht begriff. Vermutlich mit einem Charakter aus einem der Computerspiele.

Statt darauf einzugehen, wollte Linda von ihm den Nachnamen seines Freundes wissen.

»Stamm«, verriet er ohne Umschweife. »Einfach Stamm.«

»Und seine Anschrift lautet?«

»Keine Ahnung.«

»Ich dachte, Sie sind befreundet.«

»Ja, und?«

»Kennt man da nicht die Adresse des anderen?«

»Früher vielleicht.« Zabel warf Linda einen trotzigen Blick zu. »Aber seine Freundin weiß, wo Philipp wohnt. Die ist nämlich dabei gewesen.«

»Okay, Vor- und Nachnamen.«

»Thomas Zabel.«

»Von seiner Freundin bitte.«

»Eigentlich sind sie kein Paar mehr.«

Henry glaubte, eine Spur von Genugtuung in seiner Stimme zu hören. Zabel teilte ihnen den Namen der Frau mit und fragte anschließend, ob sie auch ihre Adresse bräuchten.

»Brauchten wir früher vielleicht.« Linda zückte eine Visitenkarte und notierte ihre Nummer auf der Rückseite. »Für den Fall der Fälle.«

»Ich hab alles gesagt.«

»Ich dachte, falls Ihr Kumpel auftaucht. Der wird sicher nicht erfreut sein, dass sie ihn verpfiffen haben.«

Nervös wischte sich Zabel die Haare aus der Stirn, wobei er abermals seine Unschuld beteuerte. Henry wies ihn darauf hin, dass er in den nächsten Tagen eine Vorladung bekäme.

»Weshalb das denn?«, fragte Zabel aufgebracht.

»Ich muss kurz überlegen«, erwiderte Linda und legte sich den Zeigefinger an die Lippen. »Zum Beispiel wegen unterlassener Hilfeleistung?«

 

7

Laut Meldeamt wohnte Philipp Stamm im Spitzweidenweg 20. Linda fand eine Parklücke, ließ das Fenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Gemeinsam warteten sie auf den Rückruf der Leitstelle. Falls Philipp Stamm einen Akteneintrag besaß, würden sie unverzüglich informiert werden. Es galt als fahrlässig, einen Verdächtigen ohne vorherige Abfrage aufzusuchen. Henry blätterte durch seine Notizen, rekapitulierte laut, was sie bereits wussten. Sobald die Daten vom Erkennungsdienst eintrafen, stöhnte Linda genervt auf. Stamm hatte bereits einen Eintrag wegen gefährlicher Körperverletzung. Er war zu zwei Jahren Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt worden. Henry checkte unauffällig seine Pistole. Magazin, Sicherung, Abzug. Dann schob er die P10 zurück ins Holster, raffte sein Jackett darüber und nickte Linda zu.

Philipp Stamm wohnte im achten Stockwerk eines Zehngeschossers, der das höchste Gebäude in der näheren Umgebung war. Ein leerer Kinderwagen stand im Eingangsbereich, darunter das Glas einer zerbrochenen Bierflasche. Linda drückte die Klingel eines anderen Mieters. Um sich unnötige Erklärungen zu sparen, meldete sie ein Paket an.

»Klingel nächstes Mal woanders, du Arschloch?«

»’tschuldigung.«

»Geschenkt!«

Der Summer ertönte dennoch.

Hinter der Tür trennten sich Henry und Linda. Sie nahm den Lift, er das Treppenhaus. Bei jeder Stufe spürte Henry das Holster unter seiner Achsel. Bisher hatte er noch nie auf eine Person geschossen, nicht einmal einen Warnschuss in die Luft abgegeben. Zur Eigensicherung hatte er einige Male zum Holster gefasst, doch war die Waffe letztlich stecken geblieben.

Polizisten äußerten sich in der Regel dankbar darüber, wenn ihnen das Schießen erspart blieb. Im Fernsehen pflegte man das Image des friedliebenden Freund und Helfers. Gleichwohl kannte Henry das Geprotze in der Umkleide: das Posieren mit gezückter Pistole vor dem Spiegel, das Nachstellen von Filmszenen fürs persönliche Fotoalbum. Oder die Besessenheit, mit der manche Kollegen ihre Waffen reinigten. Henrys Beziehung zu seiner Pistole kam der einer Zweckehe gleich. Er empfand das Gefühl, sie direkt am Körper zu spüren, als unangenehm und verwahrte sie nach Dienstende stets im Schließfach.

Dank seiner Kondition traf Henry vor Linda in der achten Etage ein. Der Fahrstuhl öffnete sich, und seine Kollegin stand da, die Rechte unter ihrer Lederjacke am Holster. Neben Stamms Wohnung befanden sich noch drei weitere auf der Etage. Ein fauliger Geruch blähte zwischen den Wänden. Linda rümpfte die Nase und nickte nach links, wo eine Tür zum Müllschlucker führte. Sie positionierten sich vor Stamms Wohnung und lauschten. Kein Geräusch drang durch die Tür, und auf ihr Klingeln hin meldete sich auch niemand. Linda versuchte es mit Klopfen, doch das blieb ebenso unerwidert.

 

Keine zehn Minuten später lehnte seine Kollegin am Wagen und rauchte eine Zigarette. Henry spähte an der Fassade des Hochhauses empor. Soweit er das aus der Entfernung beurteilen konnte, waren die Fenster von Philipp Stamms Wohnung stockdunkel. Er schob den Daumen in das Knopfloch seines Jacketts und grübelte laut vor sich hin.

»Vielleicht ist er vorgewarnt worden?«

»Etwa von Zabel?«

»Wäre doch möglich.«

»Tja, dann ist das so.«

»Wir sollten die Nachbarn befragen.«

»Lass uns erst seine Ex abchecken. Wenn die ein aktuelles Foto hat, kann Sebastian Rode ihn womöglich identifizieren.«

Henry schaute wieder hinauf ins achte Stockwerk. Er wurde das Gefühl nicht los, sie würden einen Schritt zu viel machen, einen Schritt, der eher Philipp Stamm als ihnen zugutekäme. Garantiert war der Mann längst untergetaucht. Linda pfiff übers Autodach hinweg und bedeutete ihm mit einem Nicken, er solle einsteigen.

Gerade als sie den Zündschlüssel zückte, meldete sich die Leitstelle: In Lobeda-West hatte es einen Todesfall gegeben. Offenbar Suizid. Da der Notarzt einen nicht natürlichen Tod vermutete, war die Kripo informiert worden. Für Henry und Linda hieß das: Tigerbalsam unter die Nase, Protokolle aufsetzen, den Angehörigen gegebenenfalls eine psychologische Betreuung anbieten. Der Besuch bei der Zeugin verschob sich auf den Nachmittag.

 

8

Erst kurz nach fünf Uhr trafen sie am Markt 23, nahe dem Rathaus, ein. Vanessa Fiebig hatte die Polizei bereits erwartet. Thomas Zabel habe völlig hysterisch angerufen und ihr mitgeteilt, dass die Bullen bei ihm aufgetaucht waren. Das äußerte sie völlig freimütig, während die Beamten ihr ins Wohnzimmer folgten. Sie bot ihnen jeweils einen Sessel an und rutschte selbst auf die Couch. Henry hatte noch nicht Platz genommen, da fragte sie ihn, ob er aus Berlin käme.

»Ja«, antwortete er knapp.

»Das hört man.«.

Henry rang sich ein Lächeln ab und hoffte, das Thema sei damit beendet.

»Wohnen Sie schon lange hier?«

»Ein Jahr.«

»In Berlin ist garantiert mehr los.«

Er blätterte sein Notizbuch auf, was Vanessa Fiebig sofort verstand. Die Fünfundzwanzigjährige trug eine enganliegende Jeans und ein ärmelloses Shirt, auf dessen Stoff sich das beschriebene Piercing abzeichnete. Das Haar hatte sie mithilfe eines Knotens hochgesteckt, der Hals lag frei. Sie erzählte, dass sie in einer Boutique als Verkäuferin arbeitete. Fünf bis sechs Tage die Woche, meistens bis zum frühen Abend. Viel Zeit, um sich zu amüsieren, bliebe da nicht. Freitags könne sie keinen draufmachen, weil sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit müsse. Also ließ sie es von Samstag auf Sonntag so richtig krachen. An diesem Wochenende hätte im Klub allerdings Langeweile geherrscht, beklagte sie sich. »Sind fast nur Kinder dort gewesen.«

»Sie meinen sicherlich keine echten Kinder?«, fragte Linda.

»Nein«, lachte Vanesssa Fiebig. »Ich spreche von diesen Studenten.«

»Sie schätzen Studenten nicht besonders?«

»Wenn die zu viel saufen, sind die schlimmer als jeder Proll. Sie versuchen, einen mit ihrem Gelaber zu beeindrucken, immer schön hinten rum. Aber die meisten kassieren von mir ’ne Abfuhr. Ich sage einfach: Ich steh nicht auf Schwachmaten, und schon verduften sie. Haben halt keine Eier in der Hose.«

»Gehörte Herr Rode auch zu den meisten?«, wollte Henry wissen.

»Das ist der Kerl, der jetzt im Krankenhaus liegt?«

»Ja.«

»Der war besonders penetrant.«

»Inwieweit?«

»Er hat nicht aufgehört, mich anzuglotzen.«

»Hat er Sie auch belästigt?«

»Ich würde das schon Belästigung nennen.«

Natürlich hatte Vanessa Fiebig völlig recht, und Henry ärgerte sich über seine ungeschickte Äußerung. Um seine Verlegenheit zu überspielen, notierte er einen unsinnigen Stichpunkt. »Und wie haben Sie reagiert, als er keine Ruhe gab?«

»Ich hab zu ihm gesagt, er soll sich verpissen.«

»Waren Sie bei der Ansage nüchtern?«

»Meinen Sie, ich weiß nicht, was ich sage?«

»Das behauptet niemand. Ist nur fürs Protokoll.«

»Klar, um mich als Lügnerin hinzustellen.«

Ein unbehagliches Schweigen entstand. Das war nicht selten, sobald ein Zeuge seine Wahrnehmung in Zweifel gezogen glaubte. Henry setzte eine sachliche Miene auf und versuchte, den Moment auszuhalten. Indem Linda sich lautstark räusperte, übernahm sie die Befragung. »Und der Rest des Abends? Wie verlief der?«

Sebastian Rode habe sie trotz der unzweideutigen Abfuhr weiterhin beobachtet, meinte Vanessa Fiebig. Er sei um sie herumgeschwirrt wie eine lästige Fliege. Um seine Penetranz zu ertragen, habe sie viel zu viel getrunken. »Gegen halb fünf sind wir dann abgehauen.«

»Sie, Herr Zabel und Herr Stamm?«

Vanessa Fiebig nickte.

»Und was geschah dann?«

»Das wissen Sie doch.«

»Wir würden gern Ihre Version hören.«

»Der Typ hatte zufällig den gleichen Heimweg«, fuhr Vanessa Fiebig fort. »Am Botanischen Garten haben wir ihn eingeholt, und da hab ich wohl gegenüber Philipp eine Andeutung gemacht.«

»Was genau haben Sie gesagt?«

»Tut mir leid, ist mir entfallen.«

»Anscheinend hat’s gereicht, ihren Freund aufzustacheln.«

»Philipp ist nicht mein Freund.«

»Aber das war nicht immer so, oder?«

Ihren Worten zufolge waren sie und der Gesuchte seit Ewigkeiten kein Paar mehr. Das sollte aber keineswegs bedeuten, dass er nicht hin und wieder vor Eifersucht raste. Anscheinend machte er sich noch Hoffnung, zumindest schloss das Vanessa Fiebig aus seinen täglichen Nachrichten. Linda kehrte zur Tatnacht zurück und fragte, ob Philipp Stamm sehr betrunken gewesen sei.

»Hielt sich in Grenzen.«

»Das heißt genau?«

»Das heißt, er konnte noch Backpfeifen verteilen.«

Die Selbstverständlichkeit, die aus diesen Worten sprach, schien Linda zu missfallen. Henry sah sie durchatmen und ahnte, dass sie jetzt gern eine Zigarette geraucht hätte. Sie drängte Vanessa Fiebig dazu, die Begegnung der vier genauer zu beschreiben. Mit ungebrochener Selbstverständlichkeit berichtete sie von einem Handgemenge. Mehr sei nicht vorgefallen, schließlich hatten sie ihm nur einen Schrecken einjagen wollen. Bei seinem nächsten Besuch sollte er sich genau überlegen, wessen Brüste er anstarrte. Getreten habe ihn aber niemand, beteuerte sie. Erst recht nicht gegen den Kopf. Und ebenso wenig hätten sie ihn bespuckt und angepinkelt – jedenfalls könne sie sich nicht daran erinnern. 

»Haben Sie gewusst, dass ihr Ex aktenkundig ist?«

Vanessa Fiebig reagierte mit einem Schulterzucken.

»Wegen gefährlicher Körperverletzung.«

Gegen die Wand starrend, spannte Vanessa Fiebig die Lippen. Henry konnte förmlich spüren, wie ihr die Folgen einer möglichen Mitschuld durch den Kopf brausten. Dieses Aufflammen von Angst, weil ein Fehler in der Vergangenheit die ganze Zukunft zu zerstören drohte.

Linda wechselte in einen behutsameren Tonfall und fragte sie, wo Herr Stamm normalerweise an einem Montag anzutreffen sei.

»Keine Ahnung«, sagte Vanessa Fiebig kleinlaut. »Ich habe ihn das letzte Mal am Sonntagmorgen gesehen.«

»Geht er einer geregelten Arbeit nach?«

»Er ist seit einem Jahr ohne Job.«

»Ist Ihnen ein Ort bekannt, an dem er sich jetzt befinden könnte?«

Vanessa Fiebig schüttelte den Kopf.

»Vielleicht bei seinen Eltern?«

»Die haben kaum Kontakt.«

»Oder bei Freunden?«

»Bei denen hält er es nie lange aus.«

»Haben Sie einen Schlüssel für seine Wohnung?«

»Hatte ich nie.«

Ehe Linda ihr die Visitenkarte aushändigte, bat sie Vanessa Fiebig um ein Foto des Gesuchten. Sie zeigte ihnen daraufhin mehrere Bilder auf ihrem Smartphone, von denen Linda einige abfotografierte. Dann begaben sich die Kommissare zur Wohnungstür. In einem Tonfall, der jede Selbstverständlichkeit verloren hatte, sagte Vanessa Fiebig: »Ich hab das alles nicht gewollt. Wirklich nicht.«

 

9

Der Abend graute bereits, als sie wieder im Spitzweidenweg eintrafen. Da der Gesuchte weiterhin nicht in seiner Wohnung zu sein schien, erkundigten sich Henry und Linda bei den Nachbarn, ob sie Philipp Stamm gesehen oder gehört hätten.

Im linken Flügel wohnte eine alleinerziehende Mutter. Während sie in ihrer Küche von den Beamten befragt wurde, wiegte sie ihr Baby in der Armbeuge. Sie behauptete, mit Herrn Stamm nur flüchtigen Kontakt zu pflegen. Ein Hallo im Hausflur, ein Guten Morgen im Fahrstuhl. Seit ihre Tochter auf der Welt sei, hätte sie ohnehin keinen Nerv für andere Menschen. Besonders die Kerle könnten ihr den Buckel runterrutschen, schimpfte sie und blinzelte ihrem Baby liebevoll zu.

Henry bat darum, die Toilette benutzen zu dürfen. Mit einem Winken dirigierte sie ihn in den Flur, doch statt das Klo aufzusuchen, linste er durch den Türspion. Lediglich der Bereich vor dem Fahrstuhl und der Nachbarwohnung war einsehbar. Auch wenn die Frau ihnen kaum würde weiterhelfen können, steckte Linda ihr eine Visitenkarte zu.

Stamms direkte Nachbarn waren ein älteres Ehepaar. Marcus und Marina Glimm. Seit Jahren in Rente und nach eigenem Bekunden so glücklich wie am Tag ihrer Hochzeit. Auf dem Wohnzimmertisch türmten sich Stapel und Stoß einer Partie Canasta, daneben ein randvoller Aschenbecher. Marcus Glimm rauchte Kette und quittierte die Aussagen seiner Frau stets mit einem Nicken.

»Häufigen Besuch hat Herr Stamm nicht«, sagte Marina Glimm. »Aber eine Zeit lang kam eine junge Frau.«

»Eine junge Frau?«, wiederholte Linda.

»Ja, so’n Hungerhaken.«

»Und haben Sie ihn gestern gesehen?«

»Nein, der geht jeden Sonnabend feiern«, erwiderte Frau Glimm. »Und am Sonntag schläft er seinen Rausch aus.«

»Und heute?«

»Nee. Der hat Sonnabend die Tür zugeknallt und dann war's ruhig.« Marina Glimm beugte sich voller Neugier über den Tisch. »Hat er denn was ausgefressen?«

 

10

Der Engel mit dem Licht stand auf der Felsbank, die ein Viertel des Hohlraums ausmachte. In seinem Rücken Dunkelheit, und in der Dunkelheit eine Stahltür. Unterhalb der Felsbank erstreckte sich das ausgetrocknete Becken eines unterirdischen Sees. Er kniete nieder und ließ den Scheinwerfer so lange kreisen, bis er den Gefangenen aufspürte.

Wie ein verängstigter Höhlenmensch hockte Stamm in der Tiefe. Seine Hände waren mit Kabelbinder an die Fußknöchel geschnürt, zwischen seinen Lippen klemmte ein Knebel. Schon jetzt wirkte seine Nacktheit weniger anstößig als vielmehr primitiv. Keine zwei Schritt entfernt war eine Pfütze. Offenbar hatte der Gefangene in die Höhle uriniert. Nicht mehr lang und er würde sich vollständig entleert haben. Die Stadien des Verfalls waren ihm mittlerweile geläufig: Erst verlöre der Gefangene die Scham vor der Nacktheit, dann ginge auch der Rest flöten. Im Elend wurde der Mensch zum Tier, das wusste er aus eigener Erfahrung. Helle Geister verkümmerten zu Grenzdebilen, Schönheiten zu Aussätzigen. Doch leider verhielt es sich selten umgekehrt. Aus einem Philipp Stamm würde auch in Zeiten der Dürre kein erhabenes Geschöpf werden.

Der Engel strahlte dem Gefangenen sein Licht direkt ins Gesicht. Stamm machte einen Satz vorwärts, und die Fesseln um Hände und Knöchel brachten ihn fast aus dem Gleichgewicht. Zwischen seinen Schenkeln wackelte sein Schwanz wie der Hals einer verfressenen Gans. Er kämpfte sich über einen flachen Anstieg, dann weiter an den unteren Rand des Beckens. Vor ihm ragte nun die steile Wand empor, ein Abhang, der Philipp Stamm von der Felsbank fernhielt.

Ohne das geringste Mitleid für sein Opfer löschte er sein Licht. Er horchte in die Dunkelheit, vernahm ein Schnaufen und Stöhnen. Kurz darauf ein wütendes Knurren. Voller Genugtuung hörte er den Gefangenen wegrutschen und auf das blanke Gestein schlagen.

Er knipste den Scheinwerfer wieder an und leuchtete hinab ins Becken. Tatsächlich: Stamm kauerte auf der Seite liegend am Boden. Sein Schwanz war zu einem Kükenhals geschrumpft, die linke Kniescheibe entweder dreck- oder blutverschmiert. Aber in seinen Augen – das erkannte er genau – glomm ungebrochen der Lebenswille.

»Es wird Zeit«, rief er, »dass du deine Sünden bereust.«

Anscheinend versuchte Stamm zu schreien, doch der Knebel saß zu fest. Nur das Knurren kam über seine Lippen. Da sah er sich in der Entscheidung, ihn auserwählt zu haben, bestätigt. Denn dies waren die Laute der Schlange und die Laute des Drachens. Ohne jeden Zweifel. Der Engel löschte das Licht, wandte sich um und holte den Schlüssel hervor.