Leseprobe Spiegelmädchen

Prolog

Zwei Jahre zuvor …

Zufrieden liegt er neben ihr, streichelt mit seiner rechten Hand an ihren Beinen entlang, immer weiter nach oben. Selbst durch die feinen Latexhandschuhe hindurch kann er ihre weiche Haut spüren. Wie von selbst finden seine Finger die weiblichen Rundungen des Körpers, der nackt auf den kalten Fliesen des Kellers liegt, erkunden ihn forschend und drängend. Ihre großen Brüste sind zur Seite gefallen, die Brustwarzen schimmern dunkel und weich. Im Dämmerlicht des Kellers funkelt der Brillant ihres Bauchnabelpiercings wie eine kleine Sonne.

Zärtlich betrachtet er ihre Scham; die rosige Haut glattrasiert, so, wie er es am liebsten mag. Er berauscht sich an ihrem Anblick, wie sie hilflos neben ihm liegt.

Bevor sie in den tiefen Dornröschenschlaf gefallen war, hatte sie noch leise vor sich hingemurmelt: »Oh Gott, bitte töte mich nicht …« Dann war sie langsam entschwunden, als hätte eine Wolke sie davongetragen.

Sie sieht so friedlich aus, fast wie ein Engel … oder wie der Tod.

Langsam richtet er sich auf. Neigt den Kopf zur Seite, um das Bild des Engels aus einer anderen Perspektive zu betrachten, während sie im Nirgendwo zwischen Traum und Schlaf schwebt, die Lippen leicht geöffnet, sodass er ihre gleichmäßigen Atemzüge hören kann. Die Luft im Keller ist geschwängert von ihrem süßen Parfüm, doch schon bald wird es sich mit dem ätzenden Geruch von verbranntem Fleisch vermischen.

Ein zufriedener Seufzer zieht die Luft tief in seine Lungen und stößt sie ruhig wieder aus. Bald wird er bekommen, was ihm zusteht. Vater hat ihm vor seinem Tod alles erzählt. Die Wahrheit. Nach so vielen Jahren gibt es endlich eine Spur. Er wird nicht versagen, das hat er seinem Vater auf dem Sterbebett geschworen.

Er verdrängt diesen Gedanken und blickt auf den Totenschädel, der ihn von einem kleinen, mit weißen Narzissen geschmückten, dunklen Altar anstarrt und beobachtet. Der Schwarzweiß-Kontrast gefällt ihm besonders, so wie die Zerrspiegel rundherum.

Er steht auf und knöpft sein Hemd auf, zieht den Reißverschluss seiner Jeans hinunter und lässt sie zu Boden gleiten. Fast schmerzhaft spürt er die Spannung seiner Muskeln, die feinen Nerven vibrieren empfindlich wie Seismografen, als er mit den Fingerkuppen über seine Haut streicht. Sein Herzschlag beschleunigt sich, und er fühlt, wie das Blut in seine Lenden schießt. Es ist kaum mehr als ein Impuls, als er seiner Gier vor den Augen seines toten Vaters nachgibt.

Als es vorbei ist, breitet sich eine sonderbare Leere in ihm aus. Wie ein Künstler, der sein perfekt gelungenes Meisterwerk betrachtet, schaut er auf sie hinab, während er die Jeans wieder hochzieht und sein Hemd richtet. Das Engelsgesicht ist verschwunden. Was er jetzt sieht, ist die Fratze einer verdammten Hure! Zornig wie ein ausbrechender Vulkan, dessen vernichtende Lava in alle Richtungen herausschießt, eilt er zu der Kamera, die auf einem Stativ bereitsteht. Das, was jetzt folgt, überträgt er live ins DARK NET – das Netz der Finsternis – auf unzählige anonyme Monitore in aller Welt.

Bevor er die Frau an Händen und Füßen auf einem Holzstuhl fesselt, zieht er sich einen weißen Schutzanzug an und eine Totenkopfmaske. Sein Blick schweift zu dem grünen Blinklicht der Kamera. Die Aufnahme läuft. Mit einem mit Ammoniak beträufelten Tuch holt er sein Opfer ins Bewusstsein zurück und hält ihr einen Spiegel vor das Gesicht. Mit angstvoll geweiteten Augen starrt sie zuerst darauf, dann sieht sie seine Maske und schreit aus Leibeskräften.

Niemand kann sie hören, ein schöner Moment, den die Kamera perfekt einfängt. »Schau es dir gut an. Dieses Gesicht siehst du zum letzten Mal«, flüstert er ihr zu und legt den Spiegel auf den Boden. Danach nimmt er die bereitgestellte Aluschale, die am Fuße des Altars liegt, und eine Sprühnebelflasche. Beide Utensilien sind mit hochgradig ätzender Säure gefüllt. Er registriert, wie seinem Opfer Tränen über die Wangen rinnen, wie ihr Körper vor Angst zittert und wie sich ihre Blase entleert. Während ihre gellenden Schreie den Raum erfüllen, kippt er ein wenig von der ätzenden Flüssigkeit aus der Schale über ihre Brüste. Zu viel, wie er gerade bemerkt, da sich die Säure in Sekundenschnelle bis auf die Knochen in ihr Fleisch frisst …

Kapitel 1

Kellerwald-Edersee – in einem abgelegenen Landhaus

Nach dem Abwasch sortierte Jazz im Schrank die blumigen Porzellantassen und das übrige Geschirr nach Farben ein. Sie zählte nach. Alles war komplett. Jazz behielt Zahlen und Muster nicht nur, sondern ordnete sie Kategorien, Bildern oder Symbolen zu. Sie hatte nicht die Absicht, es mit all den Dingen um sich herum zu tun – sie tat es einfach. Wie besessen. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Es war ihr Blick auf die Welt, wie sie Informationen interpretierte. Andererseits gelang es ihr kaum, Mimik, Gestik oder Blickkontakt anzuwenden und bei den Menschen richtig zu deuten. Sie beherrschte die Kunst des Small Talks nicht, der von ihr gesellschaftlich erwartet wurde. Undeutliche, mehrdeutige Bemerkungen oder Ironie verstand sie nicht. Metaphern nahm sie wörtlich. Sie dachte in Bildern und wandelte gesprochene Worte in solche um. Daher entgingen ihr in Gesprächen viele Sachverhalte, die andere Menschen ganz selbstverständlich nebenher aufnehmen konnten. Sie war eigen und deshalb schon als Kind oft ausgelacht worden. Veränderungen jeglicher Art oder unvorhergesehene Ereignisse, so wie heute Abend, bereiteten ihr große Probleme. Um der abweisenden Haltung ihrer Umwelt zu entgehen, rauchte sie ab und zu heimlich Marihuana, denn wenn sie stoned war, verschwanden Wut, Traurigkeit und Anspannung. Sie verschmolzen mit dem chaotischen dunklen Rauschen des Alltags, und Jazz wurde, zumindest in diesem Moment, wie jeder andere. Das bedeutete Erleichterung. High zu werden war eine Erholung, aber heute Abend war sie nicht zugedröhnt, sondern nüchtern und zu pleite, um sich in der Kleinstadt Gras zu besorgen.

Jazz blickte zur Küchenuhr. Halb acht. Das Pochen in ihren Schläfen nahm zu. Nervös kramte sie zwei Aspirin aus der Schublade, die dort stets griffbereit lagen. Als sie diese mit lauwarmem Pfefferminztee hinunterschluckte, hörte sie das Handy in ihrem Zimmer im ersten Stock klingeln.

Die Zeit drängte. Jazz eilte die Treppen hoch, griff zum Telefon, das auf dem peinlich aufgeräumten Schreibtisch lag, und las auf dem Display DANIKA. Ihre Zwillingsschwester. Ein Normalo, kein Aspi wie Jazz.

Sie drückte auf die Annahmetaste.

Fröstelnd lief sie zum Fenster und schloss es, dann setzte sie sich auf die Bettkante und starrte auf ihr Bild im Spiegel des Wandschranks. Durch den hellblauen Pyjama-Overall, den sie trug, erinnerte sie an einen gertenschlanken Teletubbie mit rotblondem Pagenschnitt und grünbraunen Augen. Sie besaß sechs davon. Alle in den Farbtönen blau oder grün, so wie ihre farblich sortierten Jeans, Pullis und Schuhe.

»Hi Jazz! Hast du Mama erreicht?«

»Nein«, antwortete sie knapp und massierte sich mit der rechten Hand die Schläfe.

»Scheiße! Wo bleibt sie nur? Sie sollte längst da sein. Ihr Handy ist seit Stunden aus. Das ist unnormal! Aber glaub mir, hier ist die Hölle los! Ich schick dir ein paar Fotos, okay? Schade, dass du nicht mitgekommen bist. Die Kulisse von DIE SCHÖNSTE STIMME DEUTSCHLANDS ist hammermäßig! So viele Leute und ’ne Menge Konkurrenten. Bin so nervös, muss ständig pinkeln. Du, der Empfang ist schlecht, ich muss gleich wieder Schluss machen.«

»Aha«, antwortete Jazz und schwieg. Ihre Schwester war mit einigen Freunden nach Kassel gefahren, die sie für das Casting von DSSD angemeldet hatten. Unter Hunderten von Bewerbern hatte sie es geschafft. Sie war gut in allem, was sie tat. Sehr beliebt, hübsch, musikalisch begabt und hatte seit einem Jahr in Kassel ihre eigene Wohnung. Im Gegensatz zu ihr hatte Jazz keine Freunde, außer Nico.

»Jazz? Bist du noch dran?«

»Jep.«

»Was glaubst du, wo Mama steckt?«

»Keine Ahnung.«

»Na gut, ich muss auflegen. Schalt den Fernseher ein und drück mir die Daumen. Falls sie sich meldet oder ihr Handy wieder einschaltet, schick mir eine SMS. Ich ruf dich nach meinem Auftritt an.«

Jazz schwieg. Sie wäre gerne mit Danika mitgefahren, wenn ihr nicht so viele Hindernisse im Weg gestanden hätten. All die Blicke ertragen zu müssen, das Gedränge und der Lärm … das wäre für sie unerträglich gewesen.

»Ach, Jazz, versuch auch Georg anzurufen. Ihn kann ich ebenfalls nicht erreichen.«

Jazz sah Georgs Gesicht sofort klar vor sich. Die Zahl Null flimmerte auf. Kreis. Vollkommenheit. Kein Anfang. Kein Ende. Ja, das passte perfekt zu ihm. Er war seit drei Jahren Mamas Partner und für Jazz eine Art Vater, da ihr leiblicher Papa längst tot war, so wie seine Schwester, die sich vor den Zug geworfen hatte. Seinen Namen nahm Mama nie in den Mund, weil dies scheinbar Unglück über die kleine Familie Sanders bringen würde. Sie war abergläubisch, was Jazz überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Wie konnte man bloß solchem unlogischen Mist Glauben schenken? Egal, schließlich war jetzt Georg da, ein Glücksbringer, und der hatte keine komische Schwester, nur einen schüchternen, fettleibigen Sohn namens Nico, der seit dem Tod seiner krebskranken Mutter vor sieben Jahren alles in sich hineinfraß. Nein, kein Aspi. Ein Fresssack-Normalo.

»Jazz, bist du high?«

»Nein. Ich hab im Moment kein Geld für Gras.«

»Sollte ich dich jemals wieder damit erwischen, dann fliege ich in die Luft, das garantiere ich dir!«

»Und wohin wirst du fliegen?«, fragte Jazz.

»Stopp! Nicht jetzt, Jazz! Das war ’ne Redewendung. Also, weißt du, wo Georg ist?«

»Nein. Nico meinte, dass er übers Wochenende nach Hamburg geflogen sei. Ein Geschäftstermin mit einem anderen Kunsthändler oder so was.«

»Ich hasse diesen Typ! Er hat immer nur sein blödes Antiquitätengeschäft in der Birne. Hoffentlich hat er keinen Überraschungsbesuch vor.«

»Nein. Nico lügt nicht, und ich verstehe nicht, warum du Georg nicht magst. Er hat keine Schwester, die sich vor den Zug geworfen hat, also wird er nicht aus unserem Leben verschwinden.« Jazz begriff nicht, weshalb Danika ihn nicht mochte. Er war ein verständnisvoller, ruhiger Mann, der Jazz selten überforderte. Ihm verdankte sie ihren Aushilfsjob in seinem Geschäft. Er hatte ihr ein winziges Büro eingerichtet, abseits von Kunden, was es ihr ermöglichte, arbeiten zu können, denn für die Neunzehnjährige mit einer leichten Form des Asperger-Syndroms war nicht nur der Alltag eine Herausforderung, sondern auch der Einstieg in das Berufsleben. Das Abitur hatte Jazz knapp geschafft, aber alle bisherigen Vorstellungsgespräche für irgendein Praktikum scheiterten an ihrer Andersartigkeit.

»Klar magst du ihn, schließlich ist er dein Boss. Jazz, ich muss auflegen. Daumen drücken, ja? Verpass meinen Auftritt nicht, sonst trete ich dir in den Hintern!«

»Klar. Danika?«

»Ja?«

»Ich will eine Katze aus dem Tierheim adoptieren. Kannst du mir helfen, Mama zu überreden? Du weißt, wie sehr ich Tiere mag, und ich wünsch mir schon so lange ein Kätzchen.«

»Keine Chance! Sie ist auf Tierhaare allergisch, also streich das Wort aus deinem Vokabular und lösch den Gedanken aus deinem Gehirn, so wie immer, kapiert?«

Jazz seufzte tief. Was sie jetzt brauchte, war ein Joint. Einen richtig fetten. »Ja. Tschüss«, antwortete sie trocken und beendete den Anruf.

Kapitel 2

Er zog seine schwarzen Lederhandschuhe über. Der Wind brachte die abgefallenen Blätter der Bäume zum Rascheln und verschluckte jedes andere Geräusch. Er wartete. Lauerte. Verharrte regungslos.

Die Stunde des Jägers war angebrochen.

Er spürte das Erwachen der Bestie in sich, das Fließen des Blutes dicht unter seiner Haut. Er sah sich um und schlich lautlos voran. Erregung stieg in ihm auf, als er an seinen Plan dachte. Nachdem er die hohe Lebensversicherungssumme seines Vaters kassiert und das Erbe angetreten hatte, hängte er seinen Job an den Nagel und arbeitete nur noch penibel an seinem perfekten Plan. Die Zeit des Wartens war vorbei. Ebenso das Observieren und Katalogisieren der Figuren auf seinem Schachbrett.

Kalkül. Ausführen. Entkommen. Genießen.

All das in Begleitung seiner besten Freunde: HASS und WUT.

Bei diesem Gedanken verzog er das Gesicht zu einem leichten Grinsen, aber in seinen Augen loderte etwas Wildes auf, etwas, das an einen rudellosen Wolf auf der Jagd erinnerte …

Kapitel 3

Jazz hörte ein merkwürdiges Geräusch, das sie nicht einordnen konnte. Was war das und woher kam es? Aus der Küche? War das Mama? Sie trat ans Fenster. Eine wunderschöne Aussicht auf das Seeufer bot sich ihr. Sie liebte diesen Ort. Oberndorf war umgeben von Wäldern und Hügeln, nahe dem großen Edersee – Natur pur. Jazz’ Lungen füllten sich mit der kalten Luft. Ein wunderbares Gefühl, aber lange nicht so gut wie ein Joint.

Ihr Blick wanderte von links nach rechts. Nichts. Kein Auto. Kein Mensch. Kein Nachbar weit und breit. Die langen, schneeweißen Dunstschwaden vermittelten den Eindruck, als würde langsam eine Daunendecke über die Nacht gezogen werden, verlieh ihr eine Aura des Geheimnisvollen und eine hauchzarte Schönheit.

»Sag mir bitte, wo Mama steckt, sonst tritt mir Danika in den Hintern, und das tut weh«, murmelte Jazz in den Wind. Hatte Mutter sich wegen ihr aus dem Staub gemacht? Für all ihre Probleme gab sie Jazz die Schuld, auch für ihre ehemalige Alkoholsucht. Ein verkorkstes Problemkind allein aufzuziehen, war für sie die Hölle gewesen. Vielleicht war sie abgehauen, um irgendwo ein sorgenfreies Leben zu beginnen. Jazz verstand, dass es für ihre Mutter schwer war, eine Aspi als Kind zu haben, aber Aspi zu sein, war noch schwieriger. Mama hatte keine Ahnung, wie viele Hindernisse sie Tag für Tag bewältigen musste. Es war anstrengend. Privat konnte sich Jazz in ihre Einsamkeit zurückziehen, in der Schule oder in der Arbeitswelt klappte das aber nicht. Ständig gehänselt, verspottet und ausgestoßen zu werden, war in der Vergangenheit kein Zuckerschlecken gewesen. Erst durch den Kampfsport hatte sie etwas Selbstvertrauen gewonnen, konnte ihre motorischen Defizite aufheben, aber ihr Selbstbewusstsein war nach wie vor angekratzt. Nachdem ihr Meister an einem Herzinfarkt gestorben war, hatte das Dojo in Oberndorf seine Pforten geschlossen. Ein harter Schlag für Jazz. Danika war die Einzige gewesen, die von ihrer Zuneigung zu ihrem Trainer gewusst hatte. Während ihre Schwester bereits Erfahrungen mit Beziehungen und Sex hatte, blieb Jazz nichts anderes übrig, als darüber in ihren zahlreichen Büchern zu lesen und die Bilder in ihrer Fantasie auszuleben.

Welcher Mann würde sich in eine Frau wie sie verlieben? Sie war kein Genie, nicht so, wie oft über Autisten oder Aspis geschrieben wurde. Nein, sie war kein Einstein oder Mozart, sondern nur eine junge Frau, die die gleichen Bedürfnisse und Träume wie jede andere in ihrem Alter hatte.

Erneut unterbrach ein Geräusch ihre Gedanken. Woher kam dieses Knacken? Draußen war nichts zu entdecken. Sie musste nachsehen gehen. Vielleicht hatte Mutter einen Rückfall gehabt und war heimlich ins Haus geschlichen.

»Mama?«