Leseprobe Verbunden durch alle Zeiten

Prolog

„Katharina!“ Die schrille Stimme meiner Schwester hätte ich überall wiedererkannt und doch blieb ich verwirrt. Ich keuchte, spuckte Wasser und wusste absolut nicht, was los war. Arme umfingen mich. Jemand zog mich fest an sich und weinte an meinem Hals.

„Mein Gott!“

Ich blinzelte völlig durcheinander. Es war hell, eine leichte Brise wehte mir Vanessas Haar ins Gesicht. Es klebte an meinen nassen Wangen.

„Nein“, wisperte ich und erfasste den Grund für mein Grauen. Ich war zurück. Ich war in die Fairy Pools gesprungen und in meiner Gegenwart wieder angekommen. Ich war am Leben, aber das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war der Knall eines Schusses. Und Finlay, der über die Kante des Abgrunds der Fairy Pools torkelte, bevor er in den Wasserfall fiel. Panisch sah ich mich um, schälte mich aus der Umarmung meiner aufgelösten Schwester. Mein Schädel pochte, mein Rücken brannte lichterloh und ich schaffte es kaum, mich zu drehen, aber der Schmerz war es wert. Die schönsten braunen Augen der Welt blickten mich an und ich kreischte auf. Mit einem letzten Schubs befreite ich mich von Vanessa und warf mich dem Mann mit den braunen Augen an die Brust.

„Finlay! Gott sei Dank!“

Zu viel war passiert, die letzten Monate waren nicht nur eine abenteuerliche Reise gewesen, sondern ein beständiger Schrecken, den ich ohne Finlays Beistand nie überstanden hätte. Aber das war nicht der Grund, warum ich ihn liebte.

Ich klammerte mich an ihn, als drohe mir immer noch das Ertrinken im eisigen Wasser der Fairy Pools. „Wir haben es geschafft.“ Mein Wispern war an niemanden gerichtet, lediglich eine verbale Versicherung an mich selbst. Erst laut ausgesprochen wurden Tatsachen wahr.

Finlay räusperte sich. Mir fiel auf, dass er mich nicht fest umarmte, es war die loseste Umarmung, die ich je von ihm bekommen hatte. Eigentlich wollte ich mich nicht beirren lassen, nichts sollte zwischen mir und diesem unglaublichen Glücksgefühl kommen, das mich wie ein warmer Umschlag umhüllte. Allerdings kam es auch nicht infrage, wieder in altes, egoistisches Verhalten zurückzufallen. Er war mir wichtig, und wenn er sich unwohl fühlte oder ein Problem hatte, hatte dies mehr Vorrang als mein Bedürfnis, mein eng umschlungenes Glück in die Länge zu ziehen. Ich lockerte also die Umklammerung und sah zu ihm auf. Sein kantiges Kinn, die fein geschwungenen Lippen und die deutlichen Wangenknochen waren feinsäuberlich rasiert. Sein Haar … mein Herz stockte. Gewöhnlich wallte es offen um seine breiten Schultern, hin und wieder band er es mit einem einfachen Lederband zurück, aber nun war es raspelkurz! Das blonde Haar hing ihm in die Stirn und tropfte. Es veränderte sein Aussehen, und ich musste mich blinzelnd versichern, dass er Finlay tatsächlich ähnlich sah.

„Miss“, murmelte der fremde Mann, wobei er mich weiter von sich schob. „Sie sollten sich schonen, bis die Bergrettung ankommt.“

„Nay“, wisperte ich. Etwas war hier absolut falsch und ich konnte meinen Blick nicht von dem Unbekannten abwenden. Vanessa nutzte meine Verwirrung und drängte sich zwischen uns. Sie nahm mich in den Arm.

„Alles wird gut! Die Ambulanz ist verständigt. Es wird ein Hubschrauber geschickt, weil man mit dem Rettungswagen nicht auf den Berg hinaufkommt.“ Sie überschüttete mich mit weiteren Worten, die ihre ausgestandenen Ängste ausdrückten. Ich bekam es nur beiläufig mit, denn ein Piepen schwoll in meinen Ohren an und wurde immer lauter.

Noch immer starrte ich Finlay an. Er trug Jeans! Und ein Shirt mit Markenemblem. An seinem Handgelenk glitzerte eine Armbanduhr.

Kein Kilt, kein Plaid, kein Baumwollhemd …

Es kreischte mittlerweile in meinem Schädel, Schwärze engte mein Sichtfeld ein. Ich kannte das Gefühl einer nahenden Ohnmacht nun wahrlich zur Genüge, kämpfte aber dagegen an. Ich wollte verstehen, was vor sich ging, denn eines war sicher: Ich befand mich nicht mehr im neubegonnenen Jahr 1747!

1. Alles anders

Mein zweiter Tag im Krankenhaus blieb verstörend. Zwar waren ernsthafte Verletzungen schnell ausgeschlossen worden, aber ich hatte mir bei meinem Sturz den Kopf angeschlagen. Die Wunde war genäht worden und mein Look bestach nun mit einer wilden Frisur. Die rasierte Stelle ließ sich unter dem Haar verdecken, das man mir gelassen hatte, aber natürlich starrte ich sensationslüstern in den Handspiegel und besah mir explizit die gepflasterte Stelle. Der Fernseher lief, versorgte mich mit den neuesten Nachrichten, die mich jedoch nicht interessierten. Ich wartete nur auf eine bestimmte Meldung, die einfach nicht kam. Mein Kopf schmerzte trotz der Medikamente und ich sehnte mich nach Maireads übelschmeckender Tinktur, die mich wie ein Baby hatte schlafen lassen. Der Gedanke weckte Melancholie. Ich vermisste sie, auch wenn ich mich ihr nie besonders nah gefühlt hatte. Mairead war meine einzige Bezugsperson in dieser völlig konfusen Zeit meines Lebens gewesen – neben Finlay – was offenbar zu einer Bindung zu ihr geführt hatte. Ihr freundliches Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. Ihr von einem Schleier umhülltes Haar war stets streng zurückgesteckt, ihre Kleidung immer akkurat geschlossen gewesen. Ihre Art hatte mich zwar anfangs wahnsinnig aufgeregt, schließlich war ich solch leise Zurückhaltung nicht gewohnt, aber mit der Zeit hatte ich es zu schätzen gelernt. Ebenso wie ich Finlay lieben gelernt hatte. Es schmerzte zu sehr und ließ mich wie einen wilden Tiger in meinem Käfig – dem Krankenhauszimmer – hin und her wandern. Es machte mich rasend, wahnsinnig und nur noch ungeduldiger, als ich ohnehin war. Tausend Fragen hetzten einander in meinem Kopf. Die Wichtigste: Wo war Finlay, was war ihm geschehen, während ich aus dem eisigen Wasser gezogen und ins Krankenhaus gebracht worden war? Hatte ihn denn niemand gesehen?

Er musste verwirrt sein, wenn nicht sogar verletzt, schließlich erinnerte ich mich, einen Schuss gehört zu haben, kurz bevor ich in das eisige Nass der Fairy Pools eingetaucht war. Ich schüttelte mich, gefangen in der Erinnerung und niedergedrückt durch meine Handlungsunfähigkeit.

Bei meinem ersten Sturz von der Aussichtsplattform war ich von einer Taschendiebin gestoßen worden, beim zweiten Mal war es Finlay gewesen, der mir einen Schubs gab, um mich aus der Gefahrenzone zu bugsieren, denn uns waren englische Soldaten gefolgt, die mich nur zu gern wieder in die Finger bekommen hätten. Ich schloss die Augen. An beiden Tagen hatte die Sonne geschienen, nur war es einmal die Sommer- und einmal die Wintersonne gewesen.

Es klopfte. Erschrocken ließ ich den Spiegel sinken, in den ich schon längst nicht mehr geblickt hatte, und sah zur Tür. Alles in mir verkrampfte sich und Fluchtgedanken nahmen überhand. Ich sprang aus dem Bett und strauchelte.

„Hi.“ Vanessa steckte den Kopf durch den Türspalt. „Du bist wach.“ Sie kam rein, schloss vorsichtig die Tür und kam händeringend auf mich zu. Besorgnis grub sich in tiefen Falten in ihre Stirn. „Alles in Ordnung?“

„Nay.“ Die Wahrheit, bei meiner Schwester sparte ich nie mit ihr. „Mir geht es bescheiden bis dreckig.“

Ich zwang mich, zu relaxen.

„Vielleicht solltest du liegenbleiben. Oder musst du …“ Ihr Blick schweifte zu der offenen Schiebetür des Nassraums.

Dass ich mal auf Klo musste, wäre natürlich eine gute Erklärung dafür, warum ich außerhalb des Bettes durch die Gegend eierte. Stattdessen seufzte ich und ließ mich wieder aufs Bett fallen.

Ich war hin- und hergerissen, ob ich mich ihr anvertrauen sollte. Einerseits musste ich wissen, was Finlay zugestoßen war, dann jedoch erschien mir selbst die ganze Geschichte, wie die einer Geistesgestörten. „Nee. Du hast mich erschreckt, als du reinkamst.“ Ich zuckte die Achseln und schlug die Decke wieder über meine Beine. Es sollte mich beruhigen, mir die nötige Sicherheit geben, um mutig mit der Wahrheit herauszuplatzen, wie ich es eigentlich stets handhabte. Diese Unsicherheit zerrte an meiner Kraft, ich war Selbstzweifel nicht gewohnt. Alles in mir drängte danach, mit meinen Fragen herauszuplatzen, weshalb ich meine Worte nicht überdachte: „Ich wurde zu oft überfallen.“

Vanessa zog sich einen Stuhl heran und stockte erschrocken. „Wie bitte?“

Nun erst wurde mir bewusst, was ich gerade gesagt hatte, und ich fand mich unter Zwang, eine Entscheidung zu treffen. Sollte ich mich meiner älteren Schwester anvertrauen? Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich es wollte.

Wir hatten uns nie besonders nahegestanden, was man einzig mir ankreiden konnte. Die zehn Jahre Altersunterschied, die uns trennten, hatten mich immer gestört, immer hatte Vanessa mit ihrem (Besser-)Wissen um sich geworfen und mich stetig angeleitet. Leider hatte ich es gehasst, dass sie mir sagte, was ich tun und lassen sollte.

„Wir können uns glücklich schätzen, heute zu leben, früher war es echt hart für Frauen“, warf ich hinterher und suchte schnell nach einer Ablenkung, während ich fahrig an der Ecke der Bettwäsche herumfummelte. „Also? Entlassen sie mich aus dem Krankenhaus?“

„Sie wollen noch Tests machen.“ Sie hob die Schultern. „Ian kümmert sich darum.“

Vanessa hätte wohl weniger Ärger mit den Ärzten als ich bekommen, schließlich hatte sie, seit ihrer Hochzeit mit dem adligen Ian, schnell gelernt, ihre Angelegenheiten von anderen Regeln zu lassen. Aber natürlich war Vanessa eher der ruhige Typ, jener, der zufällig einem Duke in die Arme fiel, als sie einen Selbstfindungsurlaub machen wollte, und heiratete ihn binnen zweier Wochen. Sie war die Verrückte in der Familie, wenn man mich fragte, also sollte ich mit meiner wahnsinnigen Story gut bei ihr aufgehoben sein. Das galt auch für meinen Gefühlsaufruhr, der von aufgedreht und gehetzt, alles zu unternehmen, um Finlay zu helfen, bis todtraurig und überzeugt, alles nicht erlebt haben zu können, reichte. Vanessa war schließlich durch ihre jahrelange Depression Stammgast bei Therapeuten und Psychologen gewesen.

„Derzeit ist man unter den Fachärzten beunruhigt wegen deiner Ohnmacht.“ Sie lächelte tapfer. „Die Gehirnscans sind ohne Befund und bisher gibt es keinen Grund, dich länger hier zu behalten.“

Dann wollte ich ihnen auch keinen liefern, indem ich eine völlig absurde Geschichte über eine Zeitreise von mir gab, wo ich gewesen war. Bisher hatte ich kein Wort verloren und versucht, mir die Informationen, was seit meinem Verschwinden passiert war, heimlich zu beschaffen.

Seit meinem Sturz in die Wasserfälle der Fairy Pools war keine Zeit vergangen. Ich hatte drei, fast vier Monate in der Vergangenheit im Jahr 1746 zugebracht, aber hier war nicht ein einziger Tag vergangen.

„Sehr gut, ich muss gestehen, ich hasse es im Krankenhaus.“

Vanessa lachte auf. „Stell dich nicht so an, es sind ja bisher keine zwei Tage und du bist hier als VIP und nicht in der Holzklasse.“ Auch darum hatte mein Schwager Ian McDermitt, der Duke of Skye, sich gekümmert, wofür ich ihm dankbar war. Ein Einzelzimmer mit Klimaanlage und frischgekochtem Essen, anstelle des üblichen Einheitsfraßes. Zudem die Chefarztbehandlung und eine Vorzugsstellung bei den Tests. Es gab keinen Grund zu klagen.

„Ich weiß, danke.“ Einen Moment senkte ich den Blick. Wann hatte ich mich zuletzt bei meiner Schwester für irgendetwas bedankt? Es war lange her, gewöhnlich war ich eine Kratzbürste, besonders Vanessa gegenüber.

„Woher kanntest du ihn?“

Wieder schreckte ich auf. „Wen?“

„Mr McInnes. Den Mann auf der Plattform. Du bist ihm ziemlich enthusiastisch um den Hals gefallen.“ Sie lachte auf. „Für jemand, die sich frisch von ihrem Freund getrennt hat.“

„Du kennst ihn?“ Meine Finger bebten, weshalb ich sie in die Decke krallte. Der Mann, der mich aus dem Wasser gezogen hatte, war nicht Finlay, auch wenn er ihm in verstörender Weise zum Verwechseln ähnlich sah. Soviel hatte ich mir eingestanden. Was schwieriger war, war mit dem Verlust umzugehen. Finlay hätte hier sein sollen, bei mir. So war es geplant gewesen und ich verstand nicht, wie es hatte schiefgehen können. Man hatte ihn nicht im Wasser gefunden. Wo war er dann und ging es ihm gut?

„Nicht wirklich. Ich habe mich selbstverständlich bei ihm bedankt, dass er dich gerettet hat, aber er war recht zurückhaltend. Was auch immer zwischen euch ist, er hat nichts preisgegeben.“ Wieder zuckte sie die Achseln. „Ich habe natürlich auch nicht gefragt, nur … Bist du ihm am Flughafen begegnet?“ Sie rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn. Ihre Neugierde war merkwürdig. Seit wann interessierte sie, was in meinem Leben … nein, jetzt wurde ich unfair. Ich war diejenige, die für nichts außer mir selbst Interesse aufbrachte.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn verwechselt“, gestand ich ein. „Ich hielt ihn für …“ Was sollte ich sagen? Meinen Ehemann aus dem 18. Jahrhundert? In Hörweite der Ärzte? Besser nicht. „Na ja. Ich hatte mich geirrt. Hat er sich nach mir erkundigt?“

Vanessa schnaubte. „Hat er. Ich habe ihm gesagt, es gehe dir gut.“

Obwohl es mir egal sein sollte, begann mein Herz bei dem Gedanken an Mr McInnes zu hüpfen. Er war nicht Finlay, nur ein zufälliger Doppelgänger und ich wollte mein Original!

„Ich werde mich auch bei ihm bedanken müssen. Welch ein Zufall, dass er ausgerechnet vorgestern an den Fairy Pools spazieren war.“ Ich hatte etwas Falsches gesagt. Vanessa sah mich mit diesem Ausdruck an, der das unmissverständlich verriet. Sie brauchte aber noch einen Augenblick, um sich dazu durchzuringen, mir zu sagen, was das Problem war.

„Mr McInnes war oben auf der Plattform und hat mir mit der Taschendiebin geholfen.“ Ihr Ausdruck wechselte ins zerknirschte. „Die ist leider entkommen. Er ist dir sofort hinterhergesprungen, als du von der Aussichtsplattform gestürzt bist. Ein wahrer Held. Wenn ich nicht mit Ian verheiratet wäre, könnte Mr McInnes mir gefallen.“ Sie zwinkerte verschmitzt, aber ich nahm es ihr dennoch nicht ab, dass sie Finlay – nein, Mr McInnes – anziehend fand. „Ich war noch völlig in Schockstarre, wenn er mich nicht zur Seite geschubst hätte – auch so war es knapp genug. Er hat dich beatmen müssen. Er hat dir wortwörtlich das Leben gerettet.“

Nicht nur für Vanessa ein ungemütlicher Gedanke.

In meiner Erinnerung war es schwarz um mich herum geworden, also ja, es war gut möglich, dass ich ohne Mr McInnes ertrunken wäre. Genauso wie ich auf der anderen Seite ertrunken wäre, hätte Finlay mich nicht aus dem Wasser gezogen. Hatte ich das alles nur geträumt?

War mein ganzes Abenteuer nur ein Produkt meiner Ohnmacht?

Der Gedanke legte einen Augenblick lang jeden anderen lahm.

Kurz zog ich es in Betracht, dann wies ich es weit von mir. Ich war nicht verrückt und bildete mir sicherlich nicht in den wenigen Minuten einer Ohnmacht ein, durch die Zeit zu reisen und mich zu verlieben.

Meine Schwester rutschte auf ihrem Stuhl so weit nach vorne, dass sie auf der Kante balancierte und griff nach meiner in die Decke gekrallten Hand. „Mir ist das Herz stehengeblieben.“

Die Intensität ihrer Gefühle, die sich in ihrer Stimme und Haltung spiegelten, war mir nicht geheuer, weshalb ich rasch das Thema wechselte: „Ähm, wo sind wir hier eigentlich? Ist das Krankenhaus noch auf der Isle of Skye?“

„Aber ja. Portree, die Hauptstadt der Insel. Ich hatte dir eigentlich nach unserem Ausflug an die Fairy Pools das Städtchen zeigen wollen.“ Sie seufzte theatralisch. „Das alles tut mir so unendlich leid.“

„Ich bin gestürzt.“ Das Schulterzucken fiel mir nicht einmal schwer. „Shit happens, nicht wahr?“

Vanessa klappte bei meiner Ausdrucksweise der Mund auf, ebenso rund wurden ihre Augen.

„Lass das bitte. Ich fühle mich ziemlich dämlich, wenn du mich so ansiehst.“ So, als wäre etwas fürchterlich falsch mit mir, also genau so, wie Mairead mich stets betrachtet hatte, aber da war es verständlich gewesen. Meine Weltanschauung und Verhaltensweisen mussten einer Frau aus dem 18. Jahrhundert fremd vorkommen. Vanessa aber kannte mich nicht anders und wie sollte ich mich ihr anvertrauen, wenn sie mich schon davor ansah, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf?

„Entschuldige“, haspelte sie und nahm sich mit Mühe zusammen. „Also, wie geht es dir?“

„Ich langweile mich.“ Was aber nicht der Grund für meine Unruhe war. Hier konnte ich nichts herausfinden, denn weder in den Fernsehnachrichten noch in den von mir gehorteten Zeitungen und Zeitschriften stand etwas über eine unbekannte, tote Person, die nahe der Fairy Pools angespült und gefunden worden wäre. Es gab Berichte über mich, aber es wurde kein Mann erwähnt, der ebenfalls von dem Abgrund gefallen oder gesprungen sei, oder mit mir in den Fairy Pools versunken war.

„Ich kann dir Zeitschriften besorgen.“ Ein kalter Schauder ging über mich nieder. Es war einerseits zu einem Zwang geworden, alle Berichterstattungen zu durchforsten, aber sie brachten mich gleichzeitig völlig durcheinander.

„Nein.“ Ich spürte, wie sich eine Gänsehaut über meinen Körper zog. „Ich …“ Ich konnte nicht länger ruhig sitzenbleiben und rutschte aus dem Bett, um nun doch auf und ab zu tigern. Dabei rang ich die Hände. „Hast du …?“ Ich unterbrach mich schnell, aber konnte es einfach nicht weiter zurückhalten. „Hast du von dem Mann gehört, der ebenfalls in die Fairy Pools fiel?“

Vanessa blinzelte in Zeitlupe, ihre Lippen bildeten einen Kreis, bevor sie Worte formten, ohne sie tatsächlich auszusprechen. Damit hatte ich meine Antwort, sie wusste nicht, wovon ich sprach. Verzweifelt schwang ich herum und stapfte zur Tür, um die Stirn dort anzulehnen, während sich meine Finger klauenartig um die Klinke schlossen.

„Katharina?“

Ich hatte sie nicht näherkommen hören und zuckte unter ihrer leichten Berührung meiner Schulter zusammen.

„Was hast du denn?“, wisperte sie und drehte mich zu sich herum, um mir in die Augen zu sehen. Ihre weiteten sich. „Soll ich …?“

Schnell unterbrach ich sie. „Ich muss hier raus.“

„Aber …“

„Ich muss dir was erzählen, aber ich kann … spazieren, lass uns spazieren gehen. Einfach nur raus aus diesem Gebäude und ein paar Augenblicke so tun, als wäre nie etwas passiert.“

„Also gut“, stimmte sie ein. „Es spricht nichts dagegen, einen kleinen Rundgang zu machen.“

Erleichtert schob ich Vanessa zur Seite und griff nach meiner Steppjacke. „Lass uns los.“ Es machte mich so verflucht bedürftig und momentan hatte ich niemanden, auf den ich mich verlassen konnte. Wie auf Finlay. Wie vermisste ich ihn! Der Gedanke war unglücklich, brachte er doch meine Augen zum Brennen. Schnell blinzelte ich und beschäftigte mich übertrieben intensiv mit meinen Nägeln. Sie waren perfekt manikürt. Ich verspürte einen kleinen Elektroschock. Der Lack müsste bereits abgesprungen und die Nägel eingerissen sein. Es fiel mir schwer, mich von dem Anblick loszureißen.

„Komm.“ Meine Stimme kratzte, bebte sogar, was sich auch auf meinen Körper übertrug.

„Mein Gott, du bebst am ganzen Leib, du solltest dich besser wieder hinlegen!“ Sie drängte mich zurück, bis ich die Hacken in den Boden stemmte und meinen Standort behauptete.

„Was hast du denn nur?“

Es lag mir auf der Zunge, ihr alles zu sagen, aber als ich mich zu meiner Schwester umdrehte und die Besorgnis in ihren blassen Zügen bemerkte, schluckte ich die Wahrheit hinunter. Wie sollte ich damit klarkommen, ihr noch mehr Sorgen zu bereiten? Und ich sprach jetzt nicht von meiner Zeitreisen-Geschichte, oder davon, wie verrückt sie sich anhören musste, für jemanden, der sie nicht erlebt hatte. Eher davon, dass sie wegen des Unfalls bereits fürchterliche Schuldgefühle durchleben musste. Wenn sie nun auch noch davon ausging, dieses Erlebnis hätte meine geistige Gesundheit ruiniert …

Ich wollte nicht schuld sein, dass Vanessa wieder in Depressionen abglitt. Aber ich wollte auch nicht selbst in die Klapse kommen, weil mich das Schweigen fertigmachte.

„Ich muss hier raus“, haspelte ich rau, bitter bewusst, dass ich mich wiederholte. Vanessa seufzte tief und bedachte mich mit ihrem „Große-Schwester-Blick“. „Danach geht es mir blendend, das schwöre ich dir!“

„Also gut“, lenkte sie gedehnt ein, wobei sie mich scharf musterte, „machen wir einen kleinen Spaziergang. Das Hospital liegt auf der Halbinsel mit dem Hafen, und auch wenn es hier keinen Sandstrand gibt, ist die Aussicht wundervoll.“

Zwar brauchte ich keine weiteren „Aussichten“, war es mir recht, solange wir nur das Krankenhaus verließen und ich mich meiner Schwester anvertrauen konnte. Ich spürte den Druck, mit allem herauszuplatzen, und zog Vanessa bereits mit mir.

„Kati, warum hast du es denn so eilig?“ Sie versuchte, mein Tempo zu drosseln, aber ich verstärkte mein Bemühen, voranzukommen.

„Katharina …“

„Bitte, ich erkläre dir alles, sobald wir hier raus sind!“ Was gar nicht so einfach war, wie es klang. Mein Hirn ratterte mögliche Worte herunter, ohne den richtigen Ton zu treffen, was mich nur nervös machte. Ich klang wie eine Verrückte, aber war das von Bedeutung, wenn es darum ging, Finlay zu finden und ihm womöglich das Leben zu retten?

Erneut sah ich ihn vor meinen Augen von der Klippe stürzen und musste sie schließen, um das Bild zu vertreiben, wodurch ich eine Treppenstufe verfehlte. Vanessa zog mich gerade noch rechtzeitig zurück. Mit einer Warnung, die einmal mehr nur aus meinem Namen bestand, aber wahre Epen beinhaltete.

„Komm.“ Ich flog die Stufen hinunter, dieses Mal jedoch am Geländer und zerrte Vanessa dabei hinter mir her. „Hier drin kann ich dir nicht erzählen, was mit mir los ist und das willst du doch wissen, oder?“ Sie gab ihren Widerstand auf und folgte mir kommentarlos bis vor das Hospital, wo sie die Führung übernahm und mich den Gehweg entlang zum Hafen dirigierte.

Es war das erste Mal, dass ich in Portree war und obwohl ich mich nicht für meine Umgebung interessierte, glitt mein Blick über die urigen Häuser, die sich seit hunderten von Jahren aneinanderreihten. Es lenkte mich ab, Vanessa jedoch nicht.

„Nun, wie lange willst du mich noch auf die Folter spannen?“, fragte sie, als wir an einem Gasthaus vorbei kamen und ich fasziniert in die Lagune starrte, die auf der anderen Straßenseite sichtbar wurde. Eine bunte Reihe kleiner Häuser säumte sie zur Rechten, während zur Linken eine Felswand steil hinabfiel. Segelboote tanzten auf den seichten Wellen und gaben dem Anblick etwas unglaublich Pittoreskes. „Was kannst du mir keinesfalls im Krankenhaus erzählen und macht dich noch hibbeliger als sonst?“

„Mir ist da was passiert“, murmelte ich, nach den richtigen Worten fischend. Ich war völlig durcheinander. „Etwas, was unglaublich klingt.“ Damit hatte ich Vanessas volle Aufmerksamkeit.

„Du hast dich unsterblich in deinen Arzt verliebt, beschlossen, dein Leben bei uns auf Skye zu verbringen und dich der Wohlfahrt zu widmen.“ Sie lachte auf, verwarf die Vorstellung mit einem Wisch ihrer linken Hand. Die Rechte lag auf meinem Unterarm, hatte sie sich doch bei mir eingehakt.

„Raus damit, ich kann es kaum erwarten, deine unglaublichen Geschichten zu hören.“ Sie grinste mich an, als sei das ganze Leben ein riesiger Spaß. Zugegeben, gewöhnlich sah ich es auch so, aber dass wir offenbar die Rollen getauscht hatten, fand ich nicht amüsant. Ich wollte nicht die besorgte, ständig grübelnde Schwester sein, die sich dem Hohn der anderen ausgesetzt sah.

Nervös befreite ich mich von ihrer Umklammerung und brachte Abstand zwischen uns, bevor ich mich ihr stellte.

„Ich habe tatsächlich jemanden kennengelernt.“ Meine Stimme schwankte. „Ähm, es ist kompliziert.“

Vanessa prustete. „Also doch verknallt in den Arzt!“

Die unschöne Konfrontation mit dem durchaus attraktiven Assistenzarzt schoss mir in den Sinn. Bereits am letzten Abend, nach einer Reihe von Untersuchungen und Fragen, hatte er sich zu mir gesetzt. Das hatte mich irritiert, schließlich war bis dahin alles sehr distanziert und fachlich gewesen. „Miss Hagedorn, ich sehe mich in einer Zwickmühle.“

Mir waren seine rötlichen Wimpern aufgefallen, weil ich ihn voller innerlicher Not angestarrt hatte.

„Seine Gnaden, ihr Schwager, wünscht eine erstklassige Versorgung, aber bisher kann ich nichts wirklich ausschließen. Sie haben sich bei ihrem Sturz den Kopf aufgeschlagen und sehr viel Blut verloren. Sie sind teilweise nicht ansprechbar, was mir ernstlich Sorge bereitet.“ Er hatte helle, blaue Augen, die sich besorgt verengt hatten, als ich ihn nur weiter anstarrte. „Momentan sieht es nach einer Gehirnerschütterung aus, deshalb stehen Sie unter Beobachtung. Wenn ihnen schlecht wird, die Kopfschmerzen schlimmer werden oder sie ungewöhnliche Empfindungen haben, geben Sie das bitte unverzüglich an.“

Das war der Punkt gewesen, an dem ich begonnen hatte, mir Sorgen zu machen. „Das gilt insbesondere bei Druck auf den Schädel, akustische oder visuelle Eindrücke.“

„Ich verstehe nicht“, hatte ich ihn krächzend unterbrochen. Mein Körper hatte gebebt und ich hatte meinen Mageninhalt nur zurückhalten können, weil ich seit dem Morgen nichts gegessen hatte.

Sein Blick hatte mich zusätzlich nervös gemacht. Es war, als wüsste er alles. „Sehen Sie, Miss Hagedorn, neben einer Gehirnerschütterung kommen noch andere Spätfolgen infrage. Es könnte sich Gehirnwasser stauen, oder eine Blutung auftreten. Wir werden am Morgen ein CT machen, dann wissen wir mehr.“ Er hatte geseufzt und mich angelächelt, ausgerechnet in dem Moment, in dem Vanessa und Ian hineingeschneit waren. Dass er zudem meine Hand getätschelt hatte, die eiskalt und abgetrennt von meinem Körper zu sein schien, hatte ich auch erst bemerkt, als Vanessa mir zugezwinkert hatte. Angestrengt riss ich mich von der Erinnerung los. Ich war wieder allein mit Vanessa.

Ich gab mir einen Ruck, aber es blieb schwer, es auszusprechen. Ich räusperte mich. „Es hört sich blöd an, aber als ich in den Wasserfall fiel, landete ich in der Vergangenheit.“

Es war ihr anzusehen, dass Vanessa ihren Ohren nicht traute. „Bitte?“

„Ich weiß, wie es klingt. Aber Finlay zog mich im Jahr 1746 aus dem Wasser.“ Meine Stimme versagte.

Ihr nervöses Lachen war spitz und hohl. „Ich dachte, Catriona sei die Fantasievolle in der Familie, vielleicht solltet ihr euch unterhalten?“

„Ich meine es ernst.“ Und nahm es ihr gar nicht übel, dass sie es für Blödsinn hielt. Ich an ihrer Stelle …

Vanessas Grinsen fiel und sie blinzelte mehrmals. „Kati, jetzt machst du mir Angst.“

Wenn sie wüsste, wie es mir dabei ging!

2. Dunvegan – Gestern und Heute

In mein Zimmer auf Dunvegan zu treten, weckte einen unangenehmen Schauer. Es war, als stürme die Vergangenheit auf mich ein. Finlay, Mairead, selbst der schreckliche Duke of Skye und der furchtbare Leutnant Carstairs tanzten in meinem Kopf herum und hielten mich zum Narren. Ich drehte mich, halb erwartend, eben jener englische Soldat träte in mein Zimmer, um mich erneut zu befragen und mich zu drängen, Finlay zu belasten, und sei es mit einer an den Haaren herbeigezogenen Lüge. Wann war ich?

Statt Carstairs stand Vanessa in der Tür, die Hände wringend und mich zögerlich anlächelnd. „Da sind wir.“

Mein Blick wanderte weiter, um mich von der Nervosität meiner Schwester abzulenken, deren Ursache mir nur zu bewusst war. Meine Geschichte hatte sie wortlos aufgenommen, aber ich hatte ihr von der Nase ablesen können, wie sie darüber dachte. Immerhin hatte sie mich nicht für verrückt erklärt und mich auch nicht beim Krankenhauspersonal angeschwärzt, sonst hätte man mich sicherlich nicht entlassen. Ich konzentrierte mich notgedrungen auf die Gegenwart.

Die Vorhänge um das große Himmelbett waren zurückgebunden. Waren sie heller, als ich sie in Erinnerung hatte, oder einfach nur ausgeblichen? Das Fenster war der einzige Unterschied, der sofort ins Auge fiel, denn nun gab es eine moderne Verglasung. Der Kamin war nicht angeheizt, was auch nicht nötig war, schließlich war es Sommer, aber einige Holzscheite lagen malerisch bereit. Nur zur Dekoration, denn es gab eine elektrische Heizung, die sich hinter Holzvertäfelung verbarg. Der Raum roch eine Spur muffig, was bei den klimatischen Bedingungen hier oben nicht verwunderlich war. Selbst im Sommer war es nass und kalt, nicht nur im Herbst und Winter, und die 20 Grad von heute waren eher die Ausnahme. Außerdem war es ein altes Gebäude und die feuchte Luft zog durch die Steinmauern, wie bereits seit hunderten von Jahren.

Ich ließ meine Tasche fallen und schob sie unter das Fußende.

„Ruh dich aus“, schlug Vanessa vor. „Gewöhn dich ein. Wir können später …“

„Ich bin ausgeruht, Vanessa“, unterbrach ich sie rüde. Peinlich berührt, weil ich erneut in mein altes Verhaltensmuster zurückfiel, presste ich die Lippen zusammen und murmelte eine Entschuldigung. „Sorry, ich bin aufgekratzt. Nach drei Tagen eingepfercht in einem Krankenhauszimmer fühle ich mich wie ein Springteufel.“

Vanessas Erschrecken war köstlich. Sie schlug die Hände vor den Mund und drehte sich zum Gang. „Äh …“

„Komm runter, Vanessa.“

„Ich versprach Ian, ihm im Pool Gesellschaft zu leisten.“

Ich stieß den Atem aus. Es ging ihr also nicht darum, mir auszuweichen, weil sie nicht wusste, wie sie mit meiner Geschichte umgehen sollte.

„Ähm …“ Vanessa sah zu mir zurück. „Natürlich kann ich das verschieben.“ Der Vorschlag machte sie aber nicht glücklich. Sie zwang ihre Lippen in ein Lächeln. „Also sollen wir den Tee einnehmen?“

„Geh zu deinem Ian, ich werde spazieren gehen, oder so.“ Das war mir ohnehin lieber. Wenn ich bedachte, die nächste Stunde mit einer angespannten Schwester in einem Raum zu verbringen, wurde mir ganz anders. Besser war es, erst einmal meine Gedanken zu ordnen und einen Schlachtplan zu entwickeln. Zudem gefiel mir die Idee eines Spaziergangs. Ich wollte rennen, bis mir die Luft fehlte.

„Echt?“ Vanessa starrte mich verblüfft an.

„Klar. Keine Sorge, ich …“ Ich wollte sagen, dass ich mein Handy mitnahm und damit jederzeit erreichbar war. „Oh.“ Bisher hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, dass ich kein Mobiltelefon mehr besaß. Ich hatte mich wohl daran gewöhnt, eben nicht erreichbar zu sein. „Das hatte ich völlig vergessen! Mein Handy! Meine Schlüssel …“

Vanessa streckte die Hand nach mir aus und strich über meinen Oberarm. „Keiner von uns hat an deine Tasche gedacht, ich fürchte, sie ist mit dem Fluss auf und davon. Aber keine Sorge, Ian kümmert sich um einen Termin bei der Botschaft und in Nullkommanichts hast du einen neuen Ausweis. Wir können dir auch ein Telefon besorgen und von den Schlüsseln deiner Wohnung in Deutschland wird es Ersatzexemplare geben.“

Nichts davon hatte Priorität für mich, dennoch stimmte ich zu. „In Ordnung.“ Mein Lächeln war zittrig, deshalb wandte ich mich ab und sah mich um. Das Zimmer blieb surreal, teils wie ich es aus meiner Reise in die Vergangenheit in Erinnerung hatte, aber zum Teil auch, wie es nun war – in der Gegenwart. Es weckte einen Schauer, der unangenehm prickelnd über meinen Körper glitt.

„Also, ich sollte los.“ Meine Stimme schwankte, aber meine Schritte waren sicher.

„Warte.“ Vanessa schnappte nach dem Zipfel meiner Jacke und hielt mich zurück. „Es ist leicht, sich hier oben zu verlaufen. In den Highlands sieht alles gleich aus, schließlich gibt es hier nicht mehr als Gestein, Gras und Wasser.“ Es war so typisch Vanessa, dass mir innerlich ganz warm wurde. Wir waren weit nördlich auf einer Insel in den schottischen Highlands und damit weit weg von meinem üblichen Umfeld. Zudem war ich alles andere als ein Naturbursche und konnte mich nicht anhand der Sterne orientieren, oder wie Pfadfinder es sonst tun mochten. „Aber wir besitzen ein GPS-Gerät. Unsere Koordinaten sind eingegeben und es hat auch einen Tracer, falls du verloren gehen solltest.“ Vanessa rang die Hände. „Ich kann dich auch gerne begleiten, allerdings bin ich auch nicht gerade ortskundig.“

„Nein.“ Es kam einem Pistolenschuss gleich aus meinem Mund, noch bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte. „Ich nehme das GPS-Ding, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich werde nur ein paar Runden durch den Garten drehen.“ Mein Lächeln beruhigte sie. „Um den Kopf frei zu bekommen. Da ist Begleitung nur hinderlich.“

„Also gut.“ Sie klang zu erleichtert. „Du brauchst festes Schuhwerk und einen warmen Mantel. Das Wetter wird sich nicht halten“, prophezeite sie. „Komm, ich kann dir aushelfen.“ Sie winkte mich aus dem Raum und den Gang hinunter. Wir durchquerten den gesamten Flügel zu den Zimmern im anderen Turm, der dem Meer zugewandt und damit einer der sichersten vor Angreifern war. In ihm befanden sich die Räume des Dukes, weshalb ich nie zuvor hier gewesen war.

„Du kannst den Weg durch die Küche nehmen, er führt in den Burghof. Halte dich rechts bis zur Garage, dort gibt es ein Tor.“

„Wird die Tür nicht verschlossen? Ihr seid hier zwar mitten im Nirgendwo, aber ist es nicht gewagt, die Tür offen zu lassen?“ Das Schloss lag von der Straße aus gesehen hinter einem breiten Gürtel aus gepflegten, aber dennoch wilden Gärten. An beiden Seiten schlossen sich Wälder an und so war das Gebäude von allen Seiten gegen Blicke abgeschirmt. Die einzigen Zufahrten waren jene zum Haupttor, die von der Familie nicht genutzt wurde, sondern als Attraktion für Touristen offenstand, und jene, die versteckter und privater war. So erklärte sich auch die ellenlange Anfahrt durch menschenleeres Gebiet, denn das Schloss lag fußläufig von dem nach ihm benannten Dorf Dunvegan.

„Sie ist alarmgesichert, aber ich gebe dir den Code.“ Sie stieß die Doppeltür auf, ohne ihre Geschwindigkeit zu drosseln und segelte weiter. Ich folgte ihr, wurde aber langsamer, sobald ich den Innenraum sehen konnte. Vanessa durchquerte ein Zimmer, das das gesamte Erdgeschoß des Turms einzunehmen schien. Aus allen Richtungen fiel Licht hinein, das von den mächtigen Kristalllüstern, die von der Decke hingen, reflektiert wurden. Es war einfach atemberaubend, wie die Farbsprenkel auf die dunklen Oberflächen der Möbel flogen, es hatte etwas verzauberndes, mystisches, das etwas in mir zum Klingen brachte. Ich stockte in der Tür, um meine Umgebung voll auf mich wirken zu lassen. Das Glitzern wurde intensiver, umhüllte mich. Es wurde zu schnellen Bildern, die ineinander verschwammen und ein Gefühl in mir weckte, dass einer nahenden Ohnmacht ähnelte.

„Kati?“ Vanessas Stimme glich einem hohen Schwirren. Erst als sie mich berührte, die Hände fest um meine Oberarme schloss, spürte ich, wie kalt ich im Vergleich zu ihr war. Sie verbrannte mich regelrecht. „Katharina.“

Ich befreite mich schnell und torkelte zurück, dabei rieb ich über die von ihr berührten Stellen, die deutlich wärmer waren, als der Rest von mir.

„Was denn?“, stieß ich hervor, eine Ablenkung, schließlich war ich völlig durcheinander, fast noch gefangen in dem wilden Treiben des spiegelnden Lichts.

„Du bist bleich und eiskalt!“ Wieder streckte sie die Hände nach mir aus und ich wich schnell zurück.

„Alles gut“, behauptete ich, wobei ich ein Grinsen auf meine Lippen zwängte. „Ich werde nur langsam klaustrophobisch.“

Sie blieb skeptisch. Ihr Blick fokussierte sich auf mein Gesicht, als stände dort alles geschrieben, was sie wissen musste, also grinste ich betont lebendig.

„Und? Dieses GPS-Gerät, wo versteckt es sich?“ Ich drängelte mich an ihr vorbei, bemüht, das Farbenspiel des Lichts nicht auf mich wirken zu lassen. Sie führte mich in einen lächerlich unterbenutzten, begehbaren Kleiderschrank, zog eine Jacke vom Bügel und reichte sie mir, ohne zu mir zu sehen, bevor sie sich hinkniete und eine Lade aufzog.

„Wanderschuhe oder Gummistiefel?“

„Ersteres, bitte.“ Ich nahm ihr die Schuhe ab. „Danke.“

„Noch einen Schal, nicht dass du dich noch erkältest.“

Da ich tatsächlich keine verstopfte Nase und kratzenden Rachen brauchte, nahm ich auch den entgegen und schlang ihn mir umständlich um den Hals. Das Wetter hier war schließlich nicht beständig zu nennen und am Morgen war es recht kalt gewesen.

„Der Tracer?“

„Klar. Du kannst auch mein Handy mitnehmen, wenn du möchtest.“ Sie zog das GPS-Gerät aus einer Schublade und reichte es mir.

„Ich gewöhne mich gerade daran, nicht erreichbar zu sein.“ Es war als Witz gedacht, aber es trug mehr Wahrheit in sich, als erwartet. Auch wenn es für sie nur wenige Minuten gewesen waren zwischen meinem Fall und dem Moment, in dem ich in Vanessas Armen aufgewacht war, waren für mich mehrere Monate vergangen, in denen ich gelernt hatte, auch ohne ständige Erreichbarkeit existieren zu können. Oder Fernsehen, Radio, Musik – Wow, unglaublich, dass man auch so leben konnte!

„Dann bist du hier genau richtig.“ Sie schnaubte. „Hier oben ist Erreichbarkeit Luxus!“

„Okay, danke. Ich bin dann mal weg.“ Ich schlüpfte in die Jacke und steckte die Geräte tief in die Taschen. „Wann ist Abendessen?“

„Um sechs. Wir warten aber auf dich.“

„Ach, Quatsch. Ich finde sicher eine Fastfood-Kette auf dem Weg und …“

Vanessa brach in wildes Gelächter aus und es klang ungewohnt locker und heiter. „Solltest du eine finden, bist du zu weit gelaufen!“

„Danke für die Warnung.“ Meine Umarmung überraschte uns beide zu gleichen Teilen. „Bis später.“

Ich ließ sie stehen, sie stammelte noch eine Verabschiedung, aber die bekam ich nur am Rande mit. Der Weg hinaus war nicht schwer zu finden, ich kannte den Weg zur Küche aus meiner Reise in die Vergangenheit und konnte ihn mühelos schlafend abschreiten. Dort wurde bereits eifrig die nächste Mahlzeit vorbereitet, die ich zu verpassen plante.

„Miss, kann ich Ihnen helfen?“

„Nay, tabadh leibh.“

Die tellerrunden Augen überging ich. Ich hatte diese Worte so oft verwendet, dass ich keinen Zweifel an ihrer Aussprache hatte, also musste die Verblüffung der Köchin einen anderen Grund haben. Da es für mich nicht von Bedeutung war, beließ ich es dabei. Ich wollte aus dem Gebäude raus und nicht ein Schwätzchen mit Einheimischen halten.

„Ich muss hier nur durch.“ Dampfschwaden hingen in der Luft, rochen nach frischer Pasta und Tomaten. Die Tür zum Hof stand offen, um für Durchlüftung zu sorgen. Die Sonne blendete mich, selbst als ich die Hand hob, um sie zu blocken.

So rege es hinter mir zuging, so ruhig war es vor mir. Abgesehen von dem sachten Wind, der jedes noch so fein gestutzte Grashälmchen in Bewegung setzte. Kein Mensch, kein Tier, soweit das Auge reichte. Nur pure Natur, durchzogen von gekiesten Pfaden. Tiefdurchatmend marschierte ich los. Eine Weile setzte ich nur einen Fuß vor den Nächsten, ließ mich ebenso treiben, wie meine Gedanken. Meine Füße bogen ab, traten nun auf feuchtes Gras, bis ich am Ufer der Bucht stand, die dem Schloss seinen Namen gab. Loch Dunvegan. Als es zu mühsam wurde, über das steinige Ufer zu kraxeln, lenkte ich meine Schritte wieder landeinwärts. Irgendwann hob ich den Blick. Meine Finger schlossen sich in der Tasche der Jacke um den Tracer und einen Moment wallte Furcht in mir auf. Verlaufen. Aber darum ging es mir auch, ich wollte mich verlaufen, zumindest für eine Weile.

Vor mir erstreckte sich das raue Hochland, saftiges Grün, grauer Fels und ein Meer an Blumen. Lila, so weit das Auge reichte. Herrlich. Obwohl mich mein Marsch angestrengt hatte, spürte ich, wie mich der Ausblick beruhigte. Der Wind spielte mit meinem Haar, schlug es mir sanft ins Gesicht. Strähnen tanzten vor mir und um mich herum. Alles war wild, ungezähmt und urtümlich. Es sah genauso urtümlich aus, wie während meiner Reise in die Vergangenheit, und Sehnsucht zerquetschte mein Innerstes. Finlay. Tränen stürmten meine Augen, rollten mir in Sturzbächen über die Wangen und tropften in den staubigen Grund vor meinen Füßen.

Ich hatte es geschafft, ich war unbeschadet wieder in meiner Zeit gelandet, aber nicht wie geplant mit Finlay. Was war aus ihm geworden?

Furcht gesellte sich zu dem immensen Schmerz in meiner Brust. Ich musste mich setzen, rutschte von dem Felsen, den ich mir dazu ausgesucht hatte, und landete im Heidegras. An den Anblick erinnerte ich mich noch lebhaft und er fachte meine dringliche Frage an: Wie konnte ich herausfinden, was mit Finlay geschehen war?

Etwas zog mich nahezu zurück. Das Dorf Dunvegan war laut GPS Meilen entfernt und von dort gab es kaum eine Möglichkeit, sich zu verlaufen. Die Hauptstraße hinauf und dann in den Privatweg abgebogen, dessen Tor mit einer Gegensprechanlage gesichert war. Es dauerte, bis man mich einließ und zwei Männer eskortierten mich zurück. Albern, wenn man bedachte, dass man über das Ufer problemlos auf das Grundstück gelangte. Erst am Eingang ließ man mich allein weitergehen.

Ich nahm den langen Weg über die Haupttreppe, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich joggte die Stufen hinauf, riss die Tür auf. Und blieb stehen. Im ersten noch verschwommenen Moment sah das Zimmer aus wie in meiner Erinnerung – der aus der Vergangenheit. Herrje, von den Spitzfindigkeiten bekam ich noch Kopfschmerzen. Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten es in funkelndes Licht, wie ich es am Vormittag in Vanessas Schlafzimmer gesehen hatte. Mein Körper reagierte, ließ mich schwindeln und in kaltem Schweiß ausbrechen. Ich stürzte, schaffte es nicht bis zum Bett und schlug auf dem flauschigen Teppich auf, der den Platz zwischen Bett, Tür und Kamin einnahm. Meine Lider schlossen sich flatternd, aber die Lichtblitze verschwanden nicht.

„Halte deinen dreckigen Mund, Schottenhure!“, keifte es in meinen Ohren und versetzte mich zurück an eine der weniger erfreulichen Erinnerungen aus dem Jahr 1746. Wir waren draußen in der Heide von Soldaten gefangen genommen worden, die auf Finlay einprügelten und dabei nicht mit Beleidigungen sparten.

„Katharina“, keuchte Finlay, wobei er meinen Blick gesucht hatte, um mir eine Warnung zu übermitteln, die mich hatte frösteln lassen. Ich hatte nicht glauben wollen, in Gefahr zu sein, hatte meine Situation arroganterweise falsch eingeschätzt und war in eine weitere wirklich haarige Situation geraten.

„Vielleicht, wenn wir das Mädchen …“, hatte der junge Soldat mit einem Blick vorgeschlagen, der seine Gedanken verraten hatte, weshalb ich mich auf einen physischen Kampf eingestellt hatte.

Der Ältere hatte seinen Blick ebenfalls lüstern an mir herabgleiten lassen, bevor er gegrunzt hatte: „Will sicher der Hauptmann einreiten.“

Als der junge Kerl nach mir gegriffen hatte, war ich demnach vorbereitet gewesen und hatte ihn ohne große Mühe auf die Matte geschickt. Finlay hatte sich um den zweiten Soldaten gekümmert und wir waren gemeinsam entwischt.

Ein blendender Feuerblitz beendete die Reminiszenz und ließ mich mit heftigen Kopfschmerzen zurück. Meine Finger krallten sich in den Teppich, während ich verzweifelt nach Luft schnappte. Tränen brannten in meinen Augen.

Was war das denn gewesen?

Es klopfte. Da ich überrascht zusammenzuckte, schoss eine Welle des Schmerzes durch meinen Körper und ich konnte kein Wort hervorbringen. Auch nicht, als es wieder an der Tür pochte.

„Miss?“

„Moment.“ Es war sicher nicht ratsam, dem Personal meiner Schwester am Boden liegend zu begegnen. Sicher wurde ihr oder ihrem Mann alles Ungewöhnliche gemeldet, wie zum Beispiel eine Familienangehörige, die sich vor Schmerz am Boden wand.

Ich rappelte mich auf und schleppte mich zum Bett, um dort niederzusinken und das Bein anzuziehen. Es sollte wirken, als hätte ich Mühe, mir die Schuhe auszuziehen und nichts weiter.

„Kommen Sie rein“, rief ich auf Gälisch, wobei ich an meinen Schnüren des linken Fußes herumnestelte. Eine junge Frau trat ein, erfasste den gesamten Raum mit einem schnellen Rundumblick und knickste dann leicht vor mir.

„Das ist unnötig“, sagte ich.

„Wie meinen?“ Ihre Irritation zeigte sich in dem Verlust ihrer Maske. Für einen kleinen Moment war sie völlig verwirrt, dann fasste sie sich mit einem Strecken der schmalen Schultern. „Miss, lassen Sie mich Ihnen mit ihren Stiefeln behilflich sein.“

„Tabadh leibh, aber lassen Sie dieses Geknickse.“

„Aye, Madam.“

„Katharina“, korrigierte ich. „Oder Miss Hagedorn, aber keine Madam oder sowas.“

Die Frau sah erschrocken zu mir auf.

„Probleme mit dem Schuh?“, fragte ich betont arglos, wobei ich mir ein Lächeln verkniff. Zweihundertfünfzig Jahre und die Leute hier waren immer noch durcheinanderzubringen, indem man außerhalb ihres Rollendenkens agierte.

„Nay, Miss.“ Sie zog den Linken von meinem Fuß und stellte ihn bedacht neben dem Bett ab. Der Zweite folgte.

„Wie heißen Sie?“ Zwar hatte ich das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, aber zuordnen konnte ich sie nicht.

„Rona, Miss.“ Sie verschränkte die Hände vor dem Bauch ineinander. „Ihre Gnaden erbittet Ihre Anwesenheit.“

Mein Seufzen ließ sich nicht unterdrücken.

„Beim Dinner. Es wird in zwanzig Minuten serviert und ihre Gnaden schickt mich, um Ihnen behilflich zu sein.“

Die Frage wobei erübrigte sich wohl. Kein Jahr war Vanessa nun verheiratet, aber die Gepflogenheiten der Adligen hatte sie bereits übernommen. „Danke, Rona, aber ich bin in der Lage, mich eigenständig anzuziehen.“ Zumindest hob es meine Stimmung, lenkte meine Gedanken von dem Vorfall ab, über den ich gar nicht weiter nachdenken wollte. Die Ohnmacht, die Reminiszenz und dieses bohrende Gefühl der Sehnsucht, die mich noch in den Wahnsinn trieb.

„Wenn Sie wünschen, bügle ich Ihnen Ihr Gewand auf, oder richte Ihr Haar …“

„Danke, aber …“

„Ihre Gnaden lässt ausrichten: Bitte.“

Ich klappte den Mund zu. Traute mir Vanessa nicht zu, mich selbstständig präsentabel zu machen? Mein erster Impuls war, Rona wegzuschicken. Allerdings hielt mich etwas zurück. Ein Gefühl von Schuld und Reue. Wenn ich auf Finlay gehört hätte, oder auf Mairead, dann hätte ich womöglich nicht fliehen müssen. Wir wären nicht auf die Idee gekommen, das Tor durch die Zeit zu nutzen, um in die Gegenwart zu kommen, und Finlay wäre gesund und munter. Ein eisiger Schauer rieselte über meinen Rücken und ich schlang die Arme um mich, um über die Oberarme zu reiben.

„Ja, danke“, stotterte ich, ohne das Lächeln auf die Lippen zu bekommen, das ich als Maske tragen wollte.

Rona übernahm es, mich dinnerfertig zu machen. Sie wählte mein Kleid aus und entschied auch, welche Frisur ich trug. Anschließend dirigierte sie mich durch das Haus, obwohl ich mich auf Dunvegan bestens auskannte. Selbst mit verbundenen Augen eckte ich nicht an. Nichts hatte sich hier geändert, kein Möbelstück war verrückt, nicht einmal neue Bilder zierten die Wände. Dieselben Ölschinken, Gemälde von Landschaften von längst toten, namhaften Künstlern.

Die riesige Halle im Anschluss der Treppe wurde von Buntglasfenstern erhellt. Es warf Lichtspiele auf jeden Meter, den ich zurücklegte. Mein Kopf schwirrte, als ich in den Gang abbog. Eine Ohnmacht in Begleitung einer Angestellten meiner Schwester war das Letzte, was ich mir leisten konnte, also biss ich die Zähne aufeinander und ging mit geschlossenen Augen weiter. Zehn Schritte, Tür zur Rechten, zwei weitere, Tür zur Linken. Fenster. Halb den Gang hinunter befand sich der Speiseraum. Gegenüber die Tür zu einem Salon, in dem sich die Familie bereits versammelt hatte. Vanessa saß auf dem Zweisitzer, die Arme um sich geschlungen und mit gequältem Gesichtsausdruck, aber sie versuchte, heiter zu wirken. Ian genehmigte sich einen Drink, während die Duchess lamentierte. Auf Gälisch und viele der Worte sagten mir nichts, andere wiederum konnte ich sehr wohl zuordnen. Sie lästerte. Sie sparte mit Namen, aber es klang, als spräche sie von einem Familienangehörigen. Als sie mich gewahrte, verzog sich ihr Mund, wodurch sie einen Moment still war. Nicht für lang, und das Geschnatter setzte wieder ein. Die Stimme noch schriller, die Worte hässlicher.

Ich hätte sie als typisch McDermitt klassifiziert, wenn sie nicht angeheiratet wäre. Aber sie passte, sie erinnerte mich stark an Rourke.

„Màthair!“, donnerte Ian. Er presste zwei Finger an die Schläfe, mit der Hand, die das Glas hielt. „Sguir dheth. Halt einfach endlich deinen Mund.“

Ich erwartete, dass die Duchess ausbrach wie ein eruptiver Vulkan, aber sie starrte ihren Sohn lediglich mit eisigem Blick an.

„Ah!“ Vanessa sprang auf und kam auf mich zu. „Da bist du ja!“ Ihre Stimme war ungewöhnlich hoch und zeugte von ihrer Anspannung. „Wie war denn dein Spaziergang?“ Sie fiel mir um den Hals. „Ich war ganz hibbelig.“

Sie war es noch. Lag es etwa nicht an ihrer nörgelnden Schwiegermutter?

„Ich habe den Weg mühelos gefunden, Vanessa. Weißt du, ich bin kein Idiot.“

„Wie bitte?“ Sie starrte mich an, den Mund offen, die Augen kullerten nahezu aus ihr heraus. Ian pfiff.

„Du sprichst Gälisch?“

Und merkte es nicht einmal. „Äh.“ Es war offensichtlich, aber wie sollte ich es erklären, ohne von Finlay zu sprechen. „Ja.“

„Wie ist das passiert?“, hauchte meine Schwester. „Wann?“ Ihre Miene entgleiste, als ich sie ansah. Sie verstand, was ich nicht aussprechen wollte. Ihr Mund klappte erneut auf.

„Sprachen interessieren mich eben.“

„Klar“, wisperte Vanessa. „Ich wünschte, ich hätte dein Talent.“

„Du hast andere Talente.“ Weg von diesem verfänglichen Thema. „Herrje, ist es nicht endlich sechs Uhr? Ich muss gestehen, dass mir eine Mahlzeit mehr als recht wäre.“

„Stimmt!“ Vanessa hüpfte überdreht zur Tür. „Ich verhungere!“

„Mit welch gewöhnlichen Kreaturen muss ich mich umgeben!“, lamentierte die Duchess spitz, wobei ihr Blick meiner Schwester verfolgte.

„Màthair, tàmh.“

Vanessa zog mich aus dem Salon. „Warum dauert es heute so lange?“ Im Gang kam uns einer der Diener entgegen und verbeugte sich vor meiner Schwester.

„Euer Gnaden, das Essen kann nun serviert werden.“

„Hervorragend!“ Die Erleichterung war nicht schwer herauszuhören. Vanessa zog mich eilig weiter. Der Tisch war für vier gedeckt, bezeichnend war die Verteilung der Teller. Einer am hiesigen Ende des langen Tisches, drei am anderen, unter dem Wappen des Hauses – der Platz des Duke of Skye. Wie häufig hatte ich an dieser Tafel platzgenommen und einen anderen Duke am Kopfende sitzen sehen?

„Wann hast du Gälisch gelernt“, fragte Ian mich, als alle saßen und die Diener die Wagen mit den Gerichten hereinrollten.

„Kati war den halben Tag unterwegs“, flötete Vanessa. „Ganz allein. Sag, was hast du gesehen?“

„Blumen“, ging ich schnell auf sie ein, auch wenn meine Stimme meine Worte nicht trugen. „Ein Meer an Blumen. Diese lila-grünen, haarigen Dinger …“

Ian lachte schnaufend. „Das sind Disteln. Die erste Nichtschottin, die sie nicht als Unkraut bezeichnet.“ Immerhin war er abgelenkt von meinen überraschenden Sprachkenntnissen.

„Sie zählen zum überwiegenden Bewuchs, oder?“ Konnte man sich eine Mahlzeit lang über Disteln unterhalten? Sicher eine Herausforderung. „Und sie passen hervorragend hierher. Wunderschön und doch wild.“

Wieder lachte Ian. „Eine Schottin im Herzen, a ghràidh, was hast du mir noch alles nicht über deine Schwester erzählt?“

„Oh, da gibt es einiges“, grummelte Vanessa, den Blick auf ihren Teller gesenkt. Ich fand es merkwürdig, wie sie dort zusammengesunken hockte. Die Hände unter dem Tisch und nicht einmal aufsehend, als der Diener ihr Wein einschenkte. Apathisch, genau so, wie ich sie von früher kannte.

„Geht es dir gut?“

Vanessa zuckte zusammen. Es war deutlich, dass ich mit ihr sprach, war ich doch in unsere Muttersprache Deutsch zurückgefallen. Eigentlich fand ich es unhöflich, schließlich war ich zu oft diejenige gewesen, die nicht verstand, was um sie herum gesprochen worden war. Aber in diesem Fall war Privatsphäre wichtiger.

„Du nimmst doch deine Medikamente noch?“ Ich erreichte, dass sie zu mir rübersah, verblüfft, aber immerhin wieder aktiv im Jetzt.

„Was …?“

„Du siehst deprimiert aus.“ War es so? Die Verknüpfung war vielleicht etwas weit hergeholt, traurig passte sicher, aber war es gleich diese bleierne Variante, die ich nie hatte verstehen können, so oft sie es auch erklärte?

Etwas in mir drückte mich selbst unaufhörlich Richtung Boden. Nicht die Schwerkraft, es sei denn, sie hatte sich in den letzten Tagen verdoppelt, es war eher etwas in mir. Gewichte. Ich hatte Ballast zugenommen, auch wenn die Waage keine Änderung zeigte.

„A ghràidh.“ Ian griff nach Vanessas Hand und beugte sich zu ihr. Er machte den Anschein, unser Gespräch verstanden zu haben, aber dann wären seine Deutschkenntnisse besser, als ich bisher angenommen hatte. „Fühlst du dich nicht wohl?“

Süß, leider erinnerte es mich an Finlay und es zerquetschte mich. Einen Augenblick lang konnte ich nicht einmal atmen. Es war, als befände ich mich kilometertief unter Wasser und der Druck verhinderte, dass ich meine Lungen mit Luft füllen konnte. Panik wallte in mir auf. Mit einem Japsen durchbrach ich den Bann, auch wenn ich ihn immer noch um mich fühlte.

„Mir geht es gut. Entschuldige“, wisperte sie. Während ich es nicht einordnen konnte – wofür bat sie um Verzeihung – machte Ian den Eindruck, es genau zu verstehen. Ein Lächeln flackerte auf, hob seine Mundwinkel um genau die nötigen Millimeter, dass es zu einem zärtlichen, nachsichtigen Lächeln wurde, was mir fast das Herz brach.

„Dummkopf“, flüsterte Ian, womit er meine Vorstellung von einem perfekten Mann ruinierte, auch wenn Vanessa ihn immer noch ansah, als wäre er der Traumprinz schlechthin.

„A ghràidh agam ort.“

Vanessa strahlte, von ihrer vorherigen Niedergeschlagenheit war nichts mehr zu sehen. Witzig.

„Ich liebe dich auch, Ian.“

„Mein Magen entleert sich jeden Moment.“ Ordinär für eine Duchess. „Können wir uns auf etwas Anstand einigen?“

„Gefühle auszudrücken, entbehrt keinen Anstand, màthair.“ Ian küsste die Hand seiner Frau und legte sie mit seiner verschränkt auf dem Tisch ab. „Im Gegenteil.“

„Du vergisst, wer du bist!“

„Es reicht, màthair. Noch ein Wort und du kannst den Rest deines Lebens auf deinem Witwensitz verbringen. Und ich glaube nicht, dass du dort sehr viel Gesellschaft bekommen wirst.“

Auch diesen Zug kannte ich von den McDermitts, diese unterschwellige Gemeinheit.

„Damit drohst du mir gern, nicht wahr, mein Sohn?“ Die Duchess wollte sich nicht einschüchtern lassen, auch wenn sie sich deutlich mäßigte.

„Ich erkenne langsam, was dir daran so viel Vergnügen bereitet.“ Er grinste diabolisch. Vanessa legte ihre Hand auf ihre gemeinsam verschränkten.

„Ian.“

Er reagierte umgehend. Er wandte sich ihr zu und sein kaltes Grinsen wärmte sich auf. „Entschuldige, a ghràidh, sie reizt mich.“

„Ich weiß.“

„Nun, vielleicht ist es an der Zeit, unsere Bürde zu teilen?“

Vanessa schnaubte. „Willst du das deinen Geschwistern antun?“

Er zuckte die Achseln. Seine Haltung war locker und entspannt, als wäre der vorherige Moment nie dagewesen. Er grinste und war wieder der süßeste Kerl in ganz Britannien.

„Wir haben uns etwas Ruhe verdient und man kann sie nicht aus den Augen lassen.“

Misstrauen kannte ich auch zur Genüge. Es musste den McDermitts in den Genen stecken, warum sonst erkannte ich all diese Eigenschaften von Rourke und seinem Vater, dem Duke of Skye vor 260 Jahren, wieder?

„Das widerspricht sich.“ Ich biss mir auf die Lippe. Eigentlich hatte ich mich raushalten wollen, schließlich ging mich das hier nichts an, aber mein Mundwerk hatte seinen eigenen Willen.

„Wie meinen?“

„Jetzt mischen sich bereits Bürgerliche in unsere Familiendiskussionen?“

Die Duchess konzentrierte ihren Groll auf mich, was mir egal war. Sie mochte mich als Ventil sehen, auf dem sie ungestraft herumhacken konnte, sie vergaß nur, dass es für mich ebenfalls galt. Es gab keine Schranken für mich, keinen Grund mich zurückzuhalten.

„Màthair.“

„Familie“, hielt ich dagegen. Der Aufwind, der durch mich hindurchging, hob meine Laune. Ein Scharmützel war genau das, was ich nun brauchte – eine Ablenkung von meinen eigenen Problemen.

„Nur Familie.“

Sie wollte widersprechen, hob auch schon dazu an, verwarf es dann aber zugunsten eines hohen Lachens. „Oh ja, jetzt zählen mehr Bürgerliche zur Familie als uns guttut.“

„Das ist deine Meinung, màthair.“

„Ich stimme zu.“

„Kati!“, keuchte Vanessa.

Ich zuckte die Achseln. „Niemand will sich in einer Schlangengrube wiederfinden.“

Ian lachte. „Das hört sich sehr nach Liny an.

Lachlans Frau hat etwas ganz Ähnliches gesagt, als mein Bruder sie bat, ihn zu heiraten.“

Vanessa hatte mir erzählt, dass Lachlan Ians Zwillingsbruder war, der ebenfalls vor zwei Jahren eine Bürgerliche aus Deutschland geheiratet hatte.

„Aber natürlich“, spottete die Duchess mit glimmenden Augen und verzogener Miene. „Als genüge die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben nicht, um sich einen Mann an den Hals zu werfen!“

„Na, Sie müssen es ja wissen.“ Ich spielte auf die Frechheit-siegt-Karte und war verblüfft, als sie sich auszahlte. Die Duchess verlor an Farbe. Gut, sie saß weit genug von uns entfernt, dass es auch eine optische Täuschung sein konnte, aber dass sie den Mund hielt, sprach für sich.

Ian räusperte sich. „Vielleicht können wir uns darauf einigen, zu den Mahlzeiten unsere Streitigkeiten ruhen zu lassen.“

„Sie ist impertinent“, zischte die Duchess, wobei sie den Stuhl zurückstieß und schwankend auf die Füße kam. „Als genüge es nicht, dass du unseren Namen in den Dreck ziehst, indem du erneut eine Bürgerliche heiratest, nein, du gestattest ihr und ihren Anhängseln auch noch, mich zu demütigen!“

So auszurasten wegen einiger flapsiger Worte deutete darauf hin, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte. Ihre eigene Ehe mit dem verstorbenen Sheamus McDermitt, die ihr erst den Titel der Duchess of Skye eingebracht hatte, schien keine glückliche gewesen zu sein. Kein Wunder, ich fragte mich, wie der Duke es mit dieser Frau ausgehalten hatte.

Ian presste die Lippen aufeinander. Er rang mit sich, oder wusste er einfach nicht, wie er sich gekonnt aus der Situation ziehen konnte?

„Wenn es Sie beruhigt, ich hatte nicht vor, Sie zu demütigen. Soll ich mich entschuldigen?“

Ich hätte mich wohl besser nicht eingemischt, denn die Duchess durchbohrte mich mit ihrem giftigen Blick, bevor sie abrupt aufstand und aus dem Saal davonrauschte.

Wir blickten ihr hinterher.

„Ich weiß nicht genau, was ich Falsches gesagt habe.“

Vanessa seufzte schwer.

„Ich fürchte, es ist der Widerspruch an sich, Katharina. Ich entschuldige mich für die Angriffe meiner Mutter und ihrer übertriebenen Dramatik.“ Ian schüttelte den Kopf, wobei er noch immer zu Tür sah, durch die die Duchess entschwunden war.

„Dann sollte ich lieber den Mund halten?“, bot ich an. Vanessa griff den Vorschlag mit einem Schnauben auf.

„Du und den Mund halten? Das will ich erleben.“

Sie wäre verblüfft, wenn sie wüsste, wie gut ich mir mittlerweile auf die Zunge beißen konnte, wenn es vonnöten war.

„Ich bin lernfähig, liebe Schwester.“

„Offenbar“, mischte Ian sich ein. „Wann hast du nun Gälisch gelernt? Dein Akzent ist kaum hörbar.“

„Tabadh leat.“ Dafür hatte Mairead mich auch nur mit einer Millionen Wiederholungen gequält. Ich musste grinsen, obwohl es mir damals wie reine Folter vorgekommen war, schließlich war ich der Meinung gewesen, es exakt so ausgesprochen zu haben, wie ich es hörte.

„Raus mit der Sprache!“, forderte Ian erneut. Er nahm einen Schluck von seinem Wein und bedeutete den Bediensteten, uns aufzutischen.

„So zwischendurch“, wich ich aus. „Ein Sprachführer auf dem Flug …“ Hanebüchener Unsinn, aber mit der Wahrheit sollte ich vorsichtig sein. Mir spukten Horrorgeschichten über britische Irrenhäuser im Kopf herum. Gut, wahrscheinlich eher Amerikanische und genährt von der Horrorserie, die mein Ex so geliebt hatte, aber letztlich wollte ich nirgends eingewiesen werden, weil man an meinem Verstand zweifelte.

Da das Thema unglücklich war, suchte ich nach einer Ablenkung. „Dürfen wir uns auf Nachtisch freuen?“ Zwar glaubte ich nicht, auch nur einen Bissen herunterzubekommen, aber alles war mir recht, wenn ich nur der Befragung entkommen konnte.

„Oh, bitte Scones!“, rief Vanessa aufgeregt. Sie griff über den breiten Tisch und streckte die Finger dann in meine Richtung aus. „Du wirst sie lieben!“

„Die Makronen sind ebenfalls zu empfehlen.“ Ian grinste nachsichtig und gab dem Bediensteten einen Wink. „Ich nehme an, wir überspringen den nächsten Gang und beschleunigen das Abendessen. A ghràidh?“

Vanessas Lächeln war zu viel für mich. Ich senkte den Blick auf meinen Platzteller und atmete tief durch. Finlay fehlte mir so sehr. Tränen brannten in meinen Augen, aber das Schluchzen zurückzuhalten, war wesentlich schlimmer. Es blockierte meinen Hals.

„Wenn es dir auch recht ist, Katharina.“

Ich konnte nicht aufsehen, nicht antworten, nicht einmal die Finger lösen, die sich von mir unbemerkt um die Lehnen meines Stuhls geklammert hatten.

„Kati?“

Ein Krächzen entwich mir.

„Oh Gott!“ Meine Schwester sprang auf und kam um den Tisch herum, um sich neben mich zu knien. Ihre Hand bebte, als sie mich berührte. „Du brauchst einen Arzt!“

„Nein“, brachte ich mühsam hervor. Meine Stimme klang so gar nicht nach meiner. „Mein Spaziergang“, fuhr ich hektisch fort und stolperte über meine Worte. „Nur etwas … zu anstrengend.“

Vanessa war nicht überzeugt. Sie musterte mich, durchleuchtete mich mit ihrem Blick. „Wir sollten Doktor Cameron verständigen.“

Den Impuls, es Vanessa schnell auszureden, schluckte ich mühsam herunter. „Wenn du meinst“, murmelte ich stattdessen, „aber ich halte es für unnötig. Ich bin erschöpft, nichts weiter.“

Es ersparte mir nicht den Besuch des Arztes.