Leseprobe Sinful Affair

Kapitel 1

Zum x-ten Mal frage ich mich, was ich mir nur dabei gedacht habe. Es ist kühl, als ich aus dem Bus steige und die wenigen Meter zum Park Hyatt Hotel zurücklege. Leichter Regen nieselt auf mich herab.

Vor der schweren Eingangstür, die zur Hotelbar führt, atme ich noch einmal tief durch. Kritisch betrachte ich mich in der Glasscheibe. Mit meinem verführerischen Erscheinungsbild bin ich zufrieden. Dennoch ist der Anblick ungewohnt. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nicht wirklich viele schicke oder wie in diesem Fall sexy Kleider besitze. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich in Jeans, T-Shirt und Sneakers am wohlsten fühle. Ganz ehrlich, so ist es nicht nur bequem, sondern auch verdammt praktisch. Als ich jünger war, okay, um einiges jünger, habe ich das noch anders gesehen. Aber wie heißt es so schön: Mit dem Alter wird man klüger.

Mit gemischten Gefühlen drücke ich die Türklinke nach unten und betrete die Bar. Sie ist an diesem Freitagabend gut besucht, aber nicht überfüllt. Kurz schaue ich mich um und steuere die Theke an. Ich setze mich auf einen der freien Barhocker und schlage die Beine übereinander. Meine Handtasche lege ich auf den Tresen. Während ich auf die Bedienung warte, um meine Bestellung aufzugeben, hole ich mein Handy heraus. Das Display zeigt zehn vor neun an, leichte Nervosität breitet sich in mir aus. Verstohlen suchen meine Augen den Raum nach Mike ab. Ich kann ihn nirgends entdecken. Was mich kaum überrascht, da wir erst um neun verabredet sind.

„Was kann ich Ihnen bringen?“, fragt die Frau hinter der Bar und lächelt mich freundlich an. Ich überlege, was ich bestellen soll, und entscheide mich für einen Pimm’s No.1 Longdrink. Etwas Alkoholisches ist nicht schlecht, um meine Anspannung zu lockern.

Während ich an meinem Drink nippe, überkommen mich Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee war, hierher zu kommen. Eigentlich kenne ich Mike nicht, trotzdem sitze ich nun hier und warte auf ihn. Scheiß Tinder! Sein Profil hat mich direkt angesprochen, vielmehr seine Fotos, den Text habe ich nicht gelesen. Das fand ich nicht nötig, weil ich momentan nicht ernsthaft jemanden kennenlernen möchte. Nicht nach dem, was ich gerade durchgemacht habe. Ohne groß nachzudenken, habe ich Mike eine Nachricht geschickt. Prompt hat er geantwortet. Nachdem wir eine Weile hin und her geschrieben haben, was amüsant war, hat Mike schnell klar gemacht, dass er nur das Eine möchte. Und weil ich etwas Ablenkung brauche, habe ich zugesagt. Jetzt sitze ich hier und warte auf ihn.

Nochmals tippe ich mein Display an, zehn nach neun. Wieder lasse ich meinen Blick durch die Bar schweifen. Dieses Mal etwas weniger verstohlen. Weit und breit kein Mike in Sicht. Langsam überkommt mich ein ungutes Gefühl. Was, wenn er nicht kommt? Ich schiebe den Gedanken beiseite, denn zehn Minuten Verspätung sind definitiv noch kein Weltuntergang. Er kommt bestimmt noch, versichere ich mir. Wäre es mir womöglich lieber, wenn er nicht kommen würde? Mein Unbehagen verstärkt sich.

„Bist du allein hier?“, fragt mich ein Mann in grauem Polohemd und schwarzen Jeans, während er mich von Kopf bis Fuß unverhohlen mustert.

„Ja, aber ich erwarte noch jemanden“, antworte ich höflich.

„Ich kann dir Gesellschaft leisten, während du wartest. Ich spendiere dir einen Drink, Kleines“, erwidert er in aufdringlichem Ton. Angewidert erschaudere ich. Und überhaupt, wie kommt er dazu, mich Kleines zu nennen? Ich bin nicht sein Kleines.

„Nein, danke“, entgegne ich barsch.

Er versucht, mich in ein Gespräch zu verwickeln, aber ich habe keine Lust, mich mit ihm abzugeben. Vor allem lasse ich mir nicht gerne Drinks ausgeben, die kann ich auch selbst bezahlen. Als er das endlich verstanden hat, dreht er sich um und spricht direkt die nächste Frau an, die allein an der Bar sitzt.

Während ich mich insgeheim frage, wie viele Frauen er wohl schon vor mir angequatscht hat, fällt mein Blick auf die große Uhr hinter der Bar. Es ist schon halb zehn. Abermals nehme ich mein Telefon in die Hand und prüfe, ob ich eine Nachricht erhalten habe. Fehlanzeige. Kurz überlege ich, ob ich Mike schreiben soll, entscheide mich aber dagegen.

Ich bin nur froh, dass ich niemandem erzählt habe, was ich heute vorhatte. Nicht einmal meiner Schwester, und wir stehen uns wirklich nahe. Es wäre mir unangenehm gewesen, wenn ich hätte beichten müssen, dass der Typ gar nicht aufgetaucht ist. Vor allem da ich über zwei Stunden investiert habe, um mich auf das Treffen mit ihm vorzubereiten. Für ihn habe ich meine langen dunkelblonden Haare geglättet und mich mehr als üblich geschminkt. Alles für die Katz.

„Ist der Stuhl noch frei?“, fragt mich eine tiefe Männerstimme auf Englisch. Der starke britische Akzent ist nicht zu überhören.

„Ja“, antworte ich knapp, ohne mich umzudrehen. Ich bin enttäuscht, anscheinend lässt Mike mich wirklich sitzen. Nochmals greife ich zu meinem Smartphone, obwohl ich es erst vor zwei Minuten in der Hand hatte.

„Er wird nicht kommen“, vernehme ich direkt neben mir, wieder diese tiefe Stimme.

„Wie bitte?“ Immer noch habe ich dem Unbekannten den Rücken zugewandt. Woher weiß er, dass ich auf einen Mann warte? Und warum behauptet er, dieser wird nicht auftauchen?

„Du hast in den letzten dreißig Minuten sicher mehr als zehnmal dein Mobiltelefon angestarrt. So wie du aussiehst, wartest du bestimmt nicht auf eine Freundin. Ansonsten würdest du wohl kaum Strapsen tragen.“

Wie kann er wissen, was ich unter meinem Kleid trage? Verblüfft über seine unverschämte Antwort, wende ich mich ihm zu.

Seine dunkelbraunen Haare sind kurz geschnitten und sein Kinn weist keine Bartstoppeln auf. Er muss frisch rasiert sein. Seine Augen haben den gleichen Farbton wie seine perfekt frisierten Haare. Er hält meinem Blick stand und deutet mit seiner Hand auf meine Beine. Als ich ruckartig nach unten schaue, muss ich entsetzt feststellen, dass der Saum meines geliehenen schwarzen Guess-Kleides hochgerutscht ist. Man kann klar und deutlich einen Teil der Bändel erkennen. Ich ziehe hastig mein Kleid weiter nach unten.

Genervt über seine dreiste Bemerkung erwidere ich: „Habe ich gesagt, der Stuhl ist frei? War ein Fehler.“

Von ihm kommt keine Reaktion. Stattdessen schwenkt er das Glas in seiner Hand und nimmt einen Schluck, wobei er die ganze Zeit geradeaus über den Tresen schaut. Er macht keine Anstalten, aufzustehen und zu gehen. Meine Stimmung erreicht den absoluten Tiefpunkt. „Weißt du was? Ich habe, bevor ich los bin, noch meine Wohnung geputzt. Dafür schmeiße ich mich immer in heiße Dessous. Falls du in diesem Hotel ein Zimmer hast und es gereinigt werden muss, melde dich einfach bei mir.“ Meine Stimme trieft vor Sarkasmus.

Immer noch geradeaus blickend, mit einem kleinen Schmunzeln auf den Lippen, erwidert er: „Das einzig Dreckige in meinem Zimmer sitzt gerade an der Bar und genehmigt sich einen Scotch.“ Nun wendet er sich mir zu und sieht mich gespannt an.

Eines muss man ihm lassen, auch wenn er sich wie ein selbstgefälliges Arschloch benimmt, schlagfertig ist er.

Das wird ja immer besser mit diesem mysteriösen Fremden. Ich muss mich korrigieren: mit diesem mysteriösen, unverschämt gutaussehenden Fremden. Erst jetzt fällt mir auf, dass er ein markantes Gesicht hat, männlich, aber auch leicht einschüchternd. Mister X trägt einen dunkelblauen Anzug mit Sakko und Krawatte, darunter ein weißes Hemd. An seinem linken Handgelenk erkenne ich eine silberne Uhr.

So schnell gebe ich nicht klein bei, es ist auf jeden Fall besser, mich mit ihm herumzuschlagen, als hier zu sitzen und mir den Kopf darüber zu zerbrechen, warum Mike nicht aufgetaucht ist.

„Bist es du, Christian?“, säusle ich übertrieben freundlich – in der Hoffnung, er hat zumindest schon einmal von Fifty Shades of Grey gehört.

„Ich bin James. James verhält sich wie James, nicht wie Christian Grey.“ Mir ist, als husche ein kleines Lächeln über sein Gesicht, als er das sagt.

Die Barkeeperin kommt umgehend auf ihn zu, als er die Hand hebt, um sich noch einen Scotch zu bestellen.

„Möchtest du auch noch einen Drink? Dein Glas kann nicht noch leerer werden. Vor allem, weil du auch die Deko, bestehend aus Gurke und Beeren, gegessen hast. Gern kann ich dir auch etwas zu essen bestellen, falls du Hunger hast.“

Da wende ich mich doch lieber selbst der Bardame zu und gebe meine Bestellung auf. Ich bin erleichtert, als sich Schweigen zwischen uns ausbreitet. Gespannt warte ich darauf, dass er noch etwas sagt, aber er bleibt still. James nimmt einen Schluck von dem Scotch, der ihm soeben hingestellt wurde. Auch ich greife zu meinem Glas und trinke davon.

Ein letztes Mal beschließe ich nachzuschauen, ob Mike sich gemeldet hat. Ein Blick auf das Display zeigt mir, dass es schon viertel nach zehn ist, ich aber keine Nachricht von ihm erhalten habe. Ich seufze über diese Demütigung. Er wusste genau, was ich anziehen und wozu wir uns treffen würden.

„Ist das dein erstes Mal?“ Offensichtlich hat James beschlossen, das Gespräch fortzuführen. Insgeheim bin ich ihm nun doch dankbar dafür. Dadurch gibt er mir keine Gelegenheit, über die miese Nummer nachzugrübeln, die Mike gerade abzieht.

„Erstes Mal? Ich glaube, das wäre mit neunundzwanzig Jahren doch etwas spät.“

„Du weißt genau, was ich meine.“ Er klingt ernst.

„Keine Ahnung, auf was du hinauswillst.“

„Dann muss ich deutlicher werden. Ist das dein erstes Sex-Date?“, fragt er, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ähm …“ Ich muss mich sammeln. Mit seiner direkten Art hat er mich kalt erwischt. Kann der Typ hellsehen? „Ja, wäre es gewesen. Aber noch mal mache ich das bestimmt nicht.“

„Ist es denn ein Notfall?“ Notfall? Wie soll ich das denn verstehen? Warum muss James so neugierig sein?

„Nein, es ist definitiv kein Notfall.“ Ich muss echt einen verzweifelten Eindruck abgeben, wenn er das denkt.

„Ich frage mich gerade, warum du dich darauf eingelassen hast. Irgendwie scheinst du mir nicht der Typ dafür zu sein.“ Es klingt nicht wertend. Endlich die ersten vernünftigen Worte aus seinem Mund, vielleicht kann man doch normal mit ihm kommunizieren.

„Da hast du recht, darum bin ich auch froh, dass es nicht funktioniert hat.“

„Wie heißt du eigentlich?“, will er wissen, während er mich von den Zehen bis zu den Haarspitzen betrachtet. Seine ungeteilte Aufmerksamkeit schmeichelt mir. Wenigstens habe ich mich nicht umsonst zurecht gemacht. Ich überlege, ob ich ihn fragen soll, wie er mich denn gerne nennen würde, aber ich verkneife es mir.

„Mia“, antworte ich stattdessen.

Kapitel 2

Von nun an verläuft das Gespräch mit James überraschend angenehm. Obwohl es mir scheint, dass er nicht sonderlich gern über sich selbst spricht. Er beantwortet all meine Fragen, erzählt aber nie mehr als nötig. Dennoch erfahre ich einiges über ihn. Er ist vierunddreißig Jahre alt, in England geboren und aufgewachsen, hat in Harvard Wirtschaft studiert und lebt jetzt in Schottland. Heute ist er geschäftlich in Zürich.

Mein Englisch ist nicht schlecht, aber auch nicht herausragend. Das wird mir immer wieder bewusst, wenn er geduldig meine Aussprache oder Ausdrucksweise verbessert. Ich nehme ihm das nicht übel, er wirkt dabei nicht belehrend. Es wäre aber einfacher für mich, James könnte Deutsch.

Die Zeit vergeht wie im Flug. Als ich das nächste Mal auf die große Uhr hinter der Bar blicke, stelle ich perplex fest, dass es schon weit nach elf ist. Es ist langsam Zeit, nach Hause zu gehen. Morgen früh bin ich zum Brunch verabredet.

„War wirklich schön, dich getroffen zu haben, du hast diesen Abend für mich doch noch zu einem guten Ende gebracht.“ Ich hebe die Hand, damit die Barkeeperin auf mich aufmerksam wird und ich die Rechnung verlangen kann.

„Geht auf mich“, sagt James knapp und zückt seine Kreditkarte.

„Kommt nicht infrage, ich bezahle selbst“, entgegne ich schroff. Ich kann es nicht leiden, wenn ich nicht selbst für meine Drinks aufkomme. Immer habe ich dann das Gefühl, der anderen Person etwas schuldig zu sein. James scheint irritiert. Zu der Bedienung meint er: „Die Dame und ich zahlen getrennt.“

Während zuerst ich meine Rechnung und er dann seine begleicht, lasse ich mir seine Worte nochmals durch den Kopf gehen. Dame hat er mich genannt, selbst würde ich mich eher als Typ Holzfäller bezeichnen, aber das braucht er nicht zu wissen. Bei dem Gedanken muss ich schmunzeln.

James mustert mich, bevor er sich vorbeugt und mir fest in die Augen blickt. „Was, wenn ich dir nun sage: Was immer du mit dem Typen, der nicht aufgetaucht ist, vorhattest, das kann ich auch und vermutlich sogar noch besser. Würdest du darauf eingehen?“ Seine Frage verschlägt mir die Sprache. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er mir so ein Angebot macht. Er klingt unheimlich selbstsicher. Augenblicklich zeigt mir mein Kopfkino heiße Bilder von unseren verschwitzten Körpern, die ineinander verschlungen sind. Mein Unterleib kommentiert das mit einem angenehmen Ziehen.

„Ähm …“, ist alles, was ich verlegen herausbringe. Deutlich spüre ich die verräterische Wärme auf meinen Wangen.

„Tu mir bitte den Gefallen und denk darüber nach.“ Mit diesen Worten kippt er den letzten Schluck seines bernsteinfarbenen Drinks hinunter.

„Okay, warum eigentlich nicht, wenn ich schon einmal hier bin.“ Die Worte sind ausgesprochen, bevor ich richtig darüber nachgedacht habe.

James sieht mich an. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er normalerweise einfach ein Ja hört, wenn er so eine Frage stellt. Er sagt jedoch nichts und erhebt sich vom Barhocker; er reicht mir die Hand, um mir von meinem herunterzuhelfen. Als ich direkt vor ihm stehe, wird mir erst bewusst, wie groß und breit er ist. Obwohl ich hohe Schuhe trage, überragt er mich ein gutes Stück. Ich schätze ihn auf fast ein Meter neunzig. Mich selbst würde ich nicht gerade als klein bezeichnen, mit meinen ein Meter siebzig gehöre ich zum Durchschnitt.

„Nach dir“, sagt James und deutet zum Ausgang der Bar, die ins Hotel führt. Während wir schweigend nebeneinander durch die Lobby laufen und auf die Aufzüge zusteuern, fahre ich mit meinen vor Nervosität feuchten Händen über mein Kleid. Hoffentlich bereue ich meine Entscheidung im Nachhinein nicht. Ich kenne ihn doch kaum und gehe dennoch mit ihm auf sein Zimmer.

Als wir vor dem Lift anhalten, drückt James den Knopf und steht seelenruhig neben mir, ohne jegliches Anzeichen von Anspannung. Er macht das bestimmt nicht zum ersten Mal. Ein Geräusch ertönt und die Aufzugtüren öffnen sich. Tief atme ich durch und gehe hinein, James folgt mir. Während unserer Fahrt nach oben trete ich unruhig von einem Bein auf das andere, mit verschränkten Armen vor der Brust. Mein letzter One-Night-Stand liegt Ewigkeiten zurück. Ich wäre froh, er würde irgendetwas sagen, tut er aber nicht. Das gleiche Geräusch wie eben ertönt und die Türen gleiten auf. James deutet mir mit einer Handbewegung an, dass er mir den Vortritt lässt.

Erstaunt bemerke ich, dass wir uns nicht in einem Hotelgang befinden, sondern in einer Art Wohnung. Vor mir erstreckt sich ein geräumiges Wohnzimmer, links davon ist eine moderne Küche. Rechts vom Wohnzimmer führt eine gläserne Treppe, die in die Wand eingelassen ist, in den oberen Stock. Ganz rechts gibt es noch einen Gang, der vermutlich zu weiteren Zimmern sowie Badezimmern führt.

„Das ist aber schon etwas mehr als nur ein Zimmer“, bemerke ich, während ich meinen Blick schweifen lasse.

„Das Penthouse wurde von der Firma gemietet, für die ich hier bin“, antwortet er, geht zum Kühlschrank und öffnet ihn. „Möchtest du noch etwas trinken?“

„Ja gern, ich nehme ein Wasser.“ Vor Aufregung ist mein Mund wie ausgetrocknet.

James reicht mir das Glas und ich trinke, langsam verschwindet meine Ruhelosigkeit. „Darf ich mich umschauen?“

„Selbstverständlich.“ Er dreht sich um und geht zu einem Schrank im Eingangsbereich.

Das muss er mir nicht zweimal sagen. Gespannt wende ich mich der gläsernen Treppe zu und laufe hinauf. Als ich schon fast oben angekommen bin, höre ich ihn sagen, dass ich mir gern ein Zimmer aussuchen kann, aber nur hier … Den Rest des Satzes verstehe ich nicht mehr, weil ich den Raum oberhalb der Treppe betrete.

Direkt vor mir steht ein imposantes Bett mit dunkelblauer Bettwäsche, was mich irritiert. In Hotels sind die Laken meines Wissens immer weiß. Rechts davon stehen ein Sessel sowie ein kleiner Tisch. Auf der linken Seite befinden sich ein Badezimmer mit einer Walk-in-Regendusche, einem Jacuzzi sowie einer Ankleide. Hinter mir, an der Wand gegenüber vom Bett, steht eine halbhohe Kommode mit einem futuristisch aussehenden Spiegel darüber.

„Mia?“, höre ich James von unten rufen.

„Bin oben!“, gebe ich zurück. Täusche ich mich oder habe ich James gerade schnauben gehört? Ist es etwa nicht in Ordnung, dass ich hier bin? Das kann ich mir kaum vorstellen, er sagte, ich könne mir ein Zimmer aussuchen. Als ich noch überlege, vernehme ich Schritte auf der Treppe. Kurz darauf betritt er das Zimmer und sieht mich mit zusammen gepressten Lippen an. Wortlos legt er eine kleine Schachtel neben das Bett auf den Nachttisch und verschwindet in der Ankleide.

Als er zurückkommt, trägt er nur noch seine dunkelblaue Anzughose und das weiße Hemd. Er läuft an mir vorbei, um sich in den Sessel zu setzen. Gespannt beobachte ich, wie er die Ärmel seines Hemdes nach oben krempelt, und bin fasziniert von diesem Anblick. Es gefällt mir, wie sich die Muskeln in seinen Unterarmen bewegen und anspannen.

Es wird langsam ernst, deswegen binde ich mir meine langen Haare zusammen. Dafür wende ich mich dem Spiegel über der Kommode zu. Mehrmals fahre ich mir mit den Fingern durch die Haare, um meinen Pferdeschwanz so hoch und straff wie nur möglich zu platzieren.

Als ich mit dem Resultat zufrieden bin, drehe ich mich zu James um. Er schaut mir direkt in die Augen. Seine ganze Aufmerksamkeit ist auf mich gerichtet. Meine Nervosität kehrt schlagartig zurück. Ich habe doch keine Ahnung, wie ich das hier anfangen soll, und er macht keine Anstalten sich zu erheben, um auf mich zuzukommen. Worauf wartet er?

Als ich die Spannung nicht mehr aushalte, frage ich verunsichert: „Was jetzt?“

James legt seinen Kopf schief. „Was soll ich nur mit dir anfangen?“, sagt er wohl mehr zu sich selbst als zu mir.

Trotzdem verletzen mich seine Worte. Das Ganze war doch seine Idee, er hat mich abgeschleppt. Warum macht er das, wenn er dann nicht weiß, was er mit mir anstellen soll? Na super, zuerst Mike und nun auch noch James. Werde ich hier gerade zum zweiten Mal an einem Abend gekorbt? Ich stemme die Hände in die Hüfte und funkle ihn aufgebracht an.

„Weißt du was? Ich kann auch …“ Weiter komme ich nicht. James ist aufgestanden und in wenigen zügigen Schritten bei mir. Er legt mir eine Hand unters Kinn, hebt es an und küsst mich.

Seine Lippen fühlen sich weich und angenehm an. Als er seinen Mund leicht öffnet, gleite ich mit meiner Zunge hinein, um mit seiner zu spielen. Der Kuss wird fordernder und seiner Kehle entrinnt ein leises Knurren. Er löst sich von mir und schaut mich ungläubig an. Dann hat er sich wieder gefangen und schiebt mich rückwärts an die Wand hinter mir. Ich fühle die raue Oberfläche des Putzes auf meiner Haut, als er mich dagegen drückt.

Eine Hand legt er in meinen Nacken, behutsam gleitet er mit seiner Zunge von meinem Schlüsselbein meinen Hals hinauf, leckt über meine Lippen und küsst mich wieder. Die andere Hand legt er auf die Außenseite meines Oberschenkels. Langsam fährt er mit seinen Fingern hoch, unter mein Kleid, bevor er mich fest am Hintern packt. Ich erwidere seinen Kuss und muss unter seinen Berührungen unweigerlich stöhnen. In meinem Körper breitet sich ein angenehmes Kribbeln aus und mir wird warm.

Meine Hände lege ich auf seine muskulöse Brust. Ungestüm zerre ich sein Hemd auf, nachdem ich es ihm aus der Hose gezogen habe. Es gelingt mir, den ersten Knopf zu öffnen.

James löst abrupt seinen Mund von meinem. „Nein. Dreh dich um.“ Er sagt das bestimmt und auf eine Art und Weise, die kein Widerwort duldet. Als ich nicht reagiere, ergänzt er: „Ich helfe dir.“

Ehe ich mich versehe, hat er mich umgedreht und ich spüre seine Erektion an meinem Hintern. Seine eine Hand wandert vorne unter mein Kleid, die andere hat er um meine langen Haare gewickelt und zieht leicht daran, sodass ich den Kopf zur Seite drehen muss.

Als er mich erneut küssen will, sage ich „Stopp“, leiser als beabsichtigt. Auch wenn mir gefällt, wie James mich berührt und meine Lust immer größer wird, bin ich über seine Antwort irritiert.

Zögerlich, schwer atmend, löst er sich von mir und tritt zurück. Ich wende mich ihm zu und blicke ihn verunsichert an.

„Warum hast du vorhin Nein gesagt?“, will ich wissen.

Er fährt sich mit einer Hand durchs Haar, bevor er antwortet. „Weil ich mein Hemd nicht ausziehe.“

Verwirrt über seine Aussage, ziehe ich die Augenbrauen zusammen und hake nach. „Warum nicht? Immerhin wollen wir Sex haben.“

„Ja, das ist richtig, aber dafür muss ich mich nicht komplett ausziehen“, gibt er nüchtern zurück.

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, mir kommt das Ganze ziemlich schräg vor. Denkt er wirklich, er kann sein Oberteil anbehalten? Warum will er das unbedingt? Sein Verhalten gibt mir das Gefühl, ein billiges Flittchen zu sein, obwohl er mich bis jetzt nicht so behandelt hat. In diesem Moment fühle ich mich dumm und abgewertet. Dementsprechend fällt meine Antwort bissig aus. „Wenn du denkst, dumm fickt besser, muss ich dich enttäuschen.“ Demonstrativ verschränke ich die Arme vor der Brust, lehne mich gegen die Wand und winkle mein linkes Bein an.

„Das denke ich wirklich nicht, ansonsten müsste ich verdammt schlecht ficken“, kontert er amüsiert. Jetzt macht er sich auch noch über mich lustig.

„Wenn du das Hemd nicht ausziehst, gehe ich“, erwidere ich bestimmt, aber auch gekränkt.

Gespannt warte ich auf seine Reaktion, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Inständig hoffe ich, dass er es auszieht. Das alles hat sich bis jetzt so unglaublich gut angefühlt. Mir wird bewusst, wie sehr ich ihn will. Hoffentlich bemerkt er das nicht. Fest nehme ich mir vor, standhaft zu bleiben.

Er steht reglos da, schaut mich nur an. Sekunden verstreichen. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, während er offensichtlich über seinen nächsten Schritt nachdenkt.

„Anscheinend läuft das hier“, er deutet zuerst auf mich und dann auf sich, „sowieso nicht so, wie ich es gewohnt bin.“ Nach einer kurzen Pause, in der er sich mit der Hand über das Kinn fährt, spricht er weiter. „In Ordnung, ich komme deiner Aufforderung nach und ziehe mein Hemd aus. Aber keine Fragen, sonst kannst du gehen.“

Eigentlich sollte ich darauf etwas erwidern. Zumindest nachfragen, wie das genau gemeint ist, aber ich kann nicht. Er öffnet zügig und routiniert sein Hemd, einen Knopf nach dem anderen.

Mir ist bewusst, dass ich ihn förmlich anstarre, als er es schließlich über seine breiten Schultern streift. Auf den ersten Blick fällt mir auf, wie muskulös und definiert sein Oberkörper ist, er hält sich anscheinend in Form. Was ich sehe, gefällt mir ausgesprochen gut. Dann erkenne ich an seiner rechten Körperhälfte einige kleine und auch größere Narben. Auch zieren drei schwarze Tattoos seine Vorderseite. Wie gerne würde ich ihn fragen, wie es dazu gekommen ist und was die Zeichnungen auf seiner Haut bedeuten. Weil er aber unmissverständlich klar gemacht hat, dass er das nicht will, respektiere ich seinen Wunsch und halte den Mund.

Stattdessen gehe ich langsam auf ihn zu, obwohl er mit dem Narben übersäten Oberkörper einschüchternd und bedrohlich wirkt.

James bewegt sich nicht, schaut mich nur prüfend an, während ich immer näher komme. Ich erreiche ihn und strecke meine rechte Hand aus, damit fahre ich gemächlich über seine Brust. Als hätte er auf dieses Zeichen gewartet, senkt er seinen Kopf, um mich gierig zu küssen. Er umgreift mich mit beiden Armen und öffnet den Reißverschluss meines Kleides. Meine Hände hält er in die Höhe und streift es mir über den Kopf. Was mich überrascht, ist die Tatsache, dass er mein Kleid anschließend zusammenfaltet, um es auf die Kommode zu legen. Das hätte ich nicht erwartet.

Er geht zum Nachttisch, nimmt etwas aus der kleinen Schachtel und stopft es sich in die Hosentasche. Ehe ich mich versehe, hat er mich gepackt und hochgehoben. Instinktiv schlinge ich meine Beine um seine Taille. Wieder steuert er auf die Wand hinter mir zu. Mit seinem Mund verschlingt er mich förmlich. Ich löse mich von ihm, um Luft zu holen und kralle meine Finger in seinen Hintern, um ihn fester an mich zu pressen. Mit einer Hand öffnet er geschickt meinen BH am Rücken, der zu Boden fällt. Die andere schiebt er in meinen feuchten Slip.

Meine Erregung wächst ins Unermessliche. Endlich erreichen seine Finger meinen empfindlichen Punkt und reiben zuerst sanft, dann immer härter und schneller darüber. Ich erschaudere und meiner Kehle entweicht ein Stöhnen, als er gleichzeitig mit seiner Zunge über meinen harten Nippel fährt. Genüsslich saugt er daran und beißt leicht zu. Stromstöße jagen durch meinen Körper und es fühlt sich an, als würde ich in Flammen stehen. Ich komme nach nur wenigen Atemzügen. Dabei werfe ich den Kopf in den Nacken und schließe die Augen.

Außer Atem öffne ich meine Lider und blicke in James Gesicht. Mir wird bewusst, dass ich mehr von ihm will. Ich will ihn tief in mir spüren. Entschlossen greife ich zum Bund seiner Hose, öffne zuerst seinen Gürtel, dann den Reißverschluss, ohne dass ich aufhöre ihn anzuschauen. Er greift in seine Hosentasche, zieht ein Kondom hervor und hilft mir, seine Hose samt Boxershorts nach unten zu schieben.

Schnell hat er sich das Präservativ übergestreift und hebt mich hoch. Er schiebt meinen Slip zur Seite und dringt mit einem Stoß in mich ein. Seine Bewegungen sind rhythmisch und kräftig, sein Mund leicht geöffnet, sein Blick verschwommen. In mir baut sich wieder dieses intensive Gefühl auf und ich merke, wie ich auf den nächsten Höhepunkt zusteuere. James schiebt seine Hand zwischen uns und berührt meine Klitoris. Es ist um mich geschehen. Ich stöhne laut auf, als die Lust mich übermannt.

„Fuck“, sagt James zwischen seinen schweren Atemzügen und kommt ebenfalls.

Erschöpft und schnell atmend, lege ich meinen Kopf an seine Brust. Ich fühle mich vollends befriedigt. Achtsam lässt er mich zu Boden gleiten. Er löst sich von mir, zieht sich den Überzieher aus und knotet ihn oben zusammen. Zu schnell hat er die Hose wieder hochgezogen und schließt seinen Gürtel.

Während er im Bad verschwindet, ziehe ich mir meinen Büstenhalter an. Ich will nach dem Kleid auf der Kommode greifen, doch er kommt mir zuvor und reicht es mir. Ich steige hinein und er schließt den Reißverschluss.

Im Nachhinein ist mir die ganze Situation unangenehm, also schnappe ich mir schnell meine Handtasche und laufe die Glastreppe hinunter. Als ich schon fast den Aufzug erreicht habe, höre ich James’ tiefe Stimme direkt hinter mir.

„Bist du auf der Flucht?“

„Äh, nein. Es ist nur schon spät und ich muss morgen früh raus.“ Ich möchte nicht unhöflich sein, darum füge ich noch „Danke für alles“ hinzu.

Er sieht mich belustigt an: „Ich danke dir.“

„War mir eine Freude“, erwidere ich und lächle ihn an, während ich den Knopf für den Lift betätige.

Als hätte er auf diese Antwort gewartet, raunt er: „Wie lautet deine Telefonnummer?“

Kapitel 3

Ich sitze im Bus und könnte mich dafür ohrfeigen, dass ich James tatsächlich meine Nummer gegeben habe. Aber da ich davon ausgehe, dass wir uns nicht wiedersehen werden – er wohnt in Schottland, ich in Zürich –, bin ich eingeknickt. Zuerst wollte er, dass mich ein Chauffeur vom Hotel nach Hause bringt, was für mich nicht infrage kam. Dann bestand er darauf, mir ein Taxi zu rufen, was ich ebenfalls ablehnte. Ich erklärte vehement, dass ich kein Problem damit hätte, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Schlussendlich hat er mich zähneknirschend ziehen lassen.

Als ich meine Wohnung betrete und das Licht anschalte, trifft mich fast der Schlag. Kartons stehen auf dem Boden und Schubladen sind offen. Panik überkommt mich. Was ist denn hier passiert? Mir fällt ein Zettel auf der Küchenablage ins Auge.

Hallo Mia

Ich habe meine restlichen Sachen geholt.

Gruß Dave

Nun ist mir klar, warum es hier so aussieht. Genervt lasse ich mich auf mein schwarzes Ledersofa fallen. Eigentlich hätte ich mir das denken können, als Dave mich gestern anrief. Er ist erst letzte Woche ausgezogen. Anscheinend wollte er nur in Erfahrung bringen, ob ich heute Abend zu Hause bin, damit er ungestört in meiner Abwesenheit einige Dinge holen konnte. Er hätte mir das auch einfach sagen können, anstatt es hinter meinem Rücken durchzuziehen.

Leider hat Dave immer noch einen Schlüssel zur Wohnung. Das ist der Nachteil, wenn man sich zusammen eine Eigentumswohnung kauft. Es nervt mich, dass er einfach hier auftauchen kann, wann immer er will. Wir haben uns vor fast einem Jahr den Luxus der eigenen vier Wänden gegönnt. Zuerst war ich mir nicht sicher, die Wohnung hat ein kleines Vermögen gekostet. Ich hatte nicht annähernd so viel Geld wie er. Über die Jahre habe ich zwar einiges auf die Seite gelegt, aber im Gegensatz zu seinen sind meine Eltern nicht wohlhabend. Deswegen hat er achtzig Prozent der Kosten übernommen und ich nur zwanzig. Für Dave war das kein Problem, da er die Wohnung auch als Investition angesehen hat, trotzdem musste er mir das ständig unter die Nase reiben.

Wir waren fünf Jahre ein Paar und haben viel gemeinsam erlebt. Genauso wie ich liebt er es zu reisen und neue Orte zu entdecken. So waren wir viel unterwegs, sogar eine Weltreise haben wir gemacht. Ich besitze viele gute Erinnerungen an diese Zeit. Leider hat sich das irgendwann geändert, Dave wurde immer unzufriedener. Was ich auch gemacht oder getan habe, ich konnte es ihm nicht mehr recht machen. Seine Erwartungen an mich waren viel zu hoch. Ich wäre nicht mehr ich gewesen, wenn ich ihnen nachgekommen wäre.

Erschöpft streife ich mir mit dem Fuß zuerst den einen und dann den anderen Pumps ab, während ich immer noch auf der Couch verweile. Gedankenverloren starre ich aus dem Fenster in die Dunkelheit der Nacht hinaus.

Dave ist sehr materialistisch veranlagt, Geld ist ihm wichtig. Er sieht sich als etwas Besseres als die Menschen, die nicht so viel besitzen. Gerne bezeichnet er sie als faul und dumm. Das war einer der wenigen Charakterzüge, die ich von Anfang an nicht an ihm leiden konnte. Deswegen hatten wir immer wieder unschöne Auseinandersetzungen.

Seine größte Stärke ist, dass er bei allen Personen gut ankommt, wenn er das will. Er weiß genau, was er zu sagen hat und wie er sich benehmen muss. Meine Familie und alle meine Freunde vergötterten ihn. Das hat sich auch durch unsere Trennung nicht geändert. Über die Jahre hat er sie alle um den Finger gewickelt. Er ist definitiv Everybody’s Darling. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb ich meiner Familie erst von unserer Trennung erzählt habe, als Dave schon ausgezogen war. Wir hatten uns schon einen Monat zuvor entschlossen, getrennte Wege zu gehen, nachdem mir Dave offenbart hatte, seine Gefühle für mich hätten stark nachgelassen und er sehe keine gemeinsame Zukunft mehr für uns.

Ich beschließe, mir das Ausmaß der Zerstörung, das er angerichtet hat, morgen genauer zu betrachten. Ich bin todmüde, darum will ich so schnell wie möglich ins Bett und bete, dass er das nicht auch mitgenommen hat.

***

Um neun Uhr reißt mich mein Wecker aus der viel zu kurzen, aber erholsamen Nachtruhe. Ich liebe es zu schlafen, am liebsten acht Stunden oder mehr. Weil ich mir aber vorgenommen habe, noch etwas aufzuräumen, bevor ich zum Brunch gehe, stehe ich auf und mache mich im Bad frisch.

Als Erstes koche ich Wasser auf, damit ich mir einen English Breakfast Tea zubereiten kann. Während ich darauf warte, dass das Wasser endlich kocht, klingelt mein Handy. Ein Blick auf das Display zeigt mir, dass es meine Mutter ist. Kurz überlege ich, ob ich rangehen soll. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, über was sie sprechen möchte. Zögerlich drücke ich den grünen Knopf.

Nach dem fast einstündigen Gespräch brummt mir der Schädel. Wie nicht anders zu erwarten, ging es nur um Dave. Ich liebe meine Mutter und habe ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Familie, aber manchmal kann sie anstrengend sein.

Hat sie mir doch tatsächlich nahegelegt, ich soll es noch mal mit ihm probieren. Es sei in meinem Alter nicht mehr so einfach, jemand Neuen zu finden. Wir seien ein großartiges Paar gewesen. Außerdem hätte er immer alles für mich getan und sich hervorragend um mich gekümmert. Fast hätte ich ihr gesagt, dass Dave auch eine verletzende Art hatte, die sie aber nie zu Gesicht bekommen hat. Aber ich hatte keine Lust mit meiner Mutter zu streiten, deshalb habe ich es bleiben lassen. Tief in meinen Herzen weiß ich, dass sie es nur gut meint und das Beste für mich will. Schließlich bin ich ihre Tochter. Aber mit diesem Reunion-Vorschlag schießt sie definitiv übers Ziel hinaus.

Für mich kommt es absolut nicht infrage, die Sache zwischen mir und Dave wieder aufleben zu lassen. Die Trennung war schmerzhaft. Am Anfang habe ich viel geweint, jetzt geht es mir schon besser. Ich bin sehr froh, dass wir nicht mehr zusammen sind. Das ist definitiv das Beste für uns beide.

Am Ende des Telefonats meinte meine Mutter noch zu mir, vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich mehr Gefühle gezeigt hätte und nicht immer so dickköpfig gewesen wäre.

Mir ist bewusst, dass die meisten Menschen mich eher als kalt wahrnehmen. Ich spreche nicht gern über Gefühle und kann diese auch nicht offen zeigen. Am liebsten kläre ich die Dinge mit mir selbst, anstatt sie mit irgendjemandem durchzukauen, so bin ich nun mal.

Aufgrund des langen Telefonats bleibt mir keine Zeit mehr, um aufzuräumen, darum verschiebe ich es auf später. Nachdem ich mir eine helle Jeans und einen dunkelgrauen Pullover angezogen habe, reicht die Zeit gerade noch für etwas Wimperntusche. Ich schlüpfe in meine schwarzen Turnschuhe und verlasse eilig die Wohnung.

Als ich pünktlich im Restaurant ankomme, sehe ich Natanja, meine beste Freundin, schon am Tisch sitzen. Wir haben uns durch unsere Ex-Freunde vor über zehn Jahren kennengelernt. Genau wie ich ist sie leger gekleidet. Unsere Haare und Augen haben eine ähnliche Farbe, wobei das Blau meiner Iris noch einen Tick intensiver ist als ihres. Oft werden wir für Schwestern gehalten. Natanja ist verheiratet und Mutter von zwei großartigen Kindern. Ihre Tochter Ronja ist vier Jahre alt und ihr Sohn Tim zwei.

„Wartest du schon lange?“, frage ich und umarme sie zur Begrüßung.

„Nein, ich bin gerade erst gekommen“, antwortet sie gutgelaunt.

„Ich hätte schwören können, du bist schon länger hier, nur um mal etwas Ruhe vor Frank und den Kindern zu haben“, necke ich sie liebevoll.

Meine Schwester Sabrina kommt angerauscht. Wie immer ist sie modisch gekleidet. Sie liebt es, sich hübsch zu machen, und trägt im Gegensatz zu mir eher elegante Kleidung. Was für mich praktisch ist, da wir Zwillinge sind. Ich kann mir ihre Sachen ausborgen und es passt wie angegossen. Dank ihr sah ich gestern zum Anbeißen aus, das schwarze kurze Guess-Kleid mit V-Ausschnitt kam aus ihrem Kleiderschrank. Genauso wie die dazu passenden Pumps, die sie mir in die Hand gedrückt hat, als ich nach dem Kleid fragte.

Meine Schwester strahlt über beide Ohren und ist unheimlich aufgekratzt. Viel mehr als üblich. Es muss irgendetwas vorgefallen sein. Ich gehe davon aus, dass es mehr als nur ein Sale bei ihrer Lieblings-Fitnesskleidermarke ist. In ihrem Schrank türmen sich die Sportklamotten. Wenn das so weiter geht, braucht sie bald eine extra Kommode dafür. Sabrina geht fast täglich ins Fitnessstudio und trainiert wie verrückt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, bei ihr ist einfach alles straff.

„Was ist los?“, wollen Natanja und ich gleichzeitig wissen.

„Raphael hat mir einen Heiratsantrag gemacht.“ Sie streckt uns ihre rechte Hand entgegen. Am Ringfinger glitzert ein kleiner weißer Diamant an einem silbernen Ring.

„Ich freue mich so für dich! Das war nur eine Frage der Zeit.“ Ich bin ganz aufgeregt. Fest umarme ich meine Schwester.

„Wir wollen mehr Details!“, quiekt Natanja vor Freude.

„Ist das okay für dich, Mia?“, fragt mich Sabrina zögerlich und schaut mich verunsichert an.

„Ja klar, kein Problem. Ich freue mich unglaublich für dich. Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, nur weil meine Beziehung vor kurzem den Bach runterging“, versichere ich ihr. „Aber lasst uns bestellen, bevor du uns die ganze Geschichte erzählst. Ich kenne dich, wenn du mal angefangen hast, bist du nicht mehr zu bremsen.“

Meine Schwester lacht entschuldigend und hebt die Hand, damit die Bedienung auf uns aufmerksam wird. Kaum haben wir unsere Bestellung aufgegeben, legt sie los.

„Raphael ist gestern bei mir im Büro aufgetaucht und hat mich entführt. Stellt euch vor, wir sind über den Zürichsee gerudert und haben dann am Ufer ein kleines Picknick gemacht. Mir ist schon von Anfang an aufgefallen, wie nervös Raphael ist.“ Ihre Augen leuchten, während sie spricht.

Ich bin froh, dass die Bedienung kommt und uns unser Essen serviert. Das zwingt mein Schwesterherz, eine Pause einzulegen.

„Ich musste dann ein Kreuzworträtsel lösen. Die markierten Buchstaben ergaben den Satz: Willst du mich heiraten?“ Sie lächelt und hat den unverkennbaren Gesichtsausdruck einer schwer verliebten.

„Wow, was für ein Romantiker er doch ist“, gebe ich unbeeindruckt von mir und beiße in ein Croissant.

„Mia!“, ruft Sabrina aus und boxt mich in die Seite.

„Ich finde den Antrag unglaublich romantisch“, meint Natanja und schiebt „Mia ist ein hoffnungsloser Fall“ hinterher.

„Das stimmt nicht. Ich kann mit dieser Art von Gefühlsduselei nur nichts anfangen“, wehre ich mich.

Beide blicken mich verständnislos an. Ich bin die Einzige von uns, die einem Strauß Blumen nicht sonderlich viel abgewinnen kann und die Pralinen bevorzugt, da man die wenigstens essen kann.

„Wie dem auch sei. Wir wollen so bald wie möglich heiraten, da wir unbedingt Kinder möchten. Wollt ihr meine Trauzeuginnen sein?“, fragt meine Schwester und sieht uns erwartungsvoll an.

„Als könntest du das entscheiden, auch wenn du uns nicht wollen würdest, wären wir deine Trauzeuginnen. Daran gibt es nichts zu rütteln“, führe ich aus und umarme meine Schwester abermals. Natanja nickt zustimmend.

„Danke euch“, schnieft die frisch Verlobte und meine beste Freundin reicht ihr ein Taschentuch.

Es fühlt sich komisch an, meine Schwester über all diese Dinge sprechen zu hören. Meine eigene Zukunft hat sich vor nicht allzu langer Zeit auch in diese Richtung entwickelt. Traurigkeit erfasst mich und ich schlucke schwer. Sabrina strahlt wie die Sonne und ich fühle mich, als würde ich im Schatten stehen.

Die Bedienung kommt, räumt unsere Teller ab und reißt mich so aus meinen trüben Gedanken.

„Was gibt es eigentlich bei dir neues, Mia?“, will Natanja wissen und nimmt einen Schluck von ihrem Cappuccino.

Ich beiße mir auf die Lippen. Wie erzähle ich am besten, dass ich gestern gegen eine Wand gepresst hart durchgenommen wurde und es mir ausgesprochen gut gefallen hat?

„Ihr könnt euch unmöglich vorstellen, was gestern Abend passiert ist. Ich war in einer Bar und da setzt sich doch …“

Natanjas Klingelton unterbricht mich. Nachdem es zweimal geklingelt hat, nimmt sie den Anruf an.

„Hallo, Schatz“, sagt sie, und hört aufmerksam zu. „Ich komme so schnell wie möglich, mache mich gleich auf den Weg.“

Als sie aufgelegt hat, schaut sie uns bedauernd an. „Tim ist krank. Er hat Fieber bekommen. Ich gehe besser und helfe Frank. Ihr kennt ihn, er bekommt gleich Panik, wenn etwas mit den Kindern ist.“

Sabrina und ich müssen lachen. Frank ist das Paradebeispiel eines Helikopter-Vaters.

„Schon gut, wir können doch gleich alle gehen“, meint Sabrina verständnisvoll.

„Ja, klar, passt für mich“, stimme ich zu, obwohl ich ein wenig enttäuscht bin. Eigentlich hätte ich sehr gern von meinem Sexabenteuer erzählt. Vielleicht ist es aber doch besser, ich behalte es für mich. Ansonsten muss ich mir einen Vortrag darüber anhören, wie gefährlich es ist, mit einem Wildfremden aufs Zimmer zu gehen. Hierbei spielt es keine Rolle, ob der Fremde Mike oder James heißt.

***

Es ist schon nach vier, als ich meine Wohnung betrete. Ich habe keine Lust aufzuräumen, trotzdem wende ich mich der Unordnung zu. Schneller als gedacht, ist das Chaos beseitigt. Zu meinem Leidwesen muss ich feststellen, dass Dave auch ein paar von meinen Sachen mitgenommen hat. Der Drucker, einige Bücher sowie meine komplette DVD-Sammlung sind weg. Er hat sogar den Schmuck, den er mir geschenkt hat, mitgenommen. Das stört mich jedoch nicht, ich mache mir nichts daraus und trage kaum welchen.

Mein Telefon vibriert auf dem Couchtisch und zeigt mir an, dass ich eine neue Nachricht erhalten habe.

Hallo Mia, steht unser Treffen heute Abend noch? Mike

Ungläubig scrolle ich im Chatverlauf nach oben, und da steht es schwarz auf weiß.

Treffen Freitag um 9:00 Uhr im Hyatt an der Bar, ich organisiere das Zimmer. Mike

Will der mich jetzt tatsächlich für dumm verkaufen? Dass er sich im Tag geirrt hat, kann ich kaum glauben. Am liebsten würde ich ihm zurückschreiben, dass ich gestern dort war, wie abgemacht, und froh darüber bin, dass er nicht aufgetaucht ist. Dadurch sei ich zu unglaublich gutem Sex gekommen, auch wenn das Drumherum noch ausbaufähig ist. Das ist mir dann doch zu kindisch. Daher lasse ich es bleiben und ghoste Mike stattdessen.