Leseprobe Shadow and Darkness

10. Das Quartier

Liska war nicht mehr in Dublin gewesen, seit das Schicksal ihre Familie vor vielen Jahren mit kohlrabenschwarzen Stiften und tödlicher Präzision gezeichnet hatte.

Früher hatten sie oft Ausflüge in die etwa zwei Stunden entfernte Stadt unternommen. Von jenem Tag an, der alles verändert hatte, war ihre Angst vor dem Schmerz, der ihr aus jeder der erinnerungsträchtigen Gassen sowie den Restaurants und Schaufenstern entgegengeblickt hätte, jedoch zu groß gewesen.

Nun aber, da die Welt sich ihr in einem vollkommen neuen Gewand präsentierte, lagen die Schatten der Vergangenheit hinter dem magischen Treiben der Stadt verborgen.

Mit vor Staunen leicht geöffneten Lippen und weit aufgerissenen Augen, lief Liska den Parnell Square entlang.

Obwohl der Tag regnerisch und der Himmel entsprechend wolkenverhangen war, lag ein heller Glanz über der Stadt.

Das Leben, das aus jeder Pore Dublins drang, war beinahe erdrückend.

Während der vergangenen drei Tage hatte Liska ihre Wohnung kaum verlassen. Die Reizüberflutung, der sie nach Alanis Kuss ausgesetzt gewesen war, hatte ihr schreckliche Kopfschmerzen beschert.

Liska hatte viel geschlafen und nach jedem Erwachen darauf gehofft, ganz einfach nur geträumt zu haben, doch der Ausblick aus dem Sprossenfenster über ihrem Schreibtisch hatte sich nicht verändert.

Noch immer nickten die Straßenlaternen ihr zu, wenn Liskas Blick sie streifte, und über den Köpfen der vorbeilaufenden Menschen schwebte derselbe Nebel, der ihr bereits auf dem Rückweg von ihrem Besuch bei den Trauerweiden aufgefallen war. Erst hatte Liska vermutet, dass es Auren waren, die sich ihr so farbenprächtig offenbarten. Dann jedoch war sie zu dem Schluss gekommen, dass es etwas anderes sein musste, waren die bunten Schwaden doch bei manchen Menschen um ein Vielfaches ausgeprägter als bei anderen.

Bei einigen wenigen ließen sie sich kaum erkennen, während sie vor allem bei Kindern so dicht daherkamen, dass Liska Mühe hatte, ihre Gesichter darunter auszumachen.

Hatte sie ihn von ihrem Schlafzimmer aus schon als überwältigend empfunden, erreichte der eigentümliche Zauber hier, im Herzen Dublins, eine vollkommen neue Dimension.

Häuser neigten einander über die zwischen ihnen liegende Straße ihre mit Dachziegeln bedeckten Köpfe zu, ohne dass irgendjemand außer Liksa etwas zu bemerken schien. Menschen, durchscheinend wie Geister, liefen mit geschäftiger Miene hinter aufgeregten Touristen her. Exotische Pflanzen rankten sich, für andere offenbar unsichtbar, an Mauern empor. Der Asphalt veränderte minütlich seine Struktur, Skulpturen bewegten sich – eine lüftete freundlich den Hut, als Liska vorbeilief – und dann und wann lief (oder flog) ein fremdartiges Tier an ihr vorbei.

Es war nahezu unmöglich, jedes Detail des neuen Stadtbildes in sich aufzusaugen.

Dafür bräuchte ich mindestens ein weiteres Paar Augen, dachte Liska und konnte nicht verhindern, dass sich ein verzweifeltes Lachen aus ihrer Kehle löste.

Wie lange noch würde sie darauf hoffen müssen, aus einem Traum zu erwachen? Wann endlich käme die Erlösung - oder aber die erschütternde Erkenntnis, dass sie den Verstand verloren hatte? Und was nur würden ihre Eltern sagen, wenn sich herausstellte, dass sie ihr Studium aufgrund eines besonders schlimmen Falles von Halluzinationen gegen eine nervenärztliche Behandlung tauschen musste?

Liska bändigte ihren von links nach rechts zuckenden Blick und richtete ihn auf das Gebäude, das wenige hundert Meter vor ihr in Sicht kam. Im georgianischen Stil errichtet und dicht an dicht mit der Abbey Presbyterian Church stehend, machte es einen herrschaftlichen Eindruck auf Liska.

Einen Augenblick lang glaubte sie, die Magie würde ausgerechnet hier, am Ziel ihres Ausflugs, stillstehen.

Dann aber bemerkte sie, wie der goldene Schriftzug unter dem schmiedeeisernen Torbogen sich zu bewegen begann. Zuerst erzitterten die Buchstaben nur ein wenig. Es sah aus, dachte Liska, als würden sie tanzen. Kurz darauf lösten sie sich von dem verschnörkelten Bogen und wirbelten wild durcheinander, ehe einige von ihnen neue Formen annahmen und die wenigen verbliebenen sich in veränderter Reihenfolge neu anordneten.

Dort, wo eben noch „Dublin Writer’s Museum“ gestanden hatte, war nun „Imagonis-Quartier“ zu lesen.

Liska spürte, wie sich die eben noch in ihrem ganzen Körper verteilte Anspannung zu einem einzigen Klumpen auf Höhe ihres Herzens ballte. Im unregelmäßigen Takt ihres schneller werdenden Pulsschlages drückte er unangenehm gegen ihre Brust.

Geh da jetzt rein, rief sie sich zur Ordnung. Wovor hast du Angst? Was kann schon verrückter sein als das, was du während der letzten Tage erlebt hast?

Liska ahnte, dass es da durchaus einige Möglichkeiten gab, doch sie vertiefte den Gedanken nicht weiter.

Stattdessen nahm sie all ihren Mut zusammen und erklomm die Treppe, die zum Eingang des Museums führte.

Nur am Rande registrierte sie, dass die Geräusche der Stadt gänzlich verstummt waren. Es war, als hätte sie eine Blase betreten, die sie gewissenhaft von anderen Menschen abschirmte.

Noch während sie ihre Hand ausstreckte, um die von weißen Säulen flankierte Tür zu öffnen, schwang diese auf. Aus dem Inneren des Gebäudes strömte ihr ein angenehm kühler Luftzug entgegen, der Liska eine Gänsehaut bescherte.

Zögerlich trat sie über die Schwelle.

Sie hatte das Museum noch nie zuvor besucht.

Dennoch glaubte Liska zu wissen, dass es sich für gewöhnlich in einem anderen Gewand präsentierte.

Die Halle mit ihren gewölbten Decken, die sich wie der Ballsaal eines Palastes vor ihr erstreckten, schien viel zu groß für die Mauern des Gebäudes zu sein, das Liska eben noch von außen betrachtet hatte.

Den Kopf in den Nacken gelegt, machte sie ein paar Schritte in das Entree hinein. Beeindruckt nahm sie die stuckverzierten Decken und die prunkvollen Lüster zur Kenntnis, die die herrschaftliche Atmosphäre des Bauwerkes noch einmal unterstrichen.

Die in die goldenen Arme der Kronleuchter gefassten Steine sahen aus, als wären sie geradewegs aus Sonne und Mond herausgeschnitten worden.

Liska kam zu dem Schluss, dass sie sich nicht einmal mehr darüber wundern würde, wenn genau das passiert war.

„Chrm-chrm.“ Jemand räusperte sich vernehmlich. Gleich darauf verstellte eine große Frau mit einer spitzen Nase und einem ebenso spitz zulaufenden Kinn Liska den Weg.

„Shae Madroga, Verwalterin des Imagonis-Quartiers. Einladung?“, sagte sie lakonisch und öffnete fordernd die Hand.

„Ähm“, machte Liska unsicher. „Einladung?“ Wie so oft, wenn sie nervös war, wurde ihr Rücken furchtbar heiß. Bereits nach wenigen Sekunden klebte der Stoff ihres Tops feucht an ihrer Haut. Plötzlich verspürte sie das starke Bedürfnis, das Museum, das gar keines war, wieder zu verlassen und ganz einfach zurück nach Hause zu fahren.

„Ja“, sagte die Frau und machte sich nicht die Mühe, ihre Gereiztheit zu überspielen. „Eine Einladung. Hast du eine oder nicht?“

„Äh. Ich habe das hier.“ Liska tastete in ihrer Shorts nach Terenjos Brief. Ratlos, ob Shae Madroga diesen als Einladung akzeptierte, reichte sie ihr das inzwischen in Mitleidenschaft gezogene Stück Papier. Die Verwalterin las mit zusammengekniffenen Augen, was darauf geschrieben stand, und nickte dann wissend.

„Du bist spät dran. Sehr spät. Die neuen Rekruten versammeln sich im Westflügel“, sagte sie mit ihrer nasalen Stimme, faltete den Brief zusammen und ließ ihn in ihrer Rocktasche verschwinden.

„Moment, wie –“, setzte Liska an, doch Shae wandte sich bereits zum Gehen. „Bitte warten Sie! Ich verstehe nicht -“

„West-flü-gel“, wiederholte die Verwalterin und deutete mit ihren langen Fingern auf eine Tür, die schräg hinter dem Porträt eines weißhaarigen Mannes lag.

Dann verschwand sie mit klappernden Absätzen in die entgegengesetzte Richtung.

Liska war sich selten so klein und verloren vorgekommen.

Fröstelnd rieb sie sich über die Arme.

„Nur Mut“, sagte das Gemälde mit einer basshaltigen Stimme, die die von den Lüstern hängenden Steine klirren ließ.

Erschrocken zuckte Liska zusammen. Der weißhaarige, in Ölfarben gezeichnete Mann zwinkerte ihr zu. Er hatte seidenweiche, beinahe verwaschene Gesichtszüge und silbrig-blaue Augen, in denen ganze Galaxien aneinander vorbei zu schweben schienen. Außerdem sah er ziemlich freundlich aus, was der Tatsache, dass ein Bildnis zu ihr sprach, zumindest einen Teil seines Schreckens nahm.

„Passiert das hier wirklich?“, fragte sie das Porträt ernst. Es nickte.

„Ja, das tut es. Und das ist auch gut so, mein Kind. Die Schatten sind auf dem Vormarsch, weißt du? Und wir dürfen sie nicht gewinnen lassen. Komme, was da wolle.“

11. Der Schattenfürst

Anian nestelte am Saum seines T-Shirts herum.

Am liebsten hätte er an seinen Fingernägeln geknabbert, doch zum einen hatte er sich diese unliebsame Angewohnheit bereits vor vier Jahren erfolgreich abgewöhnt und zum anderen wollte er vor rund einhundert anderen Menschen nicht den Eindruck eines verängstigten kleinen Jungen erwecken.

Immer wieder hüpfte sein Blick zu dem alten Mann, der auf einem mit samtroten Kissen gepolsterten Stuhl am oval zulaufenden Ende des Raumes saß.

Zu den Füßen der marmornen Empore verliefen etliche Sitzreihen, die an ein Kirchenschiff erinnerten. Eine Vielzahl überdimensionierter Buntglasfenster machte diesen Eindruck vollkommen.

„Ganz schön abgefahren, was?“, fragte das Mädchen zu seiner Linken, das sich Anian als Alisha vorgestellt hatte.

Er war gleichzeitig mit ihr vor dem Museum eingetroffen, das kurz darauf als „Imagonis-Quartier“ in Erscheinung getreten war.

Gemeinsam mit einer Traube wild durcheinander schwatzender Teenager, waren sie von einer strengen Frau namens Shae in den sogenannten Westflügel des Gebäudes geführt worden und hatten die Anweisung erhalten, sich zu setzen.

Nach und nach waren mehr Menschen zu ihnen gestoßen; alle mit demselben irritierten Gesichtsausdruck, den Anian auch an sich selbst vermutete.

Irgendwann war eine seltsame Melodie erklungen und eine Tür erschienen, wo nun der alte Mann mit den schlohweißen Haaren saß. Anian fand, dass er große Ähnlichkeit mit dem redseligen Porträt in der Empfangshalle aufwies.

„Ja“, sagte Anian lahm. „Abgefahren.“

Was, in aller Welt, passierte hier?

Dass er mir nichts, dir nichts der Aufforderung eines unheimlichen Kindes gefolgt und nach Dublin gereist war, kam ihm plötzlich schrecklich absurd vor. Ganz offensichtlich war er jedoch bei weitem nicht der Einzige, der die Verpflichtungen des Alltags ohne viel Aufhebens vernachlässigte, weil er plötzlich unter Wahnvorstellungen litt. Vielleicht schadete es nicht, dieses seltsame Spielchen seines Gehirns mitzuspielen.

Möglicherweise wurde er am Ende des Tages ja sogar mit einer spontanen Heilung belohnt.

„Ich möchte wetten, dass das da vorne Terenjo ist“, wisperte Alisha dicht neben ihm. Mit ihren bernsteinfarbenen Augen und den tiefschwarzen Haaren war sie ausgesprochen hübsch, was Anians Nervosität nicht gerade schmälerte. Er gab ein zustimmendes Brummen von sich und rückte ein Stück von ihr ab.

„Warum sagt er nichts?“

Die meisten der Anwesenden schienen sich dieselbe Frage zu stellen. Hatte anfangs ein kollektives Schweigen geherrscht, war der Saal seit ein paar Minuten von einem unruhigen Getuschel erfüllt.

Als habe er Alisha gehört, räusperte sich der weißhaarige Mann plötzlich. In einer flüssigen Bewegung, die seinem betagten Erscheinungsbild trotzte, erhob er sich von seinem Stuhl.

„Guten Tag, liebe Anwesenden. Mein Name ist Terenjo. Ich möchte mich aufrichtig für eure Geduld bedanken. Das Warten hat gleich ein Ende. In wenigen Augenblicken werden wir vollzählig sein.“

Gebannt sah Anian zur Doppeltür hinüber, durch die er vor einer gefühlten Ewigkeit hereingekommen war. Im selben Moment öffnete sie sich.

Eine junge Frau schlüpfte hindurch - und erstarrte beim Anblick der vielen Augenpaare, die auf sie gerichtet waren.

Anian, von ihrer Schönheit wie betäubt, vergaß beinahe zu atmen. Ihre Haare hatten die Farbe eines im Meer versinkenden Sommertages. Rotgolden schimmernd, fielen sie der Nachzüglerin in geschmeidigen Wellen bis weit über die Schultern.

„Liska Cavanaugh“, sagte der Mann, der sich Terenjo nannte, mit seiner weichen Stimme, die aufgrund der hohen Wände und Decken für jedermann klar und deutlich durch den Raum hallte. „Wie schön, dass du zu uns gefunden hast. Nimm nur Platz. Unser lieber Anian rutscht sicher ein Stück zur Seite.“

Der alte Mann nickte ihm zu und Anian spürte, wie ihm eine unbarmherzig heiße Röte in die Wangen kroch. Viel zu eilig kam er Terenjos Worten nach und rempelte Alisha dabei unbeholfen an, die daraufhin ein gedehntes „Herzlichen Dank auch“ verlauten ließ.

Liska sah aus, als würde sie mit sich ringen. Sicher überlegte sie, ob sie davonlaufen und diesen Irrsinn, der so unerwartet über sie hereingebrochen war, ganz einfach hinter sich lassen sollte.

Das jedenfalls hatte Anian erwogen, kaum dass er über die Schwelle des vermeintlichen Museums geschritten war.

Er warf der jungen Frau einen Blick zu, von dem er hoffte, dass er Mitgefühl ausdrückte. Sie fing ihn auf, verhakte ihren eigenen darin und nickte kaum merklich. Dann lief sie in geduckter Haltung auf Anian zu, um sich im nächsten Moment in die Lücke zwischen ihm und einem halbwüchsigen Jungen zu setzen. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie nicht länger im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen wollte.

Sofort stieg Anian der blumige Duft ihres Parfums in die Nase. Liska lächelte ihn unsicher an.

„Danke“, hauchte sie.

Ihr Gesicht war über und über mit Sommersprossen bedeckt, die sich sogar in ihren Augen wiederzufinden schienen; das ansonsten helle Grün darin war von kleinen braunen Punkten gesprenkelt. Anian konnte sich nicht entsinnen, jemals einem interessanteren Menschen begegnet zu sein als Liska Cavanaugh.

 

„Nun denn, liebe Rekruten.“ Terenjos Stimme erhob sich mühelos über die verbliebenen tuschelnden Stimmen. „Ich freue mich sehr, dass ihr den Weg zu mir gefunden habt und heiße euch herzlich willkommen in unseren Hallen. Ich kann nur erahnen, wie aufreibend die vergangenen Tage und Stunden für euch gewesen sein müssen. Denn was für gewöhnlich durch einen schützenden Schleier von eurer Realität getrennt und vollkommen unsichtbar für eure Augen ist, könnt ihr nun an fast jeder Straßenecke ausmachen. An beinahe jedem Menschen.

Es ist eine wohldosierte, gute Art von Magie, die ihr zu Gesicht bekommt. Eine, die rein und kontrolliert aus fernen Quellen fließt. Aber –“ Er machte eine kurze Pause, ehe er weitersprach. „Es gibt auch eine dunkle Seite dieses Zaubers. Bevor ich mich jetzt im Strudel der Erklärungen verliere, möchte ich mich euch zunächst einmal gern vorstellen. Den anderen habe ich meinen Namen bereits verraten, Liska, und ich bin sicher, du kannst ihn erahnen. Dennoch wiederhole ich ihn gern: Ich bin Terenjo. Der letzte verbliebene Fantasieweber.“

Terenjo sah erwartungsvoll in die Reihen. Anian vermutete, dass er bereits an dieser Stelle mit einer Vielzahl an Fragen rechnete. Doch ebenso wie er, schienen auch die restlichen Anwesenden zu überrumpelt, um auch nur einen einzigen geraden Satz herauszubringen.

„Dies bedarf, wenn ich mir eure Gesichter so ansehe, vermutlich einer Erklärung“, fuhr der alte Mann fort.

„Vor nunmehr sechs Jahrhunderten, als meine Generation die der altehrwürdigen Weber ablöste, wurde, wie bei einer solchen Zeremonie üblich, in unseren Reihen ein sogenannter Schattenwahrer gewählt. Schattenwahrer, so müsst ihr wissen, bündeln wortwörtlich die Schatten, die den Menschen innewohnen. Jene dunklen Seiten, die sie vor anderen zu verbergen versuchen. Abgründe. Leid. Schmerz. Kummer.

Sie sorgen dafür, dass von alledem gerade so viel auf der Welt zu finden ist, dass die Menschen damit leben können. Schattenwahrer stellen also ein Gleichgewicht her, wenn man so will. Allerdings, und aus diesem Grund ist ein jeder meiner Art froh, wenn er dieses Amt nicht übernehmen muss, vereinigen sich all diese unterdrückten, nicht ausgelebten, düsteren Bedürfnisse im Körper des Unglücklichen; er opfert seinen Leib.

Sechs Jahrhunderte lang muss er körperliche wie seelische Pein ertragen. Bereits nach wenigen Stunden befällt die Brut aus fremden, schwarzen Gedanken seinen Kopf und breitet sich langsam bis in seine Seele aus. Er verlernt das Lachen, verliert seine Fantasie, büßt die Fähigkeit ein, zu träumen. Es gibt keinen Ausweg mehr für ihn; er ist ein Gefangener seines Selbst, stumpf und taub, und der menschliche Abfall zersetzt ihn.

Doch dieser Zustand währt nicht ewig. Ich bin der lebende Beweis. Nach Ablauf seiner Leidensfrist nämlich wird ein Schattenwahrer stets zum Weber ernannt. Das, was als Kern aus feinen, goldenen Fäden in der Seele eines jeden Menschen sitzt, fertigt er mit seinen Händen: eure Fantasie.

Die Position des Webers ist die höchste, die einer der Unseren erreichen kann. Viertausend Mondyzklen lang pflanzt er diese wertvollen Schöpfungen mit Unterstützung seiner Gehilfen in die Körper von Neugeborenen, wo sie im Laufe der Zeit gedeihen. Den meisten von euch dürfte einer meiner kleinen Helfer bereits begegnet sein.“

Wie aufs Stichwort löste sich ein Vogel aus den mannigfaltigen Naturmotiven der Buntglasfenster, schoss pfeilschnell auf den alten Mann zu und landete auf dessen Schulter. Anian brauchte nicht lange, um das Tier als jene einflüglige Schwalbe zu erkennen, von der er auf dem Weg zur alten Mühle attackiert worden war.

„Ein Produkt meiner Fantasie, gefertigt mit meinen eigenen Händen. Ich sehe, ihr wundert euch. Warum nur der eine Flügel? Nun, das bleibt vorerst mein Geheimnis. Das spezielle Äußere dieser Tiere stellt jedenfalls für gewöhnlich kein Problem dar, denn bis vor einigen Tagen noch zeigten sie sich den Menschen nur bei der Übergabe der fertigen Webstücke, die sie in ihren Schnäbeln tragen.

Dabei erscheinen sie den Neugeborenen in der ersten Nacht im heimischen Bettchen. Dann lassen sie die gebündelte, pulsierende Fantasie auf ihre Körper fallen, die sich sogleich öffnen, um das Geschenk der Schwalben entgegenzunehmen. Es ist der einzige Moment im Leben eines Menschen, in dem seine Seele brachliegt. Nach wenigen Sekunden ist sie bereits mit dem Werk des Webers verschmolzen – und der Prozess damit beendet. Das alles geschieht, während die Säuglinge schlafen. Genauso ist es auch euch einst widerfahren. Euch und euren Eltern, euren Großeltern, euren Urgroßeltern. Ihr alle habt dieses Geschenk erhalten und seid doch ohne jede Erinnerung an dieses einzigartige, wunderbare Ereignis. Wenn man so darüber nachdenkt, ist das eigentlich eine Tragödie, nicht wahr?“

Terenjo wirkte ehrlich betroffen.

Kurz suchte er in den Augen seiner Zuhörer nach Zustimmung für seine Überlegung, fand sie offenbar und setzte seinen Vortrag sichtlich erleichtert fort.

„Wisst ihr, es ist eigenartig. Meine Schwalben waren es, die euch eure Kerne in die damals so winzigen Seelen gepflanzt haben. In euren Körpern lebt und atmet von mir gewobene Fantasie. Ein Stück weit sehe ich in euch meine Kinder.“

Er schenkte ihnen allen ein warmes Lächeln. Anian empfand eine jähe Welle der Zuneigung für den alten Mann.

„Jedenfalls“, fuhr Terenjo fort. „Blieben mir unter normalen Umständen noch genau 77 Tage, bis der amtierende Schattenwahrer zum Weber ernannt und ich somit in die ewige Ruhe entlassen würde. Leider sind die Umstände aber ganz und gar nicht normal. Larzod, mein Nachfolger, hat beschlossen, die ihm verbleibende Zeit anders zu nutzen und darauf zu verzichten, meinen Platz einzunehmen. Er hat den Kampf gegen die Schatten verloren, auch wenn er selbst mit Sicherheit anderes behaupten würde. In seinen Augen ist er der Bezwinger der Finsternis; ihr Meister, ihr König … wie auch immer man es nennen mag. Ich werde meine Tätigkeit also um eine lange Zeit verlängern müssen, denn es gibt niemanden, der meinen Posten in absehbarer Zeit einnehmen könnte. Wir sind angesichts der akuten Bedrohung zwar gezwungen, die Ausbildung eines neuen Schattenwahrers zu verkürzen, dennoch weiß ich nicht, ob ich über das reguläre Ende meiner Amtszeit hinaus überhaupt noch imstande sein werde, zu weben. Ich merke bereits, dass meine Kräfte schwinden – auch wenn das etwas ist, was man sich als sturer alter Mann von beinahe 1000 Jahren nicht eingestehen will. Leugnen lässt es sich gewiss nicht. Meine Fantasiekerne sind längst nicht mehr so gehaltreich wie einst. Dass unser neuer, junger Schattenwahrer noch eine recht geringe Aufnahmekapazität für die Abgründe der Menschen aufweist, spielt Larzod ebenfalls in die Karten.

Je weniger Schatten von unserer Seite beschlagnahmt werden, desto mehr bleiben auf der Erde zurück. Zum Greifen nahe für ihren verräterischen Gebieter. Das alles hätte niemals passieren dürfen. Niemals!“

Terenjo, der die ganze Zeit über eine angenehme Ruhe ausgestrahlt hatte, ballte nun wütend die Fäuste.

„Larzod hat gegen unser oberstes Gesetz verstoßen. Er hat eine menschliche Gestalt angenommen. Was das für unsere Welt bedeutet, wage ich kaum auszusprechen.“

Der Fantasieweber stieß einen langen Seufzer aus und senkte den Blick auf seine verkrampften Hände.

„Es bedeutet nichts Gutes, stimmt’s?“

Anian hatte sich so auf den alten, mysteriösen Mann und die noch mysteriöseren Worte, die aus seinem Mund kamen, konzentriert, dass er beim Klang der heiseren Stimme neben ihm zusammenzuckte. Es war Alisha, die gesprochen hatte.

Den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt und die Arme vor der Brust verschränkt saß sie da, als würde sie frieren.

„Nein. Nein, mein Kind, das bedeutet ganz und gar nichts Gutes. Ein Schattenwahrer sollte nicht unter Menschen wandeln. Larzod war sich dessen bewusst, als er sich zu dieser Untat hinreißen ließ . Und das ist unverzeihlich. Unverzeihlich ist ebenfalls, dass dieses Vergehen von uns allen beinahe dreißig Jahre lang gänzlich unbemerkt blieb. Larzod hat seine äußere Hülle als Tarnung im Reich der Schatten zurückgelassen. Weber und Wächter dürfen sich einem Schattenwahrer nur auf einige Distanz nähern, nicht mit ihm sprechen, ihn nicht berühren. So kam es, dass wir das Einzige sahen, was von ihm übrig war, und uns von diesem Anblick in die Irre führen ließen. Erst, als die Unruhen in der Welt zunahmen und die ersten Kinder durch eigene Hand starben, die ersten Webstücke gestohlen wurden, dämmerte uns, was geschehen war. Doch allein können wir Larzod unmöglich das Handwerk legen. Unsere Magie wird streng sanktioniert. Eine Folge des Abkommens, das nach dem ersten Schattenkrieg geschlossen wurde. Der Hohe Rat der Wächter beschloss daraufhin, den Schutz der Menschen und ihres Lebensraumes zur obersten Priorität zu machen. Seither herrschen Gesetze, die uns – zumindest außerhalb unserer Ämter und Quartiere - nur einen Bruchteil unserer Magie nutzen lassen. Verstoßen wir gegen diese Gebote, wenden sich unsere Fähigkeiten gegen uns und bereiten unserer Existenz ein Ende. Die vor Jahrhunderten beschlossenen Gesetze lassen sich leider nicht so einfach aushebeln, wie man annehmen möchte. Nicht einmal der Hohe Rat selbst ist dazu in der Lage – zum Schutz vor einem Machtmissbrauch seitens der Obrigkeit. Allerdings gibt es eine Klausel, die es erlaubt, im Katastrophenfall die Hilfe magisch begabter Rekruten in Anspruch zu nehmen und sie für einen neuerlichen Schattenkrieg auszubilden.“

In der vordersten Sitzreihe schoss eine Hand empor. Terenjo verstummte augenblicklich und forderte einen Jungen, von dem Anian nur den stoppeligen Hinterkopf sehen konnte, zum Sprechen auf. „Erster Schattenkrieg? Das heißt, es hat schon mal ei-nen gegeben?“ 

„Ja. Nicht von einem Weber ausgehend, aber das Böse hat auch damals einen Weg gefunden, sich an die Oberfläche zu bahnen.“ 

„Verzeihung, aber dann hat Larzod doch das Abkommen verletzt, oder nicht? Müsste er also nicht … äh … vernichtet werden?“

„Hätte Larzod die Welt in seiner Gestalt, der eines jahrhundertealten Schattenwahrers betreten, hätte er das Abkommen selbstverständlich verletzt und wäre dafür bestraft worden. Indem er sich aber dazu entschied, eine menschliche Gestalt anzunehmen, entging er dem Zorn des Rates. Heute wissen wir, dass er seine eigene Seele so sehr vergiftete, dass sie seinen Körper verließ und als ein riesiges Geschwür der Finsternis durch die Metropolen der Erde waberte. Was auch immer sie berührte, war bald darauf von Schatten verseucht. Larzod, wiedergeboren als Sterblicher, begab sich auf die Suche nach seiner Seele. Zu unserem großen Bedauern gelang es ihm, sie einzufangen und an seinen menschlichen Körper zu binden. Die Schatten, die überall in der Welt gewachsen waren, gehorchten nun allein ihm.“

Anian schauderte. Wie viel Hass musste jemand empfinden, um sich zu solch einer Tat hinreißen zu lassen? Zum ersten Mal, seit der Fantasieweber ihnen von Larzod erzählt hatte, empfand er so etwas wie Mitleid für den Verräter.

„Nicht alle Fantasiekerne verflüchtigen sich nach dem Tod ihrer Träger. Denn während vor allem die von allzu viel Vernunft durchsetzten Kerne mit ihren Trägern sterben, bleiben andere bestehen und lösen sich erst dann auf, wenn die Knochen ihrer Wirte zu Staub geworden sind.

Ihr, die Sehenden, könnt die Magie dieser Kerne nun mit eigenen Augen betrachten. Sie werden zu alledem, wovon ihre Wirte zu Lebzeiten träumten. Zu einer schützenden Wolke über den Köpfen derer etwa, die sie einst geliebt haben. Zu Bäumen, zu Meeren, zu Städten, zu Schlössern. Zu geflügelten Pferden, zu Drachen, zu Feen und Zauberern – wobei ich erwähnen muss, dass ihr diese altertümlichen Erscheinungen eher in ländlicheren Gegenden zu Gesicht bekommen werdet. Vor allem Drachen scheuen große Menschenansammlungen und fühlen sich im Schutz der Natur wohl.

Bedauerlicherweise werdet ihr von ihnen nur wenig bis keine Hilfe erwarten können. Die Magie der meisten Kerne ist aufgrund ihrer Reinheit nicht für einen Kampf ausgelegt.

Für solche Kerne, die düstere Gedanken allzu schwarz gefärbt haben, war und ist in eurer Welt für gewöhnlich kein Platz. Auch ohne das Zutun eines Despoten wie Larzod kann diese Essenz des Menschlichen nämlich im Laufe eines Lebens verderben. Kerne dieser Art gehören häufig zu Mördern oder Tyrannen – sie beherbergen ungewöhnlich viel Fantasie, dennoch verweilen sie in der Regel immer an der Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen. Es ist ihnen nicht gestattet, Wurzeln auszubilden und sich auf diese Weise auszubreiten. Doch die Dinge haben sich geändert.“

 

Der alte Mann nahm einen tiefen Atemzug, ehe er fortfuhr.

„Larzod hat das Land längst mit seinen Schatten bevölkert – und es wird nicht mehr lange dauern, bis ihre schwarze Magie so präsent ist, dass ein jeder sie erkennen und an ihr zugrunde gehen oder so willenlos sein wird, dass er sich seiner Schattengarde anschließt. Je mehr Fantasie Larzod besitzt, desto mehr dunkle Wesen kann er aus ihr formen. Uns ist außerdem zu Ohren gekommen, dass er Verbrechern einen besonderen Platz in seiner Gefolgschaft anbietet. Alles, was Larzod sich in seinen dunkelsten Träumen ausmalte, nimmt nun nach und nach Gestalt an. Und obwohl seine Seele sich von ihm gelöst hat und sich sein Fantasiekern während dieses Vorgangs aufspaltete, hat er die Kontrolle über ebendiesen nicht verloren.

Sämtliche andere Kerne, die er in der Welt gesät hat, entstammen Verstorbenen. Larzod aber lebt. Das weiß seine Fantasie. Sie strebt dorthin, wo er sich aufhält. Auf die andere Seite des Schleiers, zurück zu ihrem rechtmäßigen Träger. Ihre Sehnsucht sprengt die Begrenzung zwischen Sichtbarem und Verborgenem. Immer wieder tun sich Risse auf, durch die Larzods Schatten nach außen dringen. Sie scharen sich um ihn, umkreisen ihn, dringen durch die Narben, die seine Seele bei der Flucht aus seinem Körper hinterlassen hat, in ihn ein.

Er hat sie befreit, und dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – sind sie zu ihm zurückgekommen. Sie werden sich nicht gegen ihn wenden. Nicht einmal das Abkommen wird daran etwas ändern können.“

Terenjo sah einen jeden von ihnen eindringlich an.

„Allein sind wir machtlos gegen Larzod. Er ist im Vollbesitz seiner Kräfte. All die Jahre, die er zwischen den Menschen als ebensolcher verbracht hat, konnte er seine Fähigkeiten ohne jede Regulation von außen entfalten, fern von den neugierigen Blicken der Wächter. Er hat bereits ein Drittel eines menschlichen Lebens durchlaufen. Die Erfahrungen, die er gesammelt hat, ermöglichen es ihm, sich nahtlos in die Gesellschaft einzufügen. Das macht es für uns beinahe unmöglich, an ihn heranzukommen, geschweige denn ihn überhaupt ausfindig zu machen. Wir wissen von mindestens drei Identitäten, die Larzod im Laufe seines irdischen Daseins angenommen hat und sind fest davon überzeugt, dass er je nach Belieben noch in andere Rollen schlüpfen kann.“

„Larzod“, murmelte ein Mädchen hinter Anian, als habe es diesen Namen irgendwo schon einmal gehört.

Er warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

Obwohl er nach wie vor nicht wusste, wie ihm geschah und ob er sich inmitten eines wirren Traums oder einer Halluzination befand, wollte er unbedingt hören, was der alte Mann zu sagen hatte.

„Ja, das ist sein Name“, sagte Terenjo mit unverhohlenem Abscheu in der Stimme.

„Benannt nach dem Engel der Weisheit. Welch Ironie. Nun, jedenfalls ist Larzod nicht allein in eure Welt gelangt. Er hat seine Gefährten mitgenommen. Seine Garde. Sie beschützt ihn, leistet ihm Gesellschaft und überbringt ihm die aus unschuldigen Seelen entnommenen Fantasiestücke.

Larzod hat sie von den Schatten kosten lassen, die sein Inneres vergiftet haben. Und so wurden sie selbst zu Schattenwesen; grauenerregende Kreaturen mit verzerrten Mäulern und langen, gierigen Diebesfingern. Die Meisten von euch hatten bereits das zweifelhafte Vergnügen, eines dieser Ungeheuer kennenzulernen.“

 

Anians Eingeweide krümmten sich schmerzhaft unter der Intensität der Erinnerung.

„Er hat sie ausgesandt, damit sie Geschwüre in die Seelen der Menschen pflanzen. Geschwüre, die faulend und wabernd in die goldenen Sehnen und Fasern der Fantasiekerne eindringen und dort mit aller Macht versuchen, sie von den Körpern, für die sie gewoben worden sind, zu trennen. Schaffen sie es, diese Verbindung zu kappen, erlischt etwas so Wesentliches im menschlichen Bewusstsein, dass früher oder später etwas unbestreitbar Tragisches geschieht und-“

„Die Selbstmorde!“, rief eine Frau schräg hinter Anian erschrocken aus. Irritiert wandte er sich zu ihr um.

Selbstmorde? Was, in aller Welt, hatten Selbstmorde mit dem zu tun, was Terenjo ihnen gerade über die Gesetze der Fantasieweber erzählte?

Noch bevor die rotwangige, korpulente Frau weitersprach, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Du Blitzmerker. Du gottverdammter Blitzmerker.

„All die Kinder, die gestorben sind, all die armen, kleinen Geschöpfe, das musste geschehen, weil diese Kreaturen ihnen ihre Fantasie gestohlen haben?“, fragte sie schrill, woraufhin Terenjo sie mit aufrichtiger Anteilnahme musterte.

„Nun, meine Liebe, so gern ich diese Frage auch verneinen würde, ich kann es nicht. Larzods Garde kennt nur ein Ziel. Ich nenne es „die Ernte“. Sobald das Leben aus einem Körper weicht, verlässt auch der Kern seinen Wirt.

Wie ihr indes erfahren habt, verflüchtigt er sich entweder ganz, kaum dass er aus der Seele ausgetreten ist, oder wird, wenn auch im Verborgenen, Teil eines Kreislaufs, der Magie durch Alltägliches pumpt wie ein riesengroßes Herz.

Die Schatten-Geschwüre aber, die Larzods Schergen streuen, verhindern diesen Prozess. Sie hüllen sich vollständig um die äußere Struktur des Kerns, beschweren ihn. Nicht fähig, sich aufzulösen oder seine letzte Reise anzutreten, schwebt er hilflos über seinem toten Wirt, bis er von Larzods Schattengarde geerntet wird.

Ihre Beute bringen sie dann zu ihrem Herrn, der aus ihnen wahrgewordene Albträume webt und sie munter in Dörfern und Städten verteilt. Und so –“ Er machte eine Pause, die er mit einer schweren, erdrückenden Stille füllte. „Nimmt das Unheil seinen Lauf.“

12. Die Augenmalerin

Liskas Gedanken zuckten wie Blitze durch ihren Kopf.

Ein Gewitter aus Ängsten, Erkenntnissen und wilden Theorien, das sich in einem unangenehmen Pochen nahe ihrer Schläfen entlud.

Sie dachte an ihre Eltern, die in diesem Moment vermutlich ebenso ahnungslos wie schockiert die Nachrichten über das große Sterben verfolgten. An Maida, die ruhelos am Krankenbett ihrer Schwester wachte. Und an Darcy selbst, deren Fantasie so schrecklich vergiftet worden war, dass sie ihre Welt nur noch in stumpfen Grautönen wahrnehmen konnte. An den Dämon im Kopf des Mädchens, die ihm in Larzods Namen zuflüstern musste, dass der Tod der einzige Ausweg war.

Liskas Augen füllten sich mit Tränen.

„Ich verstehe das nicht“, hörte sie sich sagen. Ihre Stimme, vor Trauer merkwürdig hohl, hallte ebenso laut wie Terenjos durch den Raum. Hatte sie gerade wirklich das Wort an sich gerissen? Noch dazu vor so vielen Fremden?

„Was meinst du, meine Liebe?“ Trotz der Distanz zwischen ihnen konnte Liska den wohlwollenden Ausdruck auf dem Gesicht des alten Mannes erkennen. Es war derselbe, den er auch auf jenem Porträt von sich zur Schau trug, das vor dem Durchgang zum Westflügel hing.

„Wozu … wozu benötigt Larzod all die Fantasie? Er hätte doch bloß noch eine kleine Weile warten müssen, bis er selbst imstande gewesen wäre, sie zu erschaffen. Sein Leiden hätte ein Ende gehabt, oder nicht? Die Schatten wären verschwunden.“ Liska spürte alle Augenpaare auf sich ruhen und rutschte unruhig auf ihrer Bank hin und her.

„Ein kluger Gedanke, liebes Kind, aber dafür war es bereits zu spät. Nichts und niemand hätte ihn mehr retten können; sein Herz war bereits gänzlich verdorben. Als Weber hätte Larzod für das Fortbestehen derer sorgen müssen, die in seinen Augen für seine Pein verantwortlich sind. Ich bin sicher, dass er nichts weniger wollte, als diesem Amt nachzukommen.

Worte reichen nicht aus, um zu beschreiben, um auch nur im Ansatz zu verdeutlichen, wie weit sein Hass reicht, wie hoch die Flammen sind, die seine Wut schlägt.

Der Tag wird kommen, an dem ihr in seine Abgründe sehen werdet, auch wenn ich alles täte, um euch davor zu bewahren.“

Erneut verspürte Liska den aufsteigenden Drang, aus ihrem Traum aufzuwachen. Doch irgendetwas tief in ihr wusste, dass die Konversationen zu klar, die Worte zu deutlich, die Farben zu kräftig und die Stimmen zu lebendig waren. Das hier geschah wirklich. Es war widersinnig, vollkommen widersinnig, und doch ließ es sich nicht leugnen.

„Ich vermag nicht zu sagen, ob Larzod aus Rache handelt, aus Wahnsinn, aus Gier, aus all diesen Motiven zur gleichen Zeit oder aus völlig anderen. Das Resultat jedoch bleibt dasselbe: Tod. Tod und Zerstörung. Ein Ort ohne Fantasie - ohne die Fähigkeit, zu träumen, sich in den eigenen Kopf zu flüchten - ist ein Ort, der dem Untergang geweiht ist.

Die Raubzüge der Schattengarde, die Larzod mit Kernen beliefert, sind erst der Anfang. Auch jetzt, in diesem Moment, wartet Larzod geifernd auf die grausame Ernte, um sie mit den Schatten zu kreuzen, die er zu verwahren geschworen hat. Seine Webkenntnisse reichen bei Weitem nicht an die meinen heran, sind aber dennoch gut genug, um Fantasie und Finsternis miteinander zu verknüpfen.

Aus dem Produkt dieser teuflischen Verschmelzung dann formt er eine Welt nach seinem Gedenken. Es wird nicht lange dauern, ehe die Veränderung sichtbar wird. Ehe die Realität sich zu schälen beginnt. Wenn ihr genau hinseht, werdet ihr Risse erkennen können. Feine Risse, die sich durch den Himmel ziehen. Risse in Mauern, im Himmel, im Wasser, die immer größer und größer werden, bis sie schließlich ganz aufklaffen. Und hinter diesen Rissen wartet nichts als Verderben. Wie abgerissene Tapeten werden sich Orte, die ihr kennen und lieben gelernt habt, zusammenrollen und den Blick auf etwas freigeben, das lieber im Verborgenen hätte bleiben sollen. Diejenigen, die überleben und vor Larzods Machtergreifung nicht den Freitod wählen, werden ihm dienen müssen. Er ist ein Spieler.

Larzod wird zweifellos seine Freude daran haben, die Menschen zu quälen, sie zu manipulieren, in ihre Köpfe einzudringen. Er genießt es, zu beobachten, wie die Psyche eines Lebewesens sich windet und schlängelt. Denkt nur, auch wenn diese Beispiele vergleichsweise harmlos sind, an die kleinen Botschaften, die er durch seine Schattengarde überbringen ließ. An die Kerzen, an das präparierte Bett, an die Worte an der Spiegeltür oder die pfeifenden Teekessel. Es gefällt ihm, Angst zu verbreiten. In einem richtigen Maße dosiert, besitzt diese Emotion die Eigenschaft, die Fantasiekerne umgebende Haut aufzuweichen und das Eindringen eines Geschwürs zu erleichtern.“

 

Der junge Mann neben Liska hatte seine Brille abgenommen und begonnen, ihre Gläser frenetisch zu polieren. Aus ungewöhnlich blauen Augen warf er ihr einen Seitenblick zu, dessen Intensität an ihrem Magen zupfte. Die schwarzhaarige junge Frau neben ihm richtete sich räuspernd auf.

„Vergleichsweise harmlos?“, fragte sie Terenjo angriffslustig. „Ich weiß ja nicht, was Sie unter dem Wörtchen harmlos verstehen, aber ich fand es ganz und gar nicht harmlos, nach einem langen Arbeitstag nichtsahnend nach Hause zu kommen und festzustellen, dass meine Teekanne sich spontan selbstständig gemacht und beschlossen hat, den ganzen Wohnblock zusammenzubrüllen.“

Der alte Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Ganz recht. So fängt es an. Verunsicherung, Schüren von Angst, ein geschicktes Unterwandern der Nervensubstanz.

Es war keineswegs meine Absicht, diese Geschehnisse als Nichtigkeiten abzutun. Mir liegt nur daran, euch allen zu verdeutlichen, dass Larzod es nicht bei Streichen dieser Art belassen wird.“

Die Dunkelhaarige nickte grimmig. „Meinetwegen. Aber welche Rolle spielen wir nun in dieser ganzen Geschichte?“

Liska war dankbar, dass jemand diese entscheidende Frage gestellt hatte. Sie selbst sah sich, zumindest vorübergehend, nicht imstande, auch nur ein einziges weiteres Wort zu sprechen.

Zu mächtig war die Erkenntnis, dass ihr Leben jegliche Rationalität verloren hatte.

Was hier geschah, durfte nicht geschehen.

Es durfte nicht wirklich sein, und doch war es wirklich.

Es war so wirklich wie das grässliche Geschöpf, das ihr aus der Zimmerdecke entgegengekommen war.

So wirklich wie Darcys Selbstmordversuch.

Wie der Brief, den sie am Vortag entdeckt hatte.

So wirklich wie jener Tag vor zehn Jahren, an dem der Schmerz ihr erstmals sein entstelltes Gesicht gezeigt hatte.

Der Fantasieweber schloss einen Moment lang die Augen und nickte bedächtig, als würde er einer inneren Stimme lauschen. Dann faltete er die Hände und ließ seinen eindringlichen Blick über jeden einzelnen seiner unfreiwilligen Gäste schweifen.

„Es gibt etwas, das euch von der Mehrheit der anderen Menschen auf der Erde unterscheidet. Ihr müsst wissen, dass die eingepflanzten Fantasiekerne im Laufe eines menschlichen Lebens nur bis zu einer gewissen Größe gedeihen. Danach durchlaufen sie, dies lehrt uns Jahrtausende lange Beobachtung, eine Art Rückentwicklungsprozess.

Dieser Prozess setzt für gewöhnlich spätestens dann ein, wenn ein Mensch das 12. Lebensjahr erreicht. In euren Seelen aber ist Fantasie in einem Maße vorhanden, das die Kapazitäten eurer Körper beinahe übersteigt. Und nichts deutet auf ein Stagnieren des Wachstums hin - im Gegenteil.“

Auf Terenjos Erklärung folgte ein Wimmern. Liska wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch ertönt war, und entdeckte am Ende ihrer Sitzreihe zwei Kinder. Kaum älter als Darcy, hielten sie einander sichtlich verängstigt an den Händen.

Terenjo hob beschwichtigend die Arme.

„Aber, aber! Kein Grund zur Betrübnis. Das ist etwas Wunderbares, etwas durch und durch Wunderbares. Eure Seelen leben in einer Art perfekter Symbiose mit den euch eingepflanzten Fantasiekernen. Natürlich macht euch das aber auch umso begehrenswerter für Larzods Kreaturen. Insbesondere Kinder, die im Vergleich zu den meisten Erwachsenen über eine mehr als zehnfach so große Rohmasse an Fantasie verfügen, wecken ihren unermüdlichen Jagdinstinkt. Dennoch seid ihr widerstandsfähiger als andere auserkorene Opfer, robuster gegen Angriffe. Liska und Anian, ihr habt es selbst erfahren. Es ist den Schattenwesen nicht gelungen, euch Larzods dunkle Saat einzupflanzen. Ist ein Geschwür erst einmal in euch eingedrungen, so ist es beinahe unmöglich, den Verfall aufzuhalten. Bei einer kleinen Seelenfinsternis aber, wie ihr sie nach euren Begegnungen mit der Garde empfangen habt, können meine treuen Gehilfen Abhilfe schaffen.“ Terenjo tätschelte die Schwalbe auf seiner Schulter liebevoll, die sogleich ein fröhliches Zwitschern verlaufen ließ.

„Eine ganz schön schmerzhafte Art und Weise, etwas in Ordnung zu bringen“, murmelte der junge Mann neben ihr, den Terenjo Anian nannte. Als er sich eine blonde Locke aus der Stirn strich, sah sie, dass seine Hand zitterte.

Ebenso wie Liska selbst musste auch er mehr oder minder von dem Tier angegriffen worden sein. Sie konnte unter ihrem Top noch immer deutlich spüren, wo es seinen Schnabel in einem wilden Stakkato in ihre Haut gebohrt hatte.

 

Der Fantasieweber hob die buschigen Brauen und lächelte nachsichtig.

„Mein Junge. Du wirst dich sehnsüchtig an diesen Moment zurückerinnern. Da draußen wartet weitaus Schlimmeres auf dich als Schwalben, die Schatten von Seelen picken.“

„Moment mal!“, intervenierte jemand, den Liska von ihrem Platz aus nicht sehen konnte, „ungeachtet irgendwelcher Schimäre und wildgewordenem Federvieh - Sie wollen uns doch nicht etwa erzählen, dass wir die einzigen, lassen Sie mich schätzen, hundertfünfzig Personen auf der Welt sind, die über ein ungewöhnlich hohes Ausmaß an Fantasie verfügen, oder?“

Liska staunte zum wiederholten Male darüber, dass es den anderen Anwesenden angesichts der absurden Umstände zunehmend gelang, ihre Fassung wiederzuerlangen.

„Oh, gewiss nicht. Wie sollte ich etwas so Unwahrscheinliches glaubhaft herüberbringen, Werteste? Ihr seid die Rekruten eures Landes. Eine großartige Schätzung übrigens: Mit mir zusammen sind wir einhundertneunzehn Personen. Über den gesamten Globus verteilt sind es genau 23.089 Menschen, in die ich meine Hoffnung setze. Eine Zahl, die es mir schwierig gestaltet, das Wort zur selben Zeit an alle diese Auserwählten zu richten.

Das gäbe ein herrliches Chaos, nicht? Unter diesen Umständen ist es mir lieber, wenn ihr versteht, meine doch nicht ganz so leicht verdauliche Ansprache ein paar Mal zu wiederholen. Einmal abgesehen von den Sprachbarrieren! Stellt euch nur einmal vor, wie lange ihr es hier aushalten müsstet, wenn ich das, was ich euch in den vergangenen Minuten erzählt habe, wieder und wieder übersetzen müsste.“

Terenjo war offenkundig amüsiert über diese Vorstellung.

 

„Auf die gesamte Weltbevölkerung gerechnet ist das nicht gerade viel, wenn Sie die Bemerkung gestatten“, sagte die Frau, die Liska nicht sehen konnte, in einem schärferen Tonfall. „Aber gut, lassen wir das mal außer Acht. 23.089 Menschen, die Sie nacheinander an diesen Ort rufen, wie auch immer Sie das anstellen. 23.089 Menschen, die Ihnen wegen ihrer wuchernden Fantasie von Nutzen sein können. Aber wie?“

„Schatten können nur mit Licht bekämpft werden. Gemeinsam seid ihr dieses Licht. Ihr seid jetzt Sehende, die sowohl reine als auch verdorbene Magie erkennen können, lange bevor der Rest der Menschheit dazu imstande sein wird. Die Missstände in der Welt werden sich zuerst euch offenbaren. Ihr müsst sie ausmerzen, bevor sie sich auf das Leben der restlichen Bevölkerung auswirken können. Sie verschleiern. Denn wenn Nicht-Sehende Magie begegnen, verlieren sie schneller den Verstand, als wir es uns ausmalen können. Also, um deine Frage zu beantworten: Ihr könnt helfen, indem ihr die gesäten Schatten, die Larzod und seine Garde nach und nach überall pflanzen werden, zerstört. Im Gegenzug für eure Hilfe werden wir mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür sorgen, dass wir eure Familien während eurer Abwesenheit beschützen. Der Hohe Rat der Wächter ist zu dem einstimmigen Urteil gelangt, dass ihr, die Auserwählten, eure Reisen nach Möglichkeit in kleinen Gruppen antretet. Diesen Gruppen werden dann Gebieten zugeteilt, die sie von Schatten freihalten sollen. Zuvor allerdings wird jedes Mitglied dieser Gruppen einer bestimmten Kategorie zugewiesen; den Spähern, Hütern, Illusionisten oder Assassinen.

Während die Späher Detektivarbeit leisten und mit Hilfe ihres inneren Auges Ausschau nach verdächtigen Vorkommnissen halten sowie Informationen über Larzods Pläne beschaffen sollen, werden die Hüter darin geschult, Angriffe zu verhindern, indem sie mittels raffinierter Techniken einen möglichst großen Radius um sich herum frei von Mitgliedern der Garde halten. Was die Assassinen betrifft, ist es, so denke ich, selbsterklärend, was im Falle einer Konfrontation mit Larzods Schattenwesen zu tun bleibt.

Den Illusionisten wiederum ist es vorbehalten, die Risse, von denen ich sprach, zusammenzuhalten; die Realität zu flicken, wenn man so will, und Larzods Hölle zu verschleiern. Dabei sind es keineswegs nur Täuschungen, sondern vielmehr neue, zugeschnittene Realitäten, die sie erschaffen. Da es vergleichsweise wenige von ihnen gibt, wird es einige Gruppen geben, die sich nur aus den verbleibenden drei Kategorien zusammensetzen. Gruppen dieser Konstellation erfahren allerdings keinen Nachteil aus diesem Umstand. Auch sie profitieren von der Arbeit der Illusionisten. Gewissermaßen genießen sie sogar einen kleinen Vorteil, da sie sich einzig und allein auf die Rettung ihrer Mitmenschen fokussieren können, ohne sich in Nähe der Gefahrenherde aufhalten zu müssen, die Löcher in die Wirklichkeit brennen.

Doch eines gilt für alle Gruppen:

Es ist wichtig, dass ihr nicht an einem Ort verharrt, sondern stets dort in Erscheinung tretet, wo eure Hilfe am dringendsten gebraucht wird.“

Das schwarzhaarige Mädchen stieß ein freudloses Lachen aus.

„Woher sollen wir bitte sehr wissen, wo wir gebraucht werden?“

„Ihr werdet ein Gespür dafür bekommen. Außerdem wird der Rat euch Hilfsmittel zur Verfügung stellen. Kein Illusionist, kein Hüter, kein Späher und kein Assassine, der sich im Dienste der Wächter befindet, wird jemals allein dastehen. Ist die Zuweisung zu diesen ebenso unterschiedlichen wie ehrenvollen Tätigkeiten erfolgt, werdet ihr noch einmal explizit über eure Aufgaben belehrt und hinsichtlich ihrer Ausführung geschult. Ihr erhaltet eine Ausbildung, hier im Imagonis-Quartier.“

Liska gab sich einen Ruck und räusperte sich vernehmlich, bis sie glaubte, ihre Stimme wiedergefunden zu haben.

Soweit möglich, musste Klarheit geschaffen werden, und das würde nur gelingen, wenn alle ruhig Blut bewahrten und sich ganz und gar auf das Gespräch einließen; Liska inklusive.

„Und wer übernimmt diese Zuteilung?“, gelang es ihr zu fragen, ehe sie es sich anders überlegen konnte.

Über die Ausbildung, von der Terenjo gesprochen hatte, würde sie sich später den Kopf zerbrechen.

Eins nach dem anderen.

„Ich“, antwortete der Fantasieweber, als wäre es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt.

„Sobald ich mit dieser Einteilung fertig bin, die ich hier und heute im Stillen vornehmen werde, leite ich meine Erkenntnisse an den Hohen Rat der Wächter weiter. Und dann … nun ja. Dann werdet ihr Nachricht über die Auswahlzeremonie und den Beginn eurer Lehre erhalten.“

Schwindel tobte durch Liskas Kopf wie ein Zyklon.

Es war zu viel, einfach zu viel.

Sie sehnte sich nach einem Schluck Wasser. Ihr Hals war so trocken, dass es schmerzte.

Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie die kühle Flüssigkeit ihre Lippen benetzte. Wie sie gierig zu trinken begann …

 

Kaum hatte Liska den Gedanken zu Ende gedacht, erschien mit einem eigenartigen Geräusch, das an einen Flügelschlag erinnerte, ein zu einem Drittel mit Wasser gefülltes Glas auf dem hölzernen Boden zu ihren Füßen. Erschrocken wich sie zurück und stieß um ein Haar um, was sie allem Anschein nach mit bloßer Willenskraft herbeigezaubert hatte.

„Nanu?“ Ein Ausdruck ehrlicher Überraschung trat auf das Gesicht des alten Mannes, das Liska plötzlich gestochen scharf erkennen konnte. Seine Züge waren weich – wie gemalt, fand sie, und dachte an das Gemälde. Auch jetzt schienen in seinen Augen ganze Galaxien aneinander vorbei zu schweben. „Erstaunlich, wirklich erstaunlich. Nicht viel, aber doch ein Anfang. Alani hat es mir bereits geflüstert, und ich wollte es nicht glauben. Tu‘ mir einen Gefallen, meine Liebe, und nimm das Glas in deine Hände, ja?“

Der Gedanke, etwas zu berühren, das den Gesetzen der Logik nach betrachtet überhaupt nicht da sein sollte, machte Liska Angst. „Ähm … muss das wirklich sein?“

„Es wäre überaus hilfreich, wenn du es tätest.“

Ein verzweifeltes Lachen entfuhr ihr.

War es wirklich sie gewesen, die dieses Glas hatte erscheinen lassen? Und spielte eine weitere Sinnwidrigkeit bei allem, was zuletzt geschehen war, überhaupt noch eine Rolle?

Unsicher streckte Liska ihre Finger nach dem Glas aus.

Dort, wo sie es hätte berühren müssen, spürte sie einen Moment lang einen leichten Widerstand.

Dann glitt ihre Hand hindurch.

Das Glas - oder das, was wie eines ausgesehen hatte – war verschwunden. Sie blinzelte ein paarmal, um sicherzugehen, dass ihre Wahrnehmung sie nicht täuschte, doch der Boden zu ihren Füßen blieb leer.

 

„Was war das denn?!“, fragte das schwarzhaarige Mädchen neben Anian stellvertretend für alle Teilnehmer der skurrilen Gesprächsrunde, die das Schauspiel von ihren Plätzen aus nicht mit hatten ansehen können. Hinter Liska war ein aufgeregtes Getuschel angeschwollen, was zur Folge hatte, dass sie immer weiter in sich zusammensank.

Vielleicht muss ich mir ja nur fest genug wünschen, dass ich unsichtbar werde, dachte sie zynisch.

„Eine Illusion“, frohlockte der Fantasieweber, während er geschmeidigen Schrittes vor seinem Stuhl auf und ab lief.

Die einflüglige Schwalbe flatterte dabei munter um seinen Kopf herum. Wären Liskas Nerven nicht zum Zerreißen gespannt gewesen, hätte ihr der Anblick sicherlich ein Lächeln entlockt.

„Ja, eure Mitschülerin hat gerade eine waschechte Illusion erschaffen. Ein artificium oculus, wie wir es in unseren Kreisen nennen“, verkündete Terenjo begeistert.

Der freudige Unterton seiner Stimme ließ vermuten, dass das etwas Gutes bedeutete, doch Liska brachte nur ein hilfloses Kopfschütteln zustande.

Wie sie alarmiert feststellte, näherte sie sich allmählich einem Zustand, in dem sämtlichen Aufmerksamkeitskapazitäten ihres Gehirns die Sicherungen durchbrannten und sie sich fragte, ob es wohl möglich war, an einer Überdosis Informationen zu sterben.

„Übersetzt heißt es so viel wie Kunstwerk der Augen. Poetisch, nicht? Gratulation, junge Dame! Es ist, wie du inzwischen erfahren hast, nur wenigen Geschöpfen vorbehalten, mit den Augen zu malen.“

„Mit den Augen malen?“, fragte Liska matt. „Aber, wie sollte das funktionieren?“

„Es kann vorkommen, dass Fantasiekerne mit Organen verwachsen. Die Anatomie von Illusionisten weist die Besonderheit auf, dass sich ausgebildete Triebe des Kerns um den Sehnerv schlängeln und somit ermöglichen, was wir eben erleben durften.“

„Das ist … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie kann das sein? Wieso jetzt? Ich meine, das ist noch nie passiert!“ Liska war zum Weinen zumute. Was, in aller Welt, geschah hier bloß?

„Wirklich nicht? Wäre es denn nicht möglich, dass du siehst, was andere nicht sehen? Dass deine Augen die Blätter manchmal grüner färben und die Sonne heller scheinen lassen?“

Liska schüttelte energisch den Kopf, doch irgendetwas in ihrem Inneren regte sich bei diesen Worten des Fantasiewebers. Er hat recht, dachte sie entgeistert.

„Aber das wäre mir doch aufgefallen!“, sagte sie trotzdem. Am liebsten würde sie den Fantasieweber bitten, das Gespräch fernab der zahlreichen anderen Augen- und Ohrenpaare fortzusetzen, doch sie hatte schlichtweg keine Kraft mehr. Für den Augenblick zählte nur, den Tag endlich hinter sich zu bringen. Nach Hause zu fahren, sich ins Bett zu verkriechen und an nichts und niemanden mehr denken zu müssen.

Wenn das so ist, sagte ein unausstehlich neunmalkluger Teil ihres Bewusstseins, solltest du endlich aufhören, so viele Fragen zu stellen.

Terenjo nickte wissend, als hätte er einen flüchtigen Blick in ihren Kopf erhascht. „Ich denke“, sagte er ruhig, „für heute habe ich euch allmählich genug zugemutet. Kehrt in eure Häuser und Wohnungen zurück, schlaft euch aus, tankt Kraft. Ihr werdet sie brauchen; für eure Ausbildung, aber vor allem auch für die Zeit danach. Und seid unbesorgt. Ich kann euch versichern, dass sich auf jede offene Frage eine Antwort finden wird, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.

Ich werde euch wissen lassen, auf dem einen oder anderen Wege, wann ihr zur Zeremonie erscheinen müsst. Bis dahin haben meine Schwalben ein Auge auf euch.“

Liska sah dem kleinen Vogel dabei zu, wie er in der Luft übermütig Pirouetten drehte.

Bis dahin haben meine Schwalben ein Auge auf euch.

Obwohl sie sicher war, dass der Fantasieweber es nicht so gemeint hatte, klangen die Worte in ihren Ohren wie eine Drohung.