Leseprobe Herzklopfen und Meersalz

Kapitel 1

Unheil

Herbert von Karajan hatte einmal gesagt: „Wer all seine Ziele erreicht hat, hat sie sich als zu niedrig ausgewählt“, und traf mit seinen Worten Emma Sommer mitten ins Herz. Sie, die immer für alles in ihrem Leben hatte kämpfen müssen, fand, dass Herbert von Karajan mit ihr viel zu hart ins Gericht ging und sie damit an eine Wand stellte, vor der sie gar nicht stehen wollte.

Was sie aber noch mehr wunderte, war, dass sie gerade jetzt in diesem Augenblick an diesen einen Satz denken musste, den sie damals aus der Zeitung aufgeschnappt und innerlich in einer ihrer gedanklichen Schubladen abgelegt hatte mit dem eigenen Vermerk, ihn noch einmal gebrauchen zu müssen.

Dass jetzt der Moment gekommen war, wäre ihr nicht im Traum eingefallen.

Sie hatte alles erreicht, was sie wollte; hatte Hindernisse ebenso aus dem Weg geräumt, Konkurrenten hinter sich gelassen und das geschafft, was viele wollten.

Vom Schreiben leben können.

Der innere Beweis, dass sie alles schaffen konnte, wenn sie nur daran glaubte und sich nicht beirren ließ.

Was wäre aus ihr geworden, wenn sie auf ihre Mutter gehört hätte, die zu ihr gesagt hatte: „Woher willst du das Talent haben? Niemand von uns ist so. Niemand war jemals so. Wir waren immer solide!“

Solide …

Wenn sie das schon hörte.

Wer wollte solide sein, wenn er seinen eigenen Träumen nachgehen und sich das Leben aufbauen konnte, das man für sich selbst am lebenswertesten fand?

Und eben, weil ihre eigene Mutter nicht an sie geglaubt hatte, und sie sich den Satz um die Ohren hatte feuern lassen müssen, hatte sie sich die ganze Zeit über, seitdem sie wusste, dass sie zu der Gala eingeladen worden war, auf eben diesen einen Abend gefreut. Sie hatte ihm mit solch einer stolzgeschwellten Brust entgegengefiebert, dass es ihr wehtat, gerade jetzt diesen Satz von Karajan innerlich hören zu müssen.

Das war nicht fair.

Ganz und gar nicht.

Ihre Ziele waren niemals niedrig gesteckt gewesen. Sie hatte sich niemals mit dem zufriedengegeben, was sie erreicht hatte. Ihr innerer Motor war, wenn man es so wollte, ihr Ehrgeiz gewesen, endlich von dem leben zu können, was sie tat.

Emma Sommer hatte es geschafft.

Mit sechsunddreißig!

Wer konnte das sonst noch von sich behaupten?

So gut wie niemand – auf jeden Fall niemand aus ihrer Branche. Natürlich, sie hatte damals, als sie anfing, ihren Traum zu leben, viele Niederlagen einstecken müssen. Persönliche, berufliche und auch finanzielle. Niemand hatte damals auf eine gerade einmal neunzehnjährige junge Frau gewartet, deren schulische Leistungen überschaubar gewesen waren, und die nichts anderes im Kopf hatte, als ihre große Leidenschaft zum Beruf zu machen.

Ihre Leidenschaft – das Schreiben.

Und gerade jetzt, wo Walter Marquart, der Organisator der „Schreibfeder-Stiftung“, vor ihr stand, sie aufmunternd anlächelte und meinte: „Sie sind eine Schriftstellerin, die es schafft, mit einfachen, klaren Sätzen ganz vielen kleinen Details ihre würdige Größe zu verleihen“, kam ihr der verfluchte Satz eines österreichischen Dirigenten in den Sinn, der ihr all ihren Erfolg madig machen wollte.

„Sie ist nicht nur erfolgreich“, meinte Rüdiger Oller, ein hochgewachsener, grauhaariger, magerer Mann, dessen Lächeln aus unendlich vielen Zähnen zu bestehen schien. Ein Mann, wie sie immer wieder feststellte, der etwas Unwirkliches, etwas aufgesetzt Künstliches besaß, das ihr unangenehm war. Bisher hatte sich überwiegend Mark, ihr Agent, mit Oller unterhalten und zusammengesetzt. Aber heute, an diesem Abend, an dem sie für ihren Bestseller „Wasserherz“ geehrt wurde, hatte es sich der Filmschaffende nicht nehmen lassen, ihr seine Aufwartung zu machen.

Er wollte ihr zeigen, und das mit einem laschen Händedruck und einem aufgesetzten Lächeln, wie sehr er sich für sie und ihre Arbeit interessierte. Dass er es mochte, wie sie vorging und er sich nichts anderes mehr vorstellen konnte, als ihr Buch in einen Film zu verwandeln.

Es schauderte sie, als sie ihn reden hörte und mitbekam, wie er seinen eben begonnenen Satz weiter ausführte und sagte: „Sie ist auch eine gebildete und eine gewissenhafte Frau. So etwas gibt es nicht mehr oft.“

Und Menschen wie Sie gibt es leider noch viel zu viele, dachte sie bitter bei sich und ärgerte sich darüber, dass sie freundlich nicken, dankbar lächeln und säuselnd sagen musste: „Danke für das Kompliment.“

„Die Wahrheit muss man sagen.“ Oller nickte. „Das hat meine Mutter schon immer gemeint.“

„Und genau deshalb wird Frau Sommer ja auch der Preis unserer Stiftung verliehen. Weil sie Außergewöhnliches in kurzer Zeit geleistet hat. Stolz sollten wir auf sie sein.“

Emma lächelte knapp.

Wenn die Männer nur wüssten.

Sie seufzte innerlich, als sie den anschwellenden Schmerz in ihrer Brust spürte, als sie die Worte „Stolz“ und „Außergewöhnliches“ vernahm.

Das war sie nie gewesen – auf jeden Fall nicht in den Augen ihrer Mutter.

Da war sie das kleine, ungezogene Mädchen, das sich lieber auf Dinge konzentrieren sollte, von denen es mehr Ahnung hatte als vom Büchertippen.

Kamen ihr deshalb Karajans Worte in den Sinn?

„Ausgezeichnet. Sehr erfreulich.“ Oller nickte erneut und fügte etwas hinzu, das seinen wahren Charakter offenlegte. „Solch eine Auszeichnung lässt sich doch wunderbar vermarkten. Hach, ich sehe schon das Kinoplakat vor mir!“

Emma seufzte und war ganz froh, dass Marquart sie plötzlich am Oberarm berührte, hinauf auf die Bühne zeigte und sagte: „Ich werde Ihre Laudatio jetzt gleich halten und freue mich auf ein weiteres Gespräch nach dem offiziellen Teil.“

„Ich mich auch“, wich sie aus, ohne unfreundlich wirken zu wollen.

Sie mochte Marquart. Besonders deshalb, weil er sich anders verhielt als die anderen Anwesenden hier. Natürlich, er war anfangs etwas steif gewesen, hatte versucht, sie mit seiner Position zu beeindrucken. Aber nach dem dritten Telefonat und der vierten oder fünften E-Mail waren sie beide zu einem freundschaftlichen Sie übergegangen, das immer öfter von einem Du abgelöst wurde. Im Laufe der Zeit war er zu einem normalen Menschen ohne Hintergedanken geworden.

Er hatte nicht vor, sie zu vermarkten oder sich mit ihr sehen zu lassen. Erst gestern, als sie den Ablauf des heutigen Abends besprochen hatten, war er ihr so freundschaftlich nahe gekommen, dass sie es nicht bedenklich fand, zu erzählen, dass ihre Mutter heute Abend nicht hierher kommen würde. Dass sie beide schon seit drei Jahren kaum mehr miteinander sprachen.

Ihr Vater, verschüchtert und ängstlich von dem ganzen Rummel, der um seine Tochter gemacht wurde, war zwar hier, hielt sich aber die meiste Zeit in der fast menschenleeren Lobby auf und trank nippend sein Bier.

Dabei hätte sie ihn gerne hier an ihrer Seite gehabt.

Emma musste lächeln, als sie ihn da am Eingang stehen sah; sein Bier in der Hand, den festen Entschluss gefasst, seinen jetzt eingenommenen Platz nicht mehr zu verlassen und sich erst dann wieder in Bewegung zu setzen, wenn es losging, und er von dort aus den größten aller Höhepunkte von Emmas Karriere verfolgen konnte.

Sie hatte Marquart sogar von damals erzählt, wie es ihr ergangen war und wie ihre Mutter ihr den fürchterlichsten aller Sätze an den Kopf geschleudert hatte, den sie jemals aus ihrem Mund gehört hatte.

„Warum hat sie das nur gesagt?“, hatte Marquart wissen wollen und sah dabei so betreten aus, als habe er gerade die Abfuhr von der Liebe seines Lebens bekommen. „Ich meine, sie sind eine begnadete Schriftstellerin.“

Emma zuckte nur mit den Schultern und wollte gar nicht mehr weiter darüber reden. Und sie hatte nicht mehr daran denken wollen, wie sie damals an ihrer Adler Compacta 600 gesessen hatte und wie verrückt auf die Tasten einhämmerte, um ihre Gedanken auf das in die Schreibmaschine eingespannte Papier fließen zu lassen. Eine alberne Abenteuergeschichte, wie sie heute wusste, die sie damals schrieb. Abgeguckt aus diversen Abenteuerfilmen der Achtziger und Neunziger. Für sie damals aber der Inbegriff neuer, der Welt zur Verfügung stehender Literatur.

Und gerade in dem Moment, wo Beatrice Royal sich in die Arme von Benedikt von Heldenstein fallen ließ, weil er sie vor dem T-Rex gerettet hatte, war ihre Mutter ins Zimmer gekommen und hatte ihr unmissverständlich klargemacht: „Hör jetzt auf. Schlaf jetzt. Morgen ist wieder Schule.“

„Nur noch zwei Seiten“, hatte sie gebettelt und dabei gespürt wie der Fluss, in dem sie sich eben noch befunden hatte, zu versiegen drohte.

Es war ihr gewesen, als tauchte sie nach einem unendlich langen Traum wieder in die Wirklichkeit ein.

Und dann war der verhängnisvolle, den emotionalen Bruch herbeiführende Satz gefallen, den Emma bis heute wieder und wieder hörte. Immer von Neuem, wenn sie sich an den PC setzte und anfing zu schreiben.

Sie schüttelte den Kopf und merkte dann erst, als Oller sie erwartungsvoll anschaute, dass er etwas von ihr erwartete.

„Bitte?“, fragte sie verwirrt und schenkte dem Filmproduzenten ein freundliches, wenn auch verunsichertes Lächeln.

„Ich wollte wissen“, überging er ihren Fauxpas mit einem stoischen, kummergewohnten Lächeln, „ob ich Ihnen die Tage den ersten Rohentwurf unseres Treatments vorbeibringen soll? Wir können bei einem Kaffee gerne einmal über Änderungswünsche, Korrekturen und Charakterskizzierungen sprechen.“

„Das wäre wundervoll“, wich sie ihm erneut aus und hasste ihre immer stärker werdenden Bauchschmerzen.

Sie begann, Karajan für seine Worte zu verabscheuen.

Und ich bin dämlich, dachte sie ärgerlich bei sich.

Sie hatte sich in den letzten Jahren nie etwas daraus gemacht, was andere über sie sagten oder dachten. Selbst die anfänglichen Rezensionen ihres ersten Buches „Feuermädchen“, die alles andere als positiv ausgefallen waren, hatte sie mit einem wegwischenden Gleichmut ertragen, und war der festen Überzeugung, dass Worte ihr gar nichts mehr anhaben konnten.

Und jetzt war alles anders?

Wegen eines Zitats, das sie vor Jahren in einer Zeitung gelesen hatte?

Das war nicht ihre Art. War es nie gewesen.

Es sei denn, du beziehst den Spruch gar nicht auf das Schreiben, Emma, sondern auf …

Sie versuchte, ihre Gedanken gar nicht erst weiter zu Wort kommen zu lassen. Schon immer hatten ihre eigenen, inneren Worte dazu geführt, sie unruhig werden zu lassen, oder über Dinge nachzudenken, die sie für abgeschlossen gehalten hatte. Da musste sie nur an eben ihre Mutter denken, die vor drei Jahren überraschend ihren Mann nach über fünfunddreißigjähriger Beziehung verlassen hatte und in Emma eine seelische Lawine auslöste, die sie an den Rand einer persönlichen Krise gebracht hatte.

Da waren plötzlich Bilder und Gedanken in ihrem Kopf aufgetaucht, die sie so niemals gehabt hatte. Die ihr nicht einmal im Traum eingefallen wären. Aber in dem Augenblick, als sie das Telefon an ihr Ohr hielt, ihren Blick auf den PC gerichtet, weil sie gerade dabei gewesen war, das zweite Kapitel ihres heute so hochgefeierten Romans „Wasserherz“ zu bearbeiten, und sie die Stimme ihres fassungslosen Vaters vernahm, waren ihr Bilder und Szenen aus ihrer Vergangenheit in den Sinn gekommen, die sie niemals mit der Trennung ihrer Eltern in Verbindung gebracht hätte. Damals aber, als sie plötzlich das Gefühl hatte, ihr habe jemand mit voller Wucht in den Bauch geschlagen, hatte sie sich wieder im Heide Park Soltau gesehen, wie sie mit den Füßen aufstampfte, zeterte und schrie, sie wolle noch einmal mit den Mexikanerhüten fahren.

Sie hatte sich im Original gesehen, mit den zu einem Zopf geflochtenen Haaren, dem weißen, geblümten Kleid und mit den schwarzen Lackschuhen, die sie dazu getragen hatte. Ein kleines schwarzhaariges Mädchen, dessen Zähne schief gewachsen waren und durch eine Spange wieder begradigt werden mussten.

Ein Mädchen, das schimpfte, weil die Mutter ihr die Fahrt verboten hatte und ihr Vater, milde und sanft, wie er nun einmal war, meinte, dass eine weitere Fahrt doch nicht schaden konnte.

Und eben als er ihr erklärte, dass ihre Mutter sich von ihm getrennt hatte, hatte sie wieder ihre Worte im Ohr: „Dass du mir auch immer in den Rücken fallen musst. Warum kann ein ‚Nein‘ von mir nicht einfach mal ein ‚Nein‘ bleiben?“

So albern und absurd es auch war, Emma hatte die Bilder der sonnigen Tage sofort wieder im Kopf gehabt und war sich sicher gewesen, dass ihr Verhalten damals dazu beitrug, dass die Beziehung ihrer Eltern vor drei Jahren auseinandergegangen war.

Sie musste bitter schlucken bei den Erinnerungen und begriff jetzt erst, als sie ihren Platz suchte, der ihr zugewiesen worden war, dass sie von dem ganzen Drumherum gar nichts mitbekam, das ihretwegen veranstaltet wurde.

Sie nahm weder die ihr zunickenden Menschen wahr noch die Komplimente, die man ihr zurief.

Alles in ihr drehte sich.

Und als sie dann endlich ihren Stuhl gefunden hatte, der in der ersten Reihe stand, welcher schon flankiert war von ihrer besten Freundin und Mark Seiler, ließ sie sich mit einem erleichtert klingenden Seufzen auf ihn fallen und merkte jetzt erst, dass die Menschen klatschten und dass Marquart anfing, seine Rede zu halten.

Emma war viel zu sehr mit sich und ihren verfluchten Gedanken beschäftigt, als dass sie ihre eigene Ehrung genießen konnte.

So wie mit dem Gedanken an den Streit mit ihrem Vater, weil er sie nicht ins Stadion hatte gehen lassen wollen.

Was viele mit dem Volkspark des Hamburger Sport Vereins gleichsetzen würden, weil alle meinten, Emma käme aus der Stadt an der Elbe. Das Stadion aber, das sie meinte, war ein kleiner Versammlungsort für Jugendliche gewesen, wo nur die coolsten und die gefragtesten Kids hatten hingehen dürfen. Und als Michael Gabler sie aufforderte, mit ihr zu gehen, war sie gleich Feuer und Flamme dafür gewesen.

Himmel, sie hätte ins Stadion gedurft!

Nur ihr Vater hatte nicht mitgespielt.

Er hatte gemeint, dass eine Zwölfjährige an solch einem Ort nichts zu suchen hatte und dass er fand, dass ein Mädchen sich nicht in Begleitung eines vergnügungssüchtigen Raufboldes dort blicken lassen sollte.

Was wiederum dazu geführt hatte, dass ihre Mutter meinte: „Schatz, lass sie sich doch ausprobieren. Wie soll sie denn sonst lernen, wohin sie gehört und wo sie sich wohlfühlt?“

„Aber doch nicht im Stadion!“

„Mir gefällt es auch nicht“, war die ehrliche Meinung ihrer Mutter gewesen, die sie aber mit Leichtigkeit überspielen konnte, wenn es darum ging, dass Emma ihre Erfahrungen machen sollte. „ABER, sie muss ihre eigenen Lehren aus ihrem Tun ziehen. Oder etwa nicht?“

„Sie geht nicht ins Stadion. Basta!“

Das waren seine letzten Worte zu dem Thema gewesen und eine von vielen Meinungsverschiedenheiten mit seiner Frau. Und wie eben, als sie sich mit Marquart und Oller unterhielt, meinte sie auch jetzt, erneut in die Vergangenheit abzutauchen.

Sie sah sich wieder am Telefon stehen, den Hörer in der Hand und genau das Streitgespräch im Ohr, das ihr so sehr zusetzte, dass sie alles um sich herum zu vergessen begann.

Selbst ihr Schreibprojekt, das sie damals angefangen hatte, war in Vergessenheit geraten. Es war plötzlich nicht mehr in ihrem Kopf gewesen, obwohl sie Feuer und Flamme dafür gewesen war. An nichts anderes hatte sie mehr denken können als an ihre Protagonistin Helena König und ihren kometenhaften Aufstieg in der Meeresbiologie, ihrer verheißungsvollen Liebe und an den ebenso rasanten Absturz, der auf ihren Erfolg folgen musste.

Es war ihr undenkbar gewesen, dass sie auch nur eine Sekunde davon abweichen würde, die Geschichte schreiben zu können.

Bis ihre Familie kam …

Es hatte beinahe zwei Monate gedauert, bis sie wieder genug Energie und Kraft gefunden hatte, um ihre kreative Ader ausleben zu können. Zwei Monate, die sie so viel Kraft gekostet hatten, dass sie zwischendurch der Meinung gewesen war, niemals wieder auch nur ein Sterbenswörtchen auf das virtuelle Papier ihres Schreibprogramms bringen zu können.

Ihre ganze Aufmerksamkeit hatte ihrem Vater gegolten.

Und wie damals vor drei Jahren fühlte sie sich auch jetzt wieder.

Hilflos, allein und von sich selbst überrumpelt.

Emma schaffte es nicht, obwohl alle Aufmerksamkeit hier auf sie gerichtet war, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Immer wieder versuchte ihr verfluchter Gedanke, sich in den Vordergrund zu schieben, damit sie ihn zu Ende denken konnte.

Es sei denn, du beziehst den Spruch gar nicht auf das Schreiben, Emma, sondern auf …

Sie schluckte bitter, schüttelte den Kopf und ermahnte sich selbst zur Ruhe. Ein Geschmack, wie sie ihn meistens nur nach dem Aufstehen auf der Zunge schmeckte, stieg unaufhaltsam aus ihrem Rachen auf, und ließ sie sehnsüchtig an ein Kaugummi denken.

Sie wollte nichts anderes mehr, als den Saal zu verlassen, um mit sich und den irre gewordenen Gefühlen, die durch ihre Brust hämmerten, klarzukommen. Eine Methode, wie sie sich beschämt eingestehen musste, die ihr schon immer gut zu Gesicht gestanden hatte.

Weglaufen!

Das beste aller Heilmittel – für den kurzen Moment. Dass man sich seinen Problemen stellen musste, wusste sie und hatte es doch bis jetzt immer erfolgreich geschafft, ihren Kopf aus den emotionalen Schlingen des Lebens ziehen zu können. So war es damals im Heide Park gewesen, als sie sich dazu entschied, so schnell wie möglich ins Kinderparadies zu rennen, um sich dort hinter den mannshohen Maskottchen zu verstecken. Ebenso war sie weggelaufen, als ihr Vater ihr verboten hatte, ins Stadion zu gehen.

Weit war sie nicht gekommen, weil der Nachbar von der Straßenecke ihr entgegenkam. Er hörte sie weinen, bot ihr Trost an und wenn sie wollte, sich das Herz bei ihm auszuschütten.

Und dann gab es da noch Michael …

… ein Gedanke, den sie sofort wegdrückte und gar nicht zulassen wollte, dass sich ihre gerade angestellten Überlegungen auch nur eine Sekunde mit dem überschnitten, was sie sich ausdachte und ausmalte. Sie wollte nicht noch einmal an das denken, was damals geschehen war und schon gar nicht an ihre daraus entstandene Tortur.

Das, was sie brauchte oder, besser gesagt, was sie denken wollte, war ihre immerwährende Flucht vor unlösbaren Problemen. Nicht, dass sie es gutheißen oder gar jemanden dazu ermutigen könnte, ebenfalls vor seinen Problemen wegzulaufen. Aber manchmal war es ihr einziger Ausweg, um die ihr über den Kopf wachsenden Situationen ertragen zu können.

Wenn danach nicht die ekelhaften Gedanken wären …

„Emma, was ist denn mit dir los?“, hörte sie wie aus weiter Ferne die Stimme von Angelika „Angie“ Kleinheister an ihre Ohren dringen, und schloss die Augen.

Natürlich …

… Angie merkte immer, wenn es ihr schlecht ging oder Emma sich mit Dingen und Themen beschäftigte, die ihr zusetzten.

„Was?“, fragte Emma deshalb, weil sie nicht wollte, dass ihre beste Freundin ihr deutlich machte, was sie beobachtet und gesehen hatte.

Was mit dem Versuch gleichzusetzen war, eine Lawine mit der Kraft der eigenen Gedanken daran zu hindern, ins Tal hinunterzustürzen.

Angie war wie ein auf sein Ziel zurasender Bulldozer.

Niemand würde sich ihr in den Weg stellen.

Niemand konnte das, denn er würde von ihr platt gewalzt werden.

Und es gab keinen Menschen, den Emma kannte, der das erstrebenswert fand. Die einzige Möglichkeit, Angie aufzuhalten, war, sie aus dem Konzept zu bringen. Was Emma bisher nur selten gelungen war. Aber erst kürzlich, als sie zusammen in Hamburg auf dem Hans-Albers-Platz unterwegs gewesen waren, um einmal wieder ordentlich die Sau rauszulassen und zu feiern, als gebe es kein Morgen mehr, war Emma aufgefallen, dass sie Angies schonungslose Beobachtungsgabe dadurch verwirren konnte, indem sie in den unpassendsten Momenten eine Gegenfrage stellte.

So wie jetzt!

Neulich, auf dem Kiez, da hatte Angie angefangen, darüber zu reden, wie sie Emma in letzter Zeit wahrnahm und sie einschätzte. Eine schonungslose Offenlegung von negativen Eigenschaften, wie Emma vermutet hatte, die sie sich nicht antun wollte. So hatte sie fieberhaft nach einem Ausweg gesucht, nachdem Angie sie in den Arm genommen, sie fest an sich gedrückt und mit den Worten zu reden begonnen hatte: „Mir ist da letztens etwas an dir aufgefallen …“

Jeder Mensch hätte damit geantwortet: „Was denn?“, und wäre Angie mit offenen Armen ins blanke Messer gelaufen.

Nicht so Emma.

Sie hatte nur gefragt: „Hast du eigentlich Lust auf Kaffee?“

Es war ein Instinkt gewesen, eine kurze, einer Erleuchtung gleichkommende Eingebung, die Emma den Hals gerettet hatte und ihre Seele vor weiteren erschütternden Erkenntnissen. Deshalb kam ihr auch jetzt, als sie Angies Hand auf der ihren spürte und in die runden, blauen Augen ihrer besten Freundin schaute, die belanglos klingende Erwiderung, „Was?“, in den Sinn.

Angie, die, wie Emma vermutete, damit gerechnet hatte, dass ihre Freundin ihr sagen würde, was nicht stimmte, konnte mit der Frage nichts anfangen und stieß ein leises, verwirrt klingendes Lachen aus, um dann wissen zu wollen: „Geht es dir nicht gut? Du siehst aus, als …“

„Ich habe echt Durst“, sagte Emma schnell und zum Rednerpult ging, von dem Marquart einen Schritt zurückmachte, ein Klatschen andeutete und ins Mikrofon rief: „Und jetzt freue ich mich, die Hauptperson des heutigen Abends zu Wort kommen zu lassen.

Kommen Sie auf die Bühne, Emma Sommer, und genießen Sie Ihren Applaus!“

***

Ich bin eher wie James Dean, dachte Emma trotzig bei sich, während sie Karajans ekelhaft klingenden Satz wieder zu analysieren versuchte und den Tatsachen auf den Grund gehen wollte, warum er ihr ausgerechnet jetzt in den Sinn kam. Denn sie fand, dass die Worte von James Dean um Einiges besser zu ihr passten, der einmal gesagt hatte: Ich will nicht einfach der Beste sein. Sondern ich will so groß werden, dass niemand an mich heranreicht. Nicht um irgendetwas zu beweisen, sondern nur, um dorthin zu gelangen, wohin man streben sollte, wenn man sein ganzes Leben und sein gesamtes Sein einem einzigen Ziel verschreibt.

Das war ihr Ansporn gewesen.

Es den Leuten zeigen zu können, dass man seine Träume verwirklichen und leben konnte – wenn man nur den Mut fand, seine eigenen Entscheidungen vertreten zu können.

Und meiner Mutter, die mir gesagt hat, dass ich kein Talent zum Schreiben habe. Dass ich lieber solide werden soll.

So wie sie?

Tag für Tag, Jahr für Jahr, Monat für Monat, ins Krankenhaus zu gehen und Menschen zu pflegen, obwohl man eigentlich seit mehr als zwanzig Jahren gar keine Krankenschwester mehr sein will?

Ich?

Niemals!

Ich kann nicht das machen, was andere von mir verlangen. Ich kann nur das geben, was ich bereit bin zu verlieren.

„Warum stehst du denn hier so allein, Emma?“, drang ihr plötzlich die Stimme von Mark ans Ohr, der ein Sektglas in der Hand hielt, sie aus seinen dunkelbraunen Augen anschaute, und ihr ein Lächeln schenkte, das ihr einen wohligen Schauer der Freude in den Magen jagte. Es fühlte sich an, als streichelte er sanft mit seinen Fingerspitzen über ihren Bauch, um sie kurz erschauern zu lassen. So wie damals, als sie sich das erste Mal in seiner Agentur gegenübersaßen, und er ihr mit der weichen, sonoren Stimme erzählte, dass er in ihrem Debütroman so viel Potenzial sah, dass er sich ohne große Hemmungen an die großen Verlagshäuser wenden wollte, um ihn dort anzubieten.

Sie seufzte leise, als sie Mark anschaute, wie er da in seinem Nadelstreifenanzug vor ihr stand, von dem weichen Licht des Saals beschienen und für sich dachte, er wäre ihr größter Glücksfall im Leben.

Nicht nur, weil er ihr Agent war und ihr zweites Buch zum ersten Mal auf die Bestsellerliste hievte, sondern deshalb, weil er ihr vor drei Jahren sagte, dass er sich in sie verliebt hatte. Dass er sich nicht mehr ein Leben ohne sie vorstellen und deshalb mit ihr zusammen sein wollte.

Und auch jetzt, als er vor ihr stand, ein Lächeln auf den Lippen, die von einem fein gestutzten Bart umgeben waren, und diesem jugendlichen Hauch, den er sich auch mit über vierzig bewahrt hatte, gefiel er ihr ausgesprochen gut. Es war immer ein spöttisches Glitzern in seinen Augen auszumachen, das sie faszinierte und zugleich erschreckte.

Es faszinierte sie einerseits, weil sie selbst viel zu oft dazu neigte, das Leben zu verbissen und ernst zu sehen. Andererseits erschreckte es sie, weil sie nicht wusste, wie sie es deuten sollte. Manchmal fühlte sie sich deshalb wie ein kleines Kind, das vor einem Lehrbeauftragten stand, der ihr etwas beibringen wollte, was sie nicht verstand.

Auch jetzt, wo er leichtfüßig auf sie zukam, meinte sie wieder, den Spott in seinen Augen schimmern zu sehen, während seine Frage in einem ganz anderen Kontext zu hören war.

Es war eine merkwürdige Komponente, die Emma bis heute nicht analysieren konnte.

Da sehnte sie sich manchmal nach der offenen Direktheit Angies, die ohne Umschweife das sagte, was sie dachte und danach handelte, was sie von sich gab.

„Ich brauchte mal etwas Ruhe“, sagte sie mit gleichgültiger Stimme – und hoffte, dass sie wirklich so klang, wie sie es wollte.

„Du bist der Mensch des Abends, Liebling.“ Mark sein jungenhaftes Lächeln, und ließ Emma wieder weiche Knie bekommen. „Du solltest dich im Mittelpunkt einer jeden Unterhaltung befinden.“

„Hmmm …“

„Du bist immer so bescheiden“, meinte er und knuffte sie, einem kleinen Mädchen gleich, das gut gehört und auswendig gelernt hatte.

„Nun ja.“

„Bist du. Brauchst du dich gar nicht kleiner machen, als du es sowieso schon bist.“

„Charmant wie eh und je“, hörte Emma die Stimme Angies, die in ihrem blauen, hauteng anliegenden Glitzerkleid aussah wie ein über Wolken gehender Engel.

Emma wusste, dass der Vergleich kitschig klang und viel zu weit hergeholt war.

Aber seit dem Tag, an dem sie sich damals an der Gesamtschule von Eckenförde kennengelernt hatten, war die Faszination von Angie niemals gewichen. Damals nicht, als sie in ihrer verrückten Punkphase aussah wie ein Stachelschwein, mit den ganzen Ringen und Dornenarmbändern, und heute schon gar nicht mehr, da Angie eine erfolgreiche Journalistin geworden war, die es ohne Mühe zur stellvertretenden Chefredakteurin gebracht hatte.

In ihrer Nähe fühlte Emma sich wohl, verstanden, von allen Seiten richtig betrachtet.

Deshalb wunderte es sie, dass sie auf Angies Rat, es mit Mark langsam angehen zu lassen, nicht gehört hatte.

Bisher hatte sie immer viel Wert auf Angies Einschätzungen gegeben – oder mindestens einen Teil ihres Rates befolgt.

Vielleicht, und das meinte Emma ehrlich, hatte sie mit dem Versuch, eine Beziehung mit Mark zu führen, eine Grenze zu Angie und ihrer Intuition ziehen können.

Einmal den Versuch unternehmen, eine eigene Entscheidung zu fällen und zu sehen, wohin sie durch ihre Gefühle getrieben wurde.

„Ich gebe mein Bestes“, kommentierte Mark, der seine Blicke genüsslich über den schlanken Körper Angies gleiten ließ und sie regelrecht auszuziehen schien. Was Emma verstehen konnte.

Angie war schön anzusehen.

Ihre blonden Locken waren von Natur aus da und umspielten ihr zart geschnittenes, weiches Gesicht und brachten die schmale Nase wie auch die blauen Augen noch mehr zur Geltung. Hinzu kam, dass ihre handgroßen Brüste sich unter dem eng an die Haut schmiegenden, im gedämmten Licht des Saales blau funkelnden Kleides deutlich abzeichneten und einen Blick in den Ausschnitt gewährten, der gebräunte Haut zeigte.

Dazu hatte Angie lange, schlanke Beine, die durch die hochhackigen Schuhe, die sie trug, noch mehr zur Geltung kamen. Eine Tatsache, die durch das zierliche, silberne Kettchen, welches sie sich um den Knöchel gelegt hatte, nur noch mehr unterstrichen wurde.

„Was – wie immer – nicht gut genug ist.“

„Wir sind auf der Bestsellerliste“, hielt Mark ihr entgegen und erntete ein mitleidiges Lächeln, das Emma wehtat.

Mark lernte es einfach nicht.

Er brauchte es gar nicht erst versuchen, sich mit Angie zu messen.

Er würde immer den Kürzeren ziehen. Trotzdem aber versuchte er immer wieder mit halbgaren Bemerkungen, Angie ihre Schwachstellen aufzuzeigen.

„Und wo ist dein Herz?“

„In meiner Brust!“, versicherte er ihr.

„Warum nicht in Emmas Hand?“

„Apropos.“ Mark plötzlich lachte, der, als habe er nur auf solch ein Stichwort gewartet, einen silbern glänzenden Löffel aus der Hosentasche zog, um ihn dann mit einem schallenden, lauten Echo gegen das Glas zu schlagen.

Die Gespräche, die eben noch geführt worden waren, verstummten.

Die Musik, als wäre es abgesprochen, die eben noch mit ihren sanften Klängen den Saal erfüllt hatte, und der Atmosphäre, in der sie alle schwelgten, unterstrich, verstummte mit einem leisen, letzten Violinenklang.

Emma, die verwirrt zu Mark schaute, bekam es plötzlich mit der Angst zu tun, weil er sich im selben Moment neben sie stellte und ihre Hand nahm, was er sonst nur ausgesprochen selten tat.

Bisher hatte sie in solch einer Situation nie selbst gesteckt.

Sie hatte darüber geschrieben, gelesen und Dutzende Filme gesehen.

Jetzt aber hier zu stehen, von den bewundernden Blicken der anwesenden Menschen bedacht, spürte sie, dass sich etwas um sie herum ereignete, wovon sie schon immer geträumt hatte.

Was du schon einmal geträumt hast, verbesserte sie sich automatisch, und bekam krampfhafte Bauchschmerzen, die sie glauben ließen, hier und jetzt auf die Toilette gehen zu müssen.

„Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit“, rief Mark, der Emmas Hand nun so fest hielt, als wollte er verhindern, dass sie weglief und ihn vor den ganzen Leuten allein stehen ließ. „Wie sie wissen, ist Emma nicht nur meine erfolgreichste Autorin, die ich betreue. Nein, ich habe auch das ausgesprochene Glück, sie an meiner Seite zu wissen. Sie inspiriert mich nicht nur dazu, in meiner Agentur das eine oder andere Novum auszuprobieren. Sie schafft es auch mit Leichtigkeit, mir jeden Tag wieder vor Augen zu führen, was für ein Glückspilz ich bin.

Und weil ich eben mein Glück ungerne ungeschmiedet lasse, so will ich dich fragen …“ Nun drehte er sich vor sie, ging langsam in die Knie und genoss sichtlich die von Romantik durchfluteten Seufzer der umstehenden Damen und Herren, und fragte sie die eine Frage, mit der Emma niemals gerechnet hatte, sie einmal hören zu können. „Willst du mich heiraten und meine Frau werden, Emma?“

Was sollte sie sagen?

Wie sich verhalten?

Sie hatte gerade jetzt erst in „Wasserherz“, ihrem neuesten Roman, über genau diesen Zwiespalt geschrieben. Hatte sich intensiv damit auseinandergesetzt und sich gefragt, was die Frage in einem Menschen bewirkte. Was sie in einem auslöste und wie sie einen positiv beflügelte und – negativ betrachtet – an einen Menschen kettete.

Und wie in ihrem Roman, so war sie auch wie ihre Protagonistin hin- und hergerissen auf der Welle des Glücks und des Zweifels.

Nur mit dem klitzekleinen Unterschied, dass sie hier keine Bühne hatte, um weglaufen zu können, und sich ins Abenteuer ihres Lebens zu stürzen. Nein, sie stand hier, umgeben von Literaturkritikern, von der Innensenatorin von Hamburg, vielen Menschen aus der Verlagsbranche und eben einer Freundin, die mit offenem Mund dastand und nicht glauben konnte, was sie da eben gehört hatte. Sie schaute zu Mark, und warf dann Angie einen verwirrten Blick zu, der das ganze Chaos ihrer Gefühle in sich trug.

Da war die Angst, dass Emma eine falsche Entscheidung treffen konnte – mal wieder.

Ein Schuss Hoffnungslosigkeit, dass Emma sich an den falschen Mann binden konnte, der auf sie wirkte wie ein Aal, der versuchte, sich den zupackenden Händen des Anglers zu entziehen. So hatte sie es einmal ausgedrückt, als Angie und sie zusammen einen Kaffee in der Mönckeberg Straße getrunken hatten, um die ersten, zögerlich hinter den dichten Wolken versteckten Frühlingstrahlen zu genießen, die sich beinahe scheu zeigten und auf ihre Haut gelegt hatten.

Sie spürte, wie ihr Hals trocken wurde und es tat ihr noch mehr weh, als ihr bewusst wurde, dass ihr Vater sich ganz in ihrer Nähe aufhielt, und sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und ebenso wenig wie sie zu wissen schien, wie er sich verhalten sollte.

Sie sah ihn da stehen, unbeholfen und allein, nur er und seine eiskalt gekühlte Bierflasche in der Hand, und in seinem Gesicht einen entsetzten Ausdruck, der so viel auszusagen schien wie: „Du bist verrückt, wenn du dich darauf einlässt. Das weißt du. Hast du denn schon vergessen, was nach fünfunddreißig Jahren Beziehung zwischen deiner Mutter und mir passiert ist?“

Andererseits konnte man seinen Gesichtsausdruck auch so interpretieren, dass er geschockt, aber glücklich darüber war, was er hier zu sehen und zu hören bekam. So verrückt und paradox es auch klang, Emma meinte plötzlich, so etwas wie ein liebevolles Schmunzeln in seinem Mundwinkel zu erkennen, das ihr alles Glück der Welt schenken wollte.

Weshalb sie mit einem unsicheren Blick in Marks wissendes Gesicht blickte, der keine andere Antwort als ein beherztes und vor Berührung zitterndes „Ja!“ akzeptieren würde.

„Sag was“, wisperte Angie ihr entgegen, weil sie nicht wollte, dass das nun schon viel zu lange anhaltende Schweigen noch mehr in die Länge gezogen wurde und nicht deshalb, weil sie wie Mark Emmas „Ja“ hören wollte.

„Los!“

Mark lächelte noch immer.

„Ich will“, flüsterte Emma und ließ sich den plötzlich in der Hand Marks befindenden Ring auf den Finger stecken.

Applaus brandete auf.

„Hat man so etwas schon gesehen?“, hörte sie jemanden rufen, während eine nahe stehende Frau nach der Hand ihres Mannes gegriffen hatte, und flüsterte: „Ist das nicht schön?“

Und in all dem Jubel und Klatschen, den Hochrufen und warmen Worten bekamen Emmas vorhin gedachte Worte: Es sei denn, du beziehst den Spruch gar nicht auf das Schreiben, Emma, sondern auf … einen völlig anderen Klang.

Sie waren nicht mehr auf das Hier und Jetzt bezogen.

Hatten gar nichts mehr mit ihrem Bestseller „Wasserherz“ zu tun oder der bevorstehenden Verfilmung.

Nein, sie gruben sich in die Vergangenheit.

Gut siebzehn Jahre zurück, und ließen sie erschreckt denken: Du bist noch immer verheiratet …

***

Der Abend war … gelinde gesagt … eine Katastrophe gewesen.

Nicht, weil Emma mit einem Preis über zehntausend Euro ausgezeichnet worden war, Oller bekannt gegeben hatte, dass die Verträge für den Film, der nach dem gleichnamigen Bestseller „Wasserherz“ Ende nächsten Jahres in die Kinos kommen sollte, unter Dach und Fach waren, sondern deshalb, weil Emmas Vergangenheit sie eingeholt hatte wie ein hundert-Meter-Sprinter.

Sie hatte noch seine Schritte gehört, um metaphorisch zu bleiben, um ihn dann auch zu spüren, wie er an ihr vorbeizog und sie durch seinen Schwung beinahe von den Füßen riss.

Natürlich hatte sie „Ja“ gesagt, hatte die Glückwünsche ebenso entgegengenommen wie die Umarmungen. Sie hatte sich medienwirksam positioniert, hatte sich von den anwesenden Journalisten ablichten und es sich nicht nehmen lassen, in jede Kamera zu blicken und zu erzählen, wie glücklich sie war.

Innerlich aber, von aller Welt verborgen, von niemandem gesehen – abgesehen von Angie vielleicht –, hatte das reinste Chaos getobt.

Du bist verheiratet, verdammt. Du hast damals still und heimlich geheiratet und es niemandem gesagt. Niemandem … nur der befreundete Standesbeamte von Michael und der alte Pastor wussten davon.

Die und …

… Michael …

Emma, die eiligst die Tür des Taxis zuschlug, das sie auf Kosten der Gala nach Hause gefahren hatte, stolperte mehr, als dass sie ging, dem Eingang entgegen, der über sechs schmale Steinstufen zu erreichen war. Kleine Löwen, die die Treppe einfassende Mauer zierten, begrüßten sie mit weit aufgerissenem Maul, und die schlecht gemachten und vom Zahn der Zeit unendlich vielen Regengüsse und steif vom Westen wehenden Winden glatt polierten Statuen erinnerten sie einmal mehr daran, wie albern Menschen sein konnten.

Nicht nur, dass jemand auf die Idee gekommen war, irgendwo im nirgendwo Löwenskulpturen aufstellen zu lassen, die einen Bewohner begrüßten, nein, er war auch noch so dreist gewesen und hatte sie so klein anfertigen lassen, dass sie einem nicht einmal bis zur Hüfte gereicht hätten, wenn sie nicht auf einem Sockel säßen.

Dem ganzen albernen Flair setzte die aus billigem Metall gefertigte Haustür die Krone auf. Der Hauswart hatte sie in einer dunkelroten Folie bekleben lassen, die wirken sollte wie viele der Haustüren Londons, die in den angeseheneren Stadteilen lagen.

Hier aber, am Stadtrand von Hamburg, wo man schneller in Niedersachen war als in der Innenstadt, wirkte es alles andere als modern oder gar vornehm.

Trotzdem aber wohnte Emma hier gerne im Haus.

Denn hatte man die Peinlichkeit der Löwen und der Tür passiert, kam man in ein gemütliches, in dezentem Gelb gehaltenes Treppenhaus, das einen glauben ließ, in die Fünfziger zurückversetzt worden zu sein. Man atmete regelrecht das Flair des Aufbruches in eine neue Zeit. Es war, als strebte alles hier den noch bevorstehenden Erfolgen entgegen.

So war die leicht gewundene Treppe, die in den ersten Stock führte, von einem hölzernen Geländer gesichert, dessen einzelne Streben in kunsthandwerklicher Vollendung gefertigt worden waren. Mal sah man eine Strebe in Form eines Mannes, der aussah wie Atlas, der die Welt auf den Schultern trug, um dann daneben eine junge Frau zu erblicken, die einen Krug auf dem Kopf balancierte und geradewegs hinaufzuschreiten schien zu den oben gelegenen Wohnungen.

Emma verharrte gerne im Treppenhaus und genoss den Anblick des Geländers, der altmodischen, fein verzierten Briefkästen und freute sich darüber, wenn ihr Blick geradeaus auf die Tür fiel, die in den Hinterhof in den Garten führte.

Jetzt aber, wo ihr das Blut in den Ohren rauschte, ihre Gedanken sich unablässig drehten und sie sich kummervoll fragte, ob sie die verfluchte Heiratsurkunde von damals noch besaß, sah sie die ganzen Schönheiten der Handwerkskunst nicht.

Sie eilte die Treppenstufen hinauf, immer zwei auf einmal nehmend.

Als die Tür aufgezogen wurde, und die alte Frau Milko ihren Kopf hinausstreckte und sie mit den Worten begrüßte: „Na, Kindchen, wie ist der Abend gelaufen?“, scherte sie sich nicht darum, dass sie unhöflich war und schroff antwortete: „Wie soll er schon gewesen sein? Wie immer!“

Dabei mochte sie die alte Dame gerne.

Sie liebte es, mit ihr zusammenzusitzen, etwas zu klönen und zu schnacken, dabei einen Tee zu trinken und sich vorzustellen, wie Frau Milko damals als junge Frau wohl gewesen war. Wie sie das Leben sah und wie sie es heute wahrnahm.

Jetzt aber, wo Emmas ganzes Leben plötzlich kopfzustehen schien, eilte sie nur an der alten Dame vorbei, erreichte ihre Wohnung und fluchte leise, als ihr der Türschlüssel aus der Hand rutschte und klimpernd zu Boden fiel.

Erst beim zweiten Zugreifen hielt sie ihn zwischen den zitternden Fingern und schaffte es nicht, ihn ins Schloss zu schieben.

Emma musste die Augen schließen, tief ein- und ausatmen und sich selbst zur Ruhe rufen, bevor es ihr gelang, den Schlüssel langsam und konzentriert in das Loch zu stecken, ihn herumzudrehen und die Tür dann zu öffnen.

Ohne sich in dem vor ihr liegenden Wohnungsflur umzusehen, eilte sie in das sich geräumig erstreckende Wohnzimmer, das in drei Bereiche unterteilt war. Da war das wuchtige Sofa, das hin zum Fernseher – den sie so gut wie nie anschaltete, weil das Programm sie unglaublich anödete – ausgerichtet war, und vor dem der Tisch stand, auf dem sie eine Obstschale platziert hatte sowie die heute Mittag nicht weggeräumten Gläser, aus denen sie mit Angie getrunken hatte.

Der weite Bereich war der mit dem Esszimmertisch, der mit einem in der Mitte entlanglaufenden rötlich schimmernden Tischläufer dekoriert war, auf dem wiederum zwei langstielige Kerzen in einem Kerzenständer standen und bis zur Hälfte niedergebrannt waren. Die an den Wänden hängenden Bilder waren allesamt von scharf sich abgrenzenden Strichen durchzogen, sodass man das Gefühl von Kälte, die jeden befiel, wenn man die Motive betrachtete, nicht abstreifen konnte.

Dazu war der Rest, bis auf das rote Band inmitten des Tisches, in kalt-chromigen Farben gehalten und erzeugte kaum das Gefühl von Gemütlichkeit.

Das alles hatte Emma noch nie interessiert.

So fühle sie sich wohl.

Alles wohlgeordnet. Alles an seinem Platz.

Selbst ihr Arbeitsplatz, der unter dem Fenster stehende Schreibtisch, auf dem ihr Laptop ordentlich zugeklappt lag, wies keinerlei Spur von Unordnung auf. Ihre Notizzettel lagen fein säuberlich sortiert neben dem Laptop, während der Behälter für die Stifte nur gleich lange Kugelschreiber beherbergte.

Das Regal, das neben dem Schreibtisch stand und in dem die sorgsam beschrifteten Ordner Platz fanden, hatte sie sich erst kürzlich liefern lassen, da das alte ihr zu marode geworden war. Oder, besser gesagt, es hatte gewackelt und sie hatte es nicht geschafft, den Grund dafür zu finden, um es wieder zu stabilisieren.

Und einen Papierschnipsel zu nehmen, ihn unter den Fuß zu schieben, damit es wieder sicher stand, kam für Emma Sommer nicht infrage.

So zog sie ihre Schuhe aus, schob sie in den freien Platz im Regal und schlüpfte hastig in die bereitstehenden Hauspuschen. Sie eilte zurück und ließ ihre schwarze von Perlmutt besetzte Handtasche gedankenverloren von der Schulter rutschen, und ging vor den Ordnern in die Knie. Mit über ihre Lippen wehendem, beinahe wie ein Pfeifen klingendem Atem fuhr ihr Finger über die Rückseiten der Ordnerbeschriftungen und verharrte dann an einem, auf den sie vor unendlich langer Zeit, wie es schien, mit Füller draufgeschrieben hatte „Dokumente, 1999“. Längst war die Farbe der Tinte verblasst und nur noch schwer lesbar. Ganz anders, als es sonst ihre Art gewesen war, hatte sie hier die Schrift nicht nachgezogen.

Beinahe so, als hoffte sie, dass die Erinnerung an damals in ihrem Kopf im gleichen Maße wie die Schrift verblasste.

Und während sie mit fliegenden Fingern durch die Dokumente blätterte, Zeugnisse umschlug, die Zusage zu ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr weiterschob, begann sie, unruhig zu werden, weil der sowieso schon nur mager bestückte Ordner seinen Inhalt mehr und mehr lüftete und das gesuchte Dokument nicht zutage förderte. Dazu kam, dass es plötzlich und unerwartet an der Haustür klingelte.

„Nicht jetzt, Frau Milko“, flüsterte sie, und erhob sich nur widerwillig von ihrem Platz, als die Klingel erneut schrillte.

Mit eiligen Schritten ging sie zur Haustür, schaute durch den Spion und hatte schon die Worte: „Ich klingel morgen bei Ihnen“, auf der Zunge, als sie sah, dass gar keine Frau Milko vor der Tür stand.

Da war niemand.

Verwirrt bediente sie den Summer.

Wer konnte jetzt noch zu ihr kommen wollen?

Angie, der sie vorhin vor dem Rathauskeller Auf Wiedersehen gesagt hatte, war nicht der Typ dafür, einfach vor ihrer Haustür zu stehen. Auch wenn sie beide sich in- und auswendig kannten, so hatte die explosive Spontaneität, die Angie sonst immer ausstrahlte, zwischen ihnen beiden nie wirklich existiert. Sie waren eher in einem ruhigen, ausgeglichen freundschaftlichem Verhältnis aufeinander eingespielt.

Natürlich, es gab zwischen ihnen auch den einen oder anderen Moment der Spontaneität, der dann aber eher via „WhatsApp“ oder „Facebook“ stattfand, wenn sie miteinander chatteten. Manchmal, was in letzter Zeit auch immer seltener geworden war, hatten sie beide ihre Flexibilität, was das Leben im Allgemeinen betraf, auch übers Telefon geklärt.

Deshalb blieb sie, verwundert wie sie war, an der Haustür stehen, und trat nervös von einem Fuß auf den anderen, weil sie weiter in ihren Ordnern nachschauen wollte, ob die Urkunde, die von Michaels damals organisiertem Standesbeamten ausgefüllt worden war, sich hier irgendwo finden ließ.

Oder habe ich sie damals auch weggeworfen?, fragte sie sich in einem Anflug eines heißen Schreckens, als sie an den Moment dachte, als sie sich dazu entschloss, ihre Zelte abzubrechen und ein neues, ein unbeschwertes und von soliden Strukturen entferntes Leben zu führen.

Hatte sie?

Emma wusste es nicht!

Alles war damals so emotional gewesen. So überstürzend und nervenzerreibend, dass sie sich zwar an die Tränen, den Schmerz und die innere Leere erinnern konnte, die sie erfüllt hatte, als sie die ihr einst so ans Herz gewachsenen Dinge in die Mülltonne geschüttet hatte. Aber ob eben genau das dabei gewesen war, was sie suchte, wusste sie nicht.

Und so kreisten ihre Gedanken und erfassten die auf der Treppe erklingenden Schritte nur halbherzig.

Erst als sie den dunklen Haarschopf von Mark erkannte, der sich die letzte Treppenwindung hinaufschob, kehrte sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück, und stieß ein verwundertes: „Du?“, aus.

„Wer denn sonst?“, wollte er wissen, eine Flasche Tankstellensekt in der Hand, und zwei sauber gespülte Gläser in der anderen, die er von der Gala mitgenommen haben musste. „Hast du jemand anderes erwartet?“

„Nein!“, meinte sie und traute sich nicht zu sagen: „Ich hatte eigentlich gehofft, dass mich heute niemand mehr stört.“

„Dann störe ich auch nicht“, stellte Mark fest und blieb vor der Haustür stehen, die Sektflasche triumphierend in die Höhe haltend. „Lässt du mich rein?“

„Äh …“

„Nicht?“

„Doch, doch.“ Sie nickte eifrig, machte die Tür frei, und wunderte sich darüber, dass sie den ganzen Abend keinen wirklichen Gedanken an ihre wegweisende Entscheidung verloren hatte, sich mit Mark verlobt zu haben.

Gerade jetzt, wo er vor der Tür ihrer Wohnung stand, wurde es ihr schmerzlich bewusst, wie nahe, oder besser, fremd sie sich immer gewesen waren. Beinahe so, als konnten beide die Nähe des anderen tagein und tagaus nicht ertragen.

Wir arbeiten beide viel, sagte sie sich selbst und schüttelte den Kopf. Da ist es besser, wenn man seine Ruhe hat und sich nur dann und wann einmal trifft, um die Stunden, die man dann gemeinsam hat, zu genießen.

„Du warst so schnell weg“, meinte Mark, als er sich an ihr vorbeizwängte und gleich in das dreigeteilte Wohnzimmer ging. „Ich konnte mich gar nicht richtig von dir verabschieden, und fotografieren lassen konnte ich mich auch nicht mehr mit dir.“

Emma sagte nichts dazu.

Sie starrte Mark an, und wusste nicht, ob der Tadel, der in seiner Stimme mitschwang, ihrem Verschwinden im Allgemeinen galt, oder der Tatsache, dass sie für weitere Pressefotos nicht zur Verfügung gestanden hatte. Sie war der Meinung, und von der wich sie auch nicht ab, dass die Zeitungen und Magazine genug Fotos von ihr, ihrem Vater und Mark gemacht hatten.

Ihr taten jetzt noch die Augen von den ganzen aufblitzenden Lichtern weh, und sie meinte, die grellen Fotoblitze noch immer zu sehen, wenn sie kurz innehielt und innerlich zur Ruhe kam. Einem Gewitter gleich, wenn man so wollte, das sich mitten im Sommer über einem zusammenbraute und es blitzen und donnern ließ. Nur mit dem Unterschied, dass ein warmer Regenschauer im Sommer angenehm war, während die Tortur, die sie heute Abend durchzustehen gehabt hatte, eher wie ein überraschender Kälteeinbruch gewirkt hatte.

Ihr wuchs alles über den Kopf.

Alles.

Sie wollte keinen Sekt trinken. Nicht noch einmal anstoßen, um dann, worauf es auf jeden Fall hinauslaufen würde, mit Mark ins Bett gehen zu müssen.

Natürlich, sie mochte es, von ihm verwöhnt zu werden. Wenn seine immer warmen Hände ihr über den Rücken strichen, sie massierten und liebkosten, während seine Lippen sanft an ihrem Ohrläppchen zupften und sie merkte, wie die Lust sich mehr und mehr in ihr steigerte, und sie es kaum noch ertragen konnte, nicht von ihm genommen zu werden.

Jetzt aber, wo ihr ganzes Leben kopfstand, war ihr weder nach körperlicher Entspannung noch nach einem Schluck Alkohol, der ihre Gefühle betäuben würde.

„Weißt du“, begann sie, die Hand an die Schläfe gelegt, „eigentlich habe ich jetzt gerade nicht so …“

„Da!“, meinte Mark, ohne auf sie einzugehen und ihr sein Gehör zu leihen, hielt ihr das Glas unter die Nase, in dem der Sekt schwamm und verführerisch perlte. „Trink. Das hilft immer.“

„Mark …“

„Auf uns!“, meinte er, stieß auf sie beide an, nippte dann an seinem Glas, und nahm mit zusammengezogenen Augenbrauen wahr, dass Emma mit ihrem Sekt nicht dasselbe tat.

„Nicht auf uns?“, wollte er enttäuscht wissen.

„Doch, doch. Auf uns“, sagte Emma hastig und kippte das halbe Glas in sich hinein.

Das erschütternde Gefühl der Empathie, das sie immer wieder heimsuchte und sie vor schwere Aufgaben stellte, holte sie auch jetzt ein und ließ sie sich in Marks Situation versetzen.

Sie war sich sicher, dass sie in ihm lesen konnte wie in einem Buch und jeden einzelnen Buchstaben, den er gerade aufs Papier schrieb, ohne Umschweife entziffern konnte. Sie las seine Freude über den Deal mit dem Fernsehen, den Stolz über die Anerkennung seiner zukünftigen Frau und die Verlobung mit ihr.

In ihm musste es zugehen wie in einem Taubenschlag, nur mit der bitteren Erkenntnis, dass die Taube den Liebesbrief, den er erwartete, nicht in den Schlag mitbrachte. Dass er vergebens auf das wartete, worauf er so sehnsuchtsvoll hoffte.

„Ich liebe dich“, brachte sie schuldbewusst hervor, und ließ sich von Mark, der sein Glas ohne Untersetzer auf dem Tisch abstellte, in den Arm nehmen und fest an sich drücken.

Er lächelte.

Genau so, wie sie es liebte. So wie damals in der Agentur, als er sich vor sie hingesetzt, und sie das erste Mal so richtig wahrgenommen hatte. Sie als Frau und nicht als Klientin sah. Es war, als würden sie wieder sechs Jahre in die Vergangenheit reisen, und sich in dem heimlich eingerichteten Konferenzraum befinden, in dem die beiden die große Panoramascheibe flankierenden Farne das einfallende Sonnenlicht ein wenig dämpften, und der Geruch eines auf einem Schränkchen stehenden Duftwässerchens sich noch verstärkte.

Sie war wieder ganz klein, ganz unbekannt, von der Hoffnung beseelt, einmal eine erfolgreiche Autorin zu werden, die es schaffte, ihre Leser zu begeistern und von ihrer Arbeit leben konnte.

„Das ist schön!“

„Finde ich auch.“

„Wollen wir ins Schlafzimmer?“

„Weißt du …“, wollte sie gerade beginnen zu sagen, als sie wieder dieses unangenehme, dass ihren Magen ausfüllende Reißen spürte, das sie immer dann bekam, wenn sich eine Art Erkenntnis in ihr ausbreitete. Eine neue Perspektive, wenn man so wollte, die sich vor ihr eröffnete, und ihr mitteilte, dass sie das, was von ihr hier und jetzt verlangt wurde, nicht bringen konnte.

Sie hatte wirklich und ehrlich mit dem Gedanken gespielt, Mark zu sagen, dass sie noch verheiratet war. Dass sie ihrem Jugendschwarm von der Gesamtschule damals das Ja-Wort gegeben hatte und sie diese Hochzeit nie hatte annullieren lassen. Obwohl sie es immer vorgehabt hatte.

Wirklich, das hatte sie.

Irgendwann einmal. Am besten dann, wenn die Wohnungssuche beendet, der Umzug vonstattengegangen und die Arbeitssuche beendet war.

Dazu, und das war das Wichtigste, hatte sie noch schreiben müssen.

Ihre Ideen waren nach ihrer Befreiung in ihr hochgesprudelt wie in einem Geysir auf Island.

Sie hatte Michael und die damalige Hochzeit schlicht und einfach im Eifer des Gefechts vergessen.

So merkwürdig es auch klang.

Die Wahrheit, die ihr auf der Zunge lag, die sie Mark unbedingt sagen wollte, verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war.

Die Angst davor, sie könnte durch ihr Geständnis irgendetwas kaputt machen, hinderte sie daran, den letzten, den entscheidenden Schritt auf ihn zuzumachen und mit offenen Karten zu spielen.

Aber allein der Gedanke daran, dass sie dadurch auf einen ausgeweiteten Skandal zuschippern würde, ließ sie zögern und sich von Mark, der angefangen hatte, ihren Hals zu küssen, sanft wegzudrücken.

„Es geht gerade nicht.“

„Wenn du deine Tage hast, können wir auch anders …“

„Ich habe meine Tage nicht“, sagte sie mit einem inneren Gefühl der Verwirrung.

„Dann können wir.“

„Nein.“

„Ich glaube, hier will jemand verführt werden.“ Er lächelte sie an, und fuhr mit seinem Zeigefinger über ihre halb geöffneten Lippen, hin zu ihrem Kinn, um dann ein warmes, ein prickelndes Gefühl des Wohlwollens in ihr auszulösen, als er von ihrem Hals über ihr Brustbein hin zu den noch immer vom Kleid verdeckten Brüsten glitt.

Sie merkte, wie die Lust in ihr wuchs, und dass sie es schön finden würde, mit ihm zu schlafen.

Aber das in ihrem Hinterkopf unaufhörlich pochende Gefühl der Hektik ließ sie nicht fallen. Sie konnte es nicht und war gleichzeitig froh darüber, dass sie sein begonnenes Liebesspiel nicht beenden musste.

Marks Handy klingelte …

… um diese Zeit!

Verwundert darüber, dass er gleich darauf in seine Hosentasche griff, einen Schritt von ihr wegmachte, und die Verbindung herstellte, blinzelte sie verwirrt.

„Hey!“, meldete er sich, hob den Zeigefinger, um seiner Verlobten zu zeigen, dass er gleich bei ihr war, und ging dann wie selbstverständlich aus dem Wohnzimmer heraus, ins Schlafzimmer, um die Tür hinter sich zu schließen.

Emma blieb einige Sekunden entrüstet inmitten des Raumes stehen, und zuckte mit den Schultern.

Hatte sie eben mehr Zeit, die verfluchte Heiratsurkunde zu finden …

***

„Ich weiß nicht, ob das die beste Idee ist, die du jemals hattest“, brachte Angie ihre Gefühle – wie immer – gleich auf den Punkt. Ohne Umschweife. Schonungslos. So, wie sie nun einmal war.

Emma, die damit gerechnet hatte, dass ihre Freundin mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten würde, genehmigte sich ein Lächeln, auch wenn Angie das nicht sehen konnte. „Anders geht es nicht.“

„Wie wäre es, wenn du deinen Anwalt eingeschaltet hättest?“

Die Stimme Angies klang plötzlich verzerrt, so leise, als würde die Telefonverbindung abbrechen. Weshalb Emma vom Gaspedal herunterging, und ihre bereits halsbrecherische Fahrt ein wenig drosselte.

„Damit Michael etwas gegen mich in der Hand hat, um gleich zur Presse zu gehen?“

„Meinst du nicht, dass er Zeitung liest?“

„Hat er nie.“ Emma winkte in Gedanken ab, die ungewollt an die Zeit zurückdenken musste, als sie noch mit Michael zusammengelebt und sich immer darüber gewundert hatte, dass er sich so für gar nichts interessierte. Abgesehen von seiner Idee, einmal eine Surfschule zu besitzen und ein eigenes kleines Boot, mit dem er Touristen hinaus auf das Meer schippern konnte, um ihnen die Schönheiten der Nordsee zu zeigen.

Was für eine Idee …

Schon damals hatte sie sie lächerlich gefunden.

Die Konkurrenz war viel zu groß, und es gab kaum jemanden, der darauf wartete, dass ein junger Mann, dessen Kopf in den Wolken steckte, mit solch einer Idee um die Ecke kam.

So wie bei dir, meldete sich eine Stimme in ihr, die sie auf unangenehme Art und Weise an die ihrer Mutter erinnerte.

Mit einem so ekelhaft wissenden oder, besser gesagt, belehrenden Unterton in der Stimme, der Emma schon immer zuwider gewesen war.

Und doch …

… die vier Worte brachten in Emma etwas in Bewegung, das sie mit aller Vehemenz versuchte abzuwehren.

Ihre Stärke war es noch nie gewesen, einen Fehler schnell und umfassend einzugestehen. Was dazu führte, dass sie eine einmal getroffene Entscheidung mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft zu verteidigen versuchte.

So auch die Trennung von Michael.

Sie konnte es sich nicht erlauben, nicht hier und nicht jetzt, an ihrer Kompromisslosigkeit zu zweifeln.

Damals hatte sie die richtige Entscheidung getroffen!

Sie war richtig gewesen.

Besonders deshalb, weil sie Michael nicht mehr ertragen hatte.

Sein ganzes Tun, sein ganzes Handeln hatte sie von Tag zu Tag frustriert und dazu geführt, dass sie sich in seiner Nähe nicht mehr wohlfühlen konnte. Dass sie anstatt Liebe eine in ihr aufschäumende Wut verspürte, die dazu geführt hätte – hätte sie nicht vorher die Reißleine gezogen –, ihm etwas anzutun. Ein Schlag ins Gesicht wäre da noch das Geringste gewesen. Ein Tritt zwischen die Beine hingegen ein Engelschor.

Es war zu seinem Schutz gewesen.

Und zu meinem, fügte sie gedanklich noch hinzu, und setzte den Blinker, um einen immer schneller auf sie zukommenden Lkw links zu überholen. Wäre ich nicht weggegangen, wäre ich zu Hause wohnen geblieben. Ich hätte begonnen, im Kreiskrankenhaus zu arbeiten und wäre heute so frustriert, wie es meine Mutter ist. Nein … Es war das Beste, was ich machen konnte.

Das einzig Richtige.

Was sie Angie auch sagte. Nur mit dem Unterschied, dass sie nicht ihre Vergangenheit damit meinte, sondern ihre Entscheidung, die sie getroffen hatte, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen, nachdem sie die Heiratsurkunde nicht gefunden hatte.

„Es sind fast zwanzig Jahre vergangen, da ändern sich Menschen“, zerschoss Angie Emmas Theorie davon, dass Michael noch heute keine Zeitung lesen würde.

„Nicht in Eckenförde.“

Angie musste lachen: „Was ist das denn für ein blöder Spruch?“

„Du weißt, wie es hier zugeht“, meinte Emma und hörte ein seufzendes Schnaufen ihrer besten Freundin.

„Wir waren so lange nicht mehr da“, versuchte Angie noch einmal, an Emmas Vernunft zu appellieren. Was Emma auch niedlich, ja, richtig toll fand. So kannte sie ihre beste Freundin. Immer auf den Punkt fokussiert. Das Glück Emmas vor Augen. Jetzt aber, wo Emma diese zielführende Zuneigung ganz und gar nicht gebrauchen konnte, wehrte sie Angies Einwand mit einem entscheidenden: „Niemand ändert sich in Eckenförde“, ab, und fügte daraufhin gleich hinzu: „Der alte Kasper hat jahrelang darüber schwadroniert, wie schrecklich es war, dass die alte Windmühle abgestellt worden ist. Angie, die war schon abgestellt, als ich zur Welt kam. Und er hat noch immer darüber geklagt, als ich dreizehn wurde.“

Angie schwieg.

Treffer! Versenkt!, dachte Emma zufrieden bei sich, und scherte dann wieder rechts ein, als ein noch schnellerer Autofahrer in ihrem Rückspiegel erschien und ihr mit seiner Lichthupe deutlich machte, dass sie die Fahrbahn frei machen sollte.

„Kasper war damals schon beinahe achtzig“, ließ Angie sich nicht abwimmeln, und brachte Emma dazu, genervt auszuatmen. „Natürlich hat er sich darüber aufgeregt. Er hat sein ganzes Leben lang sein Getreide zu der Mühle gebracht oder war mit dem Müller befreundet. Er war fast achtzig, Emma“, wiederholte sie, und schaffte es doch nicht, ihre beste Freundin davon zu überzeugen, ihre einmal vorgefertigte Meinung abzulegen und noch einmal zu überdenken.

„Ich werde Michael finden, ihn zu einem Anwalt schleppen und ihn dazu zwingen, die Scheidungspapiere zu unterschreiben.“

„Du weißt doch gar nicht, wo er jetzt wohnt.“

„Dafür habe ich ja dich.“

Angie lachte: „Wir Journalisten recherchieren, das stimmt. Aber wir Journalisten haben auch unser Fachgebiet und kommen nicht an alle Daten ran, wie du es dir vielleicht vorstellen magst.“

„Wo wohnt er?“

„In Eckenförde. Mehr habe ich über ihn nicht in Erfahrung bringen können.“

„Siehst du. Er hat Eckenförde nie verlassen. Hat seinen Wohnsitz nie gewechselt und liegt irgendwem noch immer auf der Tasche, und träumt davon, ein bedeutender Tourismusmagnat zu werden!“

All die Bitterkeit, die in ihren Worten mitschwang, hatte sich im Laufe der zurückliegenden Jahre gesammelt und nur darauf gewartet, ausgesprochen zu werden. Beinahe so wie eine Magmakammer bei einem Vulkan. Irgendwann, wenn der Druck zu groß wurde, die Eruptionen der Erde mehr und mehr zunahmen, sackte die Kammer einfach in sich zusammen und entließ einen Strahl heißer, in den Himmel schießender Lava, die dann wiederum Bimsstein und heiße Luft vor sich her trug, die dann verheerend und vernichtend auf die am Hang des Vulkan lebenden Menschen herabregnete, sie unter sich begrub und vernichtete.

So dramatisch, wie sie sich ihre Worte hier ausmalte, waren sie nur bedingt, das wusste sie.

Aber sie trugen so viel Frustration in sich, dass Emma gar nicht anders konnte, als sie so auszuspucken, wie sie es tat.

„Du weißt, was du tust.“

„Jetzt ja!“

„Damals auch.“

„Damals war ich dumm und naiv.“ Emma seufzte wieder, und versuchte, nicht daran zu denken, wie Michael ihr in dem einzigen Bistro Eckenfördes einen Antrag machte. Vor sich ein halb gefülltes Colaglas, den Teller mit Pommes gefüllt und von Ketchup verschmiert, während sie vor einem Salatteller gesessen hatte.

Nein, sie wollte die Szenerie nicht noch einmal erleben.

Nicht noch einmal ihr schnell pochendes Herz fühlen, wie es vor Aufregung schlug und ihr wirbelnde Gedanken durch den Kopf schossen, die sie glauben ließ, in dem Film „Die Schöne und das Biest“ zu stecken, als der Prinz seine wahren Gefühle für sie entdeckte und ihr versprach, immer für sie dazu sein.

Sie hatte sich selbst immer als Belle gesehen, hatte geglaubt, dass es irgendwo in der Ferne ein Schloss geben würde, auf dem sie nach einem langen Kampf endlich ihren Frieden und ihr Seelenheil finden würde.

Stattdessen hatte sie einen Jugendfreund gefunden, der ihr seine Liebe gestand, und sie aber mit seiner Art einengte.

Damals, als er ihre Hand ergriff, die Musik des gerade aktivierten, an der Wand hängenden Spielautomaten die ganze surreale Situation unterstrich und alles andere als romantisch wirkte, war sie der felsenfesten Überzeugung gewesen, es perfekt getroffen zu haben.

Es hatte sie nicht gestört.

Im Nachhinein, als sie zusammen hinunter an den Strand gegangen waren, und, wie verrückt von ihren Gefühlen überwältigt, bis zu den Knien durchs Wasser sprangen, sich küssten und neckten, hatte sich die erste Unsicherheit in sie eingeschlichen. Ein nur vages Unwohlsein, das sie nicht deuten konnte.

Sie war der festen Überzeugung gewesen, dass es das Gefühl der Beklemmung war, das sie hatte, weil sie ihren Eltern von der Verlobung mit Michael nichts erzählen wollte. Dass sie sich ausgemalt hatte, dass sie mit ihm durchbrennen würde, um dann ein Leben in Saus und Braus zu führen, wie es viele andere Persönlichkeiten vor ihr auch schon getan hatten. Bonny und Clyde zum Beispiel oder Schauspieler wie Johnny Depp, die ihr Schicksal selbst in die Hand genommen hatten, und sich von keinem vorgegebenen Lebensstil beeinflussen ließen.

Sie würde unabhängig sein.

Hatte sie gedacht.

Jetzt, als sie über die Autobahn fuhr und darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, wie lächerlich das alles gewesen war. Kleingeistig und dumm.

Was mich heute in Teufelsküche bringt, dachte sie bitter und wünschte sich noch einmal in die Vergangenheit, in das kleine Bistro, um ihrem jüngeren Ich eine Ohrfeige zu geben und zu sagen: „Lass das. Heirate den Typen nicht. Er wird dich nur noch mehr enttäuschen, als du es sowieso schon bist. Er ist nicht gut für dich. Schöne Augen haben eine Frau noch niemals glücklich gemacht …“

Wobei …

… Michaels Augen waren mit das Beste an ihm gewesen. So klar, so herrlich grün, von einem inneren Feuer durchdrungen, das sie fälschlicherweise mit Begeisterungsfähigkeit gleichgesetzt hatte. Ein Feuer, das auf andere übergreifen konnte und sie zu Dingen motivierte, von denen sie vorher nicht einmal angenommen hatten, dass man sie auch nur in Erwägung ziehen konnte.

Das Problem dabei war, dass das angebliche Feuer nichts weiter war als ein kurzes Glimmen der eigenen Lustbefriedigung. Nicht mehr als eine spontane Idee, die ihm das Gefühl gab, etwas ganz Besonderes geschaffen zu haben. Nur um dann eine Woche später den Einfall als dumm, inhaltslos und nicht umsetzbar abzutun.

Sie hatte den Fehler begangen, ihn auf seine Idee anzusprechen, die er damals mit seinem fahrenden Wurstwagen gehabt hatte. Skandinavien, vorzugsweise Schweden, war seine Idee gewesen, mit echten deutschen Würsten zu beliefern.

Er hatte sich alles ausgemalt, wie er den Wagen mieten und mit einer Wurstfabrik einen Deal aushandelte würde, um nur ihre Waren an den schwedischen Mann zu bringen. Selbst über den Ketchup und die Mayonnaise hatte er gesprochen und nachgedacht und sich überlegt, was für Beilagen er zur Wurst noch liefern konnte. Dann aber, als Emma noch immer begeistert von dem Einfall gewesen war – insbesondere deshalb, weil sie das ihr zu eng gewordene Deutschland endlich verlassen konnte –, war sie dem Irrtum verfallen, Michael würde sein Vorhaben wirklich in die Tat umsetzen.

Und so hatte sie sich dann, während er auf der Couch saß, und wieder einmal vor der Spielekonsole hing und Super Mario Brothers spielte, zu ihm gesetzt und gefragt, wie weit er mit der Anleihe des Würstchenwagens sei.

Verwirrt hatte er aufgeschaut, geblinzelt und gefragt: „Was für ein Wagen?“

„Der Wagen, für den Wurstverkauf, oben in Schweden.“

„Hä?“

„Du wolltest …“, hatte sie dann stockend angefangen zu reden, in sich das unumstößliche Gefühl der Enttäuschung spürend, und spätestens dann gewusst, als Michael wieder zum Fernseher schaute und sich darüber ärgerte, dass er mit seiner virtuellen Figur in eine Schlucht gefallen war, dass aus seinem grandiosen Plan nichts werden würde.

So wie seine Idee, auf Mallorca eine Finka zu eröffnen, um sich dort für die Straßenhunde einzusetzen.

Oder die Eingebung, in den USA zu trampen, um sich allein durch das Schicksal irgendwo anspülen zu lassen, wo man heimisch werden konnte.

Sie hatte in der kurzen Zeit ihrer Beziehung zu Michael so viele Luftschlösser gebaut. Heute, wenn sie sich etwas vornahm, war es durchdacht, geplant und von einem eisernen Willen getrieben, ihre selbst gesteckten Ziele auch zu erreichen.

Michael hatte von dem allen nichts gehabt.

Er war ein Märchenonkel.

Ein Scharlatan.

Ein Blender, wie sie mit einem Stich ins Herz feststellen musste.

Er hatte es mit Leichtigkeit geschafft, sie unzählige Male um den Finger zu wickeln und sich jedes Mal von seinem Fieber anstecken zu lassen.

Bis ihr der Kragen geplatzt war.

Das war damals gewesen, der Sommer hatte gerade angefangen und die Nordsee mit ihrem dunklen Blau überzogen, dass sie manchmal glaubte, der Himmel selbst würde aus dem Meer aufsteigen. So albern es auch klang, aber zu jener Zeit, als sie merkte, dass ihre Träume zu zerbröckeln begannen, sie schmerzvoll erfahren musste, dass sie auf das falsche Pferd setzte, waren Träume das einzige, was sie noch hatte. Träume, die anfingen, Gestalt in ihr anzunehmen und sie dazu trieben, sich so schnell wie möglich aus Michaels Griffen zu befreien.

Er tat ihr nicht gut.

Ganz und gar nicht.

Er hatte an ihr gesaugt wie ein Blutegel, und ihr beinahe alle Energien geraubt, die sie im Stande war, aufzubringen, um den eigenen Hoffnungen Gestalt verleihen zu können. Und so war sie dann, von der inneren Erkenntnis erhellt, nur widerwillig mit Michael hinunter zum Strand gegangen.

Seine Worte, so voller Freude, so voller Lust an einem neuen Abenteuer, hatten in ihren Ohren geklungen wie ein rostiges Scharnier, das seit Monaten nicht mehr geölt worden war.

Es war der Moment gewesen, wie sie heute wusste, der ihr deutlich machte, dass sie nicht bei Michael bleiben konnte – nicht bei ihm bleiben wollte. Dass sie ihre in der Nacht zuvor geschmiedeten Pläne in die Tat umsetzen würde.

Ihre Tasche, die sie bei ihm in seiner kleinen Einzimmerwohnung deponiert hatte, war niemals ausgepackt gewesen. Beinahe so, als habe sie immer gewusst, dass sie sie irgendwann greifen und abhauen musste.

„Das wird das Ding“, hatte er ihr damals freudestrahlend erzählt, während er ihre Hand so fest umklammerte, dass es ihr schon wehtat. Und sie heute glauben ließ, dass Michael damals schon ahnte, was in ihr vorging. Dass er sich insgeheim darauf eingestellt hatte, dass ihre gemeinsame Zukunft nur eine durch das Sonnenlicht beschienene Seifenblase war, die bei der kleinsten Erschütterung zu zerplatzen drohte.

Und so war sie ihm mehr hinterher gestolpert als gegangen. Sie hatte versucht, ihre Hand aus der seinen zu ziehen und war überrascht gewesen, als sie die abgelegene Stelle des Strandes erreichten, der von einem künstlich aufgeschütteten Steinwall markiert worden war. Da stand, heruntergekommen und vom Zahn der Zeit deutlich in Mitleidenschaft gezogen, ein alter Bungalow. Das Dach mit einfacher Dachpappe zugenagelt, die Tür halb herausgebrochen und die Fensterscheiben allesamt eingeworfen. Ein heruntergekommenes Stück Treibholz, wenn man so wollte, dem es besser zu Gesicht gestanden hätte, abgerissen anstatt angehimmelt zu werden.

„Das ist Müll“, war ihr erster Kommentar gewesen.

„Das ist unsere Zukunft.“

„Was?“

„Ja.“ Michael nickte. „Unsere Zukunft. Ich kann den Bungalow und das angrenzende Grundstück hier pachten und später von der Stadt erwerben.“

„Was willst du hier denn machen?“

„Meine Surfschule.“

„Surfschule?“

„Von der ich schon immer geträumt habe.“

„Letzte Woche wollten wir noch in die USA und trampen“, hielt sie ihm entgegen, und konnte sehen, dass das Feuer, das in ihm zu brennen begonnen hatte, durch kein bissig ausgestoßenes Argument gelöscht werden konnte.

„Das hier ist alles, was ich will.“

„Eine Surfschule?“

So viel Skepsis, wie sie damals in ihre Stimme gelegt hatte, hatte sie das letzte Mal benutzt, als Mark zu ihr kam und ihr sagte, dass der Filmproduzent Oller mit ihm wegen der Filmrechte von „Wasserherz“ gesprochen hatte. Und wie damals hatte sie sich wie vor den Kopf geschlagen gefühlt.

Nur mit dem Unterschied, dass sie wusste, dass Mark keine Luftschlösser baute, in die sie nicht einziehen konnte.

Michael hingegen hatte ihr mehr als einmal eindrucksvoll bewiesen, dass sie sich auf sein Wort ebenso wenig verlassen konnte wie auf das Geständnis eines mehrfach verurteilten Lügners, der von nun an versprach, ehrlich zu sein.

„Okay, Mäuschen“, riss Angie sie plötzlich aus ihren Gedanken. „Du musst wissen, was du tust“, und verhinderte für einen kurzen Augenblick, dass Emma sich daran erinnerte, wie sie des Nachts aus dem Bett krabbelte, in das Michael und sie den Abend zuvor gemeinsam hineingeschlüpft waren. Von dem aufkommenden Sommer erwärmt und nicht mehr dazu verdonnert, sich eng aneinanderzuschmiegen, um sich an der eigenen Körperwärme zu erfreuen.

Emma hatte seinen Versuch, mit ihr zu schlafen, abgewehrt. Nicht sehr feinfühlig, das wusste sie. Aber der in ihr aufsteigende Zorn, genährt von der durch das letzte Jahr gewachsenen Enttäuschung über seine Sprunghaftigkeit, hatte sie sagen lassen: „Ich will das nicht, oder geht das nicht in deinen Kopf hinein?“

Verwundert über ihren emotionalen Ausbruch, hatte er sie angeschaut wie ein bestrafter Hund, der nicht wusste, was er falsch gemacht hatte. Und als er sie verdattert fragte, was denn los sein, antwortete sie ihm kühl: „Nichts“, und hatte in dem Moment beschlossen, so schnell wie möglich die Wohnung zu verlassen.

Das Bahnticket, das sie sich an dem frühen Morgen kurz vor fünf Uhr am Bahnhof kaufte, war ihre letzte Tat in Eckenförde gewesen. Weder hatte sie sich von ihren Eltern verabschiedet noch von ihren spärlich gesäten Freunden.

Sie hatte nur noch weggewollt.

Und so war sie von dort weggelaufen, wohin sie jetzt zurückkehrte.

Und wie damals spürte sie auch jetzt drückende Bauchschmerzen.

Wie früher wusste sie nicht, was sie jetzt erwartete, als sie die kleine Ortschaft ausgeschildert auf den Straßenschildern erkennen konnte …

***

Das Merkwürdige war, fand Emma, als sie die Stadtgrenze überfuhr, dass sich ihre eben noch empfundenen Magenschmerzen aufzulösen begannen. Natürlich, der unangenehme Druck war noch vorhanden. Er machte ihr ordentlich zu schaffen und ließ sie sich verzweifelt fragen, ob sie nicht doch einen Fehler begangen hatte, als sie sich daranmachte, sich ins Auto zu setzen und die Autobahn Richtung Norden nahm.

Aber so schlimm wie vorhin, als sie das Telefonat mit Angie beendete, war es nicht mehr und – für sie völlig verwirrend – es stellte sich eine unterschwellige Neugier bei ihr ein, die ihr zuwisperte: Was meinst du, gibt es noch Tante Merles kleinen Eckladen? Oder begegnest du vielleicht Oliver Strunz, der dich damals in einen Kuhfladen drücken wollte, weil du ihm dein Pausenbrot nicht geben wolltest? Weißt du noch, wie sauer er war, als du ihm deine Brotdose hingehalten hast, er danach griff und du sie weggezogen hast, und dich dabei fühltest wie der größte Popstar aller Zeiten?

Hach, was haben deine Klassenkameraden darüber gelacht!

Verwirrt, weil ihr gerade diese Erinnerungen kamen, vergaß sie beinahe, den Blinker zu setzen, um der abknickenden Vorfahrtsstraße zu folgen, die zum Stadtzentrum führte. Dorthin, wo es den kleinen Seehafen gab, wo immer viele Touristen entlang geströmt waren, um einen Blick hinaus auf die vorgelagerten Inseln zu werfen, auf denen der hoch in den Himmel ragende Leuchtturm stand, der für Emma immer etwas faszinierend Umwerfendes besessen hatte.

So albern es auch klang, aber wenn sie damals nicht schlafen konnte, und ihre Gedanken kreisten und sich ausmalten, wie ihre Zukunft einmal aussehen würde, hatte sie sich merkwürdigerweise immer oben auf dem Leuchtturm sitzen sehen, den Blick hinaus aufs Meer gerichtet.

Und was sie noch seltsamer fand, dass sie an Oliver denken musste.

Der Dorfschläger, der dazu noch so schlau wie ein vertrocknetes Toastbrot gewesen war.

Sein einziges Plus war gewesen, dass seinem Vater einer der vor Eckenförde liegenden Bauernhöfe gehörte. Dort wurde alles Mögliche angebaut und unendlich viele Kühe um ihre Milch erleichtert.

Oliver, der alles hatte, hatte immer noch mehr haben wollen.

Warum auch immer, diesen einen Sommer, sie war gerade auf die Gesamtschule gewechselt, hatte der ein Jahr ältere dicke Junge sie auserkoren, gemein zu ihr zu sein. Sie hatte den Schulhof noch gar nicht betreten, da war er schon auf sie zugekommen, und hatte sich vor ihr aufgebaut und sie auffällig boshaft gemustert.

Nur ihrem Vater war es zu verdanken gewesen, dass Oliver nicht gleich hier eine Schlägerei anfing.

Was auch immer ihn an ihr störte, er hatte es den ganzen Sommer und dann auch den ganzen Herbst und Winter mit sich getragen. Bis zu dem Moment, in dem sie es ihm heimzahlte und seine Behäbigkeit ausnutzte.

Emma war nie die beste Sportlerin gewesen.

Aber bei einem Wettlaufen, das sie notgedrungen mit Oliver austragen musste – weil er sie mal wieder vermöbeln wollte –, hatte sie gezeigt, dass sie ihn mit Leichtigkeit abhängen konnte und dass sie seinen zupackenden Händen durch eine einfache Körpertäuschung ausweichen konnte.

Und so war ihr dann die Idee gekommen, ihm zu zeigen, wo der Hammer hing. Was sie anschließend mit einer Tracht Prügel bezahlte, die gar nicht so schlimm war wie immer gefürchtet. Sie wurde zwar von Olivers Spießgesellen festgehalten, und er schlug ihr dreimal dicht aufeinanderfolgend ins Gesicht. Aber danach hatte es sich für ihn erledigt gehabt, und sie konnte sich noch zwei Jahre später damit brüsten, wie sie Oliver vor der ganzen Schule bloßgestellt hatte.

Das, was geblieben war, waren die ihr zugeworfenen Blicke ihrer Nachbarin. Blicke, wie sie jetzt fröstelnd feststellte, die ihr noch immer einen eisigen Schauer des Entsetzens über den Rücken jagten.

Emma schüttelte sich.

Sie versuchte, ihre in ihr aufsteigenden Gedanken wieder fallen zu lassen.

Was ihr kaum gelang.

Warum sie ausgerechnet jetzt an Oliver denken musste?

Weil ich an dem alten Bauernhof vorbeigefahren bin, als ich die Autobahn verließ? Weil ich jemanden auf dem alten, tuckernden Traktor habe sitzen sehen, der von seiner Körpermasse her eindrucksvoll zu Olivers angeschwollenem Leib passen könnte?

Oder war es das leise Glockenspiel des alten Schulturms, das mir unterbewusst ins Ohr gedrungen ist, als ich den Blinker gesetzt habe, um die abknickende Vorfahrtsstraße zu nehmen?

Sie zuckte mit den Schultern und verlor den Gedanken wieder, als sie begriff, als sie auf der schnurgeraden Straße entlangrollte, weil auch in Eckenförde alles zur Tempo-30-Zone umgewandelt worden war, dass sie ihre vorhin aufgestellte These „Hier ändert sich nichts“ darin bestätigt sah, als sie die Eisdiele der Familie Hansen erkannte.

Eine in ein Eckhaus eingelassene Wohlfühlzone, in der sie immer gerne eingekehrt war. Am liebsten mit ihrer Mutter, wenn sie gemeinsam durch die Innenstadt geschlendert waren, in den unterschiedlichen Läden bummeln gewesen waren und ihnen danach ordentlich die Füße wehtaten.

So angespannt das Verhältnis zu ihrer Mutter auch schon immer gewesen war, so schön waren die Erinnerungen.

Woran es gelegen hatte, dass ihre Mutter in den Momenten, wenn sie das Haus verließ und mit ihrer Tochter zusammen in die Innenstadt ging, entspannt und ausgeglichen war, hatte Emma nie herausgefunden. Sie wusste nur, dass sie dann mit ihr zusammen Hand in Hand durch die Einkaufspassage schlenderte und sie sich ungezwungen miteinander unterhielten. So, als würde zwischen ihnen weder der Stadionbesuch stehen noch die Wutanfälle im Heidepark Soltau.

Es war für sie immer ein Mysterium geblieben – gepaart mit einem Schuss Hoffnung –, dass sie sich doch noch einmal so verstehen sollten, wie es in den vielen Fernsehserien und Filmen suggeriert wurde.

Es blieb ein Traum, dachte Emma traurig, während sie den Wagen noch weiter abbremste, einen Blick in die immer sauber geputzten Fenster werfen konnte, um sich eine weitere Kindheitserinnerung abholen zu können.

So albern es auch klang, ihre Wohlfühlzone würde erst dann zu einer Wohlfühlzone, wenn sie den dickbäuchigen alten Hansen hinterm Tresen stehen sehen würde, wie er sich über die Eisschalen beugte, und dabei eine Kugel Eis herausschabte, um sie in eine Waffel zu drücken. Dabei redete er dann immer mit seiner dunklen, tiefen Stimme, und machte Scherze mit den Kindern, die bei ihm aßen.

Sie hatte es geliebt, hierher zu gehen.

Allein schon deshalb, weil sie immer eine Kugel Eis mehr bekommen hatte, als bestellt worden war.

„Du darfst zwei Kugeln Eis haben“, sagte ihre Mutter immer, und ließ Emma dann entscheiden, ob es Erdbeer-, Vanille-, Schoko-, Joghurt-, oder Was-sonst-für-ein-Eis sein sollte. Und dann, wenn sie sich – wie immer – für Schokolade und Erdbeere entschieden hatte, sagte der alte Hansen: „Und die dritte Kugel ist für dich, weil du so hübsch bist!“

So war es immer gewesen.

Immer.

Und der Kaffee, den ihre Mutter stets bestellte, war mit einem Schaumherzen garniert, während sie ein kleines Käsekuchenstück dazu serviert bekam, weil sie: „… eine so nette Frau sei“, wie Hansen sich immer ausdrückte.

Er war herzallerliebst gewesen.

Und genau deshalb wollte sie ihn jetzt noch einmal sehen.

Nur ganz kurz, einen über ihn schweifenden Blick erhaschen, um das Gefühl der Geborgenheit, das ihr in den letzten Jahren so abhandengekommen war, noch einmal zu fühlen.

Obwohl jemand hinter dem Tresen stand, und auch ein Kind bediente, so musste Emma enttäuscht feststellen, dass es nicht Hansen war. Eine Frau stand da, hochgewachsen und schlank, ihre dichten, braunen Haare zu einem Zopf geflochten. Sie reichte gerade eine Waffel über den Tresen hinweg zu einem Kind, das mit großen Augen die enormen Kugeln betrachtete, und es gar nicht erwarten konnte, sie abzulecken.

Gerade in dem Moment, in dem Emma zu denken begann, dass doch alles gleich blieb, nur winzige Details sich veränderten, trat Hansens Junge von der kleinen Erhöhung herunter, auf die man sich setzen konnte, um dort sein Eis zu genießen.

Eine Veranda, wenn man so wollte, die im Inneren der Eisdiele angebracht worden war, um ein rundum gelungenes Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln.

Er war älter geworden, klar.

Dazu stämmiger, obwohl er noch immer genauso athletisch wirkte wie damals, als er anfing, in der Diele seines Vaters zu arbeiten.

Er war gut acht oder zehn Jahre älter als Emma, und hatte immer etwas ausgestrahlt, das sie fasziniert hatte. Keine weltmännische Gelassenheit oder gar die Motivation, etwas Eigenes schaffen zu können. Aber seine Art, die Dinge zu betrachten und nach seiner eigenen Meinung zu handeln, waren etwas, das sie grundlegend beeinflusst hatte.

Sie erinnerte sich noch daran, wie entrüstet ihre Mutter gewesen war, als sie mit Emmas Vater zusammen am Essenstisch saßen, und darüber redeten, dass Rene Hansen es wirklich in Betracht gezogen hatte, die Eisdiele nicht zu übernehmen. Dass er ernsthaft mit dem Gedanken spielte, nach Hamburg oder Hannover zu gehen, um dort eine Ausbildung zu beginnen.

In Hamburg oder Hannover!

Unvorstellbar!

Dazu nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten!

Verrückt!

Wenn man die Welt aus der Sicht eines Eckenförderers betrachtete. Aufregend und anders durfte man nicht sein. Es war verpönt, sich verändern zu wollen. Und man wurde mit schrägen Blicken bedacht, wenn man sich auf die Spitze eines Leuchtturms träumte und von ihm aus hinaus aufs Meer blicken wollte …

Nun ist er doch hier und verkauft Eis an kleine Kinder, dachte sie bedrückt traurig, rollte an der Diele vorbei, und erhaschte einen weiteren Gedanken, der sie aufmunternd lächeln ließ. Was in den letzten 17 Jahren geschehen ist, weißt du nicht. Vielleicht war er in Hamburg und Hannover und hat dort eine kaufmännische Ausbildung absolviert. Danach noch ein Wirtschaftsstudium begonnen und die Welt mit anderen Augen sehen gelernt.

Du weißt es nicht.

Du warst die letzten Jahre nicht eine Sekunde hier …

Eben der Gedanke war es, der sie ein wenig tröstete. Der sie hoffen ließ, dass Rene Hansen doch der Welt entgegengeblickt hatte, anstatt sich nur auf Eckenförde zu konzentrieren.

Das Nächste, was sie verwunderte, als sie durch den Ort rollte, war, dass es Tante Merles Laden noch gab, und noch immer die Ständer vor dem Laden standen, in denen die unterschiedlichsten Süßigkeiten angeboten wurden. Und wie damals luden sie auch heute noch dazu ein, einfach an ihnen vorbeizugehen, hineinzugreifen und sich schnell einen rosa Pilz zu schnappen, einen auf Schaumgummi ruhenden Frosch zu erhaschen oder einen Colakracher zu erbeuten.

Was sie zu einem Lächeln brachte, weil sie sich selbst genau dort stehen sah, unschlüssig, ob sie klauen oder ihre Pfennige, die sie als Taschengeld bekommen hatte, wirklich in Naschereien investieren sollte. Schließlich hatte sie damals – was ganz untypisch für ein Mädchen gewesen war – auf das Abenteuerspiel „HeroQuest“ gespart. Es hatte damals 40 oder 50 DM gekostet, und war das begehrteste Brettspiel gewesen, das es zu ihrer damaligen Zeit gegeben hatte.

Deshalb war sie so hin- und hergerissen gewesen.

Eine kurze Befriedigung des Gaumens oder weiter eisern sparen, um das Spiel der Spiele zu besitzen?

Und nur deshalb war ihr der Gedanke an die Kriminalität gekommen.

Nur einmal an den Boxen vorbeigehen, hineingreifen und so unauffällig wie möglich weiterschlendern.

Emma hatte sich für die Laufbahn einer Diebin entschieden und war kläglich gescheitert. Allein der Versuch, auf die Box zuzugehen, war mit solchen inneren Krämpfen verbunden gewesen, dass ihre Masche leicht von jedem Passanten durchschaut wurde, der sich nur kurz mit ihr beschäftigte.

Dazu kam ihr angespanntes Gesicht. Ihre schweißnassen Hände, der in Atemlosigkeit aufgeblähte Brustkorb.

Nein, sie war nicht fürs Stehlen gemacht.

Und so war sie dann insgeheim ganz froh darüber, dass Merle selbst vor dem Laden gestanden hatte, mit einer Kundin klönte, und das auf die Bonbonboxen zutaumelnde Mädchen längst gesehen hatte und mit den Worten begrüßte: „Du willst dich doch nicht unglücklich machen, mein Schatz, oder?“

„Nein!“, hatte sie kopfschüttelnd gesagt, als sie die Hand ausstrecken wollte, um in die Colakracher zu greifen.

„Dachte ich es mir doch.“

„Ich …“

„Ein Kracher kostet fünf Pfennig. Hast du fünf Pfennig?“

„Ja.“

„Dann nimm dir einen und gib mir das Geld!“

Emma hatte sich nie so klein und dumm gefühlt wie in diesem Augenblick. Und auch jetzt, als sie an dem Laden vorbeifuhr, die Bonbonboxen sah, lief es ihr kalt und beschämend den Rücken herunter. Sie konnte sie sehen, wie sie da stand, die Augen weit aufgerissen, den Hals trockener als die Wüste in Nevada, und mit dem Wunsch beseelt, tief, tief und noch tiefer im Erdboden versinken zu dürfen.

Weshalb sie glücklich war, als habe der Architekt allein wegen dieses Anblicks Eckenförde hier nicht bebaut, damit man hinauf zu dem vor Eckenförde gelegenen Wäldchen schauen konnte, in dem es die „Knutsch-Ecke“ gegeben hatte. Wobei das Wäldchen gar kein wirkliches Wäldchen war, sondern vielmehr eine Ansammlung dicht an dicht stehender Bäume, die dazu einen recht großen See umstanden, an den sich Liebespärchen zurückziehen konnten.

Wie sie es damals auch gerne einmal getan hätte …

… nur hatte es damals keinen Jungen gegeben, der ihren pubertären Wunsch in Erfüllung gehen ließ.

Was sie wiederum dazu brachte, in die kleine Seitengasse zu schauen, in der „Friedrichs Ruh“ zu finden war. Eine kleine Gastwirtschaft, die der zentrale Anlaufpunkt für Feierlichkeiten, runde Geburtstage und Hochzeiten dargestellt hatte – oder es noch immer war. Denn während sie an der Gaststätte vorbeirollte, sah sie, dass sie noch immer geöffnet war, und dass in den Fenstern keine blinkenden Werbetafeln angebracht waren, die dem durstigen Kunden zeigten, dass die Türen offen standen, noch, was für eine Biersorte hier ausgeschenkt wurde.

Wie eh und je stand eine alte, vom Wetter gegerbte Tafel vor der Tür, und pries die heutige Hauptmahlzeit ebenso an wie den Hinweis, dass zurzeit Zimmer frei waren. Dazu spielte ein kleiner Junge auf der Straße, allein und verlassen. Irgendwie darauf bedacht, unauffällig zu sein.

Emma wusste nicht, warum sie das dachte, aber so wie der Junge immer wieder aufschaute, hin zu der Gastwirtschaft, wirkte er so, als wollte er etwas heimlich tun. Etwas mitnehmen, oder sich davonstehlen. Emma konnte es nicht sagen. Denn schon war ihr Wagen an „Friedrichs Ruh“ vorbeigefahren, und ließ sie nur noch aus dem Augenwinkel wahrnehmen, dass der Junge plötzlich zu laufen begann, und hinauf zu dem Wäldchen rannte.

Es ändert sich nichts …

Nur die Zeit geht dahin.

Emma schüttelte über den eigenen Gedankenimpuls den Kopf, und sah dann, als sie vor der Einkaufspassage abzweigte, den über den Ort herausragenden Kirchenturm der St. Nikolai Kirche, die schon immer etwas oberhalb auf einem extra für den Bau aufgeworfenen Erdhügel stand und sozusagen über ihre Kinder wachte.

Bisher war Emma gar nicht bewusst gewesen, wie sehr die Kirche das Stadtbild prägte, und dass Eckenförde in einem Rund um St. Nikolai gewachsen war.

Sie hatte immer angenommen, dass Eckenförde willkürlich wuchs, und es niemanden gab, der sich Gedanken darüber machte, wie die kleine Gemeinde auszusehen hatte.

Aber gerade jetzt, wo alle Erinnerungen auf sie einfluteten, und sie das Gefühl hatte, immer tiefer in ihre Vergangenheit einzutauchen, meinte sie, den Schatten der aus rotem Backstein gefertigten Kirche mehr und mehr auf sich lasten zu fühlen.

Ein Schatten, der so weit reichte, dass sie ihm gar nicht mehr entwischen konnte.

Während ihres Telefonats mit Angie war ihr der Gedanke gekommen, dass sie genau dort anfangen musste, nach Michael zu suchen.

Deshalb wollte sie hinauf zur Kirche und hoffte, dass der alte Pastor, der sie damals traute, sich noch erinnern konnte, wie der Standesbeamte hieß, der die Heirat offiziell gemacht hatte.

Und so lenkte sie den Wagen dann an der Promenade vorbei, an den Menschen, die sich in der immer stärker wärmenden Sonne aufhielten, die hier ihren Urlaub verbrachten, oder einen Tagesausflug verlebten. Noch waren die Straßen nicht überfüllt, aber man konnte ahnen, irgendwie spüren, dass die Geschäftsleute von Eckenförde heute einen ordentlichen Gewinn machen würden.

So sah Emma, als sie weiter am Meer vorbeifuhr, und das Rauschen der am Strand brandenden Wellen in sich aufsaugte wie ein trockener Schwamm die Feuchtigkeit, eine Familie mit Kindern, die hinunter zum Wasser ging. Eine Familie, wie sie irritiert feststellte, die einen Wunsch in ihr hervorbrachte, den sie die letzten Jahre immer erfolgreich niedergekämpft hatte.

Ob es an dem kleinen, blonden Mädchen lag, das bei ihrem Papa an der Hand hüpfte und unaufhörlich redete, oder an dem cool daneben her schlendernden Jungen, der den Ausführungen seiner Mutter nicht folgen wollte, wusste sie nicht zu sagen.

Das, was sie begriff, war, dass es genau das Kribbeln im Bauch war, das sie immer weggedrückt hatte.

Ein Kribbeln, das so stark wurde, dass es heiß durch ihren Oberkörper flutete, und sich zu einem Seufzen in ihrem Hals formte.

Emma wusste plötzlich, dass sie so etwas auch haben wollte.

Dass sie ebenfalls mit ihren Kindern zum Strand herunter trotten wollte, dabei zusehen, wie ihr Mann die Tochter hielt, und sie versuchte, ein Gespräch mit ihrem wortkargen Jungen zu führen.

Ebenso schnell, wie das Bild gekommen war, verschwand es auch wieder und sie fuhr die Anhöhe zur Kirche hinauf. Dorthin, wo der Friedhof der Gemeinde zu finden war, wie das ansässige Kirchenbüro sowie die Pastorenwohnung und einige – zu Emmas Verwunderung – neu gebaute Häuser.

Vor dem riesenhaften, hölzernen Tor, über dem der Kirchturm mit seiner Glocke errichtet worden war, erkannte sie schon von Weitem, dass dort drei Personen standen. Davon zwei ältere Damen, die wiederum auf eine wild gestikulierende, junge, rothaarige Frau einredeten und Emma glauben ließen, es wäre ein Streitgespräch. Ein Irrtum, wie sie feststellte, als sie auf dem extra vor der Kirche angelegten Parkplatz hielt, und sich aus ihrem Wagen erhob. Es schien eine lustige und ungezwungene Unterhaltung zu sein, die die junge Frau einfach nur gestenreich unterstrich.

Was eine Eigenart von ihr war, wie Emma kurz darauf bemerkte, weil die Frau immer mit ihren Händen redete. Denn als Emma auf die kleine Gruppe zukam, und mit einem kurzen: „Hallo“ die Aufmerksamkeit auf sich zog, drehte sie sich herum, machte eine kreisende Handbewegung und entgegnete ein liebevoll klingendes: „Hi!“

Dazu folgte eine unaufdringliche Musterung und schließlich ein Lächeln auf dem sanft geschnittenen Gesicht. Emma wusste sofort, dass sie es hier mit der Pastorin zu tun hatte. So freundlich, so weltoffen, so herzlich, konnte nur jemand sein, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eine Gemeinde zu leiten und erfreut darüber war, wenn sich mal ein Fremder hierher verirrte.

Die beiden Damen, die Emma im Gegensatz neugierig, aber auch abschätzend betrachteten, konnte sie nicht einordnen. Sie war sich sicher, sie beide hier schon einmal gesehen zu haben, kam aber nicht darauf, wer sie waren, oder woher sie sie kennen konnte.

Deshalb setzte sie schnell dazu an zu sagen: „Ich will Ihre Unterhaltung nicht lange stören.“

„Tun Sie nicht, tun Sie nicht.“ Die Pastorin winkte ab, und schien überglücklich zu sein, einer gleichaltrigen Frau gegenüberzustehen. „Wir wollten uns sowieso gerade verabschieden, nicht wahr?“

„Wollten wir“, sagte die kleinere der beiden Damen, deren grau gelocktes Haar unter dem Hut, den sie trug, deutlich hervorquoll.

„Und wer sind Sie?“, wollte die andere Dame wissen, deren Haarknoten so fest geschnürt war, dass sich die Haarspangen unter dem festen Zug bogen. „Nicht, dass ich neugierig wäre.“

„Du bist die neugierigste Person, die ich kenne, Edith“, hielt die erste Dame entgegen.

„Ich weiß halt gerne alles.“

Emma musste lachen. Ebenso die Pastorin. Die wieder mit den Händen in der Luft fuchtelnd meinte: „Das geht uns doch gar nichts an, wer sie ist und was sie hier will. Also, ich freue mich auf Sonntag.“

„Wir werden singen wie noch nie zuvor“, versprach die erste Dame und strahlte dabei über ihr faltiges Gesicht. „Das verspreche ich Ihnen, Frau Reinsbach.“

„Worüber ich mich ganz dolle freue.“

„Bis Sonntag!“

„Bis dann!“

Damit wackelten die beiden älteren Damen, Emma noch einmal einen musternden Blick zuwerfend, Richtung Straßenzug, der hinunter in den Ort führte. Frau Reinsbach, noch immer ganz fröhlich und zugewandt, wusste, wie man eine unangenehme Situation überbrücken konnte. Sie sagte: „Es ist schön, wenn die Menschen sich noch für etwas engagieren, das in Vergessenheit zu geraten droht. Einen Gesangsbeitrag der Gemeinde hatten wir schon lange nicht mehr im Gottesdienst“, um dann die gebaute Brücke selbst zu benutzen und Emma zu fragen: „Was kann ich denn Gutes für Sie tun?“

„Ich habe ‘ne Frage“, begann sie und fing an, sich etwas umständlich darüber zu informieren, ob der alte Pastor Teinert noch aufzufinden sei und wenn ja, wo sie ihn denn besuchen könnte.

Als sie den Namen Teinert aussprach, wusste sie sofort, als sich das Gesicht von Pastorin Reinsbach verschloss, dass es keine guten Nachrichten geben würde: „Das tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Der Pastor lebt gar nicht mehr.“

„Oh.“

„Und ich habe erst letztes Jahr die Gemeinde hier übernommen. Deshalb bin ich nicht mit allen Menschen hier vertraut, wissen Sie.“

Emma wollte schon ein enttäuschtes: „Okay“, von sich geben und wieder zurück zu ihrem Cabrio schlendern und die Welt und besonders ihr Glück dafür verfluchen, dass es ihr diesmal nicht zur Seite gestanden hatte, als die Pastorin meinte: „Aber wenn es eine kirchliche Trauung war, dann wird es sicherlich in unserem Archiv vermerkt sein. Aber helfen wird Ihnen das auch nicht. Der Standesbeamte wird da nicht aufgeführt sein.“

„Das ist schlecht.“

„Kommen Sie trotzdem mit. Vielleicht weiß Frau Melchior mehr als ich.“

Unbehagen und Erleichterung stiegen gleichermaßen in Emma auf.

Unbehagen deshalb, weil sie sich nur allzu gut an Frau Melchior erinnern konnte. Schon damals war sie alt gewesen und von einer zerknitterten und unhöflichen Art, wie Emma sie nicht ertragen konnte. Allein der Gedanke daran, der alten Gewitterziege noch einmal gegenüberzutreten, bereitete ihr Magenschmerzen. Was sie wiederum verwunderte, war, dass sich neben ihrem Drücken im Bauch aber auch ein Gefühl der Hoffnung auszubreiten begann. Ein vages, nur angedeutetes Gefühl, aber dennoch von solch einer Stärke, dass sie es bemerkte und sich daran zu klammern begann wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring.

So ging sie neben der jungen Frau her, die nicht neugierig war und Themen anschnitt, die Emma kein Unwohlsein bescherten. Es schien für Pastorin Reinsbach nicht im Mittelpunkt zu stehen, dass Emma mit einem Mann verheiratet war und ihn mehr als siebzehn Jahre nicht mehr gesehen hatte.

Es schien für sie nichts anderes zu geben, als sich darüber zu freuen, dass die Sonne schien, dass die Bäume anfingen, in der Blüte ihrer Kraft zu stehen und dass die Menschen die warmen Tage genossen.

Erst als sie das etwas von der Kirche abseits stehende Kirchenbüro erreichten, wurde sie ernster, und ließ Emma den Vortritt, damit diese in den nach altem Papier und abgestandener Luft riechenden Flur treten konnte.

„Warten Sie mal hier. Ich warne Frau Melchior mal vor, dass wir beide kommen.“

„Mich braucht keiner vorwarnen“, hallte es knarrend und übel gelaunt aus dem kleinen Büro, in dem die Gewitterziege saß und nur darauf zu warten schien, dass eine unsichere Person hereingetreten kam, der sie einmal gehörig den Marsch blasen konnte. „Ich habe sie beide schon längst gehört. Kein Kunststück, wenn man bedenkt, wie laut sie beide sind. Besonders Sie, Frau Pastorin. Ihre Stimme ist so lärmend, dass man mit ihr Tote aufwecken kann!“

Pastorin Reinsbach verdrehte die Augen, ohne ihr Lächeln zu verlieren. Freundlich hob sie die Hand, als die alte Melchior, auf einem Drehstuhl sitzend, aus ihrem Büro herausrollte und mit ihren eiskalten, blauen Augen über den Rand ihrer rahmenlosen Brille schaute und Emma auffallend ausgiebig betrachtete.

„Wer hätte gedacht, dass du mal wieder hierher zurückkommen wirst“, begrüßte sie Emma nickend und mit solcher Grabeskälte in der Stimme, dass die erfolgreiche Autorin am liebsten auf dem Absatz herumgedreht hätte, um ihr Heil in der Flucht zu suchen. „Nach dem, was du Michael alles angetan hast.“

„Ich …“

„Er hat gelitten“, redete Melchior weiter und schüttelte angewidert den Kopf, „und du hattest nichts Besseres vor, als Karriere zu machen. Schämen solltest du dich.“

„Ich …“

„Was willst du jetzt hier?“, unterbrach die Alte Emmas kläglichen Versuch, sich zu rechtfertigen. „Etwas eintreiben, was dir deiner Meinung nach zusteht? Das Geld abholen, das er dir schuldet? Das würde dir ähnlichsehen.“

„Nein, ich bin hier …“

„Differenzen sollen geklärt werden“, sprang Pastorin Reinsbach Emma hilfreich zur Seite, die bemerkt haben musste, wie unwohl sie sich zu fühlen begann. Allein der Blick, mit dem die alte Melchior sie bedachte, war von solch einem Abscheu und Ekel begleitet, dass Emma sich nicht einmal traute, den Rest des faltigen, alten Gesichtes nach Gefühlsregungen zu inspizieren.

„Oh“, machte die Sekretärin, ohne dabei ihre ablehnende Haltung aufzugeben. „Reue?“

„Reue?“, fragte die Pastorin und warf Emma einen auffordernden Blick zu.

Die schüttelte den Kopf, weil sie sich auf dieses Spiel nicht einlassen wollte, um dann zu merken, dass es noch kälter im Vorraum zu werden drohte, als die Pastorin ihr warnend zuflüsterte: „Reue.“

Es kostete Emma Überwindung, das zu sagen, was die Alte hören wollte.

Denn ihr Entschluss, den sie damals gefasst hatte, war heute noch aktuell. Sie war nicht hierhergekommen, um Michael um Verzeihung zu bitten, sondern um von ihm die Scheidung zu verlangen.

Trotzdem aber zwang sie sich dazu zu sagen: „Reue“, und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen.

„Was ein Anfang ist“, murmelte die Alte, rollte zurück in ihr kleines Büro und meinte: „Wenn du es ehrlich meinst, kannst du wiederkommen. Vorher helfe ich dir nicht.“

***

Emma konnte es nicht glauben.

Sie stand da, die Hand nach der Fahrertür ausgestreckt und versuchte, sich klar darüber zu werden, was die alte Melchior ihr da gerade wohlwissend angetan hatte. Sie war nicht böse gewesen, weil Emma zurückgekommen war, sondern weil Emma ihren Schritt, hierher zurückzukommen, nicht bereut hatte.

Und das alles nur, weil Emma damals im wahrsten Sinne des Wortes ihr Heil in der Flucht suchte.

Erst hatte Emma aus einem Impuls heraus mit der Alten streiten wollen. Wollte ihr an den Kopf werfen, dass es im Leben nicht immer nur einen Weg zu beschreiten gab. Dass man eine einmal getroffene Entscheidung wieder zurücknehmen konnte, weil man sich bewusst wurde, dass man einen Fehler begangen hatte.

Dass alles, was ihr auf der Zunge lag, was ihr im Magen brannte und sie glauben ließ, in Flammen zu stehen, niemals zum Vorschein gekommen war. Einerseits, weil Emma fassungslos über das eiskalte, berechnende Verhalten von Frau Melchior gewesen war und andererseits, weil Pastorin Reinsbach hastig meinte: „Gehen Sie lieber.“

Emma hatte ihren Rat befolgt. Niedergeschlagen und verletzt.

Hier ändert sich nichts.

Nichts wird vergessen.

Niemals …

Emma hasste es und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen.

Warum machte die Alte es ihr so schwer?

Was hatte sie davon?

Und was am allerschlimmsten auf Emma zu lasten begann, war der Gedanke daran, was ihr erst widerfahren würde, wenn sie den Menschen gegenübertrat, die geradewegs mit Michael zu tun hatten.

Allein zu wissen, dass sie von jetzt an auf die Verschwiegenheit der Ämter oder kirchlichen Organisation nicht mehr vertrauen konnte, ließ sie glauben, ohnmächtig werden zu müssen.

Ihre Eltern konnte sie nicht fragen.

Sie waren damals gut zwei Jahre, nachdem Emma Eckenförde verlassen hatte, ebenfalls weggezogen. Emmas Mutter hatte in Lübeck an der Universitätsklinik einen Job als leitende Oberschwester gefunden, und ihr Vater hatte sich mit einer neuen Arbeitsstelle im Versicherungssektor einen lang gehegten Traum erfüllt.

Der Rest der Verwandtschaft lebte verstreut über ganz Deutschland. Und die, die ihr helfen könnten, weil sie noch in Eckenförde ansässig waren, waren für sie mehr Fremde als Verwandte.

Deshalb zierte sie sich, ihren Großonkel oder dessen Nachfahren aufzusuchen.

Deshalb und aus dem am schlimmsten wiegenden Grund – sie kannte ihre Namen nicht einmal. Sie erinnerte sich nur vage an die Leute, die ihr bei weit im Voraus geplanten Festlichkeiten mal über den Weg gelaufen waren. Die Kinder, mit denen sie damals gespielt hatte, waren ihr als unangenehm in Erinnerung geblieben. Außerdem, und das berührte sie ebenfalls, konnte sie sich weder an den Namen ihres Großonkels oder die Namen seiner Kinder erinnern.

Hatten sie auch den Nachnamen Sommer getragen?

Nicht, dass sie wüsste.

Und wie genau waren sie noch einmal miteinander verwandt gewesen?

Es waren die Kinder ihres Großonkels gewesen, oder? Der Bruder ihres Opas hatte auch hier im Ort gelebt, und – wie viele? – Kinder gehabt.

Eine Verwandtschaft, wie Emma sich zu erinnern glaubte, die so gut wie nie zur Sprache gekommen war. Cousins und Cousinen, an deren Namen sie sich nur mit Mühe hatte erinnern können.

Und zu solchen Leuten sollte sie jetzt fahren?

Wenn sie denn noch hier leben, dachte sie niedergeschlagen.

Emma schüttelte den Kopf, und senkte anschließend den Blick, nachdem der lange Seufzer ihren Hals verlassen hatte.

So schlimm es auch war – sie musste wohl oder übel hin zur Gastwirtschaft „Friedrichs Ruh“ und versuchen, dort etwas mehr über Michael in Erfahrung zu bringen.

Allein der Gedanke daran ließ sie glauben, sich übergeben zu müssen.

Und während sie sich dazu zwang, die Wagentür aufzuziehen, um sich hinters Steuer zu setzen, hörte sie hinter sich den leisen, zaghaften Ruf, der sie ganz verwunderte und verwirrte.

Sie nahm an, sich geirrt zu haben. Um dann doch zu begreifen, dass sie mit dem Ruf gemeint war: „Ich habe hier was für Sie, Frau Sommer.“

Emma wandte den Kopf, schaute zu der auf sie zueilenden Pastorin, und fragte verwundert: „Sie?“

„Hier können Sie Herrn Gabler finden. Nicht weit von hier. Da hat er einen kleinen Laden. Direkt am Strand …“

***

Emma musste lächeln.

Obwohl sie es gar nicht wollte, spürte sie, wie ein wohliges, vertrautes Gefühl in ihr emporstieg, als sie den auf einer Landzunge stehenden Leuchtturm erblickte. Erinnerungen, ähnlich denen, die sie heimgesucht hatten, als sie nach Eckenförde abgebogen war, kamen über sie. Erinnerungen, die ihr Dinge offenbarten, von denen sie angenommen hatte, dass sie an schlechte Eindrücke gekoppelt waren.

Aber genauso wie vorhin, drängten sich ihr auch jetzt Bilder auf, die sie nur allzu gern zuließ. Es waren Eindrücke und Empfindungen, die sie an einen Ort brachten, an dem sie so gern gewesen war. Sie hatte plötzlich das Gefühl, Steine in der Hand zu halten. Kleine Kiesel, die man mit einer schnellen Hüftbewegung mehrere Male über das spiegelglatte Wasser der Nordsee hüpfen lassen konnte.

Sie schmunzelte, als ihr einfiel, wie gern sie die kleine Landzunge erkundet hatte; kahl und unwirtlich wirkte sie nur auf den ersten Blick. Kam man ihr näher, konnte man neben den zahlreichen Felsbrocken auch dicht bewachsene Sträucher aus der Erde ragen sehen.

Zwischen ihnen habe ich gesessen, erinnerte sie sich, als ihre Schritte sie langsam in Richtung Promenade lenkten, und der Parkplatz, auf dem sie ihren Wagen abgestellt hatte, mehr und mehr zurückfiel. Dort habe ich nachgedacht und das Träumen begonnen. Ich habe Bücher gelesen und mir meine ersten Geschichten ausgedacht.

Hier habe ich mir eingestanden, dass Michael …

Ihre Gedanken brachen abrupt ab.

Sie wollte das alles nicht zulassen. Sie wollte sich nicht wieder hier sitzen sehen, die Beine angewinkelt, die Arme um die Knie geschlungen, den Blick sehnsüchtig auf das Meer gerichtet. Ihr Herz laut vor Aufregung klopfend, während sie sich eingestand, dass sie dabei war, sich in ihn zu verlieben.

Hier bin ich auch immer gewesen, wenn ich mich mit meiner Mutter gestritten habe, dachte sie. Hierher habe ich mich zurückgezogen, um ihr scheußliche und böse Schimpfwörter an den Kopf zu werfen, die ich mich nicht traute, ihr gegenüber laut auszusprechen. Sie musste lachen, als sie daran dachte. Für die ich mich so sehr geschämt habe, dass ich nach Hause lief, mich meiner Mutter an den Hals warf und mich bei ihr dafür entschuldigte, so ungezogene Dinge gedacht zu haben.

Ich war so sauer auf sie. So böse. Wenn mein schlechtes Gewissen nicht gewesen wäre, hätte ich mir stundenlang weitere Schimpfwörter ausdenken können.

„Emma? Emma Sommer?“

Wie vom Blitz getroffen, blieb sie abrupt stehen. War ihr Blick eben noch über die endlos wirkende Nordsee gewandert und hatte ihr dabei das Gefühl von Ruhe verliehen, so kam es ihr jetzt vor, als würde sich eine Glasglocke über sie stülpen. Eine Glasglocke wie jene, die sich damals in ihrem heiß und innig geliebten Hörspiel von Europa über ihren Lieblingshelden He-Man in der Folge Nummer 13 „Skeltors Sieg“ gesenkt hatte. Ein Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gegeben hatte. Keine Möglichkeit, sich mit einer schnellen Geste zu entziehen, die dem Gegenüber unmissverständlich klarmachte, dass man keine Lust und keine Zeit hatte, mit ihm zu reden. Kein genervtes Augenaufschlagen, kein Seufzer, rein gar nichts blieb ihr, um sich aus dieser Lage zu befreien, in die sie hier hineingeraten war.

Ihre Gedanken rasten wild, während sie verzweifelt versuchte, alles irgendwie in Einklang zu bringen, doch sie merkte schnell, dass es ihr nicht gelang.

Die kurz aufblitzende Erinnerung an ihr Hörspiel, und an das Abenteuer, das der Stärkste der Starken darin zu bewältigen hatte, verlieh ihr einen Funken Sicherheit. Denn in dem Hörspiel, als alles hoffnungslos verloren schien, hatte es doch noch eine Möglichkeit gegeben, die Kuppel zu verlassen, in der He-Man gefangen gewesen war. Seine Freunde, die von der Zauberin gerufen worden waren, schafften es schließlich, das Gefängnis für wenige Sekunden zu öffnen. Dies ermöglichte es He-Man, aus der zugeschnappten Falle zu entkommen.

Auch wenn Emma bezweifelte, dass sie hier von einem Freund gerettet werden würde – sie hatte vor Ort keinen –, glaubte sie doch, einen Ausweg aus ihrem Dilemma gefunden zu haben.

Ignoranz!

Sie musste nur weitergehen und hinunter zur Promenade schlendern, und dort dann geradewegs auf eine bestimmte Hütte zulaufen, um das leidige Thema Heiratsurkunde abhaken zu können.

„Emma?“

Wieder bohrte sich die Stimme mitten in ihr Gehirn.

Eine Stimme, die sie zu kennen glaubte, stellte sie entsetzt fest. Sie war älter geworden, aber dennoch unauslöschlich mit einem Menschen verbunden, den sie in den letzten Jahren vollkommen vergessen hatte. Nur ab und zu, in einem stillen Moment, wenn sie Ruhe fand, und ihr Leben an ihrem inneren Auge vorbeiziehen ließ, war sie aufgetaucht.

Willst du ihn wirklich ignorieren?, meldete sich die, in Emma tief verankerte, vorwurfsvolle Stimme ihrer Mutter zu Wort. Den Mann, der dir damals geholfen hat, das erste Geld zu verdienen?

Komm schon, Kindchen, das kannst du besser, oder? Ich habe dich zur Dankbarkeit und nicht zum Egoismus erzogen.

Emma hätte sich für diese Gedanken am liebsten selbst eine Ohrfeige verpasst. Sie spürte das schlechte Gewissen deutlich und hätte deshalb am liebsten geschrien.

Nicht nur die Tatsache, dass sie immer noch die Stimme ihre Mutter dafür brauchte, um auf eine nicht von der Hand zu weisende Tatsache aufmerksam gemacht zu werden … nein, diese musste auch noch spöttisch durch ihren Kopf geistern.

Als die Stimme Emma das dritte Mal rief, verharrte sie.

Sie blieb zuerst regungslos stehen, und nachdem sie sich ein freundliches Lächeln auf die Lippen gezaubert hatte, drehte sie sich herum und fragte unschuldig klingend: „Ja?“

Ein hochgewachsener, stark übergewichtiger Mann, dessen Vollbart noch immer so dicht war wie damals, kam nun freudestrahlend auf sie zu. Die Brillengläser waren, wie Emma bemerkte, dicker geworden – ebenso wie der Mann. Auf seinen Lippen und in seinen Augen war allerdings das gleiche Ausmaß an Freundlichkeit zu lesen wie damals, als sie unsicheren Schrittes auf seine Bürotür zugegangen war, zitternd die Hand gehoben und sich gefragt hatte, ob sie wirklich klopfen sollte oder nicht.

Und genauso wie damals, als die Unsicherheit so unfassbar groß in ihr geworden war, war es auch jetzt er, der ihr eine Brücke baute, über die sie sicheren Fußes gehen konnte.

„Du bist es wirklich“, sagte er verblüfft und klang dabei genauso wie damals, als er sie in sein Büro gerufen hatte, ohne dass sie klopfen, geschweige denn sich stotternd vorstellen musste. „Ich hätte niemals geglaubt, dich hier noch einmal zu sehen“, meinte er lachend und breitete die Arme aus, um sie zu drücken, um dann, als er es tat, hinzuzufügen: „Nach dem was damals alles passiert ist.“

„Freiwillig bin ich bestimmt nicht hier“, gestand sie ihm nun, und wunderte sich über sich selbst, dass sie sich gar nicht aus seiner Umarmung löste.

Stattdessen breitete sich ein wohliges Gefühl der Vertrautheit in ihr aus. Es war so irritierend und verwirrend, dass sie das Gefühl hatte, in einem falschen Film gefangen zu sein. Sie hatte fest damit gerechnet, dass sie jeden, dem sie hier begegnete und alles, was sie sah, hassen würde, aber wie vorhin, als sie Eckenförde erreicht hatte, und die Erinnerungen sie überflutet hatten, passierte jetzt das Gleiche.

Sie merkte, wie sie sich in den starken Armen des gut riechenden, alten Mannes wohlzufühlen begann, und dass er ihr die Sicherheit gab, die sie so dringend brauchte, um offen mit ihren Gefühlen umgehen zu können.

Nur ein leiser, durch ihren Verstand wabernder Gedanke ließ sie die Stirn in Falten legen: Vergiss nicht, wer er ist, Emma. Nur ein Wort von ihm, und in der Zeitung erscheint ein Artikel mit der Überschrift: Erfolgreiche Autorin nach siebzehn Jahren in die Heimat zurückgekehrt.

„Hinnerk“, sagte sie, als er die Umarmung löste, und seine großen Hände auf ihre schmalen Schultern legte. „Ich … ich … habe keine Ahnung, was ich sagen soll.“

„Du könntest sagen, dass du dich freust, mich zu sehen. Das wäre ja schon mal ein Anfang.“

Sie schmunzelte.

„Oder tust du es nicht?“

Nun lachte sie auf. Zwar kurz, aber doch mit einer Herzlichkeit, die ihr bewusst werden ließ, wie gut es ihr tat, Hinnerk gegenüberzustehen. Sie holte tief Luft, schaute ihn durchdringend an und schüttelte dann den Kopf.

„Gut siehst du aus“, sagte sie, wobei sie mit einer vertrauensvoll wirkenden Handbewegung über seinen Bauch strich.

„Die Haare sind mir ausgefallen“, gestand er ihr, während er lächelte, „und der Bauch ist noch mehr gewachsen, aber ansonsten bin ich noch ganz der Alte.“

„Bist du immer noch beim ‚Anzeiger‘?“

Hinnerk lächelte, während er sich langsam in Bewegung setzte und ihr mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass sie ein wenig mit ihm zusammen die Promenade hinunterschlendern sollte.

„Schon seit Jahren nicht mehr“, erklärte er ihr schließlich, als das Kreischen der Möwen immer lauter und das Rauschen des Meeres vertraut aufzuklingen begann. „Nachdem wir an die Falkgruppe verkauft worden sind und die Redaktion nach Lübeck verlegt wurde, habe ich mir ein neues Betätigungsfeld gesucht.“

„Tatsächlich?“ Emma schaute Hinnerk verwundert an. „Du warst doch schon immer mit Leib und Seele Redakteur. Immer der erste im Büro, und der letzte, der gegangen ist.“

„Ich war nur deshalb immer der letzte, weil du so lange mit deinen Artikeln gebraucht hast“, erwiderte er schmunzelnd und blieb dann plötzlich, den Blick hinaus aufs Meer gerichtet, stehen. „Ich hab einfach was Neues machen wollen, ohne dafür die Heimat verlassen zu müssen.“

Emma war neben Hinnerk zum Stehen gekommen und wusste nicht, ob seine Worte ein stiller Vorwurf waren, oder nur schlichte Informationen. Obwohl alles in ihr schrie, dass er ihr damit einen Seitenhieb hatte verpassen wollen, entschied sie sich für die zweite Möglichkeit. Weshalb sie lächelnd neben ihn trat und fragte: „Was machst du denn jetzt? Etwa einen Blog?“

Er lachte laut. „Nein, ich habe mich wählen lassen.“

„Wozu? Zum Scherzkeks der Nation?“

Er lachte erneut, deutete mit dem Finger auf sie und meinte: „Ich hätte damals wirklich strenger zu dir sein sollen, und nicht gleich Ja sagen sollen, weil du das Geld so dringend gebraucht hast und ich ein wenig Talent in dir gesehen habe.“ Er ließ es nicht zu, dass sie antwortete, sondern fuhr lachend fort: „Ich bin jetzt Stadtratsvorsitzender. Ich organisiere Stadtfeste, die Kunsttage, das Hafenfest und solche Sachen. Außerdem betreibe ich ein wenig Marketing für das Land. Es macht Spaß und ist etwas vollkommen Neues. Dazu kommen noch die Wahlkämpfe. Spannend, sage ich dir. Ich befinde mich gerade mitten in einem und hoffe, die nötigen Stimmen zu bekommen, um wiedergewählt zu werden. Dieses Mal habe ich Ambitionen, das Rathaus zu erobern.“

„Wow“, sagte Emma beeindruckt. „Du in der Politik, wer hätte das gedacht? Nicht schlecht. Und du organisierst jetzt also das Stadtfest?“

Er nickte und antwortete lachend: „Nachdem wir uns beide damals über die lahme Nummer so ausführlich ausgelassen haben, musste ich doch allen zeigen, dass es besser geht!“

Emma schmunzelte, obwohl sie nicht wusste, wie es gerade um sie bestellt war.

Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie damals mit Hinnerk in dem kleinen Konferenzraum gesessen hatte, um mit ihm darüber zu diskutieren, was sie von den Ideen des damaligen Stadtrates hielt, der meinte, dass Sackhüpfen, eine schlechte Coverband der Flippers und ein lieblos auf die Weide gestelltes Partyzelt das Stadtfest Eckenförde repräsentieren sollten.

Und genauso, wie sie es in ihrem Artikel prophezeit hatten, war es schließlich gekommen.

Das Partyzelt war nur mäßig gefüllt gewesen, die Leute hatten keinerlei Interesse an Sackhüpfen und die Coverband der Flippers war so schlecht gewesen, dass die gut hundert Besucher schließlich angefangen hatten zu buhen.

„Und du machst es wirklich besser?“

„Das will ich doch hoffen“, meinte er grinsend. „Vorletztes Jahr hatten wir über viertausend Besucher. Volle Zelte, gut besuchte Stände und die Schausteller waren auch zufrieden mit ihrem Umsatz.“

„Vorletztes Jahr?“

Er nickte. „Wir haben uns dazu entschlossen, nur alle zwei Jahre ein Fest zu organisieren. Das ist einfacher und die Vorfreude bei den Leuten ist dann größer.“ Er nickte, sich selbst lobend, ohne dabei aber arrogant zu wirken. „Wir haben auch schon was Schönes auf die Beine gestellt, und ich hoffe, dass wir dieses Jahr an die fünftausend Besucher bekommen.“

„Das wäre toll.“

„Das sage ich dir. In zwei Wochen wissen wir mehr“, erklärte er. „Denn dann geht es los. Wir schalten schon fleißig Anzeigen und hängen Plakate auf. Wir geben ein bisschen damit an, dass wir dieses Mal sogar zwei Bühnen haben. Eine mit regionalen Künstlern und Musikern und eine, wo sogar zwei über die Landesgrenzen hinaus bekannte Bands spielen werden. Wenn du willst, kann ich dir die Plakate ja mal zeigen.“

„Sehr gern“, sagte sie, ohne genau zu wissen, ob sie das wirklich wollte. Eine innere Unruhe breitete sich in ihr aus, die sie kaum ertragen konnte.

Du darfst dich hier nicht willkommen fühlen, sagte sie sich. Du bist hier nicht mehr zu Hause. Schon seit Jahren nicht mehr.

Du bist fortgegangen, weil du dich hier so unwohl gefühlt hast.

Der Ort war wie ein Gefängnis für dich.

Ein enges, dreckiges, nach Unrat riechendes Gefängnis.

Hinnerk ist lieb und nett, ja, das stimmt, aber er gehört auch dazu. Er ist einer von ihnen.

Er ist ein Eckenförderer.

„Du hast es geschafft, nicht wahr?“, riss er sie aus ihren Gedanken, während er seine Hand sanft auf ihren Rücken legte, und sie weiter die Promenade zum Strand hinunterführte. „Ich habe einige Interviews und Berichte über dich gelesen. Ich habe dir damals sogar, nach der ersten Veröffentlichung, eine Interviewanfrage geschickt. Aber eine Antwort habe ich nie bekommen.“

„Ich hatte sehr viel zu tun“, verteidigte sie sich, während ihr der Geruch des Salzwassers ebenso in die Nase stieg wie der von gebratenem Fisch. Hier unten, wo die Promenade endete und der Strand begann, gab es einige kleine Buden, die Spezialitäten der Region anboten.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Das habe ich dir niemals krummgenommen. Ich konnte dich sogar verstehen.“

„Wirklich?“

Er nickte. „Ich war nie ein Freund davon, vor Problemen davonzulaufen, aber ich habe immer an dich geglaubt, Emma. Immer. Seit dem Tag, als du zu mir gekommen bist. Ich habe dich damals gesehen und sofort gewusst: Aus der wird was, wenn sie den richtigen Lehrer hat.“

Emma wollte nicht, dass ihr die Gesichtszüge entgleisten. Sie wollte nicht, dass die Erinnerungen in ihr emporstiegen und sie sich wieder in diesem großen, unendlich weitläufigen Büro stehen sah, in dem sie sich so hoffnungslos verloren gefühlt hatte, und in dem sie stets das unauslöschliche Gefühl des Versagens heimgesucht hatte.

„Es hat zwischen uns einfach gepasst“, murmelte sie.

„Du warst so schüchtern damals“, erinnerte sich Hinnerk. „Wie ein scheues Reh. Dabei hattest du gar keinen Grund dazu, auch nur eine Sekunde an dir zu zweifeln. Dennoch hast du es getan.“

„Ich wusste ja nicht, was du von meinen Arbeitsproben halten würdest.“

Er schmunzelte, während er sich mit einer lässigen Geste auf die Brüstung der Promenade setzte, das linke Bein angewinkelt, während das rechte weiterhin auf dem Boden stand. Er schwelgte kurz in Erinnerungen und sagte dann etwas, das Emma verwirrte: „Ich fand sie gut. Sehr gut sogar. Natürlich mussten sie geschliffen werden, so wie bei jedem Anfänger. Aber du hattest solche Angst zu versagen, dass du dich schon wieder umgedreht hast. Erinnerst du dich noch?“

Sie nickte ansatzweise. Die Lockerheit, mit der Hinnerk sprach, irritierte Emma. Alles, was aus seinem Mund drang, jedes einzelne Wort, war mit einem Vorschlaghammer zu vergleichen, der unausweichlich sein Ziel traf.

Natürlich konnte sie sich noch an damals erinnern, und besonders gut an jenen Moment, als sie sich sicher gewesen war, dass alles vorbei war, während er sie über den Rand seiner rahmenlosen Brille angeschaut hatte. Dass er den Stapel Papier auf den Schreibtisch klopfend ordnen würde, um ihr dann zu sagen, dass er sich über ihre Arbeitsprobe gefreut habe, ihr aber mitteilen müsste, dass er ihr leider keinen Job in Aussicht stellen könnte.

Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie ihre Gedanken durch den Kopf gewirbelt waren und sie mit der in ihr aufsteigenden Enttäuschung umzugehen versucht hatte.

Als habe er ihre Gedanken gelesen, sagte Hinnerk plötzlich: „Dann ist Michael dir plötzlich zur Seite gesprungen und hat irgendetwas davon gesagt, dass du die Beste wärst und dass ich einen Fehler machen würde, wenn ich dich nicht einstellen würde. War sehr imposant anzusehen damals.“

Ein kalter Schrecken durchfuhr Emma.

An die Szene, wie sie in Hinnerks Büro gestanden hatte und an sich selbst zweifelte, konnte sie sich nur zu gut erinnern. Sie konnte immer noch jeden einzelnen Gedanken im Schlaf aufzählen, der ihr damals durch den Kopf geschossen war und sie hatte glauben lassen, jede ihrer Nervenfasern würde in Flammen stehen.

Dass Michael ihr damals helfend zur Seite gesprungen war, war ihr allerdings komplett entfallen. Es war, als hätte sich über diesen Teil ihrer Erinnerung ein schwarzes Tuch gelegt. Als habe sie ein Stück aus dieser Erinnerung geschnitten, die ihr sonst so unmissverständlich ihre Vergangenheit vor Augen führte.

Es war so, als ruckte plötzlich etwas in ihrem Kopf, ähnlich eines ins Stocken geratenen Films. Es dauerte eine Weile, bis die Spule wieder zu laufen begann, und die herumfliegenden Filmschnipsel in geordneter und fließender Reihenfolge abgespielt werden konnten.

Auf einmal sah sie Michael in Hinnerks Büro stehen. Einen Hauch Unsicherheit auf seinem Gesicht und die Stimme zitternd vor Aufregung, aber doch so voller Zuversicht und Eifer für seine Freundin erfüllt, dass sie jedes von ihm ausgestoßene Wort immer noch fehlerfrei wiedergeben konnte.

„Sie kann das“, hatte er gesagt. „Sie kann alles, was Sie wollen. Sie schreibt Geschichten, da fliegt Ihnen der Kopf weg. Wirklich. Sie ist unglaublich begnadet, was das angeht. Ganz ehrlich. Bitte, geben Sie ihr eine Chance. Emma hat es verdient zu schreiben, und sie wird garantiert alles dafür geben, Sie zufriedenzustellen. Das wirst du doch, oder?“

„Äh … ja, natürlich, das werde ich“, hatte sie stammelnd geantwortet und das erste Mal in ihrem Leben so etwas wie Zuversicht gespürt.

Es war nur ein vages, kaum zu beschreibendes Gefühl gewesen, das sie heimgesucht hatte. Aber es war so ehrlich, echt und voller Leben gewesen, dass sie nichts anderes hatte tun können, als zu nicken.

„Ich werde alles tun, um besser zu werden“, hatte sie hervorgestoßen und einen Schritt auf Hinnerk zu gemacht, der verdutzt, aber auch erheitert zu Michael schaute, und ihn auffallend lange musterte. So lange, dass es ihrem damaligen Freund ganz unangenehm wurde, er schließlich den Blick senkte, und anfing, nervöse Kreise mit dem Fuß über den Teppichboden zu ziehen.

„Wollen wir doch mal sehen, was wir mit dir anfangen können“, waren seine abschließenden Worte gewesen. „Sei morgen um neun Uhr hier. Dann werden wir schauen, wie wir dich am besten im Team integrieren können.“

An diesem Tag hatte er sie eingestellt … mit einem Hungerlohn, der weder zum Leben noch zum Sterben reichte, der ihr aber immerhin so viel einbrachte, dass sie die mit Michael bezogene Wohnung bezahlen konnte, und auch noch ein wenig Essen auf den Tisch bekam.

Michael hat sich für mich eingesetzt, dachte sie. Er war für mich da. Er hatte gewollt, dass ich den Job bekomme … dass ich das tue, was ich immer schon habe tun wollen: Schreiben.

Er hat an mich …

… geglaubt.

Das hatte sie vollkommen vergessen – ebenso wie das warm aufsteigende Gefühl, das sie damals verspürt hatte. Ein Gefühl, das sie auch jetzt heimsuchte und sie mit einem Schauer auf dem Rücken denken ließ: Da ist mir bewusst geworden, dass ich ihn liebe. Aufrichtig, ehrlich und unwiderruflich.

***

„Das war ja so klar“, entfuhr es Emma frustriert, als sie auf die regenbogenfarbene Tür und das daran angebrachte Schild starrte, auf dem stand: Bin um sechzehn Uhr wieder da.

Alle eben noch durch sie hindurch gerasten Eindrücke und die verunsichernden Gefühle waren plötzlich wie weggeblasen. Da war nur noch eine tiefe Verachtung, der sie damit Ausdruck verlieh, dass sie das Schild anhob und es mit Schwung gegen die Tür warf.

Sie lachte bitter auf, weil das so typisch Michael war.

Nicht da zu sein, wenn man ihn brauchte.

Auch wenn es so klang, als ob sie den oben gedachten Satz auf sich münzte, meinte sie ihn doch anders.

Sie brauchte ihren Blick nur über den stark besuchten Strand schweifen lassen, um zu wissen, dass Michael sich kein bisschen geändert hatte.

Er war noch ganz genauso wie früher.

Hauptsache, frei und keine Verpflichtungen eingehen müssen.

Wäre er ein guter Geschäftsmann gewesen, einer, der es witterte, wenn es Geld zu verdienen gab, dann wäre er jetzt um diese Uhrzeit in seinem Laden gewesen.

Ein Laden, wie sie naserümpfend feststellte, der ihren Vorstellungen ebenso entsprach wie ihren Vorurteilen. Die Fassade war weiß gestrichen und hier und da mit kleinen Wellen und Regenbögen bemalt. Dennoch wirkte er ärmlich und heruntergekommen.

Weil Michael keinerlei Sinn für Außendarstellung hat. Das hatte er noch nie. Er hat immer geglaubt, dass sich schon alles von allein regeln wird.

Eine Wand anzustreichen, um einen guten Eindruck zu hinterlassen?

Warum denn? Jeder wusste doch, was er im Inneren des Shops finden würde.

Ein bitterer Zug legte sich um ihren Mund, während sie ihren Blick weiterhin über den Strand gleiten ließ zu einer Gruppe junger, sportlich aussehender Männer, die in ihren Neoprenanzügen auf eine Surfstunde warteten.

An den Volleyballnetzen spielten lachend Leute, und überall konnte man Menschen in Strandkörben sitzen sehen, die sich ausruhten und sich unterhielten.

Ein buntes Treiben schwappte Emma entgegen, als sie sich an die Zeiten erinnerte, als sie mit ihren Freunden hier unterwegs gewesen war, sie sich auf die alten Kaianlagen zurückgezogen, die Urlauber beobachtet und sich spöttisch darüber geäußert hatten, wie albern sie alle da unten aussahen.

Jetzt hingegen sah sie nichts als potenzielle Kunden. Menschen, denen man mit Schnupperkursen das Surfen näherbringen konnte. Leute, denen man es schmackhaft machen konnte, wie schön es war, auf dem Brett zu liegen und darauf zu warten, dass die Wellen kamen, damit man auf ihnen in Richtung Strand gleiten konnte.

Michael hingegen entging das Potenzial, das sich ihr zeigte.

Noch einmal nahm sie das Schild in die Hand, lachte verächtlich und verwarf den eben in ihr aufgestiegenen Gedanken, Michael eine Nachricht zu hinterlassen auf der stand, dass er sich bei ihr melden sollte.

Ich habe schließlich keine Ahnung, wo ich wohnen soll, dachte sie jetzt, als sie das Schild wieder an die Tür zurückwarf und missmutig ihren Rückweg zum Parkplatz antrat.

***

„Friedrichs Ruh“ war immer ein netter und angenehmer Platz gewesen, um sich zu entspannen. Besonders dann, wenn man Emma Sommer hieß, eine Mutter wie die ihre hatte und einen Vater, der es liebte, deftig zu essen, und mit dem Wirt, Herrn Hilbert, über das zurückliegende Fußballwochenende zu diskutieren.

Gerede, wie ihre Mutter und sie es immer genannt hatten, dem sie kein Ohr schenken brauchten.

Während Emmas Vater redete und Herr Hilbert ihre Bestellungen aufnahm, unterhielten Mutter und Tochter sich über dieses und jenes. Sie schauten gelegentlich zu dem in der Ecke hängenden Fernseher und machten sich darüber lustig, wie die Werbefachleute versuchten, ihnen allen möglichen Schwachsinn zu verkaufen.

Das Angenehmste an „Friedrichs Ruh“ war aber, dass man von der Terrasse aus einen phänomenalen Ausblick über das in der kleinen Bucht liegende Eckenförde, den Strand und das Meer hatte. Außerdem konnte man den in der Ferne liegenden Hafen erkennen, der geradewegs ins Landesinnere führte, und seinen Abschluss an der Meereskante fand.

Schon immer hatten dort größere und kleinere Schiffe gelegen. Meistens Boote reicher Leute, die nur hierherkamen, um zur aufzubrechen und ruhige Stunden oder Tage auf dem Wasser zu verbringen. Aber auch die in Eckenförde lebenden Menschen hatten hier ihre Schiffe vor Anker liegen. Jollen oder kleine Segelboote, die zwischen den ganzen Protzgeschossen ganz verloren aussahen, aber dennoch so viel Spaß in sich vereinten, dass Emma gern daran zurückdachte, wie sie mit ihren Großeltern hinaus aufs Meer gesegelt war, und das Schaukeln der Wellen ihr Ruhe und Geborgenheit brachte.

Allein der Gedanke daran, wie sie mit ihrem Großvater rausgefahren war, erfüllte sie mit Freude; ließ sie lächeln und daran denken, wie sie unentwegt plapperte, während ihr Opa milde lächelnd, eine Pfeife rauchend, seinen bis aufs Kinn fallenden, grauen Bart glatt strich und irgendwann meinte: „Willst du auch was aus der Pfanne, mien Deern? Oder lieber was vom Grill?“

„Aus der Pfanne“, rief sie dann immer voller Freude.

„Mien Deern“, meinte Opa dann stets, streichelte ihr über den Kopf und ließ sie den Anker auswerfen. Während das Meer um sie herum leise plätschernd gegen den Rumpf des Bootes schlug, stieg ihr der Geruch von gebratenem Fisch in die Nase und der auffrischende Wind zerrte an ihren Haaren.

Sie hatte das Meer immer geliebt.

Da war eine angenehme, sie mit einem wohligen Gefühl der Zufriedenheit durchströmende Gewissheit in ihr, die ihr zuflüsterte, dass sie am Meer sicher war. Dass sie sich hier, wenn sie es wollte, niederlassen konnte, um in Ruhe all ihre Probleme durchzukauen, zu analysieren und zu beseitigen.

Wann ist mir diese Sicherheit abhandengekommen?, fragte sie sich, und erinnerte sich daran, wie sie am Strand entlangspaziert war, und das warme, sie umspülende Wasser genossen und die am Horizont entlangfahrenden Schiffe als kleine Traumboote empfunden hatte.

Eine Art kleines Signal der Welt an sie, dass sie nur hinausgehen brauchte, um das zu erleben, was sie schon immer hatte erleben wollen.

Jetzt, wo sie darüber nachdachte, und sich als junges Mädchen unten am Strand spazieren gehen sah, die Quallen ebenso faszinierend gefunden hatte wie einen ans Ufer angeschwemmten Algenschwamm, kam sie sich reichlich naiv vor. Allein der Gedanke, zu glauben, dass man sich ohne Weiteres von Schiffen seinen Träumen näherbringen lassen konnte, ließ sie verächtlich schnauben.

Da lebe ich lieber in der Realität und weiß, dass ich durch den Film so unabhängig werden kann, dass ich nicht mehr jedes Jahr ein neues Buch schreiben muss. Keine langen Lesetouren mehr. Nur noch ich, meine Wohnung und …

Ihre Gedanken rissen abrupt ab.

Sie hatte an Mark denken wollen, und dass sie mit ihm zusammenleben wollte, um sich eine gemeinsame Zukunft mit ihm aufzubauen.

Doch als sie gerade daran denken wollte, überkam sie ein kurzer, intensiver Schauer, der sie schüttelte und sie dazu brachte, das zu betrachten, was gerade vor ihr lag: Eckenförde.

Obwohl der Gasthof ein wenig abseits lag, und gut fünfzehn Minuten vom Zentrum der kleinen Stadt entfernt war, war der Gastraum doch immer gut gefüllt, damals wie heute, wie Emma feststellte, und mit einem überraschten Blick auf die Uhr sah sie, dass es gerade einmal vierzehn Uhr war.

„Hallo“, begrüßte sie eine blonde, hochgewachsene junge Frau, die gerade dabei war, das Teenageralter zu verlassen. Ihre schmalen Gesichtszüge besaßen einen interessanten, schönen Schnitt, den Emma sich merken wollte, um ihn einmal in einer ihrer Geschichten zu verarbeiten. Die spitze Nase und die schmal wirkenden Lippen hatten seltsamerweise nichts Arrogantes oder gar Überhebliches an sich, wie Emma feststellte. Die junge Frau wusste, dass sie hübsch war. Es interessierte sie nur nicht. Aber das war sie.

Was an ihren Augen liegt, dachte Emma jetzt, die sich in dem tiefen Blau ebenso verlieren konnte wie in dem freundlichen, auf den Lippen liegenden Lächeln.

Emma erwiderte die Begrüßung und schob, als sie sich im Schankraum umsah, hinterher: „Ich habe gesehen, dass ihr noch immer Zimmer vermietet.“

„Das tun wir“, versicherte ihr die junge Frau. „Wie lange möchten Sie denn bleiben?“

„Ich hoffe, nur eine Nacht“, gestand sie ihr und sah jetzt in der hinteren Ecke einen Mann sitzen, der sie unwillkürlich zum Schmunzeln brachte. Schon damals war Martin Hoffmann alt gewesen. Sein grauer Bart hatte ihm bis auf die Brust gereicht und sein kahler Schädel war immer von einer blauen Matrosenmütze bedeckt gewesen.

Der Sweater, den er trug, war ebenfalls blau, und aus so grober Wolle gefertigt, dass der Anblick unwillkürlich einen Juckreiz in Emma auslöste.

Und so wie damals, saß er in der hintersten Ecke von „Friedrichs Ruh“, paffte an seiner langen Pfeife und schrie immer wieder, wenn einer seiner Tischnachbarn etwas sagte: „Sprich lauter, ich kann dich nicht verstehen!“

„Ein Einzel- oder ein Doppelbettzimmer?“

„Wie breit sind die Betten denn hier?“

„Normal“, erwiderte die junge Frau und zuckte mit den Schultern, verlor ihr Lächeln aber nicht und schob hinterher: „Mit ganz fluffigen und flauschigen Bettdecken, harten Matratzen und himmelweichen Kopfkissen. Man versinkt förmlich in den Kissen. Papa will immer nur das Beste für seine Gäste.“

„Wie gut für mich“, antwortete Emma lächelnd und sagte dann: „Dann nehme ich bitte ein Doppelzimmer.“

„Für Sie allein?“

Emma behielt ihre Freundlichkeit bei und füllte den vor ihr liegenden Gästebogen aus.

„Ja.“

Das Mädchen lief daraufhin hochrot an, stotterte irgendetwas davon, dass sie nicht unhöflich hatte sein wollen, und dass es ihr leidtäte, dass sie so aufdringlich gewesen sei.

„Das habe ich gar nicht so aufgefasst“, meinte Emma, schob den ausgefüllten Bogen hinüber zu der jungen Dame, und wartete dann darauf, dass sie ihr die Zimmerkarte gab.

„Emma?“

Im ersten Moment hatte Emma gedacht, dass es der alte Hilbert war, der sie ansprach, und dass ihre Hoffnung, dass er das Gasthaus noch immer leitete, in Erfüllung gehen würde. Aber als die junge Dame hinter dem Tresen Emmas Zimmerkarte durch einen Scanner zog, begriff sie, dass die Stimme viel zu hell gewesen war, und nicht den typischen, breiten Klang einer nordirischen Zunge in sich trug.

Neugierig, wer sie angesprochen haben könnte, drehte sie sich langsam herum.

Ihr Blick schweifte noch einmal über den weitläufigen und hell eingerichteten Schankraum. Sie sah die alten, in ein Gespräch vertieften Männer, und die Terrasse, auf der sie früher gern gestanden hatte, um hinaus aufs Meer zu schauen.

Und sie nahm den hochgewachsenen, schlanken Mann wahr, dessen Haare ebenso blond waren wie die von Michael, und dessen Augen ein so angenehmes, weiches Grün besaßen wie die ihres Noch-Ehemannes.

Nur das breitere Kinn und die höhere Stirn ließen sie wissen, dass sie es nicht mit Michael zu tun hatte. Dazu kam noch, dass dieser Mann hier hart für sein Geld arbeitete und aussah, als habe er eine schwere Verantwortung zu tragen.

Was nicht nur an dem Tablett lag, das er in Händen hielt, und darauf mehrere, frisch polierte Gläser balancierte.

Es war sein Lächeln, und seine freundliche und zuvorkommende Art, als er geradewegs auf sie zukam. Das Lächeln, das dem Mädchen hinter dem Tresen galt und das von so einer Herzlichkeit begleitet war, dass Emma selbst schmunzeln musste. Sie hatte in ihren Geschichten immer darüber geschrieben, wie es war, wenn man sofort sehen konnte, wenn ein Mensch einen anderen aus tiefstem Herzen liebte; hatte ihre Sehnsucht mit jedem einzelnen Wort zur Schau gestellt, weil sie selbst auch einmal so empfinden wollte. All die Enttäuschung, über die ihr nicht entgegengebrachte Zuneigung ihrer Mutter, hatte sie versucht, mit solchen Beschreibungen aus sich herauszutreiben.

Vergebens.

Jetzt, wo sie sah, wie der auf sie zukommende Mann das gerade zur Frau heranreifende Mädchen anlächelte, wurde ihr bewusst, wie wenig Zuneigung sie von ihrer Mutter erfahren hatte.

Ihr Hals wurde trocken, als sie noch einmal angesprochen wurde.

„Bist du es wirklich?“

„Ralf?“, fragte sie mit bebender, vor Unsicherheit vibrierender Stimme.

„Ja, ich bin es. Was machst du denn hier?“

„Äh …“

„Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dich jemals wiederzusehen. Also nicht in echt.“

„Was machst du denn hier?“, fragte sie und wünschte sich nichts sehnlicher, als geradewegs die Flucht nach vorne antreten zu können.

„Na was soll ich hier schon tun? Ich arbeite hier.“

„Aber wo ist Hilbert?“

„Der ist in Rente gegangen. Nach Mallorca ausgewandert, der Glückspilz“, erwiderte Ralf lachend, stellte das Tablett ab, wischte sich die Hände an einer um seine Taille gewickelten Schürze ab und breitete seine Arme aus, als wolle er Emma darin begraben. „Bei dem Batzen Geld, den ich ihm bezahlt habe, hätte ich wohl das Gleiche getan, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre.“

„Batzen Geld? Bezahlt? Du?“

Emma wollte nicht abwertend klingen, sie wollte überhaupt nichts Negatives in Ralfs Richtung verlauten lassen, aber all das, was er ihr sagte, klang so irrwitzig falsch, dass sie meinte, sich verhört haben zu müssen.

„Na klar!“ Er breitete erneut die Arme aus. „Ich habe „Friedrichs Ruh“ gekauft. Das hier ist jetzt mein kleines Hotel, und mein Bruder ist ein gern gesehener Gast hier …“