Leseprobe Seelenscherben

Kapitel 1

Der mit Ulmen gesäumte Jacobiweiher lag ruhig im Licht des Mondes. Stille beherrschte dieses idyllische Fleckchen, nur der Wind ließ die Kronen der Bäume rauschen und vereinzelt war das Quaken der Frösche zu hören, die sich am Rande des Weihers niedergelassen hatten. Auf der anderen Seite des Ufers lag der Gedenkstein an Hans Bernhard Jacobi. Er hatte wichtige Beiträge dafür geleistet, dass der Frankfurter Stadtwald in ein Naherholungsgebiet umgestaltet wurde. Für viele Städter war dies ein Zufluchtsort gewesen. Die Menschen suchten Ruhe und inneren Frieden, die frische Luft zu atmen oder einfach nur die Natur zu genießen, die direkt vor ihrer Tür lag. Emilia stand am Rand des Weihers und fror entsetzlich. Obwohl der Tag sehr sonnig gewesen war, sank die Temperatur in der Nacht um fünfzehn Grad. Ihre Hände umklammerten schützend ihre Oberarme. Sie bereute es, sich nicht eine wärmere Jacke angezogen zu haben. Ihre nackten Knie zitterten. Ein Knacken unterbrach die Stille. Sie wirbelte herum, spähte durch die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen. Ein Tier, das durch das Unterholz schlich, oder ein abgebrochener Ast, der zu Boden gefallen war? Ihr Herz schlug in ihrer Brust wie ein lebendiges Wesen, das ihrem Körper entfliehen wollte. Ihre Adern pulsierten, sie versuchte, ihren Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Ruhig atmete sie ein und aus. Dann herrschte wieder Stille. Sie blickte hinauf zu den Baumkronen, die sich vom Himmel abzeichneten und sanft hin und her schaukelten. Sie wollte nicht hier sein. Sie fühlte sich einsam und verlassen. Abgestellt wie ein Paket. Emilia wollte wieder bei ihm sein, sich wieder in seine starken Armen fallen lassen, so wie es schon immer gewesen war, aber ihr altes Leben und ihre Vergangenheit waren nur noch eine blasse Erinnerung. Dann wieder ein Knacken. Diesmal näher und bedrohlicher als zuvor.

„Hallo? Bist du es?“, fragte sie mit ängstlicher Stimme.

Nur schemenhaft konnte sie eine Gestalt erkennen, die auf sie zukam.

„Wo zum Teufel warst du? Wie kannst du mich an diesen Ort bestellen und das mitten in der Nacht? Das wird dich einiges mehr kosten als üblich.“

Dann ein dumpfer Schlag. Ein markerschütternder Schrei drang aus ihrer Kehle, der mit dem Wind davongetragen wurde.

 

August Lehmann schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach halb acht. Wieder war er zu spät und er wusste bereits jetzt, was ihn erwarten würde. Sein Chef hatte ihn mehrmals ermahnt und August konnte nur hoffen, dass er sich ungesehen in das Polizeipräsidium schleichen konnte. Vor ihm lag der gigantische Betonklotz, der ringsherum mit Fenstern bestückt war. Zwischen den unzähligen Parkplätzen standen vereinzelte Birken, umringt von winzigen Grünflächen. Mit schnellen Schritten drückte er sich durch die Tür, blieb vor den Aufzügen stehen und tippelte ungeduldig mit den Füßen auf den Boden. Es verging eine halbe Ewigkeit und wieder schaute er auf seine Uhr.

„Verdammt. Wo bleibt der nur?“, fragte er ungeduldig.

Er konnte nicht länger warten und darauf hoffen, dass der Aufzug ihn vor einer Standpauke bewahren würde. August nahm die Treppe. Er nahm zwei, drei Stufen auf einmal, ehe er oben angekommen war und seinen Blick hastig durch die Flure rasen ließ. Er war nur noch wenige Meter von den Umkleiden, die am Ende des Flurs lagen, entfernt und hörte das Gemurmel seiner Kollegen und das Klappern von Kaffeetassen. Eilig rannte er los, bis eine raue, tiefe Stimme in sein Ohr drang.

„Herr Lehmann. In mein Büro, sofort.“

Abrupt blieb August stehen, rollte mit den Augen und biss sich auf die Lippe.

„Verdammt“, fluchte er.

Er folgte dem Polizeichef Ludger Sommer in sein Büro. In der Tür verharrte August einen Moment, während Ludger sich in seinen Sessel setzte und das Leder unter seinem Gewicht knirschte. Er faltete seine Hände zu einem Dreieck und berührte dabei seine Nasenspitze. Seine buschigen, grauen Augenbrauen formten sich zu einem zornigen Strich.

„Setzen Sie sich, Herr Lehmann.“

August ging zögerlich auf seinen Chef zu, seine Hände schwitzten. Er würde seinen Job verlieren und das nur, weil er unfähig war, jeden Morgen pünktlich an seinem Arbeitsplatz zu sein. Er ärgerte sich über seine eigene Unzuverlässigkeit, die aber in letzter Zeit einen Grund hatte. Er atmete aus und setzte sich seinem Chef gegenüber. In seinen Augen konnte August die Enttäuschung erkennen.

„Herr Sommer. Ich kann das …“

Ludger schüttelte den Kopf. Er war nicht bereit, sich wieder eine dieser unzähligen Ausreden anzuhören.

„Herr Lehmann. Sie sind nun bereits zwölf Jahre im Dienst. Sie leisten gute Arbeit. Ihre Kollegen schätzen Sie sehr. Man hat mir zugetragen, dass Sie ein, sagen wir mal, netter Zeitgenosse seien.“

August wusste genau, wovon sein Chef sprach. Die letzte Betriebsfeier, an der Ludger nicht teilnehmen konnte. Seine Frau Margret war an einer Lungenentzündung erkrankt und in einem schlechten Zustand gewesen. August sollte eine Rede halten und hatte sich bereits einige Gläser Whiskey einverleibt und so kam es, dass er auf dem Weg zum Podium gestolpert war und sich dabei einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte. Die gesamte Belegschaft war in schallendes Gelächter ausgebrochen, was August gelassen hinnahm. Er war sehr selbstsicher und hatte sich durch den Vorfall nicht aus der Ruhe bringen lassen. Es wunderte ihn dennoch nicht, dass seine Kollegen tratschten und der peinliche Zwischenfall bis zu den Ohren seines Chefs gedrungen war.

„Sie wissen ja sicher, dass Kriminalhauptkommissar Gerhard Berger seinen wohlverdienten Ruhestand antritt.“

„Ja, das ist mir bekannt, aber was hat das mit mir zu tun?“

„Ich habe Sie als seinen Nachfolger empfohlen.“

Augusts Augen weiteten sich, sein Herzschlag beschleunigte sich und seine Hände wurden so nass, dass er sie an seiner Jeans trocken reiben musste. Er spürte, wie seine Wangen glühten, ließ sich aber nichts anmerken. Im ersten Moment dachte er, dass Ludger sich einen Scherz erlaubte, aber je länger er ihm in die Augen blickte, umso klarer wurde ihm, dass Ludger es ernst meinte.

„Sie haben mich empfohlen? Aber ich dachte …“

„Was dachten Sie? Dass ich Sie heute entlasse wegen Ihrer Unpünktlichkeit, die Sie in letzter Zeit an den Tag legen? Nein. Trotz Ihrer Marotten sind Sie ein hervorragender Polizist und ich möchte Sie hiermit befördern. Sie werden der neue Kriminalhauptkommissar an Friedrich Peters’ Seite.“

Augusts Lippen zuckten, aber er unterdrückte das Lächeln.

„Ich danke Ihnen für diese Möglichkeit.“

Ludger richtete sich auf und reichte August die Hand.

„Enttäuschen Sie mich nicht. Ich verlasse mich auf Sie.“

Als August das Büro verließ, konnte er sein Glück kaum fassen. Mit geschwellter Brust und erhobenem Kinn stolzierte er den Flur entlang. Nach all den Jahren bei der Kripo und den psychologischen Tests hatte er sein Ziel endlich erreicht. Seit Langem hatte er von diesem Posten geträumt und ihm war bewusst, dass er ein schweres Erbe antreten würde. Kommissar Berger war ein absoluter Profi gewesen. Er hatte sich akribisch in jeden Fall eingearbeitet und ihm war kein Detail entgangen. Nach vielen Jahren Erfahrung war es ihm möglich gewesen, sich in das verdrehte Gehirn eines Mörders hineinzuversetzen. Wie ein Bluthund hatte er tief in den Abgründen der Menschen geschnüffelt, die versucht hatten ihm etwas vorzumachen. August erreichte das Büro seiner Kollegen. Niemand war zu sehen. Er ging in den hinteren Teil und öffnete die Tür zum Büro von Lara Mai, der Sekretärin, und ein tosender Applaus schwappte ihm entgegen, dann ein Gemeinsames: „Überraschung.“

Er zuckte kurz zusammen, lehnte sich dann lässig gegen den Türrahmen.

„Vor euch kann man wohl nichts verheimlichen“, sagte er mit einem breiten Grinsen. Lara kam auf ihn zu. Sie war eine sehr attraktive Frau. Trotz ihrer ein Meter und achtundsiebzig trug sie stets blutrote High Heels und war so fast immer auf Augenhöhe mit den Männern. Ihr blondes Haar lag locker auf ihren Schultern. Ihre Figur war makellos, ihre Augen waren so dunkel, dass man sich in ihnen nicht spiegeln konnte. Ein blumiger Duft stieg August in die Nase. Nahezu jeder seiner Kollegen versuchte Lara für sich zu gewinnen, doch sie hatte nur Augen für einen Mann. August. Was der aber gekonnt ignorierte. Schließlich war er verheiratet und wollte Lara keinerlei Hoffnungen machen, obwohl ihre Annäherungsversuche von einer Hartnäckigkeit waren, die August dennoch schmeichelten.

„Herzlichen Glückwunsch“, hauchte sie in sein Ohr. Ihm fehlten die Worte. Er war dankbar, dass seine Kollegen ihm den Aufstieg gönnten, schließlich war er nicht der Einzige, der diese Beförderung verdient hatte. Doch eine Person blieb im Hintergrund. Kommissar Friedrich Peters. Er war Bergers jahrelanger Weggefährte und nun würde August den Platz seines Freundes einnehmen. Er befürchtete, dass Friedrich ihn als neuen Partner nicht akzeptieren würde. Gerhard und Friedrich waren seit Jahren ein eingespieltes Team gewesen, hatten einander blind vertraut. Friedrich wühlte sich durch die Menge, vorneweg sein üppiger Bauch. Seine grauen Augen musterten August von oben bis unten. Er zweifelte, ob dieses Greenhorn – was nur seine Einschätzung war – ihm und dieser Aufgabe gewachsen war. Er kannte August und wusste, dass er sich nicht immer an die Vorschriften hielt. Er war nach seinem Empfinden zu impulsiv. An Tatorten behielt er ihn im Auge, beobachtete, wie August die Zeugen unter Druck setzte, um so schnell wie möglich Antworten zu bekommen. Seiner Meinung nach fehlte ihm das gewisse Einfühlungsvermögen, das für einen guten Polizisten unabdingbar war. Friedrich streckte ihm die Hand entgegen. Er war einen guten Kopf kleiner als August, aber das minderte nicht im Geringsten den Respekt, der ihm entgegengebracht wurde.

„Ich gratuliere Ihnen, Lehmann. Von jetzt an sind wir Partner. Ich dulde keine Fehler und diesen James-Dean-Look werden Sie im Dienst ablegen.“

August verzog keine Miene, nickte lediglich.

„Geht in Ordnung“, antwortete er trocken.

Friedrich drehte sich um und ging zu seinem Schreibtisch. August schaute ihm nach und ihm war klar, dass Friedrich ein harter Brocken war, aber davon ließ er sich nicht einschüchtern. Er wusste um seine Fähigkeiten und würde seinem neuen Partner keinen Grund liefern, der ihn unfähig erscheinen ließ. Das Telefon klingelte. Lara schritt mit einem eleganten Hüftschwung in ihr Büro und nahm den Hörer ab. Die anderen Kollegen gratulierten August und schnitten den Kuchen an, den Lara selbst gebacken hatte. Polizeichef Ludger Sommer betrat den Raum und seine Augen verfolgten das rege Treiben.

„Sind wir hier auf dem Schulhof? Zurück an die Arbeit“, brüllte er.

Die Gruppe löste sich rasch auf, während Lara mit einem Zettel in der Hand auf August zu kam.

„Spaziergänger haben am Jacobiweiher eine Frauenleiche entdeckt.“

August griff nach dem Zettel. So schnell hatte er nicht mit einem Fall gerechnet. Er steuerte Friedrichs Schreibtisch an, blieb abrupt stehen und blickte auf seine Kleidung. Er trug eine Jeans, schwere Boots und ein weißes Shirt, das seine Muskeln ausgezeichnet zur Geltung brachte. Es war keine Zeit mehr, sich umzuziehen.

„Kommissar Peters? Wir haben einen Anruf bekommen. Am Jacobiweiher wurde eine Frauenleiche gefunden.“

„Worauf warten wir?“, entgegnete er.

Der Parkplatz war so gut wie leer. Die beiden stiegen in einen schwarzen Mercedes. Augusts erster Fall als Kommissar. Er musste diesem Sturkopf zeigen, dass er der Richtige war und es keinen Grund zum Zweifeln gab. Die Augen auf die Straße gerichtet, fuhr Friedrich in Richtung Stadtwald. Der Wagen schlängelte sich durch die Straßen Frankfurts, die inzwischen mit Leben gefüllt waren. Im Stadtteil Sachsenhausen lag der Jacobiweiher. August und Friedrich stiegen aus dem Auto und gingen in Richtung Süden einen befestigten Waldweg entlang, ehe sie den Weiher erreichten. Das Sonnenlicht brach sich in den Kronen der Ulmen, spiegelte sich auf der Oberfläche des Wassers. Es war ruhig an diesem Morgen. Nur ein Specht, der mit seinem kräftigen Schnabel ein Loch in einen Baum hämmerte, war zu hören. Ein Schluchzen drang in Augusts Ohr. Eine ältere Dame saß völlig verzweifelt auf einer Bank, ihr Gesicht war tief in ihre Hände vergraben. Sie war am frühen Morgen in den Stadtwald gekommen, um ihren Hund auszuführen, und dabei beinahe über die Tote gestolpert. Der Anblick der Frauenleiche hatte sie vollkommen verstört. Der Dackel, der neben ihr hockte, jaulte alle paar Sekunden auf.

Die Spurensicherung hatte den Tatort weiträumig abgeriegelt und als die beiden sich dem Ufer des Weihers näherten, konnte August das tote Mädchen sehen. Sie war spärlich bekleidet, nur mit einem roten Oberteil, das ihren Bauchnabel hervorblitzen ließ, und einem schwarzen Minirock, der kaum das obere Drittel ihrer Beine verdeckte. Ihr rechter Fuß steckte in einem roten Pumps, das linke Bein lag unnatürlich verdreht auf dem erdigen Boden. Ihre Haut schimmerte wie zerbrechliches Porzellan. Sein Blick wanderte zum Kopf, der völlig zertrümmert war. Knochensplitter ragten ihm entgegen, die Augenhöhlen waren eingedrückt. Ihr Gesicht glich nicht mehr dem eines Menschen. Das braune Haar, das mit einer schwarzen Schleife zu einem Zopf gebunden war, war blutgetränkt. August war eines sofort klar: Der Täter musste mit einer unglaublichen Gewalt, seinem Opfer den Schädel zerschmettert haben. Er hatte in seiner Laufbahn als Polizist bereits einige Gewaltverbrechen gesehen, aber das war mit Abstand das Abscheulichste. Trotz seiner jahrelangen Erfahrung lief warmer Speichel in seinem Mund zusammen, aber er durfte sich an seinem ersten Tag als Kommissar nichts anmerken lassen, vor allem nicht vor Friedrich, der wahrscheinlich nur darauf wartete, dass August ein Fehler unterlaufen würde. Friedrich trat an einen Mitarbeiter der Spurensicherung heran, der erstarrt, mit einem Fotoapparat in der Hand, auf die junge Frau blickte. Jan Schreiber war seit zehn Jahren bei der Spurensicherung. Obwohl er vierzig Jahre alt war, wirkte sein Gesicht wie das eines Teenagers. Er trug eine dieser nostalgischen Hornbrillen aus den fünfziger Jahren. Seine Haut war blass und mit kleinen roten Punkten übersät. Mit der Zeit hatte er sich ein dickes Fell zugelegt. Er hatte schon einige Leichen mit schweren Verletzungen gesehen. Stichwunden, Schusswunden, aber in diesem Fall musste er seine Gefühle in den Griff bekommen.

„Gibt es eine Tatwaffe?“

Jan schüttelte den Kopf.

„Wir haben alles weiträumig abgesperrt und abgesucht, aber bis jetzt ist keine Tatwaffe aufgetaucht. Vielleicht hat der Täter die Waffe im Weiher versenkt. Selbst wenn wir sie finden würden, das Wasser wird jede Spur vernichtet haben. Alles, was wir gefunden haben, ist die Handtasche des Opfers.“

Friedrich wandte sich August zu.

„Sprechen Sie mit der Frau, die die Leiche entdeckt hat.“

„In Ordnung.“ Friedrich blickte ihm hinterher. Er hoffte inständig, dass August ein wenig Feingefühl an den Tag legen würde. Das Schluchzen der alten Dame nahm kein Ende, August befürchtete, dass sie einen Nervenzusammenbruch erleiden könnte, er musste behutsam vorgehen.

„Ich bin Kommissar August Lehmann. Sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?“, fragte August einfühlsam.

Die alte Dame hob ihren Kopf, starrte August in seine blauen Augen. Ihr Gesicht lag in tiefen Falten, die Hände, die mit Altersflecken übersät waren, zitterten. Ihre wässrig grauen Augen strahlten eine unglaubliche Traurigkeit aus.

„Ich … ich werde es versuchen.“

„Wie ist Ihr Name?“

„Annemarie Krüger.“

„Und Sie haben die Tote entdeckt?“

Annemarie nickte.

„Ich komme jeden Morgen mit meinem Hund in den Stadtwald. Wissen Sie, wir beide sind schon sehr alt und die frische Luft tut uns gut. Wir wollten ein Stückchen am Weiher entlanggehen und da hat mein Mäxchen geknurrt. Mir war ganz mulmig, weil er sonst nie knurrt. Und dann … und dann habe ich das Mädchen gesehen. Sie lag einfach da und da war so viel Blut. Ich dachte, ich bekomme einen Herzinfarkt. Ich habe sofort die Polizei gerufen.“

„Haben Sie jemanden gesehen? Oder etwas gehört?“

Annemarie schüttelte den Kopf.

„Nein, hier war niemand und gehört habe ich auch nichts. Am Weiher ist es morgens immer ruhig.“

„Vielen Dank, Frau Krüger.“

August ging zurück.

„Die Frau hat nichts Verdächtiges gesehen oder gehört.“

Friedrich fuhr sich über seine Glatze.

„In der Tasche des Opfers lag ein Personalausweis. Emilia Schwarz. Einundzwanzig Jahre alt. Sie wohnt in Ginnheim.“

August wusste nur zu gut über den Stadtteil Bescheid. Eine Plattenbausiedlung, in der Drogendealer Kinder ohne Perspektive für sich arbeiten ließen. Händeringend wurden Sozialarbeiter gesucht, um das Problem in den Griff zu bekommen, aber es gab einfach nicht genug Personal und so wurden die Kinder sich selbst überlassen. Gerieten immer mehr auf die schiefe Bahn und ihre Zukunft war zum Scheitern verurteilt.

„Wir sollten uns auf den Weg machen“, sagte Friedrich.

Kurz darauf erreichten sie Ginnheim. Schnell hochgezogene Betonwände, die Platz für viele Menschen bieten sollten. Die Straßen führten vorbei an monoton aneinandergereihten Mietshäusern, zwischen denen sich Parkplätze und trostlose Rasenflächen abwechselten. Ungepflegte und verdreckte Fassaden bestimmten das Bild. Vor einem der Betonblöcke parkte Friedrich den Wagen. Die Briefkästen, die an der Mauer befestigt waren, zeigten deutliche Beulen auf. Verzogene Schlösser und abgerissene Namensschilder, doch eines war noch unberührt. Das der Familie Schwarz. Friedrich drückte die Klingel. Kaum war das harte Kreischen verstummt, versammelten sich neugierige Nachbarn an ihren Fenstern. August konnte ein Fingerpaar erkennen, das die Jalousien herunterdrückte, und aufmerksame Augen, die die beiden genau inspizierten. Der Summer ertönte und August stieß die Tür auf. Im Inneren des Gebäudes wurde das Bild nicht besser. Ein Sofa, das eindeutig in Brand gesteckt worden war, stand mitten im Flur. Es roch nach Urin und Fäkalien. Bei jedem Schritt klebten Augusts Schuhe am Boden.

„Das ist ja ekelhaft“, sagte er mit einem angewiderten Gesicht. August und Friedrich nahmen die Treppe in den zweiten Stock.

„Was um Himmels willen geht in diesem Haus vor?“

Friedrich zuckte mit den Schultern.

„Reine Zerstörungswut und Vermieter, die ihre Häuser einfach verkommen lassen. Eine Schande.“

In der Tür stand eine kleine, rundliche Frau in einem altmodischen Haushaltskittel. Ihr Bauch drohte die Knöpfe zu sprengen. Mit misstrauischen Augen musterte sie die Kommissare.

„Ja? Was wollen Sie?“, grummelte sie.

„Kripo Frankfurt. Ich bin Kommissar Friedrich Peters, das ist mein Kollege August Lehmann. Sind Sie die Mutter von Emilia Schwarz?“

„Ja, ich bin Magda Schwarz. Was hat das Luder jetzt wieder angestellt?“, fragte sie völlig gleichgültig.

„Frau Schwarz. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihre Tochter heute Morgen tot am Jacobiweiher aufgefunden wurde.“

Ihre wulstige Hand klammerte sich am Türrahmen fest, sie blickte zu Boden, sagte aber kein Wort. Sie schnaufte, dabei drang ein Pfeifen aus ihrer Kehle.

„Kommen Sie herein.“

In gebückter Haltung schlurfte sie durch den Flur und die Kommissare folgten ihr. Der Gestank von kaltem Zigarettenqualm und Ammoniak stieg ihnen in die Nase. Irgendwo in diesen maroden Wänden musste eine Katze sein, die wahrscheinlich die gesamte Wohnung als Klo benutzte. Die Wohnung war dunkel. Obwohl die Sonne hoch am Himmel stand, waren alle Jalousien heruntergezogen. Die einzige Lichtquelle war das Flackern des alten Röhrenfernsehers. Vor dem Bildschirm saß ein Mann im Rollstuhl, der seinen Kopf zur Seite gedreht hatte, um näher an den Boxen zu sein. Er bemerkte nicht, dass Friedrich und August den Raum betraten.

„Setzen Sie sich“, sagte sie. Sie sahen sich in dem finsteren Raum um, aber weder August noch Friedrich wollte sich auf dem abgewetzten Sofa niederlassen. Magda ließ sich auf das Sofa plumpsen und stöhnte angestrengt auf. Sie beugte sich nach vorne und unterhalb ihres Nackens bildete sich ein auffälliger Buckel.

„Es wäre von Vorteil, wenn wir ein Licht einschalten könnten“, sagte August.

Magda deutete auf den Lichtschalter neben dem altmodischen Wohnzimmerschrank aus den siebziger Jahren. August betätigte den Schalter und fühlte etwas Schmieriges auf seinen Fingern. Als das Licht den Raum erhellte, konnten August und Friedrich das Ausmaß des Chaos deutlich sehen. Der Staub lag fingerdick auf den Möbeln. Der Wohnzimmertisch war genau wie der Schrank aus den siebziger Jahren. Einige Kacheln, die mit einem Blumenmuster verziert waren, waren zerbrochen. Zwischen den Fugen sammelten sich Tabak und Essensreste. Magda drehte sich eine Zigarette, zündete sie an und inhalierte tief den blauen Dunst. Ein rauer Husten drang aus ihrer Kehle. August musterte Magda ganz genau. Er konnte sich lebhaft vorstellen, unter welchen Umständen die junge Frau gelebt haben musste. Das Ehepaar vegetierte in seiner Wohnung dahin und hatte offensichtlich keinen Kontakt zur Außenwelt. Wahrscheinlich war Emilia aus diesem Haushalt aus gutem Grund geflohen.

„Versteht die Frau, was wir ihr gesagt haben?“, fragte August mit Nachdruck. Friedrich stemmte seine Hände in die Hüften und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Dabei konnte er erkennen, dass der Mann, der im Rollstuhl vor dem Fernseher saß, keine Beine mehr hatte. Blutige Stumpen ragten ein wenig über die Sitzfläche, die Verbände stümperhaft gewechselt.

„Ich bin mir nicht sicher, ob diese Menschen überhaupt noch etwas vom Leben mitbekommen. Sehen Sie sich den Mann an. Was ist da passiert?“, flüsterte Friedrich. August schüttelte den Kopf, er erhob seine Stimme.

„Frau Schwarz? Haben Sie verstanden? Wir haben Ihre Tochter tot aufgefunden.“

Der Mann im Rollstuhl drückte die Knöpfe an der Fernbedienung. Die Boxen knisterten und ein Höllenlärm erschütterte die stickige Luft. August trat auf den Mann zu und entriss ihm die Fernbedienung. Der Mann protestierte.

„Wer sind Sie? Was haben Sie in meiner Wohnung verloren?“

Er hatte nicht einmal bemerkt, dass die Polizei in seinen eigenen vier Wänden war. Seine Augen waren ruhelos, die Haut aschfahl. Durch die wenigen Haare auf seinem Kopf schimmerten offene Wunden, die zum Teil verkrustet waren.

„Das sind die Bullen“, brüllte Magda.

August schaltete den Fernseher aus und atmete tief aus. Noch nie zuvor hatte er eine derartige Gleichgültigkeit erlebt.

„Was ist mit ihr passiert?“, fragte Magda schließlich ungerührt. Dabei war ihr Blick starr auf den Tisch gerichtet.

„Ihre Tochter wurde offenbar letzte Nacht erschlagen“, erwiderte Friedrich.

Ein verächtliches Lachen.

„Bestimmt einer ihrer Freier.“

„Sie war schon immer ein Flittchen“, schrie der Mann im Rollstuhl.

„Sind Sie Emilias Vater?“, fragte Friedrich. Der Mann winkte ab.

„Er ist ihr Stiefvater“, warf Magda ein. „Sie haben sich nicht gut verstanden. Irgendwann ist sie weggelaufen. Sie sagte immer wieder, dass sie es hier nicht aushalten würde. Undankbares Gör“, keifte sie.

„Und was ist mit ihrem Mann passiert? Ein Unfall?“, fragte Friedrich. Dabei dachte er eher an ein Raucherbein oder Diabetes als an einen Unfall.

„Er ist besoffen auf die Gleise gefallen. Dann kam der Zug und weg waren die Beine.“

August blickte zu Magda, er wollte verstehen, warum eine Mutter auf den Tod ihres Kindes so kalt reagierte. Emilia war offensichtlich eine Prostituierte gewesen. Aber warum hatte sie diesen Weg eingeschlagen? Es musste noch einen anderen Grund geben. Allein das Desinteresse der Eltern reichte nicht aus, um seinen eigenen Körper zu verkaufen. Dann setzte August sich doch auf das heruntergekommene Sofa. Er musste an Informationen kommen und wenn er dabei Aufmerksamkeit vortäuschen musste. Genau auf diese Situation hatte Friedrich gewartet. Um herauszufinden, was geschehen war, brauchte ein guter Kommissar Geduld und Empathie. Er hoffte, dass August sein impulsives Verhalten in den Griff bekommen würde.

„Wann haben Sie Emilia das letzte Mal gesehen? Wir müssen herausfinden, wer ihrer Tochter das angetan hat.“

Und plötzlich brach Magda in Tränen aus.

„Vor sechs Monaten. Sie hat einfach ihre Sachen gepackt und ist zu ihrem Freund.“

„Ihr Freund?“

„Ja. Linus Opitz. Er wohnt gleich nebenan.“

„Sie haben angedeutet, dass sie eine Prostituierte war.“

Der Rotz lief aus ihrer Nase, mit dem Handrücken wischte sie ihn weg und atmete dabei tief ein.

„Linus war bei uns. Er sagte mir, dass Emilia ihren Körper verkauft, für Geld. Ich wollte ihm nicht glauben, aber als sie das letzte Mal hier war, trug sie teure Kleider und Schmuck. Was sollte ich da denken? Ich weiß nicht, mit wem sie Kontakt hatte. Ich habe keine Ahnung, wer ihr das angetan hat.“

August drehte seinen Kopf. Der Mann im Rollstuhl starrte weiter auf die Mattscheibe, dass der Fernseher nicht mehr eingeschaltet war, störte ihn nicht weiter.

„Wir sollten mit Linus Opitz sprechen. Er kann uns vielleicht mehr sagen.“

Friedrich nickte. Als sie die Wohnung verließen, atmete August erleichtert auf.

„Was um alles in der Welt muss passieren, dass das Leben so aus den Fugen gerät?“

„Dafür gibt es Tausende von Gründen. Du weißt nicht, was die Eltern erlebt haben. Menschen mit einer schlimmen Vergangenheit wissen es nicht besser. Sie geben die Gefühle, die sie hegen, weiter und bemerken ihre Fehler nicht.“

August zog überrascht die Augenbrauen nach oben.

„Duzen wir uns jetzt?“

„Sieht ganz so aus“, antwortete Friedrich mit einem verschmitzten Lächeln. Das Eis war gebrochen und August war davon überzeugt, dass sie ein gutes Team werden würden.

„Gut, dann sprechen wir mit diesem Linus Opitz.“

Es dämmerte bereits, als sie ins Freie traten. Die Straßen waren wie leer gefegt. Nur vereinzelt lungerten Jugendliche in den finsteren Ecken und bewachten ihr Revier. Der Wind trug eine süßlich duftende Wolke in die Richtung der Kommissare.

„Ich kenne diesen Geruch.“

„Wer kennt den nicht“, erwiderte Friedrich.

„Wir sollten mit den Kids sprechen.“

Friedrich stieß ein spitzes Lachen aus.

„Glaubst du wirklich, das würde etwas nützen? Sobald wir ihnen das Gras abnehmen, haben sie zehn Minuten später dieselbe Menge in ihrer Tasche. Ich habe das schon zu oft erlebt.“

Direkt nebenan stand der nächste trostlose Betonblock. Friedrich drückte die Klingel. Eine zornige Stimme dröhnte aus der Gegensprechanlage.

„Ja?“

„Polizei. Bitte öffnen Sie die Tür.“

Der Summer ertönte. Im ersten Stock stand ein junger Mann auf der Türschwelle, die Arme vor der Brust verschränkt. Er hob sein Kinn.

„Was wollen Sie?“

„Kommissar Friedrich Peters, das ist mein Kollege August Lehmann. Es geht um ihre Freundin Emilia Schwarz. Dürfen wir eintreten?“

Linus gab den Weg frei. Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und griff nach einer Flasche Bier. Er war schmächtig, seine Oberarme waren dünn und wirkten so zerbrechlich wie ein morscher Ast. Als er einen Schluck aus der Flasche nahm, bleckten gelbe Zähne hervor, die zudem noch mit schwarzen Flecken behaftet waren. Sein kurzes, fettiges, blondiertes Haar wirkte wie vertrocknetes Stroh.

„Also, was wollen Sie von mir?“

August deutete auf einen Stuhl und forderte den jungen Mann auf, sich zu setzen. Dieser verzog jedoch den Mund und schüttelte den Kopf.

„Nein, ich stehe lieber.“

„Ihre Freundin Emilia Schwarz wurde heute Morgen tot aufgefunden.“

August konnte sehen, wie das Blut aus Linus’ Gesicht wich. Die Hand, in der er die Flasche Bier hielt, zitterte so heftig, dass sie zu Boden fiel und auf den Fliesen zerbrach. Sein Atem ging heftig und stoßweise.

„Nein. Nein, nein, nein. Das kann nicht sein. Sie müssen sich irren. Nicht meine Emilia.“

August drückte Linus auf den Stuhl und spürte, wie dessen Körper bebte.

„Es tut uns leid, aber wir müssen herausfinden, wer sie ermordet hat.“

„Ermordet?“, fragte Linus mit weit aufgerissenen Augen.

„Wir haben sie am Jacobiweiher gefunden. Jemand hat ihr den Schädel eingeschlagen.“

Ruckartig drehte er sich um und erbrach sich im Spülbecken, dann sackte er unter Tränen zusammen. Er wimmerte.

„Das ist doch ein Albtraum. Bitte sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist. Ich habe sie geliebt, sie war der wichtigste Mensch in meinem Leben.“

August hob Linus hoch und bemerkte, dass der junge Mann ein Fliegengewicht war. Er hievte ihn auf den Stuhl.

„Wann haben Sie Ihre Freundin das letzte Mal gesehen?“, fragte August.

„Vor ein paar Tagen. Sie war hier, um sich endgültig von mir zu trennen. Sie war die ganze Zeit bei diesem schmierigen Typen.“

„Welcher Typ?“

„Leopold Moll. Er ist der Besitzer vom Golden Palace. Das ist ein Bordell.“

August nickte.

„Der Name ist mir bekannt. Sie wussten also, dass sie eine Prostituierte war?“

„Ja. Wissen Sie, vor sechs Monaten ist sie zu mir gezogen. Sie war schwanger.“

August spitzte die Ohren.

„Was ist passiert?“

Tränen liefen Linus’ Wangen hinunter. Er legte seine Hand auf die Stirn und schluchzte.

„Wir hatten Streit. Ich war ihr einfach zu gewöhnlich. Sie wollte mehr vom Leben. Geld, eine schöne Wohnung, teure Kleider, die Welt sehen. Das Kind wollte sie nicht. Sie wollte es abtreiben lassen. Sie sagte immer, dass sie zu jung sei, um jetzt schon ein Kind zu bekommen. Der Streit ist eskaliert und ich habe sie gestoßen. Sie ist unglücklich gestürzt und hat dabei das Kind verloren, aber Sie müssen mir glauben, ich wollte das doch nicht, ich wollte ihr nie wehtun, ich wollte eine Familie mit ihr gründen. Dann hat sie diesen Moll kennengelernt und sagte mir, dass sie sich in ihn verliebt habe. Er hat ihr all das geboten, was ich nicht konnte. Aber sie musste dafür in seinem Bordell arbeiten.“

Augusts Gedanken ratterten wie ein Uhrwerk. Emilia musste sehr naiv gewesen sein. Er kannte Leopold Moll. Ein braungebrannter, gewiefter Geschäftsmann, mit Geld und teuren Autos. Er hatte ein Talent dafür, junge, hübsche Mädchen um den Finger zu wickeln und sie zu seinen Marionetten zu machen. Er gab ihnen alles, was sie sich wünschten, aber dafür verlangte er eine Gegenleistung.

„Wie ging es weiter?“

„Gar nicht. Ich habe sie nicht davon abgehalten, mich zu verlassen.“

Dann formte sich sein Gesicht zu einer zornigen Fratze.

„Er war es. Moll hat meine Emilia ermordet. Sie müssen ihn festnehmen.“

„Das werden wir herausfinden. Bleiben Sie erreichbar, falls wir noch weitere Fragen haben.“

Die Kommissare verließen die Wohnung. Friedrich griff in seine Tasche, holte ein weißes Stofftaschentuch hervor und tupfte seine Stirn ab.

„Das ist harter Tobak. Dieser Moll hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Hatte stets eine weiße Weste. Wir müssen mit ihm sprechen.“

August nickte zustimmend.

„Das sollten wir unbedingt.“