Leseprobe Schwesterntod

Kapitel 1

2010

„Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Bei jedem dieser Worte prasselte Erde Hagelkörnern gleich auf den Sargdeckel des dunklen Eichensarges. Mit jeder Schippe, die der Pfarrer auf den Sarg warf, schien ein Teil von Marie-Louise Rebell ebenfalls in das Grab zu fallen. Zutiefst bereute sie, nicht einer Einäscherung zugestimmt zu haben. Alles war besser, als in der Erde versenkt den Würmern zum Fraß serviert zu werden.

Zweiundzwanzig Jahre Ehe, von denen ihr Mann sie nur die ersten achtzehn erkannt hatte, fielen mit in das Grab. Sie hatte es gewusst, schon lange gewusst. Und doch war der Moment unerträglich gewesen, als das geliebte Gesicht zu einem Eisblock erstarrte, in dem sie nur noch undeutlich das liebenswerte Lächeln ihres Mannes erkannte. Das Lächeln, mit dem er sie bei jeder Gelegenheit bedacht hatte. Es war vor seinem Körper gestorben. Jahre zuvor. Ebenso wie ihre Ehe, deren Versprechen bis zur Scheidung durch den Tod nur sie eingehalten hatte.

Ein Schluchzer stahl sich aus Marie-Louises Mund, ganz unbeabsichtigt und doch unaufhaltsam. Sie spürte die Hand ihrer Schwester auf ihrem Arm.

Der Blick der sonst so spröden Richterin am Oberlandesgericht Düsseldorf war seltsam weich. Ganz ungewohnt. Auch deren Leben würde sich ändern. Nächste Woche würde sie in Pension gehen. Neben ihrem Beruf hatte eine eigene Familie keinen Platz gefunden. Dann hatten sie beide das Wichtigste im Leben verloren. Marte hatte zwar noch ihre Arbeit bei der Stiftung, deren unsäglichen Namen sich Marie-Louise einfach nicht merken konnte, aber sie glaubte nicht, dass die das Loch, das die Pensionierung in Martes Leben riss, füllen konnte.

Marie-Louise war kurz nach der Erkrankung ihres Mannes in den vorzeitigen Ruhestand gegangen. Auch sie war Richterin gewesen, wenn auch nie so erfolgreich wie ihre Schwester. Dafür stand auf ihrer anderen Seite Tom, ihr Sohn, und hatte seinen Arm um sie gelegt. Doch der würde morgen wieder nach London verschwinden, um sein Auslandssemester zu beenden. Dass ausgerechnet ihr Sohn BWL studieren musste, konnte sie noch immer nicht fassen. Richtig fremd war er ihr geworden. Mit der Krankheit seines Vaters war er nicht zurechtgekommen und hatte ihn am Ende nur noch selten besucht. Sie fühlte sich von ihm alleingelassen. Trotzdem war sie nun froh, dass er sie stützte.

Ab morgen musste sie wieder alles allein bewältigen. Und sich auf Sinnsuche begeben. Überlegen, was sie mit ihrem restlichen inhaltslosen Leben anfangen wollte. Sie hatte keine Idee.

Der Pfarrer drückte ihr die Schaufel in die Hand. Verstört starrte sie auf das Ding. Auch sie sollte ihrem Herold Dreck auf den Kopf werfen? Nein, das würde sie nicht tun.

Sie reichte die Schippe weiter an ihren Sohn.

 

Das Wohnzimmer füllte sich mit immer mehr Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten. Die Kollegen ihres Mannes waren zahlreich erschienen. Wieder wurde Marie-Louise bewusst, wie wenige Verwandte sie noch hatte. Nur ihren Sohn und die ältere Schwester.

Michael Strättges, Staranwalt der Düsseldorfer Szene und langjähriger Freund, wenn auch hauptsächlich ihres Mannes, schüttelte ihre Hand und verkündete, wie furchtbar ihr Verlust sein müsse. Dabei ahnte er noch nicht einmal, wie tief das Loch tatsächlich war, das sich vor Marie-Louise aufgetan hatte.

Kaum ließ er ihre Hand los, fuhr seine an seinen Kragen und rückte die schicke schwarz-weiße Krawatte in die Mitte. Dabei glitzerte die brillantbesetzte Krawattennadel auf. Immer korrekt, immer schnieke, der Mann. Sie mochte ihn nicht, obwohl er zugegebenermaßen ein kluger Kopf war. Wenn ein hoffnungsloser Fall eine neue Chance bekommen sollte, dann schaffte Strättges das Wunder.

„Übrigens, das muss ich dir erzählen. Mich hat ein anonymer Anruf erreicht. Ein Mann behauptete, er kenne eine Zeugin, der gegenüber Bosman sich offenbart habe. Ich habe ihn erst mal aufgefordert, Ross und Reiter zu nennen. Er sagte mir daraufhin zu, er werde Rücksprache mit der Zeugin nehmen und die Erlaubnis einholen, ihren Namen und Adresse weiterzugeben. Außerdem sprach er von neuem Beweismaterial, das er beschaffen könne. Der kannte viele Details, die er nur von Bosman selbst oder aus Vernehmungsprotokollen kennen konnte. Ich habe das gecheckt, Akteneinsicht hat nach mir und dem Abschluss der letzten Instanz niemand mehr beantragt und gewährt bekommen. Die Akten sind inzwischen auch unter Verschluss im Staatsarchiv und dort nur mit Sondergenehmigung einsehbar. Auch hier Fehlanzeige. Klingt also zunächst mal seriös und nach einer neuen Spur.“

„Was?“, entfuhr es Marie-Louise. Ihr Gau, ihr größtes Versagen, ihr Desaster, ihr Fiasko, gleich in jungen Jahren. Ihr erster Job, den sie versaut hatte.

Das Blut sackte aus ihrem Kopf in Richtung Füße, ihr wurde schwindelig.

***

Da hatte ihr Schwager erst die Welt um sich herum vergessen, zuletzt das Atmen, und lag gerade unter der Erde, da pumpte dieser Tungara-Frosch schon seine Schallblasen auf, um im Teich des Verblichenen Balzrufe auszusenden. Oder traf herumzuquaken es besser?

Ob es eigentlich genauso hübsch knallte, wenn man mit Pfennigabsätzen auf einen aufgeblasenen Frosch trat, wie wenn man mit dem spitzen Fingernagel in ein Luftpolsterkissen stach? Fragen über Fragen, die Marte Campferbrinck wie lästige Mücken ansteuerten, seit sie Strättges erspäht hatte, der auf ihre Schwester einredete. Ein possierliches kleines Männlein in knapp sitzendem, dreiteiligem Konfirmationsanzug, bei dem die Weste offenbar die Funktion eines Korsetts übernommen hatte, um die Primitivo-Pasta-Plauze zu kaschieren, die es über die Jahre kultiviert hatte. Und wie es sich spreizte und dehnte, den Rücken durchdrückte, das Männlein, um die ganzen ein Meter sechzig und ein paar zur Geltung zu bringen. Lächerlich. Vermutlich trug Strättges auch Einlagen.

Kleine Männer waren ihr ein Gräuel. Und der Fußpilz der Schöpfung waren kleine Strafverteidiger. Schon während ihres Studiums in Köln und Münster hatte sie – gewissermaßen im Nebenfach und gänzlich unfreiwillig – Freilandstudien über die Akademisierung der Durchschnittlichkeit des Homo sapiens betrieben. Sie war zu dem Ergebnis gelangt, dass das Strafrecht in seiner intellektuellen Übersichtlichkeit Kommilitonen mit Veranlagung zur Hirnstarre begünstigte – unter großzügigem Ausschluss ihrer Schwester Marie-Louise als Ausnahme von der Regel. Bei Strättges war dieses Phänomen sicher inzwischen ausgeprägter als im Endstadium der Demenz ihres Schwagers, der noch sabbernd Haltung und Würde ausgestrahlt hatte.

Es war ein Jammer, wie das Leben mit diesem brillanten Geist umgesprungen war. Und nun saß er noch nicht ganz auf seiner Wolke, da musste er mit anschauen, wie sein „Freund“ Strättges sich mit ausladenden Gesten um seine Mary Lou bemühte, die plötzlich unangenehm berührt wirkte.

Dem Spuk würde sie jetzt Herold zuliebe ein Ende bereiten, zumal sie noch eine Rechnung mit Strättges offen hatte. Gut war Marte seine Bemerkung in Erinnerung, dass sie in ihrer schwarzen Robe mit dem Samtkragen aussähe wie eine altersschwache Fledermaus, die nicht mehr fliegen könne. Ihr Beisitzer, eine Blitzbirne mit Veranlagung fürs Strafrecht, hatte ihr davon – vordergründig empört, jedoch verräterisch grinsend – berichtet. Sie hatte die Bemerkung mit einem sibyllinischen Lächeln quittiert und ihrem geschwätzigen Kollegen bei nächst passender Gelegenheit den Steigbügel gehalten, damit er den Vorsitz in dem Zivilsenat übernehmen konnte, der sich vorwiegend mit Streitigkeiten über die außervertragliche Haftung von Trägern der öffentlichen Gewalt wegen Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht sowie der Wiedergutmachung für Bergschäden befasst. Da konnte er in der Rechtsfortbildung nicht allzu viel anrichten. Im Übrigen waren in den dort zu verhandelnden Fällen die Schäden ja bereits eingetreten.

Ob Strättges wusste, dass Tungara-Frösche auf dem Speiseplan der gemeinen Fledermaus standen, besonders jene Angeber-Exemplare, die mit ihrer Schallblase besonders viel heiße Luft produzierten? Sie machten Wellen im Teich, wodurch auch altersschwache Fledermäuse noch lange ihre Peilung aufnehmen konnten.

Schon flatterte Marte Campferbrinck los – ohne Robe, aber in einem neuen, schwarzen Kostüm, in dem sie auch nicht mehr hermachte. Sie war immer noch die hochgewachsene, hagere Frau, die in der Pubertät dem Pummelchen, in dem sie ursprünglich gesteckt hatte, entwachsen war. Die Wechseljahre hatten ihr nicht die fehlenden Pfunde für die fehlenden weiblichen Rundungen gebracht, aber eine fehlende Taille und Cellulitis an den Oberschenkeln. Sie nahm es sportlich und erfreute sich an ihrem fehlenden Hängebusen. Wo nichts war, konnte auch nichts dem Gesetz der Schwerkraft folgen.

„Michael Strättges, dich habe ich ja schon lange nicht mehr persönlich übersehen. Hoch an Jahren bist du geworden. Formidabel! Las ich doch, dass es deinem Berufsstand früh an den Kragen geht. Best before 57 ½, richtig? Wie bedauerlich. Andererseits, die jungen, hungrigen Kräfte drängen ja in hoher Zahl nach.“

Strättges schnaubte wie ein genervter Gaul.

„Ach, verehrte Frau Doktor Campferbrinck, ich bin entzückt, dass stellvertretende Aushängeschild des Oberlandesgerichts Düsseldorf anzutreffen, wenn auch der Anlass ein trauriger ist. Ich war ja völlig perplex, dass der Justizminister dich nach dem Ausscheiden von Clausener bei der Nachfolge für das Präsidentenamt übergangen hat.“

Dieser kleine Wichtel wusste um ihren wunden Punkt, wenn er ihn auch zehn Jahre und einen Nachfolger zu spät traf. „Günther, unser geschätzter Justizminister, war auch ganz perplex, von meinem geplanten Ausscheiden aus dem Richteramt und Wechsel in den Vorstand der Alwin Knapp von Dielen und Lautburg-Stiftung zu erfahren.“

„Ach.“ Strättges wirkte auf interessierte Weise überrascht.

Marie-Louise war während des Geplänkels von einem Fuß auf den anderen getreten, was Marte durchaus bemerkt hatte. Sie nahm ihre Schwester beiseite und überließ Strättges seinem Staunen. „Meine Liebe, wenn du austreten musst, begleite ich dich gerne. Nur weg von diesem Mann.“

„Du hast uns unterbrochen. Und eure Giftpfeile, könnt ihr die nicht ein anderes Mal aufeinander abfeuern? Muss das ausgerechnet heute sein?“

„Nein, natürlich nicht. Entschuldige bitte.“

„Wobei habe ich euch denn unterbrochen?“ Ihr Gewissen regte sich nicht allzu lange.

„Wir sprachen über den Fall Bosman.“

„Bitte?“, zischte sie. Der Name Bosman war in ihrem Wortschatz als Synonym für Schmähung zersetzenden Ausmaßes abgelegt. Alles, wo Bosman draufstand, drin war, was mit Bosman in Verbindung stand oder auch nur vorgab, damit etwas zu tun zu haben, war böse. Bosman war das erste und letzte große Ermittlungsverfahren ihrer Schwester, als sie frisch von der Uni in der Abteilung für Kapital- und Leichensachen gelandet war. Und prompt wurde sie mit dem Doppelmord an den Kindern Susanne und Claudia Bosman konfrontiert. Keine Sekunde hatte sie an die Täterschaft von Heidrun Bosman, der Mutter der beiden Mädchen, geglaubt. Beinahe besessen hatte sie die Täterschaft des Vaters nachweisen wollen, wurde dann aber nach einem Aufstand der ermittelnden Polizeibeamten abgesetzt. Verwunden hatte sie das nie und schließlich der Staatsanwaltschaft ganz den Rücken gekehrt. Ihr semi-erfolgreicher Nachfolger war heute Leitender Oberstaatsanwalt – ein Schattenparker mit schlaffem Händedruck, aber bestens vernetzt.

„Roland Bosman soll ein Geständnis vor Zeugen abgelegt haben. Ich hatte also doch recht.“ Marie-Louise wirkte wie ein jugendlicher Trotzkopf, dessen sich endlich jemand erbarmt hatte, die Funktionsweise einer Klinke zu erklären, damit er nicht länger versuchte, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.

„Und du findest es taktvoller, dir das heute unter die Nase zu reiben?“

„Ich finde das tröstlich.“

„Dass deine damaligen Kollegen Dilettanten waren und einen Mörder nicht unter Anklage gestellt haben?“

„Nein. Dass ich mich nicht geirrt habe.“

„Dass der Bosman inzwischen aktenkundig ballaballa ist und vielleicht nur wirr vor sich hin fabuliert hat, ziehst du aber schon noch ins Kalkül, nicht?“

„Warum sollen Bekloppte immer lügen?“

„Weil sie bekloppt sind?“

„Marte, deine Argumentationsketten waren schon mal schlüssiger.“

„Das mag sein. Aber was willst du jetzt tun?“

„Strättges hat mir angeboten, ihn bei der Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens zu unterstützen.“

„Noch eins? Er ist doch bereits grandios gescheitert. Wie oft will er sich das noch geben? Und kommt die Bosman nicht sowieso demnächst raus? Sie müsste die Strafe doch längst abgesessen haben.“

„Mulders heißt sie wieder seit der Scheidung. Und nein, es ist auf besondere Schwere der Schuld erkannt worden.“

„Marie-Louise, ich bitte dich inständig, lass es. Das wird dir nicht guttun.“

„Danke für deine Fürsorge. Aber das entscheide ich.“

Marte wusste, dass ihre Schwester Feuer gefangen hatte und nicht mehr zu stoppen war. Nur noch aus Interesse fragte sie nach: „Was macht dich nur so sicher, dass sie es nicht war?“

„Lies dir bloß mal das Wuppertaler Urteil durch, das nach der Wiederaufnahme, dem Freispruch, der Revision und Rückverweisung durch den Bundesgerichtshof nach wie vor Bestand hat, dann wirst selbst du dir an den Kopf fassen.“

Was? Wie? Wollte ihre Schwester sie gerade in etwas hineinquatschen?

„Dazu habe ich keine Zeit, meine Liebe. Morgen früh steige ich in meinen Zug und kehre zurück in mein Leben. Da stehen genug Veränderungen an. Sorry, keine freie Frequenz für Heidrun Mulders.“

„Genau. Morgen, meine Liebe, morgen. Und bevor du dich um die Dielen des Alwin von und zu Lautburg kümmerst, hat Strättges noch einiges zu berichten. Und das hörst du dir jetzt an.“

Ehe Marte sich versah, hatte ihre Schwester sich untergehakt und zerrte sie zu dem Männlein im Konfirmationsanzug, das mit der linken Hand ein Lachshäppchen vom Tablett angelte, hastig in sich hineinstopfte und mit der rechten das fest umklammerte Glas Rotwein zum Nachspülen an den Mund führte.

Na, denn Prost, dachte Marte Campferbrinck.

Kapitel 2

2010

Marie-Louise war über sich selbst verblüfft, wie schnell das abgrundtiefe Elend in der Senke verschwunden war, das der Tod ihres Mannes in ihr ausgelöst hatte. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen. Aber nur fast. Seit Jahren hatte sie gewusst, was auf sie zukam. Hatte Nächte mit sich gerungen, wie sie das langsame Verschwinden von Herold ertragen sollte. Irgendwann war ihr Selbstmitleid abgelöst worden von dem Mitleid, ihn so zu sehen. Ihn leiden zu sehen, als er nicht mehr allein essen konnte, Infusionskatheter die Venen in seinem Arm entzündeten und er zum Schluss Windeln tragen musste. Bei klarem Bewusstsein hätte ihr stolzer Mann das nicht über sich ergehen lassen. Doch sie war zu schwach für eine solche Entscheidung in seinem Namen gewesen.

Der lange Abschied Herolds aus allen Rollen, die er in ihrem Leben gespielt hatte, als Liebhaber, Partner, Vater ihres Sohnes, war einhergegangen mit ihrem eigenen Abschied aus all diesen Rollen. Am Ende befiel sie die Furcht, dass von ihr nur der Restmensch übrig geblieben war, der sich im und mit dem Erhalt seiner Vitalfunktionen erschöpfte. Was geblieben war, war die Angst vor der Einsamkeit, vor dem Nicht-mehr-gebraucht-Werden, vor der Sinnlosigkeit und Leere eines Lebens ohne ihn.

Sie war Strättges dankbar, dass er sie zumindest im Moment davor gerettet hatte. Marte allerdings würde das niemals sein, sie konnte den kleinen Mann nicht ausstehen und ließ ihn das auch ausgiebig spüren. Wenigstens hatte sie wegen ihr eingelenkt und sich bereit gezeigt, halbwegs vernünftig mit ihm zu reden. Ein Fortschritt, der nur Marie-Louises Trauer zu verdanken war.

Ihr wurde ganz anders bei der Vorstellung, dass Marte in Kürze in ihre Wohnung nach Düsseldorf heimkehren würde und sie allein zurückließ. Zumal Marte dort ebenfalls nur Einsamkeit erwartete. Ob ihr das noch nicht klar war? Nächste Woche sollte sie verabschiedet werden, mit allem Pomp. Aber auch der änderte nichts daran, dass ihr Lieblingslebensabschnittspartner, wie sie scherzhaft ihren Beruf nannte, von jetzt auf gleich verschwunden sein würde. Sie würde nicht mehr auf der Richterbank thronen und ihre geballte Erfahrung, ihr imponierendes Fachwissen an Anwälten oder Beisitzern auslassen können.

Marie-Louise holte tief Luft. Manchmal hatte sie sich ernsthaft gefragt, ob sie tatsächlich von den gleichen Eltern abstammten. Unterschiedlicher konnten Schwestern kaum sein. Wirklich verblüfft hatte sie allerdings gestern Abend Martes Geständnis – anders konnte man das nicht nennen, kam es doch völlig unvorbereitet, als endlich alle Trauergäste verschwunden waren. Marte, ihre Schwester Marte, gefürchteter Senatsdrache des OLG und über den Gerichtsbezirk hinaus bekannter Referendarsschreck, hatte sich in einen Mehrgenerationen-Öko-Hof nahe Düsseldorf eingekauft. Die armen anderen WG-Mitglieder. Ob sie ahnten, was auf sie zukam? Sicherlich nicht, sonst hätten sie den Hof in einen Öko-Hof ohne Generation 60 plus umgewandelt.

Nein, sie wollte nicht so hart über ihre Schwester urteilen. Immer wenn sie sie gebraucht hatte, war sie da gewesen. Und das war ziemlich einseitig gewesen. Marte war nie eine Schönheit und hatte das mit Fleiß und Disziplin kompensiert. Wenn sie nicht die Schönste sein konnte, wollte sie wenigstens die Beste sein. Liebeskummer schien sie nicht zu kennen. Ihre Affären hatte sie stets vor dem Frühstück verabschiedet. Sie wollte sich an niemanden gewöhnen; hasste Erwartungshaltungen, in deren Zentrum sie stand; glaubte nicht an eine Bestimmung füreinander und sah in Beziehungsarbeit die fortgesetzte Buße eines Auswahlverschuldens. Da war Marie-Louise bisher als Schulter, an der Marte sich hätte ausheulen wollen, nicht gebraucht worden. Ob sich das ändern würde, wenn ihr nur die Stiftungsarbeit und ihre neue Rolle als Teilzeit-Bäuerin blieb? Marie-Louise konnte sich ihre Schwester so gar nicht in Latzhose und Gummistiefeln mit Forke in der Hand vorstellen. Kannte sie Marte so wenig? Oder kannte ihre Schwester sich selbst so wenig?

Nun denn, wenigstens einen weiteren Tag Beistand hatte Marte ihr versprochen, nachdem sie von Michael Strättges die ganze Geschichte über Bosmans angebliches Geständnis gehört hatte.

Schon um acht hatte Strättges angerufen und ihnen mitgeteilt, dass Heidrun Mulders sie heute Nachmittag in der Justizvollzugsanstalt Willich II empfangen würde.

Kapitel 3

2010

Als wäre diese zarte Frau für irgendjemand anders als sich selbst eine Gefahr, hatte die Gefängnisverwaltung auf einen Trennscheibenbesuch bestanden. Das würde ihnen das Gespräch nicht gerade vereinfachen.

Umrahmt von der blau gestrichenen Fensterlaibung saß Heidrun Mulders, geschiedene Bosman, wie eine leblose Puppe vor ihnen. Tiefe Zornesfalten teilten ihr Gesicht in zwei Hälften. Dabei strahlte sie Demut aus, die ebenso wenig zu dem hellen Trauerschnäppereierblau ihrer Augen passte wie die Zornesfalten. Diese eisigen Augen waren es, die sie, verpackt in die obligatorische Gefängniskleidung aus Jeans mit Gummizug und waschgrauem Pullover, ausmachten. Die Züge verwaschen, dabei hübsch. Dieses Gesicht, diese Augen hatten den Mob in Krefeld vor dem Gerichtsgebäude zum Toben gebracht, hatten ihn „Hängt sie auf, dieses Tommy-Flittchen!“ im Chor brüllen lassen. Nun saß sie also vor ihnen, dreiundzwanzig Jahre nach der Ermordung ihrer beiden Töchter. Für die sie verurteilt worden war, obwohl sie ihren Mann der Tat bezichtigt hatte. Durch drei Instanzen und ein Wiederaufnahmeverfahren – einmalig in der deutschen Rechtsgeschichte.

Ihr Haar war länger als Marie-Louise in Erinnerung hatte. Mit merkwürdig hoher, fast gläserner Stimme gab sie nur kurze Antworten, meistens jedoch antwortete sie nur mit der Bewegung ihres Kopfes, mal rauf und runter, mal nach links und rechts. Die Information, dass Roland Bosman den Doppelmord gegenüber Zeugen, die zur Aussage bereit waren, gestanden haben solle, führte zu keinem Nicken oder Schütteln des Kopfes. Zu überhaupt keiner merklichen Regung oder gar einem Gefühlsausbruch.

Doch Marte ließ nicht locker. Marie-Louise tat Heidrun Mulders fast leid.

„Wie alt waren Ihre Töchter, als sie ermordet wurden? Sechs und acht? Wie alt wären Ihre Töchter jetzt?“

„31 und 29.“

„Und Sie sind jetzt 59 Jahre alt, richtig?“

„Ja.“

„Statistisch liegt nur noch das letzte Lebensviertel vor Ihnen. Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie für Klarheit sorgen, wer Ihren Töchtern die Erfahrung von erster Verliebtheit, Liebeskummer, Sexualität, Mutterschaft vorenthalten hat? Bald wird Ihnen vielleicht die Kraft dazu fehlen. Und ein weiteres Bald später sind Sie tot.“

Marte belauerte Heidrun Mulders regelrecht. Die starrte stumm auf den Boden.

„Haben Sie mich verstanden?“, fasste Marte harsch nach.

„Ja.“

„Würden Sie also bitte meine Frage beantworten.“

„Es ist doch klar.“

„Geht es auch in zwei Sätzen?“ Marte wurde ungeduldig.

„Bitte?“ Heidrun Mulders wirkte abwesend.

„Was ist klar?“

„Meine Töchter und ich wissen, dass ich Ihnen das Leben nicht genommen habe.“

„Und das reicht Ihnen? Sie wollen nicht, dass Gerechtigkeit hergestellt und der wahre Täter zur Rechenschaft gezogen wird?“

„Gerechtigkeit. Was soll das jetzt noch sein?“

„Dass Ihr geschiedener Mann vor Gericht gestellt und für das, was er getan hat, abgeurteilt wird.“

Heidrun Mulders schwieg. Marte schüttelte den Kopf.

Angespannt hatte Marie-Louise die Befragung, die eher einem Verhör glich, verfolgt. Vor sich sah sie zwei völlig desillusionierte Menschen, die trotz der gleichen Gemütslage keine gemeinsame Basis fanden. Die Abgeurteilte hatte den Glauben an den Rechtsstaat und ihre Schwester an Heidrun Mulders als hilfebedürftiges Opfer aufgegeben, der bei Marte ohnehin schwach ausgeprägt war.

„Was ist los mit Ihnen? Sie müssten doch Genugtuung empfinden.“

„Genugtuung?“, wiederholte Heidrun Mulders lahm.

„Ja, eine innere Befriedigung, dass Ihre Unschuld endlich festgestellt werden kann.“

„Meine Kinder bleiben tot. Und das ist meine Schuld.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Marte scharf nach.

„Ich war nicht da.“

Zum ersten Mal hob Heidrun Mulders ihren Blick und schaute Marte an.

Und dann zuckte sie wieder nur mit den Schultern. Marte verfiel in ein undurchdringliches Schweigen, das sie erst aufgab, als die Gefängnistore sich hinter ihr, Strättges und Marie-Louise geschlossen hatten.

„Tja, damit hat sich die Sache wohl erledigt. Ob nun gefühlte oder tatsächliche Schuld, Heidrun Mulders sitzt nach eigener Auffassung zu Recht ein. Belassen wir es dabei.“

„Auf gar keinen Fall!“, protestierte Marie-Louise, „Ihre Skepsis muss man doch verstehen. Sie hat das schon einmal alles durchgemacht und am Ende verloren. Geben wir ihr die Zeit, die Neuigkeiten sacken zu lassen.“

Strättges, der sich eine Zigarette angezündet und einen tiefen Zug getan hatte, nickte. „Ich spreche morgen noch mal mit ihr. Sie ist nicht der spontanste Mensch.“

„Ach“, hatte Marte Strättges’ Feststellung kommentiert.

 

Den ganzen Abend konnte sich Marie-Louise nicht beruhigen. Dieses Lamm. Dieses vergeudete Leben. Für was opferte sich Heidrun Mulders? Hatte sie tatsächlich aufgegeben, resigniert? Das durfte nicht sein.

„Wenn wir unbedingt darüber reden müssen, dann hilf mir wenigstens auf die Sprünge, wie das damals genau war“, fragte ihre Schwester irgendwann genervt.