Leseprobe Schwarzer Abgrund

Prolog

Wie friedlich sie schlafen. Als ob sie nichts zu befürchten haben.

Sie haben ja keine Ahnung.

Im Gegensatz zu ihnen bin ich hellwach. Ich beobachte sie. Ruhig und geduldig warte ich auf einen günstigen Moment. Und dann, wenn niemand damit rechnet, werde ich zuschlagen.

Dieser Moment ist nah. Ich kann es spüren.

Sie wähnen sich in trügerischer Sicherheit. Wahrscheinlich haben sie noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen wegen dem, was sie mir angetan haben, oder bereits alles wieder vergessen. Aber ich habe nichts vergessen. Gar nichts. Die Kränkung sitzt tief, und meine Gedanken kreisen ständig darum.

Doch bald werde ich Gelegenheit haben, es ihnen heimzuzahlen.

Ich lächle.

Schlaft weiter und träumt noch schön von eurem Urlaub. Denn wenn ihr morgen aufwacht, werdet ihr feststellen, dass ihr einen Ausflug in die Hölle gemacht habt!

1

17 Stunden früher …

Warum, zum Teufel, war ich gestern nur so spät ins Bett gegangen?

Völlig übermüdet stand ich in der zugigen Halle des Münchner Hauptbahnhofs und klammerte mich an meinen Coffee-to-go-Becher. Die Uhr zeigte 7.13 Uhr am Morgen, und zum wiederholten Male fragte ich mich, weshalb ich gestern so lange aufgeblieben war, nur um auf Instagram zu chatten.

Trotz der frühen Stunde herrschte in der Halle des Fern- und Regionalverkehrs bereits ein reges Treiben. Wichtig aussehende Business-Typen mit Anzug und Krawatte eilten an weniger wichtig aussehenden Normalos vorbei, die, genauso müde wie ich, über den Bahnsteig schlichen.

Wie konnte man nur in der Früh schon so rumstressen?, wunderte ich mich und schüttelte über die Anzugträger verständnislos den Kopf.

Ich hatte für diese Art von Menschen, die nur ihre Karriere im Sinn hatten, nicht viel übrig. Allein die Vorstellung, den ganzen Tag in einem stickigen Büro verbringen zu müssen, raubte mir die Luft zum Atmen und würde für mich niemals in Betracht kommen. Nachdem ich letztes Jahr in den Sommerferien für zwei Wochen in einem Tierheim gejobbt und dabei einen Tierarzt unterstützt hatte, stand für mich mein Berufswunsch fest. Wenn ich nächstes Jahr mein Abi in der Tasche hatte, wollte ich mich an der Uni für Tiermedizin einschreiben. Doch das lag noch in weiter Ferne, und jetzt war erst einmal Urlaub angesagt.

Ich trank einen Schluck von meinem Latte macchiato, in der verzweifelten Hoffnung, dass das Koffein endlich die ersehnte Wirkung tun würde. Wie bescheuert musste man eigentlich sein, ausgerechnet in den Sommerferien um diese Uhrzeit aufzustehen? Und noch dazu an einem Montag!

Ich sah zu meiner besten Freundin Pia hinüber, die vor einem Kiosk stand und schuld an dem Ganzen war. Sie blätterte gerade durch einen Stapel Magazine und strich sich mit einer anmutigen Bewegung ihre langen blonden Haare aus dem Gesicht. Ich fragte mich, wie sie es sogar zu dieser frühen Morgenstunde schaffte, so gut auszusehen. Während meine schulterlangen braunen Haare in alle Himmelsrichtungen zu stehen schienen und mein Gesicht aufgrund des Schlafmangels müde und ausgelaugt wirken musste, war sie genauso hübsch wie jeden Tag. Pia hatte sich dezent geschminkt, was ihre großen smaragdgrünen Augen noch mehr betonte. Zu ihrer khakifarbenen Hose trug sie ein hautenges, dunkelrotes Top, und ich musste neidvoll zusehen, wie sich Männer öfter nach ihr umdrehten und ihr bewundernde Blicke zuwarfen.

Pia hatte schon immer alle Augen auf sich gezogen, und manchmal kam ich mir neben ihr wie ein hässliches Entlein vor; wenngleich ich definitiv nicht hässlich war. Deine Schönheit kommt von innen, pflegte Pia mir immer zu sagen, wenn ich ihr meinen Neid auf ihr Aussehen gestand. Mochte sein, dass sie damit recht hatte, aber das war trotzdem nicht sonderlich hilfreich, wenn es um die wirklich angesagten Jungs ging.

Ein Junge war auch der Grund dafür, warum ich jetzt in aller Frühe auf dem Bahnsteig stand und auf einen Regionalzug wartete.

Pia bezahlte und kam mit ein paar Hochglanz-Modezeitschriften in der Hand zurück.

„Damit sollte ich erst mal versorgt sein“, meinte sie. „Obwohl ich wahrscheinlich eh nicht allzu viel zum Lesen kommen werde.“ Sie zwinkerte mir zweideutig zu und warf einen Blick auf ihre Uhr. „Robbie sollte mal langsam auftauchen. Wir waren bereits vor zehn Minuten verabredet.“

„Er kommt bestimmt gleich“, meinte ich zuversichtlich, obwohl ich Unpünktlichkeit nicht ausstehen konnte. „Du kennst ihn ja, er trödelt immer.“

„Schon klar, aber unser Zug geht in einer Viertelstunde.“

„Ich wette mit dir, dass er genau fünf Minuten vor Abfahrt auftaucht.“ Grinsend streckte ich ihr die Hand entgegen. „Um einen Latte macchiato mit einem Croissant.“

Pia lachte und schlug ein. „Okay, abgemacht. Ich halte dagegen.“

Während sie die Modemagazine in ihrem Rucksack verstaute, sah ich zu den wartenden Zügen hinüber und dachte an unseren bevorstehenden Urlaub. Einen Urlaub, der so nicht geplant war, denn ursprünglich hatte Pia mit Robert allein wegfahren wollen. Pias Onkel besaß eine Hütte in den Bergen, weit abseits der üblichen Touristengebiete, und sie wollte dort zusammen mit ihrem neuen Freund eine Woche in trauter Zweisamkeit verbringen. Sie war erst seit ein paar Wochen mit Robert zusammen, einem sportlichen Jungen mit etwas längeren schwarzen Haaren, der in die Jahrgangsstufe über uns gegangen war und dieses Jahr sein Abi gemacht hatte. Auch wenn er so seine Macken hatte, war er doch ein netter Kerl, ich kam gut mit ihm klar. Er war jemand, der sein Leben in vollen Zügen genoss und dabei nichts anbrennen ließ. Wahrscheinlich hatten Pias Eltern ihren Urlaubsplänen von der Zweisamkeit genau deshalb einen Strich durch die Rechnung gemacht und sie vor die Wahl gestellt: Entweder sie nahm noch eine Freundin mit, oder sie blieb daheim.

Und so hatte Pia mich dazu überredet, mitzukommen.

Eigentlich musste sie mich gar nicht groß dazu überreden, denn ein Urlaub in der Einsamkeit der Berge war genau das, was ich momentan brauchte. Noch nie in meinem Leben hatte ich so dringend weggewollt; weg aus meinem Alltag und vor allem fort von der Erinnerung an vor drei Wochen, als ich das Gefühl gehabt hatte, die Welt würde über mir einstürzen. Es schmerzte noch immer, wenn ich daran zurückdachte, und ich fragte mich, ob es wohl jemals besser werden würde. Schnell verdrängte ich den Gedanken wieder.

Pia war froh, dass ich sie nicht im Stich ließ. Damit ich mir dabei jedoch nicht wie das dritte Rad am Wagen vorkam, hatte ich darauf bestanden, dass noch ein Vierter mitkam. Meine Eltern hatten schon länger überlegt, zur Abwechslung mal allein in den Urlaub zu fahren, daher tat ich ihnen den Gefallen und fragte meinen Bruder Florian, ob er Lust hätte, uns zu begleiten. Ich musste ihn nicht zweimal fragen, er war sofort hellauf begeistert.

Florian war zwei Jahre jünger als ich, überragte mich jedoch bereits um einen ganzen Kopf. Mit unseren braunen lockigen Haaren sahen wir uns nicht nur äußerlich recht ähnlich, wir verstanden uns auch so ziemlich gut – von ein paar kleineren Reibereien mal abgesehen.

„Wann fährt unser Zug noch mal ab?“, wollte eine Stimme hinter mir wissen und riss mich aus meiner Grübelei.

Ich drehte mich zu meinem Bruder um, der auf seinem Rucksack am Boden saß und in ein Spiel auf seinem Handy vertieft war.

„Um halb acht.“

Florian hämmerte wie wild auf den Touchscreen seines Smartphones ein.

„Mist“, fluchte er, als eine Melodie signalisierte, dass er das Spiel verloren hatte. Er verzog die Mundwinkel und steckte das Handy in seine Hosentasche. „Halb acht?“, wiederholte er und sah zu der großen Bahnhofsuhr hinüber. „Dann wird’s aber langsam eng.“

„Keine Panik“, beruhigte ich ihn. „Robert kommt schon noch.“ Dabei wurde ich selber langsam nervös.

Er schnitt eine Grimasse, und hinter seiner Brille mit den dicken Gläsern blitzten zwei haselnussbraune, lebenslustige Augen auf. „Ich und Panik? Hallo, ich bin ja wohl die Gechilltheit in Person. Du bist das Nervenbündel.“

„Ach tatsächlich?“ Ich strich ihm über seinen Wuschelkopf, weil ich wusste, dass er das gar nicht mochte, und er versuchte vergeblich, mich mit seinen Händen abzuwehren.

„Warte nur, bis wir auf der Hütte sind“, drohte er mir lachend. „Da bist du mir und meiner Rache hoffnungslos ausgeliefert. Pass auf deine Haare auf.“

„Das werden wir ja sehen, wer ruhig schlafen kann“, konterte ich und grinste. Dabei wurde ich innerlich immer unruhiger. Was, wenn Robert es tatsächlich nicht mehr rechtzeitig schaffen würde? Der nächste Zug fuhr erst wieder in zwei Stunden, doch ich wollte keine Sekunde länger als nötig hierbleiben. Die kommende Woche war für mich nicht nur Urlaub, sondern vielmehr eine Flucht; eine Flucht vor meinem Ex.

 Ich trank meinen Latte macchiato aus und streckte mich, um den letzten Rest meiner Morgenmüdigkeit loszuwerden. Die Halle um uns herum füllte sich mit noch mehr Reisenden. Von Robert noch immer keine Spur. Plötzlich stockte ich, als ich ein bekanntes Gesicht in der Menge erblickte.

Timo?, dachte ich erstaunt.

Timo stand bei einer Gruppe mir unbekannter Jugendlicher, die sich mit ihrem Gepäck unter der Abfahrtsanzeige gesammelt hatte. Er war ein großgewachsener junger Mann, der mich mit seinen schulterlangen blonden Haaren und dem braungebrannten Gesicht an einen dieser Surfertypen aus Kalifornien erinnerte.

Ich stieß Pia an. „Schau mal, wer da drüben ist.“

„Oh nein“, meinte sie nur. „Was will der denn hier?“

In der nächsten Sekunde drehte Timo seinen Kopf und sah in unsere Richtung. Er entdeckte uns und lächelte. Mit den Händen lässig in den Hosentaschen kam er zu uns herüber geschlendert.

„Hi“, sagte er. „Na, was geht?“

„Hi, Timo“, antwortete ich und versuchte, in seiner Nähe nicht wie immer rot zu werden, während Pia ihn lediglich mit einem Kopfnicken grüßte. Ich glaube, sie war nicht gerade erbaut darüber, ausgerechnet hier auf ihren Ex-Freund zu treffen.

Timo deutete auf unsere Rucksäcke. „Wo geht’s denn hin?“

„Wir fahren für ein paar Tage zum Wandern in die Berge.“

„Echt? Wollt ihr zelten?“

„Nein, wir sind zu einer Hütte unterwegs.“

„Cool.“

„Und du?“

„Ich fahr mit meinen Kumpels nach Italien an den Strand.“ Er nickte in die Richtung der Gruppe unter der Abfahrtsanzeige. „Nach dem ganzen Abistress wollen wir mal so richtig die Sau rauslassen.“

„Gratuliere dir übrigens zum bestandenen Abi.“

„Danke.“ Er strahlte uns an. Sein Lächeln war immer noch umwerfend. „Ist schon ein Wahnsinnsgefühl, endlich die Schule hinter sich zu haben.“

„Das glaub ich dir“, seufzte ich. „Ich kann es kaum abwarten, bis es bei mir endlich so weit ist.“

„Ist doch nur noch ein Jahr.“

„Nur?“ Entgeistert starrte ich ihn an.

Er lachte. „Glaub mir, das Jahr ist schneller rum, als du denkst. Am Schluss bist du so mit Lernen beschäftigt, dass du für gar nichts anderes mehr Zeit hast.“

„Na, hoffentlich nicht. Ich komm ja jetzt schon nicht mehr mit dem Stoff nach.“

Pia hielt sich zwar aus dem Gespräch raus, nickte jedoch zustimmend.

„Ihr packt das schon. Und ich freu mich jetzt erst mal auf bella Italia.“ Verträumt rollte er mit den Augen. „Wird bestimmt ein Riesenspaß.“

Ja, dachte ich, Spaß hatte Timo immer. Und offenbar war er auch darüber hinweg, dass Pia mit ihm Schluss gemacht hatte.

Ich bemerkte, dass seine Kumpels sich bereit machten, aufzubrechen. Sie schulterten ihr Gepäck und blickten sich um.

„Oh, sorry“, sagte Timo, „ich muss leider los. Ich wünsch euch auf alle Fälle einen richtig geilen Urlaub. Erholt euch gut, und vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“

„Dir auch eine schöne Zeit in Italien“, erwiderte ich, während Pia nur ein schwaches Lächeln zustande brachte.

Timo eilte zu seiner Gruppe zurück, schnappte sich sein Gepäck und folgte den anderen auf den Bahnsteig.

„Alles okay?“, fragte ich an Pia gewandt.

„Klar“, antwortete sie. „Wieso?“

„Nun ja …“

„Du meinst wegen Timo?“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Über den bin ich längst hinweg. Ich bin mittlerweile mit Robbie zusammen, schon vergessen?“

Ja, dachte ich, Pia war über Timo hinweg. Wenn ich doch nur dasselbe von Mark behaupten könnte.

Pia drehte mir den Rücken zu und kramte in ihrem Rucksack nach ihrem Smartphone. „Wo bleibt Robbie nur? Ich ruf ihn lieber mal an.“

Mein Blick schweifte durch die Halle. Wenn er jetzt nicht langsam kam, würden wir alle unseren Zug verpassen.

Im nächsten Moment entdeckte ich Robert, der die Rolltreppe von der S-Bahn hochfuhr.

Da kommt er ja endlich, dachte ich.

Doch jemand anderer zog meine Aufmerksamkeit auf sich, und ich musste zweimal hinschauen, um sicherzugehen, dass ich mich nicht irrte. Doch es bestand kein Zweifel.

Robert war nicht allein.