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Ich hielt ihn für einen Pfarrer.
Nicht weil er schöne Hände hatte oder sein Hemd bis oben hin zugeknöpft war. Auch nicht, weil er einen äußerst gepflegten Haarschnitt trug, der zu seinen grauen Augen passte, oder weil er sehr aufrecht in seinem Rollstuhl saß und sein Schicksal mit beispielhafter Würde trug. Nein: Ich hielt ihn für einen Pfarrer, weil er sein Weinglas zum Trinken mit beiden Händen zum Mund führte. Mit der rechten Hand griff er nach dem Stiel, die Fingerspitzen der linken legte er seitlich an den Kelch, führte das Glas mit einer einzigen Bewegung an die Lippen und trank. Er trank oft und viel, wenn auch langsam, vorsichtig und in kleinen Schlucken.
Das erinnerte mich an den Pfarrer in unserem Dorf. Ich hatte in meiner Kindheit manchen Sonntagvormittag der Messe beigewohnt, und unser Pfarrer pflegte auf dieselbe Weise nach dem goldenen Messkelch zu greifen. Er hob das Ding an, mit beiden Händen, streckte es zunächst von sich weg, hoch über sein Haupt der fremden Macht entgegen, der er verpflichtet war, um es dann zu seinem Mund zu führen und den gesegneten Inhalt auszuschlürfen. Mit unverschämtem Genuss, um nicht zu sagen gierig. In einem Zug bis zur Neige. Sonntag für Sonntag vor versammelter Gemeinde.
Der Mann, den ich an unserem ersten Abend auf der Insel für einen Pfarrer gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein eiskalter Mörder.
Er saß drei Meter von uns entfernt an einem Tisch am Rand des Mittelganges und hatte von seinem Platz aus freie Sicht auf die Tanzfläche. Er ergötzte sich am Anblick der vielen Beine, die mehr oder weniger graziös auf den Brettern herumwirbelten, während seine eigenen Beine reglos unter dem Tisch ruhten.
Zugegeben, zuerst war mir seine Begleiterin aufgefallen. Sie hatte eine blonde Mähne und trug ein rückenfreies Kleid aus grüner Seide. Sie war jünger, mindestens zwanzig Jahre, vielleicht seine Tochter, vielleicht seine Geliebte. Zu jenem Zeitpunkt war mir das egal.
Sie kümmerte sich aufrichtig um den Mann. Sie goss den Wein mit abgeklärter Eleganz in sein Glas, schüttelte ab und zu das Kissen in seinem Rücken zurecht, gab ihm Feuer, wenn er sich eine Zigarette zwischen die Lippen klemmte, oder unterhielt sich mit ihm – soweit das bei dem Lärm möglich war. Ich fand Gefallen an ihren Bewegungen, an ihrem Lachen, an dem schlanken Hals mit der Perlenkette und den Haaren, die schon deshalb auffielen, weil die Haare aller anderen Frauen auf dem Festplatz schwarz waren.
Mein Blick wanderte immer wieder zu den beiden. Seine Ausstrahlung, der Eindruck, den er auf mich machte, war intensiv. Im Gegensatz zu den schmalen Gesten, mit denen er seine Wünsche und seinen Willen zum Ausdruck brachte. Die Frau an seiner Seite verstärkte seine Ausstrahlung mit ihrer umsichtigen und respektvollen Fürsorge.
Sie musste meine Blicke bemerkt, vielleicht sogar gespürt haben. Um Mitternacht schob sie ihn im Rollstuhl an unserem Tisch vorbei Richtung Toilette, verweilte zwei Schritte vor uns, strich sich das Haar aus dem Gesicht, sachte, mit gestreckten Fingern, und musterte, nein, prüfte mich mit verengtem Blick zwei Atemzüge lang.
Er starrte solange auf seine Knie.
Sie schenkte mir zum Abschluss ein Lächeln, ein freies, wenn auch unverbindliches, kühles Lächeln. Gleich darauf wurde ich von ihrem Parfum eingehüllt – es roch wunderbar sinnlich und betörend, wie ein Dunsthauch, der aus einem Kirschgarten herübergeweht kam.
Es war die letzte Augustwoche, entsprechend heiß die Luft. Mein Kumpane, Ralph Näf – der eigentlich Rudolpho hieß, aber von allen Ralph genannt werden wollte –, Ralph und ich waren nach dem Mittag mit der Fähre auf der italienischen Ferieninsel angekommen und hatten sogleich im Hotel Ancora unsere Zimmer bezogen. Wir waren für die Zeit von vierzehn Tagen angereist, in der Absicht, Sonne zu tanken, zu baden, zu lesen, zu faulenzen und gut zu speisen. In wechselnder Reihenfolge. Strandferien halt, eintönig zumeist, trotzdem überaus beliebt.
Weder Ralph noch ich waren jemals zuvor hier gewesen, weder er noch ich hatten Freunde oder Verwandte auf der Insel. Wir waren ehemalige Schulkameraden, Sportsfreunde, Berufskollegen und Saufkumpane, wir wollten die Zeit nutzen, um uns vom Alltag zu erholen und unsere Freundschaft zu pflegen.
Am Hafen sahen wir Plakate hängen, die verkündeten, dass am Abend unserer Ankunft ein Fest stattfände. Nach dem Abendessen begaben wir uns, ermattet von der Reise, zu müde zum Reden und dennoch gut gelaunt, auf den Festplatz, setzten uns an einen freien Tisch und verfielen rasch in das stumme Beobachten der Leute.
Alle, die Schulkinder eingeschlossen, blieben auf den Beinen, solange die Musik spielte. Die Kinder hüpften zu zweit oder alleine vor der Bühne im Scheinwerferlicht auf und ab, in erster Linie Mädchen. Die Jungen spielten lieber Fangen, zwischen den Bänken oder gar unter den Tischen hindurch, verfolgt von einem hochbeinigen Köter. Er hatte ausgefranste Ohren und auf dem Rücken irgendwelche vertrockneten Rückstände in der Farbe vertrockneter Gallseife.
Die Halbwüchsigen flanierten auf dem Pier, verschmolzen mit der Schwärze der Nacht, tauchten wieder auf ins Licht, neckten, küssten oder ignorierten sich. Die jungen Männer tranken Red Bull aus der Dose und rauchten. Die jungen Frauen brüsteten sich mit schmucken Handtaschen, die Tragriemen in den Armbeugen, spielten mit ihren Smartphones oder teilten die Ohrknöpfe der Kopfhörer mit einem der Jungs und lauschten zu zweit derselben Musik.
Vom Meer her, aus der alles verhüllenden Dunkelheit, dröhnte zwei Mal ein Schiffshorn.
In der linken hinteren Bühnenecke spielten fünf Musiker ausnahmslos italienische Schlager, schweißtreibend, übereifrig und laut. Zwei Stunden nach Mitternacht machten sie Schluss. Sie verstauten geschwind ihre Instrumente und mischten sich für ein letztes Glas unter die Gäste.
Danach beruhigten sich die Reihen, lichteten sich, und der Platz wirkte auf einmal kleiner, überschaubarer, gefälliger. Es war Zeit, schlafen zu gehen.
Ich fühlte mich entkräftet von der Flugreise und der Überfahrt mit der Fähre und die ungewohnte Wärme setzte mir zusätzlich zu – kurz: Ich sehnte mich nach einem Liegeplatz wie ein vollgefressener Löwe.
Ralph hatte sich entfernt, eine Weile schon, er kam zurück, drückte mich auf die Bank zurück und tuschelte: „Bitte, bleib ein paar Minuten. Lass mich jetzt nicht alleine warten.“
„Warten auf was?“
Ich brauchte ihn nur anzusehen, da rückte er mit der Begründung heraus: „Ich warte auf Chiara-Sophie, das ist die Kleine, die an unserem Tisch serviert. Ich habe es ihr versprochen“, sagte er und winkte ihr mit der leeren Karaffe.
Ich zog seinen Arm herab und sagte: „Nein, lass mal, ich habe genug getrunken“, und blieb sitzen.
Mir zeigte Chiara-Sophie beim Lachen zu viel Zahnfleisch – was ich selbstverständlich für mich behielt –, er schwärmte dagegen von ihren Augen. Dieser milde, liebevolle Blick; er machte eine fahrige Bewegung mit seiner Hand, dass man hätte meinen können, sie habe seit Urzeit auf ihn gewartet.
Wie, womit oder wann er ihre Zuneigung gewonnen hatte, machte er mir nicht verständlich. Er war im Laufe des Abends bloß zwei-, dreimal ein paar Minuten weg gewesen. Oder hatte ich beim Beobachten der Leute jegliches Zeitgefühl verloren?
Sie war eher klein. Ralph selbst war groß, hatte Zähne wie ein indischer Filmstar und die Haare und die Augen seiner römischen Mutter. Natürlich hatte ich angenommen, dass er auf der Insel nicht lange allein bleiben würde, und doch verblüffte mich diese Geschwindigkeit.
Ich unterdrückte ein Gähnen und sagte: „Verrate mir später, ob sich das Warten gelohnt hat.“
Er lachte: „Heute beginne ich einen neuen Lebensabschnitt. Chiara-Sophie ist genau mein Typ.“
„Hast du ihr das gesagt?“
„Klar.“
Der Mann im Rollstuhl und seine Begleiterin waren inzwischen verschwunden. Ich hatte ihren Aufbruch verpasst. Allmählich verzogen sich die letzten Gäste, und nach einer weiteren halben Stunde schloss der allerletzte Schankplatz. Bis auf vier Zechbrüder, die an den Tischen eingeschlafen waren, zeigte sich kein Mensch mehr auf dem Areal, selbst der Köter hatte sich verdrückt.
Hoch über den Köpfen, von den Balkonen der umliegenden Häuser zu den Laternenpfählen am Kai und weiter zu den Palmen, die zur Straße hin eine Grenze bildeten, hatten die Organisatoren Drahtseile gespannt. Kreuz und quer. In diesem wirren Netz hingen Elektrokabel mit farbigen Glühbirnen. Sie gossen ihr billiges Grün, Blau, Gelb oder Rot über die Tische, die Bänke und den Boden.
Der Wind wehte vom Meer her, zerrte an den Seilen und den Kabeln und brachte die Glühbirnen zum Schaukeln. Die bunten Flecke glitten über den Boden und die Tische, es hätte einem übel werden können.
Ralph war aufgestanden und wartete an eine Palme gelehnt auf seine neueste Eroberung. Auf seinem Haar, seinem Gesicht und seinem Hemd wechselten die Farben: Von Blau zu Grün, von Grün zu Rot, von Rot zu Blau. Ich bekam den Eindruck, diese Wechselhaftigkeit passe zu seiner inneren Stimmung. Es gab mannigfache Arten von Glück. Es mochte klein sein oder groß, flüchtig oder beständig: Für mich war Glück immer bunt.
Im Osten machte sich ein heller Streifen bemerkbar. Damit war für mich der Zeitpunkt gekommen, zu gehen, Chiara-Sophie hin oder her.
Ich stand auf und sagte: „Ich muss ins Bett.“
Ralph nickte, hoffnungsfroh, rauchend, im Gesicht das Entzücken eines Alleinerben.
Ich schritt auf der Straße in die Richtung meines Hotels, kramte den Zimmerschlüssel aus der Tasche und freute mich aufs Bett. Alles dünkte mich so friedlich, es fehlte wenig und ich hätte ein Liedchen geträllert. Als nächstes würde ich ins Bett schlüpfen. Hinlegen. Zudecken. Einschlafen. Ausschlafen.
Das Hotel lag rund einen halben Kilometer außerhalb der kleinen Hafenstadt unmittelbar am Strand. Es war das letzte Gebäude auf dieser Seite der Insel. Der Strand hatte die Form einer Sichel. Danach kam der Fischerhafen und weiter hinten gab es angeblich nur noch Klippen, auf denen, gemäß Reiseführer, Möwen nisteten. Auf der äußersten Spitze wachte ein alter, ungewöhnlich schlanker Leuchtturm.
Die Veranda des Hotels grenzte an den Strand, man benötigte vom Zimmer bis ans Wasser keine drei Minuten.
Auf meinem Weg ins Hotel genoss ich das schwache Dämmerlicht. Auf der rechten Seite sah ich zwischen den letzten Häusern hin und wieder einen Streifen Meer. Es schillerte in Nachtblau, und auf den Spitzen der Wellen tanzten weiße Schaumkronen. Im Wind hing der Geruch von Tang und Salz. Auf der linken Seite zeigte sich die schwarze Kontur eines Vulkans, aus dem an den Rändern, wieder gemäß Reiseführer, geringe Mengen Schwefeldämpfe aufstiegen.
Ich war zufrieden mit mir und der Welt und weit davon entfernt, Ralph um seine neue Zweisamkeit zu beneiden.
Endlich tauchten die Leuchtbuchstaben des Hotels auf.
Das vorletzte Haus hatte ein riesiges, hell erleuchtetes Schaufenster. Ich blieb stehen. Über dem Schaufenster stand auf einer schwarzen Tafel in silberner Schrift: „Ilaria Store“.
Ich schaffte es nicht, weiterzugehen, ohne vorher einen Blick in die Auslage zu werfen, ich musste näher treten und meine Stirn ans Glas legen. Mit den Händen schirmte ich die Augen ab und guckte auf die Damen- und Herrenmode.
Trotz meiner Schläfrigkeit realisierte ich, dass es hier eigentümlich stank.
Drei Schaufensterpuppen mit T‑Shirts oder Hemden, hellen Hosen, Leinengürtel, und zwischen den ausgelegten Kleidern Muscheln, Seesterne und Fische aus Kunststoff. An der linken Seitenwand hingen zwei gebrauchte Ruder, an der rechten ein Rettungsring.
Der Geruch störte. Ich schnupperte gezielt. Er stach nur ab und an in meine Nase, deshalb misslang jeder Versuch, zu bestimmen, aus welcher Richtung er kam.
Oder ich war ganz einfach zu müde.
Ich bestaunte ein letztes Mal die modischen Formen der Hemden und Hosen, betrachtete die T‑Shirts mit aufgedruckten Delfinen, studierte mit halb geschlossenen Augen die Maserungen der Pullover und wünschte mir einen dieser Leinengürtel mit einer Schnalle aus gebürstetem Stahl.
Ich wandte mich zum Gehen. Der Geruch wurde penetranter, beißend, ich gähnte und verspürte ein Kratzen im Hals. „Um diese Zeit“, dachte ich, „feuert doch tatsächlich einer seinen Grill ein. So ein Dummkopf. Mit Anfeuerungspaste oder einem anderen Brandbeschleuniger.“ Und mit einem Schlag war ich hellwach! BRANDBESCHLEUNIGER!
Versuchte da jemand Feuer zu legen? Ich drehte mich um die eigene Achse. Woher kam der Luftzug? Von oben? Von rechts? Von links? Aus den Lüftungsschlitzen in der Grundmauer?
Von links! Jetzt konnte ich den Geruch deutlich festmachen. Ich rannte los, bog um die Hausecke und entdeckte einen Seiteneingang. Die Tür war angelehnt, ich schnupperte, es kam aus dem Haus. Eindeutig!
Ich wurde regelrecht gepackt: Da drin versuchte jemand, einen Brand zu legen! Das Gebäude in Flammen aufgehen zu lassen! Ich schaffte die Rampe mit einem Sprung. Die Tür war aufgebrochen worden.
Vorsichtig schlüpfte ich hinein und musste warten, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Erst hörte ich ein Geräusch, daraufhin sah ich hinten im Flur feinen, weißen Rauch. Kleine Kringel wie von einer Zigarre fächelten über einen Vorhang hinweg, sanken langsam ab und lösten sich auf. Unter dem Vorhang zuckte ein Lichtstreifen. Ich rannte hin, packte das Tuch mit beiden Händen und riss es mit einem kräftigen Ruck von der Stange.
Dahinter befand sich das Lager, nicht größer als eine Doppelgarage.
Ein Mann kniete vor einem Berg von Kleidern, Schuhen, Taschen, Mützen. Er hatte die Bestände aus den Regalen gefegt und in der Mitte des Raumes aufgeworfen. Nun versuchte er, die Ware in Brand zu stecken.
Er drehte sich um, schoss hoch, wankte und ließ ein Feuerzeug fallen. Ich wartete nicht, bis er sich gefasst hatte, sondern schlang ihm den Vorhang um den Schädel, zerrte ihn von dem Haufen weg, schob ihn in den Flur und hämmerte meine Faust zweimal gegen seine Schläfe. Mit einem unwilligen Seufzer sackte er zusammen und streckte sich der Länge nach aus.
Im Lagerraum schwebte bärbeißiger Qualm, der im Hals kratzte und Reizhusten auslöste. Ich wandte mich dem Feuer zu. Auf dem Kleiderberg tanzten da und dort ein paar blaurote Flämmchen und verzehrten den Brandbeschleuniger, mehr nicht.
Der Kerl hatte versucht baumwollene T-Shirts, Hemden, Hosen und lederne Taschen, Schuhe, Gürtel in Brand zu setzen. Hätte er mit dem Brandbeschleuniger in den hölzernen Regalen, unter dem Tisch und entlang der Fensterfront Feuer gelegt, das Lager hätte in Kürze in Vollbrand gestanden.
Dummdreister Anfänger, dachte ich und suchte den Feuerlöscher. Doch da war keiner. Ich sah auch weder einen brandschutzgemäßen Hinweis noch eine Tür zu einer Toilette, wo ich den Vorhang hätte nässen können, um ihn wie eine Löschdecke zu verwenden.
Ich begann die Glutherde mit den Schuhen breitzutreten, da hatte sich der Kerl erholt. Er rappelte sich hoch und taumelte auf mich zu. In der Faust hielt er ein Stilett. Er war jünger und schmächtiger als ich und hatte den Blick eines Metzgers, dem soeben ein Schwein entwischt war.
Er stach zu, ich wich aus, er stach wieder zu, ich wich wieder aus und spürte einen Schmerz an der linken Hand. Ohne darauf zu achten, parierte ich seinen dritten Angriff, indem ich ihm einen angesengten Pullover ins Gesicht klatschte. Darauf packte ich sein Handgelenk, trat ihm gegen das Schienbein und legte meine Hand an seine Gurgel. Er schnarrte, schlug mit dem Kopf gegen die Wand, ruderte mit dem freien Arm, Halt suchend. Ich setzte sofort nach und rammte ihm mein Knie in die Eier. Er verlor die Waffe, krümmte sich, sank zu Boden und rollte sich ein, die Hände schützend vor dem Unterleib. Seine Angriffslust war dahin.
Das Stilett hatte einen silbernen Griff und eine lange, spitz zulaufende Klinge, mit der er meinen Handrücken aufgeritzt hatte. Der Schnitt blutete leicht.
Inzwischen hatte ich den Feuerlöscher entdeckt. Er hing im Flur an der Wand zwischen Tür und Fahrstuhl. Ich rannte hin, hob das Gerät aus der Halterung, riss die Plombe ab, kam zurück, begann die Kleider mit den Füssen auseinanderzuzerren und deckte den schwelenden Haufen mit Schaum ein.
Der Kerl war jung, höchstens zwanzig Jahre alt, und schien weder kräftig noch zäh. Er hustete, rollte sich auf den Bauch und kroch auf allen Vieren und mit roten Ohren zum Ausgang, dort stand er auf, stieß die Tür auf und rannte davon.
Ich wusste, der Schaum würde das Feuer ersticken; ich warf den Löscher hin und jagte hinter ihm her.
Er lief breitbeinig auf dem Mittelstreifen der Straße in die Stadt.
Ich hoffte, Ralph stünde noch unter den Palmen, und überlegte, was ich ihm zurufen könnte. HALT DEN KERL, ER HAT FEUER GELEGT! Oder: FASS DEN BRANDSTIFTER! Oder nur: RALPH, SCHNAPP IHN DIR!
Der Flüchtende bog vorher ab und stürmte in eine Seitengasse, Ralph konnte ich vergessen.
Ich folgte ihm. Er bog nach zwei Häusern wieder ab, setzte über ein Gartentor und verschwand in einer Gartenanlage.
Er war kein Läufer. Auf der Straße oder in der Gasse hätte ich ihn eingeholt, in der Gartenanlage war er allerdings wieselflink. Auf dem Rasen, zwischen den Rosen, da war er zu schnell für mich. Er lief ums Haus herum, schlug Haken und setzte über Blumentöpfe hinweg wie ein Hürdenläufer. Ein kniehohes Gehege für Schildkröten, Liegestühle, ein Lorbeerstrauch, eine Spirale mit Küchenkräutern, eine Statue und ein Riesenkaktus, all diese Dinge kamen mir in die Quere – und zu guter Letzt eine Steinmauer, die den Garten begrenzte. Der Kerl kletterte an der efeubewachsenen Mauer hoch wie eine Katze, schwang das eine, dann das andere Bein darüber und tauchte auf der anderen Seite ab, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach mir umzusehen.
Obwohl ich größer war, diese Hürde würde ich ohne Aufstiegshilfe niemals schaffen, das wurde mir deutlich, bevor ich dort ankam. Ich machte kehrt, rannte zu einem Tisch, an dem wir vorbeigekommen waren, ergriff den nächsten Stuhl und trug ihn zur Wand. Auf der Rückenlehne balancierend konnte ich die überwucherte Kante der Mauer erreichen. Es gelang mir, mich hochzuziehen, nur um rittlings auf den Efeusträngen zu sitzen und festzustellen, dass der Schuft entkommen war.
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Ich hockte auf der Mauer, aufgewühlt wie jemand, der erfolglos einem Taschendieb hinterhergerannt war. Ich mühte mich ab mit erhöhter Puste, übler Laune und klebrigem Schweiß am ganzen Körper, und hoffte, es möge mich niemand sehen. Die Gefahr dürfte allerdings gering gewesen sein, sicherlich lagen die meisten Stadtbewohner noch in ihren Betten.
Wie war ich bloß in diese dämliche Situation geraten? Ich hätte den Geruch ignorieren und an der Boutique vorbeigehen können. Ich muss gestehen, der Brandgeruch hatte mich scharf gemacht, ich musste nachsehen, ich konnte nicht anders. Wer hätte an meiner Stelle den Mann nicht verscheucht?
Wie auch immer: Das Feuer war gelöscht, das Unheil abgewendet, der Fall erledigt.
Ich war von der Mauer gestiegen, marschierte durch den Garten und dachte ans Hotel – und da vermisste ich meinen Zimmerschlüssel. Ich erinnerte mich, ich hatte ihn auf dem Heimweg in die Hand genommen. Jetzt waren beide Hände leer. Der Schlüssel steckte auch nicht in einer Tasche, nein, der Schlüssel war weg!
Hinter meiner Stirn braute sich eine Wut zusammen, dass ich fürchtete, die Äderchen in meinen Augen könnten platzen. Ich suchte den Boden ab bis zur Ecke, wo ich den Stuhl geholt hatte. Da war kein Schlüssel.
Ich ging weiter, vorbei am Kaktus, der mir die Waden aufgekratzt hatte, am Blumenbeet, das zwei tiefe Schuhabdrücke aufwies, an den Schildkröten, die auf die Sonne warteten, dann schloss ich vorsichtig das Tor auf und hinter mir wieder zu, suchte in der Gasse, schritt die Straße entlang und suchte schließlich vor der Tür der Boutique. Kein Schlüssel.
Ich musste ihn da drinnen weggeschmissen haben, als ich den Vorhang von der Stange riss oder bei der Prügelei.
Diesmal war die Tür zugesperrt. Ich nahm an, die Eigentümer seien erwacht, hätten die Bescherung gesehen und aus Angst die Tür verrammelt. Ich drückte auf die Klingel. Kein Laut. Es war und blieb still im Haus, zu still, daraus hätte ich Verdacht schöpfen müssen. Welcher Eigentümer hätte sich nicht aufgeregt, hätte nicht empört reagiert, beim Anblick des Durcheinanders, der Brandschäden, des Schaums, der aufgebrochenen Tür? Wer hätte da nicht Alarm geschlagen? Normalerweise hätten Feuerwehr, Carabinieri, Nachbarn, Bekannte oder weiß ich wer längst im Anmarsch sein müssen.
Ich war zu wütend, um irgendwelche Widersprüche zu erkennen; die Grabesstille hinter der verschlossenen Tür vermochte meinen Instinkt nicht zu wecken. Ich dachte einzig an meinen Schlüssel und klingelte nochmals, länger diesmal, obgleich ich es hätte besser wissen müssen. Nach einer halben Ewigkeit knisterte der Lautsprecher der Gegensprechanlage, eine Frau meldete sich mit belegter Stimme: „Pronto?“
Ich wollte loslegen, da gab es einen höllischen Krach. Holz splitterte. Scheiben zersprangen. Der Lümmel, der mir über die Mauer entkommen war, sprang mit den Füßen voran durch das hinterste – geschlossene! – Fenster in der Reihe. Er landete auf dem Rasen, mit Händen und Füssen auf den Scherben.
Er bedachte mich mit einem hässlichen italienischen Schimpfwort und unterstrich das Wort mit einer ebenso unsittlichen Geste.
Die Frau rief: „Hey, Angelo, che cosa?“ Ihre Stimme kam nicht mehr durch die Gegensprechanlage, sondern von oben, von der Dachterrasse.
Er hob den Blick, spuckte aus, wandte sich mit einem Ruck ab und spurtete davon.
Ich trat einen Schritt zurück und spähte nach oben. Die Frau beugte sich über die Brüstung und gestikulierte, offenbar suchte sie nach Worten. Es war die Dame mit der blonden Mähne von letzter Nacht.
Ich vertrödelte keine Zeit, riss mich von ihr los und heftete mich erneut an seine Fersen. Der Bursche hatte mich gereizt, über alle Maßen, und ich wollte ihn zwischen die Finger kriegen.
Diesmal flitzte er in die entgegengesetzte Richtung, er rannte auf der Straße direkt auf unser Hotel zu. Er lief die Einfahrt hoch, passierte die Pforte, sauste an den Palmen vorbei, bog vor dem Hoteleingang ab, durchquerte eine Blumenrabatte, wetzte über die Veranda, schwang sich über die Einfassung, preschte zielsicher zwischen den Sonnenschirmen und den Liegestühlen hindurch und hastete auf dem verlassenen Strand überraschend schnell dahin.
Auf der Straße war ich ihm näher gekommen, durch die Hotelanlage konnte ich mithalten, am Strand fiel ich zurück. Das Laufen kostete Kraft und bereitete mir Mühe. Meine Fußballen versanken tief im lockeren Sand.
Er lief geübter. Er flog beneidenswert schnell und gewitzt dahin, präzise auf der Linie zwischen dem trockenen Strand und den Kieseln im Wasser. Er setzte seine Füße dort auf, wo die Ausläufer der Wellen endeten. Ich tat es ihm nach und stellte fest: Entlang des Wellensaums war der Grund trittfest. Bis ich den Streifen gefunden hatte, auf dem ich ebenso schnell voran kam wie er, hatte er mich schon fast abgehängt.
Der lange Strand wurde von einem Felsen unterbrochen, dem Ausläufer eines mächtigen Höhenzugs. Er reichte fast bis ans Wasser. Der Fels hatte die Form einer gekrümmten Keule und auf dem Grat des Vorsprungs thronte ein Haus wie auf einem Horst. Eine Treppe führte von dort oben in einer leichten Kurve bis an den Strand, schmale Stufen, herausgehauen aus dem Gestein.
Ich sah, wie er auf der Höhe der Treppe einbog und hinaufstürmte, zwei Stufen auf einmal nehmend. Die Treppe endete vor einer Tür, genaugenommen vor einem blechernen Tor. Ich setzte ihm nach und forderte meinen Beinen auf den nassen, glitschigen Tritten das Äußerste ab.
Das Haus schien von einer Betonmauer umgeben, es waren nur die oberen Fenster sichtbar, viel Dach mit römischen Ziegeln und zwei runde Türme. Aus dem Hof ragten ein Fahnenmast mit der italienischen Flagge und eine Reihe Bäume hervor.
Ich sah, wie er ans Tor gelangte, da hatte ich noch keine zehn Tritte geschafft; sah, wie er seine Hand auf die Klinke legte, sich mit dem Rücken zum Tor zu mir umwandte und auf mich herabgrinste. Ich fasste ihn scharf ins Auge – und musste zusehen, wie er jäh an den Torpfosten geschmettert wurde, das Gesicht zu einer ungläubigen Fratze verzerrt.
Den Schuss hörte ich im selben Augenblick und stoppte abrupt.
Er rutschte am Pfosten entlang zu Boden und hinterließ eine Blutspur auf dem Beton. Auch auf seinem T‑Shirt wuchs ein roter Fleck, und mit einem grässlichen Zittern streckte er die Beine, ließ die Arme sinken, kippte seitlich weg und blieb liegen, ohne jede Regung.
Ich warf mich von der Treppe seitlich in die Rinne. Ich presste mich platt in den schmalen Kanal zwischen Treppe und Fels und legte die Hände auf meine Ohren, um nicht auch noch den Schuss von der Kugel hören zu müssen, die mich treffen und töten würde.
Es war schwer, auf den Tod zu warten.
Ich versuchte mich zu beruhigen, kein Geräusch zu machen, keine Bewegung zuzulassen, in der sinnwidrigen und kümmerlichen Hoffnung, der Schütze möge mich übersehen oder verschonen.
Je länger das Warten dauerte, desto verzagter wurde ich, und die Fragen kreisten in meinen Hirnwindungen: Warum wurde auf ihn geschossen? Warum blieb ich am Leben? Befand ich mich außerhalb des Sichtfeldes des Schützen? Oder wartete der Schütze, weil er mich, den Zeugen, stehend abknallen wollte, um mit einem Schuss sicher zu töten? So wie ein Jäger, der ausharrt, bis ihm das Wild die Flanke präsentiert?
Es kam keine Kugel.
Ich hatte ein Sausen in den Ohren – oder vielmehr innerhalb der ganzen Hirnschale – von meinem eigenen Blut, das mein Herz mit rasendem Tempo durch die Adern pumpte.
Ich war mir selbst nie näher gewesen; und nach geraumer Zeit meldeten sich alle meine Sinne zurück. Der gelbe, fein geäderte Felsen roch sauer vom Kot der Vögel, war nass, kalt und kantig. Spitze Kiesel kratzten an meiner Wange. Der Schweiß perlte mir aus der Stirn, aus der Brust, rann mir über den Rücken, selbst in den Kniekehlen war ich feucht.
Ich gab die Ohren frei und hörte drüben in der Stadt einen Esel schreien. Ein zweiter antwortete, ein dritter stimmte ein. Ihr heiseres Klagen verhalf mir zu neuer Hoffnung, auch wenn sie nach kurzer Zeit verstummten.
Nach geschätzten zwei Minuten ächzte das Tor in den Scharnieren. Ich verhielt mich still, linste hinauf, um zu sehen, was da oben vor sich ging.
Zwei Männer wagten sich auf die Plattform mit zaghaften, vorsichtigen Bewegungen. Sie stutzten, beugten sich über den toten Körper, sahen einander entsetzt an, warfen von Angst erfüllte Blicke in alle Richtungen und schickten sich an, die Leiche fortzuschaffen. Sie redeten kein einziges Wort. Der Größere legte dem Toten von hinten die Arme um die Brust, hievte ihn hoch und schleifte ihn rückwärtsgehend durchs Tor. Unterdessen suchte der Kleinere die Stelle ab, wo er gelegen hatte. Ob er etwas verloren hatte? Er beugte sich tief über die Blutlache, stützte sich auf den Knien ab, stand wieder auf, stieg eine Stufe hinab, so weit war das Blut geflossen, studierte den Torpfosten, die rostigen Scharniere, starrte erneut auf das Blut, schauderte, warf einen letzten Blick zur Stadt hinüber und folgte schließlich dem anderen. Das Tor schloss sich mit einem rostigen Wimmern.
Ich wartete, stützte mich auf die Ellbogen und wagte einen Blick hinunter zum Strand.
Die Sonne wärmte meinen Scheitel, meine Arme und meine Schultern. Vom Stadthafen her hallte zwei Mal das Horn der Fähre, die letzte Aufforderung, Abschied zu nehmen und von der Rampe zurückzutreten, in einer Minute würde sie ablegen. Möwen kreisten um das Oberdeck, um die Wimpel, den rauchenden Schornstein und landeten auf der Antenne.
Ich blieb, wo ich war. Von meinem Platz aus konnte ich den Strand und weiter hinten halb verdeckt vom Felsen das vorderste Boot im Fischerhafen erblicken. Ich sah das Hotel und die Boutique und bis in einzelne Gärten hinein. Ich konnte die Fähre sehen, die inzwischen abgelegt hatte und der nächsten Insel zustrebte und hinter sich das Wasser aufschäumte. Die Möwen folgten ihr, stürzten sich in die Schaumspur und fischten irgendwelche Happen heraus, die an die Oberfläche gespült wurden.
Nirgendwo sah ich eine Person mit einer Schusswaffe. Natürlich nicht. Nur ein Irrer würde seine Deckung verlassen und sich und sein Gewehr vorführen, nachdem er einen Menschen niedergestreckt hatte.
Soweit ich feststellen konnte, waren von der Dame in der Boutique weder Feuerwehr noch Carabinieri gerufen worden. Keine kreisenden Lichter, keine heulenden Sirenen, keine Absperrung, auch keine Gaffer.
Und der Schuss? Hatte denn niemand den Schuss gehört? Es war und blieb ruhig auf der ganzen verdammten Insel.
Ich bot meinen ganzen Mut auf und schälte mich aus dem Kanal, wischte meine Hände ab, stieg die Treppe hinab und stapfte auf dem kürzesten Weg ins Hotel.
Am Empfang hinter dem Tresen stand der Hoteldirektor und las eine Zeitung.
Er schnaubte auf meine Bitte um einen Reserveschlüssel für mein Zimmer. Ohne aufzusehen legte er eine Quittung auf die Zeitung, einen Kugelschreiber daneben, wühlte mit der linken Hand in einer Schublade, fragte nach der Zimmernummer, brachte einen Bund Ersatzschlüssel zum Vorschein, drehte die Quittung in meine Richtung und sah mir ins Gesicht.
Ich versuchte gelassen zu wirken. Übernächtigt, aber gelassen und schweigsam. Es war möglich, dass mein Haar verschwitzt und strähnig war, mein Gesicht beschmutzt, mein Hemd, meine Hose verdreckt und zerknittert, dass ein kotiger Geruch von mir ausging. Er erschrak. Sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. Er beugte sich vor, verunsichert, nestelte lange am Schlüsselbund, um den Schlüssel zu lösen, legte ihn hin, schob die Zeitung mit Quittung und Kugelschreiber zur Seite und stellte mir die Frage, die ihn zu beschäftigen schien: „Ma che cosa è successo?“
Ich war zu erschöpft, richtig blockiert und konnte keine Antwort, keine Erklärung abgeben. Deshalb winkte ich ab und murmelte: „Später …“, nahm den Schlüssel und flüchtete mich aufs Zimmer, trank mehrere Glas Wasser, zog die schmutzigen Sachen aus, wusch mich und kroch nackt unter die Decke.