Leseprobe Schlinge der Schuld

Samstag

Caroline Meyer wollte all ihren Zorn in die Pedale treten, wollte ihrem Liebeskummer davonradeln, als würde die Welt nach wenigen Kilometern Hoffnung und Zuversicht bieten, eine Welt, die es möglich machte, einen Ben Schilling in die Arme zu schließen.

Es war Samstag, der 7. November, und eine Stunde so dunkel wie Carolines Gemüt. Sie bremste, stieg ab und schaute sich verunsichert um. Kein Mensch weit und breit. Sie ließ das Fahrrad zu Boden sinken und trat auf wackligen Beinen an den Zaun eines Schrebergartens.

Neben dem Liebeskummer plagten sie Schwindel und Übelkeit. Sie hatte zu viel getrunken, hatte nach den Gläsern anderer Gäste gegriffen wie Schneewittchen nach fremden Tellern. Schloss Thalstein lag jetzt mehrere Hundert Meter hinter ihr, am Fuß eines Bergs, inmitten grauer Finsternis. Ben Schilling, der Grund für ihren Liebeskummer, hob dort sein Glas und präsentierte aller Welt sein schönes Lächeln.

In der Stille vernahm Caroline ein gespenstisches Klirren. Sie krallte sich am Zaun fest und blinzelte durch die Maschen auf die kargen Grundstücke. Von einem Baum hing das primitive Windspiel eines primitiven Gärtners: Drei Flaschen, die verbunden mit Schnüren aneinanderschlugen. Sie durfte in dieser Einöde nicht ohnmächtig werden. Der Gedanke an finstere Gestalten, die hier herumspukten, ließ sie ihre letzten Kraftreserven mobilisieren. Sie wankte zurück, stieg wieder aufs Fahrrad und nur mit Mühe gelang es ihr, die Balance zu halten.

Beim Treten spürte sie kaum noch ihre Beine. Allein die Straße zu erkennen, fiel ihr ungemein schwer. Der Asphalt brach aus der Fahrbahn, die Bäume schwankten bedrohlich und die angrenzenden Grundstücke rückten immer näher. Keine Minute später bremste sie erneut und stieg ab. Die Angst vor einer jähen Ohnmacht war zu groß. Sie zog ihr Telefon hervor und rief bei sich zu Hause an.

Der Anrufbeantworter empfing sie mit einem lauten Piepen. Sie probierte es auf dem Handy ihres Vaters. Als sich nur die Mailbox meldete, sagte sie, es gehe ihr kotzübel. Irgendwas stimme nicht mit ihr. Dann – und sie wusste nicht, warum – bat sie ihren Vater um Verzeihung. Dafür, dass sie eine schlechte Tochter sei, dafür, dass sie schwach und nutzlos sei. Krank im Kopf – ja, das traf es am besten. Sie war total krank im Kopf. Ihr Vater galt als einer der einflussreichsten Männer der Stadt. Seit Jahren bekleidete er das Amt des Oberbürgermeisters. Mit seiner Macht ließ sich wohl alles regulieren, nur nicht das Herz eines anderen Mannes. Ihr kam die Idee, ihr Vater könnte Ben der Stadt verweisen. Bestimmt ist er dazu imstande, dachte sie irrsinnig vor Liebeskummer. Hieß es nicht aus den Augen, aus dem Sinn? Sobald sie aufgelegt hatte, kehrten die Selbstzweifel zurück. Schlechten Töchtern tat niemand einen Gefallen, weder der Bürgermeister noch irgendwer sonst. Schlechte Töchter verliebten sich in die falschen Männer und fuhren betrunken Fahrrad.

Caroline rutschte auf den Sattel und folgte der Straße Am Erlkönig, und als sie das Leuchten der ersten Laternen sah, glaubte sie, es geschafft zu haben. Die Karl-Liebknecht-Straße. Der Beginn der Zivilisation. Endlich.

Mit bleiernen Waden nahm sie den letzten Anstieg und schoss geradewegs auf die Kreuzung zu. Plötzlich ein grelles Licht und das Hupen eines Autos, dann ein Schreck, der so erschütternd war, dass er selbst den Aufprall ihrer Wahrnehmung entriss.

Montag

1

Lennart Mikowski hockte am Bordstein und inspizierte die Fahrbahn. Zu seiner Rechten die Straße Am Erlkönig, zu seiner Linken die Karl-Liebknecht-Straße. Vor zwei Tagen war eine Frau auf dieser Kreuzung von einem Auto erfasst worden.

»Laut Protokoll traf der Rettungswagen um 22:40 Uhr ein.« Henry Kilmer ging neben seinem Kollegen in die Hocke und öffnete sein Notizbuch. »Das Opfer, Caroline Meyer, dreiundzwanzig Jahre alt, hat ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Die Ärzte haben sie in Langzeitnarkose versetzt.«

»Du meinst, ins künstliche Koma?«, hakte Lennart nach.

»Ja. Um ihren Körper zu schonen.«

»Ich nehme an, eine Befragung ist ausgeschlossen.«

Henry nickte. Er blätterte zurück und ergänzte, der Fahrer des Unfallwagens habe den Notarzt alarmiert. Dessen Aussage zufolge sei Caroline Meyer ohne Licht gefahren, sie sei quasi aus dem Nichts aufgetaucht. Er deutete mit dem Notizbuch auf die Straße, die direkt zum Schloss Thalstein führte.

»Kein Fußweg«, bemerkte Lennart. »Und nirgends Licht.«

»Genau. Nur die Laternen an der Kreuzung.«

»Das heißt, der Fahrer hatte keine Chance zum Bremsen gehabt.«

»Vermutlich.« Henry zupfte einen Hefter aus seiner Umhängetasche, um Lennart die Fotos vom Unfallwagen zu zeigen. Ein Ford Escort, Baujahr 1986. Bis auf einen Schaden an der Frontschürze war das Auto intakt geblieben.

Henry hielt Lennart den Hefter hin, doch der winkte lässig ab. Er meinte, die Fotos könne er auch im Büro begutachten, streifte sich die Kapuze seines Pullovers über und rappelte sich hoch.

Mit dem Hoodie und den abgelatschten Turnschuhen glich Lennart einem Sozialarbeiter, jener vertraute Typus, der an einen älteren Bruder denken ließ. Auf der Vorderseite seines Pullis klebte ein Bügelbild von Dana Scully und Fox Mulder, darunter stand in ausgefransten Buchstaben Trust no one. Er verschränkte die Arme und fragte Henry, wann das Opfer zu Hause angerufen habe.

»Um 22:06 Uhr.«

»Also kurz vor dem Unfall.«

»Genau.« Henry klappte den Hefter zu und kam aus der Hocke. »Ohne den Anruf hätte man wohl kaum eine toxikologische Untersuchung veranlasst.«

»Glaubst du ernsthaft, bei uns Normalos würden die das machen?«

»Was machen?«

»Na, auf blinden Verdacht hin so ’n kostspieliges Verfahren einleiten?«

»Sie hat am Telefon gemeint, ihr sei furchtbar übel.«

»Das passiert nun mal, wenn man zu viel trinkt.«

»Und der Schwindel und die Atemnot?«

Lennart schüttelte argwöhnisch den Kopf, und Henry wurde das Gefühl nicht los, seinem Kollegen drückte irgendwo der Schuh. Er verstaute den Hefter in der Tasche und bedachte ihn mit einer fragenden Miene.

Nicht ohne ein Seufzen, als würde Henry ihm eine Antwort abnötigen, sagte Lennart: »Wäre sie nicht die Tochter unseres lieben Bürgermeisters, würden wir nicht hier sein.« Er schob beide Hände in die Bauchtasche. »Was denkst du denn, weshalb Linda ihren Urlaub abbricht?«

Henry versuchte, den Vorwurf der Naivität zu ignorieren, und zuckte unschlüssig mit den Schultern. Er blickte zunächst Richtung Innenstadt, dann die Straße Am Erlkönig hinunter. Auf der einen Seite führten die Schienen der Tram in eine moderne Großstadt, auf der anderen dehnte sich das wilde Auenland gen Norden. Obwohl er jetzt anderthalb Jahre hier wohnte, erstaunte es ihn noch immer, wie rasch man von einer Welt in die nächste wechseln konnte. Die Demarkationslinie glich einem dünnen Band, und Caroline Meyer war ausgerechnet beim Überqueren dieser Grenze verunfallt.

Er wollte den Gedanken festhalten und tastete in seinem Jackett nach dem Notizbuch, da stieß Lennart ihn gegen den Oberarm und meinte, dass sein Magen furchtbar knurre. Er schlug ein zweites Frühstück vor, und sie begaben sich zum Wagen.

 

Lennart parkte seinen Fiat Bravo in der Karl-Liebknecht-Straße vor einer Bäckerei. Er entschied sich für zwei Croissants und einen Kaffee. Mit Blick auf Henrys einsamen Becher Schwarztee schob er ihm eines der Croissants über den Tisch. Henry lehnte dankend ab.

Nach zwei Minuten entfernte er den Teebeutel aus der Tasse, legte ihn auf einen Löffel und presste ihn mithilfe des Schnürchens zusammen. Während sich so die letzten Tropfen lösten, dachte er an Caroline Meyer. Die junge Frau wurde gerade über eine Magensonde versorgt. Plastikschläuche transportierten flüssige Nahrung in den Körper, was wiederum Magen und Darm in Bewegung hielt. Er riss ein schmales Alupäckchen auf und träufelte Zitronensaft in den Becher. Binnen Sekunden erhielt der Tee die Färbung, die Henry so mochte: einen goldgelben Ton wie der von Bernstein.

»Du gehst doch regelmäßig joggen, oder?«, fragte Lennart.

»Woher weißt du das?«

»Hat mir Linda erzählt.«

Henry nippte an seinem Tee.

»Hast du nicht Bock auf ’nen Urbanian Run?«

»Was soll das sein?«

Lennart schnippte einen Krümel vom Tisch. »Das ist ein Stadtlauf mit Hindernissen. Du musst über Mauern klettern oder unter Lkws hindurch kriechen.«

»Puh, das klingt gefährlich.«

»Nee, ist ganz harmlos. Wirklich.«

»Ich weiß nicht.«

»Wie, du weißt nicht?«

»Ich laufe immer bloß vorwärts.«

»Ach, Kilmer. Der nächste findet sogar in Berlin statt.«

»Heimat«, murmelte Henry hinter seiner Tasse. »Das verheißt nichts Gutes.«

»Etwa kein Bock aufs hippe Berlin?«

»Ich habe da nicht umsonst meine Koffer gepackt.«

»Hast wohl deine Rechnungen nicht bezahlt?«

Henry rang sich ein Grinsen ab.

Er und Lennart arbeiteten das erste Mal allein zusammen. Im letzten Jahr waren sie beide Teil einer Mordkommission gewesen. Einem Mann war die Kehle durchtrennt worden, ein anderer nicht mehr aus dem Koma erwacht. Henry tat sich schwer mit Bindungen außerhalb der Arbeit, und wenn dieser Fall ihm nicht alles abverlangt hätte, wären sich er und seine reguläre Partnerin kaum so nahe. Er öffnete sein Notizbuch und schrieb demonstrativ auf die letzte Seite: Urbanian Run. Lennart Mikowski. Sein Kollege lächelte breit, während Henry erneut den Spruch auf dessen Pullover las. Traue niemanden.

2

Alina Wagner stellte sich ans Fenster, prüfte ihr Telefon auf Nachrichten – noch immer nichts von ihm, kein Wort, kein Zeichen, nichts – und schaute hinaus. Draußen schien alles beim Alten und das bedeutete: Langeweile extrem. Auf dem Rabenstieg glomm das orangefarbene Licht der Laternen, und die Nachbarn hatten entweder die Gardinen vorgezogen oder die Jalousien heruntergelassen. Die Siedlung am Hausberg wirkte so lebhaft wie ein penibel gepflegtes Grab.

Alina kroch selten vor Mitternacht unter die Bettdecke. Meist vertiefte sie sich stundenlang in einen Roman oder lernte Texte fürs Theater auswendig, ohne dass sie dessen überdrüssig wurde. Ihr war bewusst, dass nur wenige Teenager ihre Hobbys mit einer solchen Hingabe pflegten. Im Grunde empfand sie schon den Begriff Hobby als Herabwürdigung. Fußball war ein Hobby oder Computerspielen, vielleicht sogar, sich beim Tanzen zu filmen und die Videos auf TikTok hochzuladen. Alina trieb dagegen Leidenschaft um, echte, brennende Leidenschaft, wofür sie bereitwillig Blut und Wasser schwitzte.

Sie schaute erneut auf ihr Telefon – wieder keine Nachricht – und ließ gefrustet die Jalousie abwärts. Der Anblick ihres Betts hob ihre Laune nicht. Auf der Tagesdecke lagen der Deutschhefter, ihre Federtasche und ein Haufen Materialien zum Leben von Ludwig Tieck. Sämtliche Schüler der 9b sollten zur nächsten Deutschstunde einen Text über das Leben des Romantikers verfassen. Wann geboren, wann gestorben? In welchem Jahr er was veröffentlicht hatte. Eine bloße Aneinanderreihung von Zahlen, eigentlich nichts anderes, als würde sie die binomische Formel anwenden. Bisher hatte sie nicht einen Stichpunkt zu Papier gebracht; obendrein hatte sie ihrer Freundin versprochen, den fertigen Aufsatz zu fotografieren und ihr zuzusenden. Ich schaffe das, hatte sie Sarah auf dem Schulweg versichert. Hundertprozentig.

Alina rutschte aufs Bett, steckte sich das Haar mit einer Spange hoch und warf sich eine Strickjacke über. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass das Display jetzt aufleuchten und eine Nachricht von ihm anzeigen würde. Ein schlichtes Hallo, ein Wie geht’s dir? Oder eine Zeile aus seinem Stück. Aber das Display blieb schwarz und spiegelte allein einen Teil ihres Zimmers und ihrer Gestalt wider. Die Jacke war ihr mehrere Nummern zu groß, und wenn sie die Knöpfe schloss, sah sie darin aus wie eine Magersüchtige. Sarah hätte ihren Geschmack in Sachen Mode garantiert verspottet.

Sie raffte die Ärmel über ihre Hände und vergrub die Finger in den Stoff. Dann schob sie die unerledigten Hausaufgaben beiseite, bog die Beine in den Schneidersitz und betrachtete das Deckblatt des Theaterstücks. Morella, stand darauf. Stückfassung Ben Schilling. Zur Generalprobe am Mittwoch wollte sie den ganzen Text auswendig hersagen können, nicht nur ihren Text, sondern auch den der anderen.

»Morellas Gelehrsamkeit war unergründlich«, flüsterte Alina in die Stille des Zimmers hinein. »Ihre vielseitige Begabung war geradezu übernatürlich.«

Sieben Mädchen sollten Morella, die Heldin des Stücks, abwechselnd darstellen. Als Ben ihr den schwierigsten Part der Rolle gegeben hatte, hatte sie es zuerst nicht glauben wollen. Ausgerechnet sie. Ausgerechnet die Anfängerin. Daraufhin las Alina die Originalgeschichte von Edgar Allan Poe wieder und wieder, doch vieles erschloss sich ihr nicht. Sie fragte sich, inwieweit die Geschichte überhaupt Sinn machte. Oder was der Name Morella zu bedeuten hatte. Nach der letzten Probe, als ihre Mitspielerinnen bereits auf dem Heimweg gewesen waren, hatte Ben es ihr mit großer Geduld erklärt. Morella war eine Frau, die im Körper ihrer eigenen Tochter wiedergeboren wurde, ein bezauberndes Geistwesen und gleichsam ein Beweis dafür, dass die wahre Liebe selbst den Tod überdauert. Alinas Blick strebte von dem Text zum Telefon. Keine neue Nachricht, alles schwarz.

Sie raffte die Strickjacke übers Kinn und schubberte die Unterlippe am Kragen, ehe sie sich ein Glas Wasser holen ging.

Auf dem Weg in die Küche schmulte sie ins Wohnzimmer. Wie sie nicht anders erwartet hatte, war ihre Mutter auf der Couch eingeschlafen. In ihrem Gesicht das Fernsehgeflimmer, auf dem Sofakissen ein Speichelfleck und unterm Tisch eine Flasche Schnaps. Morgen früh würde Alina nichts von alldem vorfinden. So zeitig ihre Mutter zwischen den Polstern versank, so früh war sie wieder auf den Beinen. Der Schnaps würde im Schrank versteckt sein, ihr Atem nach Eukalyptus riechen und das Frühstück auf dem Küchentisch stehen. Alina schlich zurück ins Zimmer, und als sie das Leuchten ihres Handys bemerkte, hätte sie beinahe das Glas Wasser fallen gelassen.

Sie stürmte zum Bett und schnappte sich das Telefon. Sarah hatte ein neues Video auf TikTok hochgeladen. Verdammt! Mit einem Gefühl zwischen Frust und Enttäuschung schaute sich Alina ihre weinende Freundin an. Das Video hatte sie mit einem Song von Helene Fischer garniert – Tränen plus schlechte Musik, das war Sarahs Lockstoff für Heerscharen gelangweilter User. Ihre melodramatische Darbietung war noch nicht zu Ende, da erreichte Alina eine Nachricht.

Hast du die HA fertig?

Alina verspürte nicht die geringste Lust, auf Sarahs Frage zu antworten. Sie schob das Telefon unters Kissen und hörte das Piepen, das eine neue Nachricht signalisierte. Einmal, zweimal, unentwegt Sarah, die wissen wollte, wie es um die Hausaufgaben stand. Alina ließ sich zurückfallen und legte sich den Handrücken auf die Stirn.

»Morella«, zitierte sie aus dem Gedächtnis, »wo bist du? – Hier bin ich. – Oh, mein Kind, mein Liebling. – Höre! Ich werde sterben.«

3

Als am Abend das Telefon klingelte, lag Henry ausgestreckt auf der Couch im Büro. Unter seinem Nacken ein Kissen, in den Händen ein Buch. Geliebte im Blutrausch ein Tatsachenbericht über die zweifache Mörderin Mary Pearcey. Die Frau, die man 1890 durch den Strang hingerichtet hatte, war zeitweise verdächtigt worden, die berühmten Whitechapel-Morde verübt zu haben. Jill the Ripper, in Anlehnung an die männliche Variante namens Jack. Henry legte das Buch beiseite und schaute auf sein Handy.

Es war Linda Liedke, seine Kollegin und Partnerin. Er fand es seltsam, dass sie so spät noch anrief. Eigentlich hatte sie frei, und einer ihrer Grundsätze lautete: Dienst ist Dienst und Freizeit eben Freizeit. Henry stemmte sich in die Senkrechte und nahm ab.

»Wenzel hat sich bei mir gemeldet«, sagte sie. »Heute morgen!«

Lindas grimmiger Tonfall verriet ihm sogleich ihre Begeisterung. Henry waren die Bande zwischen Linda und seinem Chef ein Rätsel. Er vermutete, dass sie bereits einiges durchgemacht hatten. Feierlich wurde gern behauptet, die Polizeiarbeit würde die Kolleginnen und Kollegen zusammenschweißen. Aber Henry wusste längst, dass es mitnichten an den positiven Erlebnissen lag; ursächlich war vielmehr das Grauen, das einem begegnete. Die in Mülltüten versteckten Babyleichen. Die erfrorenen Obdachlosen. Die ungezählten Suizidanten. Der verstörende Rassismus unter den Kollegen. Ohne Linda an seiner Seite hätte Henry nach den Ereignissen des letzten Jahres womöglich den Dienst quittiert.

»Und wie waren deine Ferien?«, erkundigte er sich.

»Zu kurz, viel zu kurz.«

»Das tut mir leid.«

»Ach, du kannst nichts dafür.«

»Und was sagt deine Familie?«

»Stefan und Leonie sind an der Ostsee geblieben.«

»Allein?«

»Die kommen wunderbar ohne mich zurecht.«

Mit dem Telefon in der Hand erhob sich Henry und schlurfte zu seinem Arbeitsplatz. Er schaute über seinen und Lindas Schreibtisch hinweg und betrachtete die Fotos an ihrer Wand. Schnappschüsse von ihren Urlaubsreisen. Stefan, ihr Mann, Leonie, ihre Tochter, und Linda mittenmang. Unter den Füßen weißer Sand, im Rücken tosende Wellen. Familie Liedke in einem Zustand der Glückseligkeit, die er eventuell nie erfahren würde. Er wandte sich ab und rutschte mit dem Hintern auf seinen Tisch.

Linda, die offenbar wenig Vergnügen daran hatte, in Urlaubserinnerungen zu schwelgen, wechselte abrupt das Thema. Sie wollte über den aktuellen Fall aufgeklärt werden. Henry berührte die Tastatur seines Laptops und berichtete ihr, dass die Ärzte in Caroline Meyers Urin Spuren von Gamma-Butyrolacton entdeckt hatten.

»Sind das diese K.-o.-Tropfen?«

»Ja, eine Variante. GBL wird erst im Körper zu GHB umgewandelt.«

»Ich verstehe nur Bahnhof.«

»GHB oder Liquid Ecstasy ist verboten, GBL findest du dagegen in Reinigungsmitteln.«

»Okay, und was hatte Caroline Meyer nun intus?«

»Die selbst gepanschte Variante.«

»Und sie kam mit dem Fahrrad von Schloss Thalstein?«

»Genau. Dort wurde das Probenende für das neue Stück gefeiert.«

»Gehört die Frau zum Ensemble?«

»Sie arbeitet dort als Regieassistentin. Zurzeit studiert sie in Leipzig.«

Henry hörte durchs Telefon, wie Linda eine Flasche Wein entkorkte.

»Waren denn viele auf der Feier?«

»Neben den Angestellten etwa fünfzig Besucher.«

»Ich kotz ab. Das klingt nach Klinkenputzen.«

»Einige der Schauspieler sind minderjährig, waren also mit ihren Eltern da.«

»Gut, das reduziert wenigstens unsere Hausbesuche.«

Henry öffnete per Mausklick ein Dokument und sandte einen Befehl an den Drucker. Er aktivierte die Freisprechfunktion am Telefon, und während er die Wand hinter seinem Schreibtisch beäugte, lauschte er Lindas Vorfreude aufs Klinkenputzen. Wie das Kratzen einer oft gehörten Schallplatte drang ihre Stimme in sein Ohr. Der Klang beruhigte ihn. Er zupfte das Fotopapier aus dem Drucker und zwei Pinnnadeln aus einem Schälchen.

»Und was treibst du gerade?«, fragte sie unvermittelt.

»Bloß das Übliche.«

»Also zu Hause vor der Glotze abhängen?«

Er lachte. »Ja, so ungefähr.«

»Dir würde ich zutrauen, dass du noch im Büro bist.«

»Dienst ist Dienst und Freizeit eben Freizeit.«

»Oh, seit wann zitierst du mich?«

Er sparte sich eine Antwort und pinnte den Ausdruck an die Wand. Es war der Abend des 9. November, und Henry Kilmer starrte auf das Foto einer Beinahetoten.

Dienstag

1

Linda Liedke steuerte ihren VW Passat über die Erlanger Allee. Aus den Boxen raunte Chris Rea seinen Song King of the Beach, während Henrys Aufmerksamkeit der Akte Caroline Meyer galt. Sie wusste, dass er kein offizielles Dokument auf dem Schoß hielt, sondern eine Kopie, die im Lauf der Ermittlungen zu einem dicken Ordner anwachsen würde. In jedem Polizisten mit gesunder Verantwortung musste eine solche Akte Skepsis hervorrufen. Tatortfotos, Ermittlungsstände, vertrauliche Zeugenaussagen – das alles hatte im Privatleben eines Kriminalisten nichts verloren. Henry übertriebenen Ehrgeiz vorzuwerfen, hatte Linda längst aufgegeben. Sie hoffte einfach, er würde seine Sammlung wenigstens als etwas Verbotenes betrachten, als etwas, das nicht für die Augen Dritter bestimmt war.

Unter Chris Reas rauchiger Stimme schweiften Lindas Gedanken ab. Rechter Hand erstreckte sich das Plattenbaugebiet zwischen der A4 und den Kernbergen. Hohe Birken flankierten die Häuser, deren pastellfarbene Fassaden das einstige Einheitsgrau vergessen machen sollte. In den Höfen befanden sich mickrige Grünflächen, darauf Bänke und Spielplätze; die Gebäude ringsum hielten jedes Sonnenlicht fern. Für Linda waren das scharfkantige Schattenreiche. Vor vier Jahren hatte sie dort in einem Mordfall ermittelt. Eine schwangere Frau war von ihrem Freund erstochen worden. Der Täter ein Angestellter vom Ordnungsamt, Auslöser der Tat eine Packung sauer gewordene Milch. Bei dem Gedanken daran verspürte Linda den gleichen Frust, den Wenzels Anruf gestern bei ihr ausgelöst hatte. Sie fühlte sich nicht bereit für einen neuen Fall und stünde jetzt viel lieber in gelben Gummistiefeln auf einer Ostseedüne.

»Drei Leute für so ’ne läppische Geschichte«, stieß sie hervor. »Die Meyer kann sich das Zeug auch selbst verabreicht haben.«

»Weshalb sollte sie das tun?«

»Was weiß ich?« Sie hob die Schultern. »Vielleicht für ’nen mordsmäßigen Kick.«

»Einen, der sie ins Koma befördern sollte?«

»Du, ich hab mich belesen. Richtig dosiert verursacht das Zeug ganz andere Dinge.«

Henry nickte ihre Vermutung lediglich ab. Er widmete sich wieder seiner Akte, und Lindas Passat rollte von der Straße Am Anger auf den Parkplatz der Polizeiinspektion. Sobald sie den Wagen eingereiht hatte, öffnete sie die Tür einen Spalt und steckte sich eine Zigarette an.

»Eigentlich gut, dass Wenzel uns Lennart aufgedrückt hat.« Sie inhalierte tief und schaute zum Fenster hinaus. »Zu dritt kriegen wir das bestimmt gebacken.«

Es war kurz vor sieben, und auf dem Parkplatz erwachte eine alltägliche Geräuschkulisse. Autotüren wurden geschlossen, Begrüßungen einander zugeworfen. Polizisten, die nicht anders gähnten als Diebe und Kinderschänder, schlurften ins Hauptgebäude.

Linda musterte ihren Partner von der Seite. Henrys Gesicht hing über seiner Akte und war so ausdruckslos wie sein lehrerhaftes Jackett und seine schwarze Jeans.

Sie schnipste ihn gegen den Ellenbogen und blinzelte ihm zu. »Ich freu mich, mit dir unterwegs zu sein. So hat die ganze Sache auch was Gutes.«

Unter seinen buschigen Brauen zeigte sich ein Lächeln. Ein Henry-Kilmer-Lächeln, verkniffen und ein wenig knabenhaft. Sie lehnte sich zurück und versuchte, die Akte auf seinem Schoß zu ignorieren.

2

Bettina Wagner klopfte sachte an die Zimmertür ihrer Tochter. Sobald ein gequältes »Ja« nach draußen drang, ließ sie ab und kehrte in die Küche zurück.

Über die Anrichte gebeugt, schmierte sie Alina die Schulbrote. Seit ihre Tochter auf Wurst und Fleisch verzichtete, machte sie ihr zwei Brote mit Käse und Salat und einer extradünnen Schicht Butter. Natürlich wusste sie, dass sie einem vierzehnjährigen Mädchen nicht mehr den Pausenlunch hätte zubereiten müssen. Bettina hatte einfach Sorge, Alina würde ohne diesen mütterlichen Dienst nicht nur aufs Fleisch verzichten, sondern dem Essen ganz und gar entsagen. Sie verstaute die Brote in eine Tupperware und die Tupperware wiederum in einen Beutel, dazu noch einen Apfel und zwei Euro für den Getränkeautomaten. In der neunten Klasse schlenderte man nicht mehr mit einem Trinkpäckchen über den Schulhof; das hatte Alina ihr nicht zu erklären brauchen.

Bettina räumte das Messer ins Spülbecken und lehnte sich gegen die Anrichte. Mit der Rechten umklammerte sie die Arbeitsplatte, mit der Linken strich sie sich ein paar lose Strähnen hinters Ohr. Erst vor zwei Wochen hatte sie sich das Haar über der Badewanne gefärbt. Gut gewollt, aber schlecht gekonnt – wie sie sich selbst eingestand. Sie schämte sich ihrer kraftlosen Haare und wusste gleichzeitig, dass diese Empfindung töricht war. Um ihrem Haar zu Schwung und Vitalität zu verhelfen, schluckte sie regelmäßig diverse Kapseln. Vitamin ACE. Biotin. Auch Eisenpräparate gehörten zur täglichen Ration. Bisher hatte nichts geholfen.

Sie spreizte Daumen und Zeigefinger und rieb sich über die Wangenknochen. Immerhin konnte sie jetzt im November eine Mütze tragen, ohne dass es die Nachbarn verwunderte. Ihr halbes Leben hatte Bettina als Lehrerin für Sport und Geografie gearbeitet, auf einem Gymnasium mit überfüllten Klassen und einem Haufen unbezahlter Überstunden. Sie kannte die Anspannung, wenn auf einem die Blicke anderer lasteten, wenn das Getuschel nicht enden wollte. Bevor sie die Gedanken an diese grauenhafte Vergangenheit einlullten, ermahnte sie sich und stellte das Geschirr auf den Tisch. Zwei Teller, zwei Tassen, zwei Messer.

Morgenroutine.

Aus dem Flur wurden die Schritte nackter Füße auf Linoleum hörbar. »Flatsch, flatsch, flatsch.« Dann knackte das Schloss in der Tür zum Badezimmer. Das Rauschen des Wassers verriet Bettina, dass ihre Tochter unter der Dusche war und die nächsten Minuten im Bad verbleiben würde.

Rasch huschte sie durch den Flur in Alinas Zimmer. Die Einrichtung hatte sie vor drei Jahren gekauft, als ihre Tochter von der Grundschule aufs Gymnasium gewechselt war. Das Schlafsofa war mittlerweile durchgesessen, die Polster an den Ecken weich und formlos. Sie schlug das Bettzeug auf und warf eine Tagesdecke darüber. Neben dem Sofa entdeckte sie eine Strickjacke, die ihr völlig fremd war. Sie hielt die Jacke gegen das Licht und fragte sich, woher der Fetzen stammen mochte. Das graue Ding war Alina viel zu groß, obendrein entsprach es überhaupt nicht ihrem Geschmack. Das Bild Wollmützen tragender Mädchen blitzte in ihr auf. Heutzutage trugen Teenager Mützen und Schals, die den Anschein erweckten, sie wären von Oma persönlich gestrickt worden. Wofür man sich in Bettinas Jugend noch geschämt hatte, war nun im Trend.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Dusche noch lief, inspizierte sie den Schreibtisch. Überall fanden sich Hinweise auf Alinas neue Leidenschaft: das Theater, die Bühne. Kopien alter und neuer Stücke lagen auf ihren Schulsachen. Mit einem Stift markierte Textstellen konkurrierten mit zugeschlagenen Bio- und Physikbüchern. Dazwischen lauter Bilder und Fotos, die ihrer Tochter zufolge der Rollenfindung dienten. Eines zeigte eine sterbende Frau, über die sich ein bärtiger Mann neigte, ein anderes ein Grabgesteck, dessen Blüten aus bleichen Gesichtern geformt waren. Auf einem Foto erkannte sie Daphne, eine Figur aus der Serie Bridgerton, in deren Rehaugen eine schmerzhafte Sehnsucht lag. Früher war Alinas Leidenschaft fürs Theater noch ein Gesprächsthema zwischen ihnen gewesen. So hatte ihre Tochter ausschweifend von einer Schulaufführung geschwärmt, in der sie die Rolle einer Bäuerin spielen durfte. Bettina erinnerte sich sogar an den Titel des Stücks: Die schwarze Spinne. Leider hatte sie es aus Zeitgründen zu keiner einzigen Aufführung geschafft.

Mit routiniertem Blick stöberte sie auf dem Schreibtisch nach Alinas Handy, wurde jedoch nicht fündig; dann inspizierte sie das Bett, was ebenso erfolglos war. In ihr wuchs der Verdacht, ihre Tochter wollte das Telefon vor ihr verstecken. Vielleicht hatte sie es auch ohne jeden Hintergedanken mit ins Badezimmer genommen. Ein Vielleicht war eines der Argumente, die Mütter gern als letzte Ausflucht bemühten. Damit hatte Bettina während ihrer aktiven Dienstzeit genügend Erfahrung gemacht. Vielleicht hat mein Sohn seinen Turnbeutel in der Hektik vergessen. Ausgerechnet der Dicke, der sich vor den anderen Jungen genierte. Vielleicht hat meine Tochter das Schwimmzeug im Bus liegen gelassen. Ausgerechnet das Mädchen, das sich ihrer Neurodermitis schämte. Vielleicht hatte Alina auch bloß im Bad ihre Lieblingsmusik hören wollen. Ja, redete sich Bettina zu, das klang absolut glaubwürdig.

Als das Plätschern der Dusche verstummte, unterbrach sie ihre Suche und huschte zurück in die Küche. Dort mimte sie die Beschäftigte, indem sie das Spülbecken abwischte. Nachdem sich die Badezimmertür geöffnet hatte, schallte Alinas Stimme durch den Flur.

»Mutti!«

»Ja, mein Schatz?«

»Bist du in meinem Zimmer gewesen?«

»Ja. Aber nur kurz.«

Kein Protest vonseiten der Tochter. Allein Alinas Frage hatte genügt, um Bettina ihren Grenzübertritt zu verdeutlichen, ihre Neugier, ihr heuchlerisches Verhalten. Bist du in meinem Zimmer gewesen? Meins und deins – klarer ließ sich eine Grenze zwischen zwei Menschen wohl nicht ausdrücken. Womöglich gehört dieses Spiel zum Erwachsenwerden dazu, dachte Bettina. Mütter, die in den Zimmern ihrer Kinder stöbern, und Kinder, die deren Schnüffelei mit rollenden Augen erdulden. Bisher war ihr nie ein Kind begegnet, das einen Schlüssel für das eigene Zimmer besaß. Wer wusste schon, wie viele Kinder später ausgezogen wären, wenn Eltern stets ihre Privatsphäre akzeptiert hätten? Zugängliche Zimmer garantierten die Abnabelung. Doch Bettina wollte nicht, dass Alina den Rabenstieg verließ, jedenfalls nicht in naher Zukunft. Also musste sie ihrer Tochter ein Türschloss besorgen.

Sie speicherte den Gedanken ab und warf zwei Scheiben Brot in den Toaster. Dann setzte sie sich. Vor ihr ein Teller, auf dem Platz ihrer Tochter ebenso. Neben dem Glas Marmelade lag der Beutel mit dem Lunchpaket. Während sie auf Alina wartete, dampfte in ihrer Tasse der Kaffee.

Ihre Tochter betrat auf Socken die Küche, kein Guten Morgen, kein Blickkontakt. Stattdessen stellte sie stillschweigend ihren Rucksack ab, stopfte den Beutel hinein und verließ den Raum wieder. Bettina war kurz davor, ihr hinterherzurufen. Ob sie denn keinen Hunger habe? Wann sie zu Hause sei? Was sie zum Abendbrot essen wolle? Genau wie früher – in einem Tonfall zwischen Appell und freudiger Erwartung.

Aus dem Flur drang das Ratschen, das die Reißverschlüsse ihrer neuen Stiefel verursachten. Alina rief »Bis nachher«, und Bettina versuchte zu lächeln. Ein Abschied in Worten, wenigstens etwas.

3

Frank Wenzel, der Leiter der Kripo Jena, verwehrte seinen Teams das gewohnt schiefe Grinsen. Er strich seine Krawatte glatt und neigte sich über den Tisch. »Wir haben November, bekanntlich ein Monat der Depressionen und anderer Wehwehchen.«

Daraufhin eine Pause, in der Wenzel seine Mitarbeiter der Reihe nach fixierte. Ein kurzer Moment Auge in Auge mit dem Haifisch. Seine Geste wurde von den Beamten auf unterschiedlichste Weise quittiert: Nico Kretschmar, der Wenzel am nächsten saß, schien das Opfer einer Genickstarre; ohne Unterlass stierte er auf seine Kaffeetasse. Drei Kollegen taten beschäftigt, indem sie eifrig ihre Materialien sortierten oder an ihrer Nagelhaut pulten. Linda erkannte das erlernte Duckmäusertum aus Schulzeiten. Den ganzen Vormittag lang hätte sie dem Schauspiel zusehen können. Eva Matschik, eine der härtesten Polizistinnen auf Jenas Straßen, betrachtete einen Einkaufszettel, als verlange das ihre ganze Konzentration. Lennart Mikowski formte mit gespitzten Lippen ein lautloses Pfeifen. Auch das ein Relikt aus Schulzeiten, diesmal das Gehabe der Aufmüpfigen.

Henry, der neben Linda saß, blickte zum Fenster, als würde er ungeniert vor sich hinträumen. Wer ihn kannte, wusste jedoch, dass sich darin kein mangelnder Respekt offenbarte und schon gar kein Defizit in Sachen Aufmerksamkeit. Beidhändig hielt er eine Tasse Schwarztee umschlossen, indes der Dampf sich unter seiner Nase kräuselte und seine Ohren auf Empfang gestellt waren.

Bevor Wenzels Schweigen die Geduld der Belegschaft überreizt hätte, ergriff Sabrina Erdmann das Wort. Mit Ausnahme von Linda ließ die Runde ein kollektives Aufatmen verlauten. Sabrinas Team bearbeitete gerade den Angriff auf einen Busfahrer. Das Opfer war mit einer Flasche niedergestreckt und anschließend von mehreren Männern verprügelt worden. Das lädierte Gesicht des Busfahrers zierte das Titelblatt jeder thüringischen Tageszeitung. Natürlich wurde das Bild dafür genutzt, elementare Fragen bei den Lesern hervorzurufen: Wie sicher ist Busfahren heute? Brauchen wir mehr Überwachung? Haben die Täter vor dem Angriff ein Ticket gelöst? Die mediale Resonanz war eines der Kriterien, nach denen Wenzel die Wichtigkeit eines Falls einzustufen pflegte.

Team 3 unter Leitung von Nico Kretschmar widmete sich einer Einbruchserie. Der Umfang des Aktenmaterials war mittlerweile legendär. Die Täter bedienten sich der immer gleichen Methode. Stets waren Wohnungen am Stadtrand ausgesucht worden, stets verschafften sich die Einbrecher Zugang über die Terrasse. Trotz der miesen Aufklärungsquote zeigte Wenzel kein Interesse an dem Fall.

Erst als Linda von Caroline Meyer zu sprechen begann, regte sich sein Gesicht. Inmitten ihrer Ausführungen verkündete er lautstark, was für ihn das Gebot der Stunde war. Er werde keine Krankschreibungen dulden, solange die Sache nicht vom Tisch sei. Mit keinem Wort erwähnte er, dass das Opfer die Tochter des Bürgermeisters war oder dass er gern mit dem Herrn Papa im Ratskeller dinierte. Ebenso wenig erinnerte er daran, welchen geringen Stellenwert der Missbrauch von K.-o.-Tropfen angesichts der jüngsten Crystal-Meth-Toten besaß. Stattdessen bekräftigte er nur den Verbleib von Lennart Mikowski im Team 2.

»Wieso braucht das Team für eine einfache Befragung einen dritten Mitarbeiter?«, wollte Eva Matschik wissen.

Die Frage war noch nicht verhallt, da sah Linda bereits die Vorderzähne des großen Hais aufblitzen.

»K.-o.-Tropfen«, sagte Wenzel mit aller Schärfe, »die Vergewaltigungsdroge! Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn das die Presse aufschnappt?«

»Bisher ist nicht geklärt, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt.« Eva bewies Standfestigkeit und blieb ruhig. »Eventuell haben wir es hier mit einem Fall von Eigenverschulden zu tun.«

»Na klar«, bellte der Kripoleiter. »Und der Papst trägt Strapse.«

»Liquid Ecstasy ist eine Droge wie jede andere. Richtig dosiert verursacht es wunderbare Rauschzustände.«

Gespannte Stille von Wenzels Schreibtisch bis hin zu den Essensresten im Mülleimer. Er konnte dem nichts entgegensetzen. Hauptkommissarin Matschik hatte mehrere Jahre im Leipziger Drogenmilieu ermittelt, nur wenige waren mit dieser Thematik besser vertraut.

Wenzel nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück. Linda glaubte, ihn grinsen zu sehen. Schließlich sagte er zu ihr, Henry und Lennart: »Wenn ihr Fragen habt, wendet euch an Frau Matschik. Sie weiß ja anscheinend bestens Bescheid.« Er strich sich die Krawatte glatt und erhob sich. »Und übrigens, der Kaffee ist eine Beleidung für jeden hart arbeitenden Polizisten.« Dann im Abgang tatsächlich ein kurzes, selbstgefälliges Grinsen.

4

Alina fiel keine Antwort ein, die ihre Freundin hätte zufriedenstellen können; selbst der Ratschlag, sie solle das nächste Mal ihre Hausaufgaben allein machen, erschien ihr unpassend. Letztlich war sie von Sarah gefragt worden, ob sie die Aufgabe erledigen würde, und Alina hatte brav eingewilligt. Niemand hatte sie dazu zwingen müssen.

»Sorry«, sagte Alina kleinlaut. »Irgendwie habe ich das verpeilt.«

»Das habe ich gemerkt«, entgegnete ihre Freundin und rief ihr den gestrigen Abend ins Gedächtnis zurück.

Zweimal hatte Sarah sie über WhatsApp an ihre Abmachung erinnert, doch Alina hatte nicht reagiert. Nicht weil sie es verpeilt hätte oder ernsthaft verhindert gewesen wäre, sondern schlichtweg aus Trotz. 

»Tut mir leid, ich habe deine Nachrichten erst heute Morgen gesehen.«

»Komisch«, erwiderte Sarah. »Mir wurde angezeigt, du hättest sie gelesen.«

»Ja, echt komisch.«

Sie liefen die Karl-Liebknecht-Straße hinunter, und der strahlend blaue Himmel täuschte eine andere Jahreszeit vor. Es war weder ein herrlicher Sommertag, noch würde es einer werden, zumindest nicht für das nächste halbe Jahr. Alina zerrte sich die Wollmütze über die Ohren und hoffte, Sarah würde das Thema nicht auswalzen.

Seit einem halben Jahr trug ihre Freundin einen Pagenschnitt. Auf ihrem Wunsch hin war der Pony schräg geschnitten worden, sodass die rechte Seite die Augenbraue berührte, während die linke knapp unterm Haaransatz endete. Mit dieser Frisur fanden die Jungen sie nicht mehr bloß süß; jetzt versprach Sarahs Look auch etwas Wildes. Ein hübscher Backfisch, wie es manchmal in alten Texten hieß.

»Ist ja auch egal«, sagte Sarah mit einem Lachen.

»Ich weiß nicht«, gab Alina zu bedenken. »Frau Halberstedt kann ziemlich streng sein.«

»Sie wird mir schon keinen Eintrag geben. Sind doch nur Hausaufgaben.«

»Bist du dir sicher?«

»Risiko. So spielt das Leben.«

Einige Jungen trotteten vorbei, grüßten mit falscher Lässigkeit, und die Mädchen hoben ebenfalls die Hände. Ohne ein Kichern, ohne ein Lächeln, fast schon gelangweilt. Alinas Hand war unwillkürlich Sarahs gefolgt; aus eigener Motivation hätte sie den Gruß wohl niemals erwidert. Sobald die Jungen durch die Tür waren, drängten sie sich auch ins Schulgebäude.

 

Im Klassenraum herrschte die vertraute Lethargie am Morgen. Deutsch bei Frau Halberstedt. Alina setzte sich in die Fensterreihe, Sarah in die Wandreihe. Sie sah ihre beste Freundin mit der Banknachbarin tuscheln, ein Anblick, der in Alina einen Stich von Eifersucht verursachte. Vor den beiden lag jeweils ein rosa Hefter, daneben jeweils eine rosa Federtasche. Alina hasste die Farbe Rosa – oder Pink, wie ihre Mitschülerinnen fälschlicherweise jeden rosa Ton nannten.

Während Frau Halberstedt die Tafel abwischte, flüsterten die Mädchen unbekümmert weiter. Sarah schob sich die Hand in den Nacken und rollte mit den Augen. Ganz wie eine Prinzessin, der man den neuesten Tratsch anvertraute. Dieses Gestenspiel machte sie meist, wenn sie sich beobachtet fühlte, und hier zwischen all den Jungs fühlte sie sich andauernd im Fokus ihrer Verehrer. Der Klassenraum bot Sarah eine Bühne, und Alina war dankbar dafür, dass sie kein Interesse an einer anderen Bühne zeigte. Das Theater im Schloss Thalstein war zu klein für einen Pagenkopf.

Noch ehe Frau Halberstedt das Wort an die Klasse richtete, fasste Alina einen Entschluss. Sie öffnete ihren Hefter, nahm den Aufsatz über Ludwig Tieck heraus und faltete ihn zusammen. Auf den Brief schrieb sie die Initialen ihrer besten und einzigen Freundin, dann ließ sie den Brief in die Wandreihe reichen. Sowie Sarah ihn empfangen hatte, schaute sie zum Fenster hinaus. Eine Schar Krähen flog an der Schule vorbei in Richtung Ostfriedhof. Alina mochte Krähen. Und Raben. Und auch Tauben. Sie mochte generell Vögel, denen andere gern den Tod wünschten.

Wenig später wurde Alina für ihre Geduld belohnt. Ricardo, der hinter ihr saß, streckte ihr einen Zettel zu. Du bist die Beste, war darauf geschrieben. Sie blickte in die Wandreihe und sah voller Genugtuung, wie Sarah ihr zulächelte. Es war das Lächeln der Schönen. Erhaben und arrogant zugleich. Alina griente zurück und hoffte, Frau Halberstedt würde sie nicht wegen der Hausaufgaben aufrufen.

5

Uniklinikum Jena. Linda schob beide Hände in ihre Lederjacke und spähte durch die verglaste Tür ins Krankenzimmer. Zunächst rührte sie Caroline Meyers bloßer Anblick kaum. Die Bettdecke war ihr bis unter das Kinn gezogen worden, die Haare verteilten sich auf dem Kopfkissen wie von der Sonne ausgedörrte Algen. Linda hätte nicht sagen können, mit welchem Schwung Caroline normalerweise durch die Welt ging; sie kannte weder ihre Stimme noch ihre Gangart, weder ihre Gesten noch ihr Mienenspiel. Es war, als hätte die Frau nie woanders gelegen, nur in dem pastellfarbenen Zimmer, stets in der Schwebe zwischen Leben und Tod.

Linda erfasste die vielen Geräte, die neben dem Bett standen. Weiße und graue Kabel führten von einer Buchse in eine andere, auf einem Monitor blinkten elektronische Signale. Kurven, Zahlen, obskure Werte. Nichts von alldem wusste Linda zu deuten. Ihre Augen folgten den Plastikschläuchen, die sich Caroline über Mund und Nase in den Schädel bohrten. Diese durchsichtigen Würmer penetrierten die Patientin, ob sie wollte oder nicht, und das ließ Linda letztlich doch erschaudern.

»Ich hasse Krankenhäuser.«

»Wundert mich, dass du überhaupt mitgekommen bist«, sagte Henry.

»Ja, ich bin selbst verblüfft.«

Sie wandte sich von der Tür ab, worauf Henry ihren Platz einnahm. In der Rechten hielt er sein Notizbuch, in der Linken einen Bleistift. Ohne ein Anzeichen von Scham schrieb er wohl das nieder, was Linda gerade mit eigenen Augen gesehen hatte. Er stierte ins Zimmer und führte blind den Stift. Die Kälte, die seine Konzentration ausstrahlte, beschämte sie; vergeblich suchte sie unter seinen buschigen Brauen eine Regung des Mitgefühls.

»Furchtbare Situation«, sagte sie. »Nicht tot und nicht lebendig.«

Henry nickte unbestimmt.

»Lässt dich der Anblick denn kalt?«

»Nein, garantiert nicht.«

»Aber wenn ich dich so ansehe …«

»Das ist das Einzige, was ich im Moment tun kann«, erklärte er ruhig. »Mir Notizen machen. Aufschreiben, was mir wichtig erscheint. Beobachten.«

Vielleicht, dachte Linda, hat Henry in diesem Punkt nicht unrecht. Seine Akribie bot wenigstens die Möglichkeit, irgendwann aus dem starren Bild der Patientin das lebendige Porträt einer Frau zu formen. Caroline Meyer. Studentin der Theaterwissenschaft. Regieassistentin am Schloss Thalstein. Ein Mensch mit eigener Geschichte und eigenen Bedürfnissen, ein Mensch, der nicht bloß die Ängste einer Polizistin widerspiegeln sollte.

»Hast du ’ne Ahnung, wofür diese ganzen Schläuche sind?«

»Ich schätze, darüber wird sie ernährt.«

»Auch der große da?«

»Der ist für die künstliche Beatmung.«

Lindas Hand fuhr in die Innentasche ihrer Jacke und berührte die Schachtel Zigaretten. In Gedanken sah sie eine tiefschwarze Lunge, die binnen Sekunden zu einer schrumpeligen Traube verkümmerte. Ungefähr so stellte sie sich auch das Endstadium von Lungenkrebs vor. Schlichtweg keine Luft mehr zu bekommen, erschien ihr als die übelste aller Todesarten. Lebendig begraben zu sein. Über ihre eigenen Gedanken entsetzt, wandte sie sich von der Tür ab.

Ein Mann, etwa Anfang fünfzig, kam in Begleitung einer Pflegerin den Gang hinunter. Linda und er nickten einander zu, während Henry unverändert an der Scheibe klebte. Mit einem dezenten Räuspern versuchte sie, ihn aus dem Tunnel zu holen.

Von ihrem Partner allerdings keine Reaktion.

»Henry?«

Sie zupfte ihn unauffällig am Ellenbogen.

»O Verzeihung.« Er vollführte eine Drehung und blickte den Mann direkt an.

Dessen Gesicht offenbarte keinerlei Interesse an jedweder Form der Kommunikation, stattdessen drückte es unverhohlen Ärger und Missbilligung aus. Er fixierte Henry so lange, bis der ihm bereitwillig die Tür öffnete. Nachdem er im Zimmer verschwunden war, zog die Pflegerin ein Rollo vor die Scheibe.

»War das ihr Vater?«, flüsterte Henry.

»Ja«, antwortete Linda. »Unser lieber Herr Bürgermeister.«

 

Um Viertel nach elf empfing Professor Dr. Maillard sie in seinem Büro. Anstelle eines weißen Kittels oder einer grünen Vollmontur trug der Oberarzt einen Dreiteiler mit dunkelblauer Fliege. Auch das Zimmer entsprach nicht der Vorstellung, die Linda vom Büro eines leitenden Arztes hatte. Auf dem Schreibtisch thronte eine Petroleumlampe mit Bronzefuß und Glasschirm, an den Wänden hingen die gerahmten Postkarten verwitterter Bauwerke.

»Das ist eine Maison de Santé in Südfrankreich«, kommentierte Maillard, während Linda eines der Bilder betrachtete. Auf ihren fragenden Blick hin präzisierte er: »Eine Nervenheilanstalt aus dem neunzehnten Jahrhundert.«

»Und das?«

»Ein Tollhaus für Arme.«

»Irgendwie makaber, finden Sie nicht?«

»Weil die Fotos so schön sind?« Er nahm hinter seinen Schreibtisch Platz. »Oder weil ich sie hier aufgehängt habe?«

»Die Bilder an sich«, sagte Linda. »Womit Sie Ihr Büro schmücken, ist ganz Ihre Sache.«

Unter seiner filigranen Nickelbrille formte sich ein Lächeln, das nicht zu seinem Auftreten passte und noch weniger in dieses Zimmer.

»Ist das in Berlin?«, fragte Henry von der anderen Seite des Raums.

»Ja, war mal eine Klinik für Gemütskranke.«

»In Schöneberg, oder?«

»Woher wissen Sie das?«

»Der Herr Kilmer kommt aus Berlin«, antwortete Linda für ihren Partner. Sie dachte, dass das jetzt der passende Zeitpunkt war, um allen den Anlass ihres Besuchs zu vergegenwärtigen. Eine Frau lag im Koma, und der Chef der Kripo schlug die Alarmglocke.

Professor Maillard erklärte ihnen, was sie zumindest vermutet hatten. Caroline Meyer sei alkoholisiert gewesen, nicht besonders stark, der Bluttest habe einen Wert von 0,6 Promille ergeben. Das GHB sei sowohl im Urin als auch im Blut der Verunfallten nachgewiesen worden. Das heiße de facto, die Droge könne höchstens sechs Stunden vor ihrer Einlieferung in den Körper gelangt sein.

»Grob geschätzt«, ergänzte Maillard.

»Und wie lange wird Frau Meyer im künstlichen Koma bleiben?«, fragte Linda.

»Eine Langzeitnarkose bedeutet nicht, dass wir einen Anschalter bedienen, und alles ist in Ordnung. Frau Meyer hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten, wir mussten ihren Körper herunterfahren. Ihre Temperatur liegt aktuell bei 34 Grad, ihr Stoffwechsel ist verlangsamt. Wenn sich ihre Werte verbessern, leiten wir die Aufwachphase ein. Allein die kann mehrere Tage dauern, schlimmstenfalls sogar Wochen.«

Die nüchternen Worte des Spezialisten verschlugen Linda die Sprache. Ausgerechnet in der Galerie seiner morbiden Fotografien hoffte sie, Zerstreuung zu finden.

»Professor Maillard.«

»Ja?«

»Glauben Sie, dass es heute weniger Verrückte gibt als damals?«

6

Keinen Menschen schlagen zu können, heißt nicht, keinen Menschen verletzen zu können. Das sind zwei Paar Schuhe.

Wenn du am Boden zerstört bist, malst du dir allerlei Todesarten aus. Von einer simplen Vergiftung bis zum Hungertod, vom Erhängen bis zur Feuerstrafe. Lebendig begraben werden, wie es in Edgar Allan Poes Bericht geschildert wird, oder auf einem Ozean, schiffbrüchig und umgeben von Wasser, verdursten müssen. Diese Todesart findest du beinahe schon amüsant. Da schreit der Mensch nach dem Salz in der Suppe, bekommt ein ganzes Meer und stirbt. Manchmal glaubst du, das Schicksal triebe seine Späße mit den Menschen.

In deiner Kindheit erzählte dir dein Großvater von einer chinesischen Foltermethode. Er war ein Mann, der ein Gespür für anschauliche Details hatte, ein Mann des Wortes und der Anekdote. Ein geborener Schwätzer. Wäre er nicht so ein Feigling gewesen, hätte er’s weit gebracht, womöglich bis in die Politik.

Er berichtete dir von Strafgefangenen, die durch die Hölle gingen. Zunächst wurde ihnen der Schädel kahl geschoren, danach auf der nackten Haut ein Stück Leder geglättet. Nasses Leder, das sich perfekt an jede erdenkliche Kopfform schmiegt. Sofort dachtest du an die Badekappe, die du im Schwimmunterricht tragen musstest. Fast hättest du laut aufgelacht, weil das Bild – du mit Glatze – doch ziemlich ulkig war. Dein Großvater ließ sich davon nicht beirren. Sachlich beschrieb er, wie die Folterknechte das Leder auf dem Schädel strafften und es mithilfe eines Riemens unter dem Kinn festschnürten. Zwischen Haut und Leder war nun kein Millimeter Luft. Um dir dieses Nichts zu verdeutlichen, presste dein Großvater seinen Mittelfinger auf den Daumen.

»Sieht du das?«, fragte er. »Nicht mal Platz für das dünnste Schlitzaugenhaar.«

Du zeigtest brav ein erstauntes Gesicht, worauf dein Großvater bedeutungsschwer nickte. Damit das Leder rasch trocknete, wurde der Gefangene in die pralle Sonne gesetzt. Sein Haar begann wieder zu sprießen und traf schon bald auf ein Hindernis.

»Doch die Haare wachsen weiter«, erklärte dein Großvater, »immer weiter.«

Später hast du irgendwo gelesen, dass selbst das Haar von Verstorbenen nicht zu wachsen aufhört. Im Vergleich mit menschlicher Haut ist Kuhleder viel robuster, und die Haarspitzen müssen sich einen leichteren Weg suchen. Also bohren sie sich langsam zurück in den Kopf des Gefangenen.

Die Epidermis des Menschen besitzt unendlich viele Nerven. Sie ist das größte Sinnesorgan, hast du in der Schule gelernt. Haut gleich Nerven und Nerven gleich Schmerzen – eine simple Formel.

»Der Gefangene wird von der Tortur nicht sterben«, betonte dein Großvater gern. »Stattdessen erleidet er höllische Qualen, bis er dem Wahnsinn verfällt.«

Er hatte eine Menge solcher Geschichten auf Lager. Zum Beispiel erzählte er ebenso gern von Russen, die ihre Schweine bei lebendigem Leib verbrannten. Angeblich, um die Borsten von der Haut zu lösen. Damals konntest du dir das Martyrium der Schweine leicht ausmalen. Milliarden Nervenenden brüllen unter den Flammen auf und leiten den Schmerz weiter. Vielleicht waren unter den Opfern auch kleine, süße Ferkel gewesen. Während dein Großvater die Geschichte gnadenlos ausschmückte, wurdest du wütend auf ihn. Hast dir insgeheim gewünscht, er würde ein bisschen Mitleid zeigen. Aber dein Großvater erzählte die Geschichte, wie er seither Geschichten zu erzählen pflegte: detailliert und emotionslos. »Die perfekte Folter«, schloss er seinen Bericht aus Fernost und wiederholte nüchtern, dass der Gefangene davon nicht sterben werde. Das galt allerdings nicht für die Ferkel.

Heute fällt es dir nicht weniger leicht, dich in die Tiere hineinzuversetzen. Der brennende Schmerz. Die versengte Haut. Das panische Sterben. Entkommen ausgeschlossen, ganz egal, wohin sie fliehen. Diese Bilder wirst du nie vergessen, sie machen dich noch genauso wütend wie damals. Immerhin weißt du jetzt: Kein Schwein töten zu können, heißt nicht, keinen Menschen verletzen zu können. Das sind zwei Paar Schuhe.

7

Es war, als hätte sich das Schloss in ein Trauergewand gehüllt, selbst der blaue Himmel über den Dachgauben und Treppengiebeln vermochte nicht, das Gemäuer zu erhellen. Die Sonnenstrahlen trafen auf den verwitterten Backstein und zerstreuten sich in Kälte. Ein Triptychon dunkler Rundbogenfenster starrte über die Terrasse und den Vorplatz hinweg durch das eiserne Eingangstor. Lennart sprang Henry ins Bild, worauf er die Handyaufnahme pausierte. Er steckte das Telefon ein, öffnete das Tor und ließ Lennart und Linda den Vortritt.

Die Buchen, die den Vorplatz umsäumten, waren fast blattlos, indes die Luft darunter nach vermodertem Laub roch. Henry raffte sein Jackett am Kragen zusammen und stieg die Stufen zur Terrasse hinauf. Linda war auf die hüfthohe Balustrade gerutscht und kramte aus ihrer Lederjacke eine Schachtel Zigaretten hervor. Der Ausdruck der Betroffenheit, der noch im Krankenhaus ihr Gesicht verdunkelt hatte, war einer achtsamen Gelöstheit gewichen. Sie zündete sich eine Zigarette an und meinte, dass es wohl keinen besseren Ort für ein Theater gebe.

»Ein Gruselkabinett würde hier auch reinpassen.« Lennart zog unter seiner Kapuze eine Grimasse. »Ein Panoptikum mit Folterkeller und Leichenhalle.«

»Wie bei Madame Tussauds«, sagte Linda. »Hat Berlin nicht ein berühmtes Wachsfigurenkabinett?«

»Hatte«, antwortete Henry. »Grusliger als die Horrorkammer war aber die medizinische Sammlung.«

»Was gab’s denn da zu sehen?«

»Wachsmoulagen.«

»Und was soll das sein?«

»Das sind originalgetreue Modelle von Körperteilen.«

»Echt? Da kann ich mir Schlimmeres vorstellen.«

»Die meisten bildeten Krankheiten ab.« Henry wandte sich ihr zu. »Zum Beispiel Geschlechtsorgane, die von Pilzen befallen sind.«

»Na, guten Appetit.« Linda lachte ihr Krähenlachen, wobei ihr der Rauch stoßweise aus der Nase strömte.

Nahe der Eingangstür hing ein hölzerner Kasten, in dem das aktuelle Programm angeschlagen war. Werkstätten wechselten sich mit klassischem Schultheater ab. Grimms Sterntaler für die Jüngeren, Antigone und Romeo und Julia für die Älteren. Henry dachte bei der Auswahl an seine Schulzeit, insbesondere an die Fächer Deutsch und Englisch. Er hatte die Ausflüge ins Theater stets herbeigesehnt; immerhin war er so dem Schulhof und einem gewissen Patrick Kramer entkommen.

Er drückte den Aufnahmebutton seiner Handykamera und filmte die Fassade. Direkt über dem Türsturz prangte ein von Rost zerfressenes Wappen. Auf rot-weißem Grund zeigten zwei martialische Kampfsicheln einander die gezahnte Scheide. Henry recherchierte im Internet, dass das Wappen den Besitz derer von Tümpling auswies. Die adlige Familie hatte in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das Anwesen bewohnt. Der einstige Eigentümer Wolf von Tümpling hatte die Statue des Erlkönigs anfertigen lassen, ein monumentales Bauwerk, das sich nur wenige Hundert Meter vom Schloss entfernt an einem sumpfigen Pfuhl befand.

Mit einem Knarren schob sich die Tür vor Henry auf.

Lennart verharrte hinter der Schwelle und wandte sich ihnen zu. »Treten Sie ein, meine Damen und Herren.« Er schnitt abermals eine Grimasse.

Henry und Linda folgten der Einladung in ein weitläufiges Foyer. Links hob sich eine Bar mit Sitzbereich – die Stühle standen auf den Tischen, die Hocker auf dem Tresen –, rechts führte eine Treppe ins obere Stockwerk. Das klare Licht des Vormittags drang durch die Rundbogenfenster, und in den Strahlen tanzte der Staub wie ein Schwarm wintermüder Essigfliegen. An den Wänden hingen die Plakate alter Vorstellungen. Augenlose Masken und weiß geschminkte Gesichter glotzten auf sie herab, und Henry fühlte sich, als wäre er in die Szenerie eines englischen Schauerromans getreten.

Er vernahm das Geräusch zügiger Schritte und schaute die Stiege empor. Eine Frau in einem olivfarbenen Rock und einer legeren Bluse kam ihnen entgegen.

Marissa Kolp, die Leiterin des Hauses, begrüßte sie mit einem sanften Händedruck. Henry tat sich schwer, ihr Alter einzuschätzen. Umspielt von weizengelben Locken leuchteten ihre Wangen so rot, als hätte sie eben noch selbst hineingekniffen. Ihr zwangloses Lächeln verlieh ihr eine natürliche Eleganz. Letztlich legte sich Henry auf ein Alter zwischen Ende vierzig und Mitte fünfzig fest.

Nach der Begrüßung nahmen sie die Treppe ins Obergeschoss. Marissa Kolp lotste sie einen Korridor entlang, vorbei an geschlossenen Räumen und weiteren Plakaten, bis sie zu einer offenen Tür gelangten. Mit einem Nicken dirigierte die Leiterin sie in ihr Büro.

Ein riesiger Schreibtisch machte den kleinen Raum noch enger. Lennart reagierte sofort und bot an, sich ein bisschen umzuschauen. Er wolle mal echte Theaterluft schnuppern. Lächelnd erwiderte Marissa Kolp, er solle sich nicht verlaufen. Lennart huschte aus dem Büro und schloss leise die Tür.

Die Frau setzte sich hinter den Schreibtisch, Linda davor und Henry blieb an den Türrahmen gelehnt stehen. Auf dem Tisch herrschte ein Wirrwarr an Papieren, Heftern und Stiften. Auch hier waren die Wände ringsum mit Plakaten älterer Vorstellungen geschmückt. Unter einigen Titeln konnte er den Namen der Leiterin lesen. Regie: Marissa Kolp. – Stückbearbeitung: Marissa Kolp. – Produktion: Marissa Kolp. In Augenhöhe entdeckte er eine Urkunde, an deren Rand ein Foto gepinnt war. Marissa Kolp und ein junger Mann grienten von einer Festbühne herunter und präsentierten der Kamera einen Preis in Form einer Skulptur. Die offensichtliche Freude über den Gewinn dominierte das Bild. Anstelle zweier Preisträger hätte man in ihnen auch ein Pärchen vermuten können. Vielleicht trifft beides zu, dachte Henry. Ineinander verliebte Sieger.

»Das war nach unserer ersten Spielzeit.« Marissa Kolp betrachtete nun selbst das Foto. »Gleich das Premierenstück hat den Thüringer Theaterpreis abgesahnt.«

»Die Freude ist nur schwer zu übersehen«, sagte Linda. »Muss ein toller Moment gewesen sein.«

»Das war einer der glücklichsten Tage meines Lebens.«

»Das zu erreichen, hat bestimmt ’ne Menge Nerven gekostet.«

»Ach«, Marissa Kolp winkte ab, »wir waren jung und hatten die richtige Portion Größenwahn.« In ihren Augen schimmerte eine Spur Wehmut auf. »Der junge Mann neben mir ist der Regisseur des Stücks. Ich habe Ben damals an unser Haus geholt.«

»Ben Schilling?«, fragte Henry.

»Sie kennen ihn?«

»Ich habe seinen Namen am Aushang gelesen.«

»Ben inszeniert gerade Morella nach Edgar Allan Poe.«

»Etwa eine Gruselgeschichte?«

»Ich würde sagen, eine gruslige Liebesgeschichte.«

»Und ist Caroline Meyer auch daran beteiligt?«, fragte Linda.

Marissa Kolps Lächeln löste sich zusehends auf. Ihr Blick sprang zwischen Linda und Henry hin und her, bis sie irgendetwas auf ihrem Schreibtisch fixierte. »Ich kann nicht verstehen, weshalb jemand Caroline vergiften wollte.«

»Genau darauf hoffen wir Antworten zu finden«, sagte Linda. »Wir müssen jedoch ausschließen, dass es sich um ein Versehen handelte.«

»Ein Versehen? Niemand schüttet unabsichtlich K.-o.-Tropfen in ein Glas.«

»Wir dachten eher an ein Versehen von Frau Meyer.«

»Warum hätte sie das tun sollen?«

»Vielleicht hat sie die Wirkung der Droge unterschätzt.«

»Sie nimmt keine Drogen«, sagte Marissa Kolp bestimmt. »Jedenfalls nicht hier im Theater.«

»Sie klingen so überzeugt.«

»Caroline ist nicht dumm. Außerdem hatte sie Dienst.«

»Und während der Arbeitszeit würde sie nicht …?«

»Auf keinen Fall.«

»Sind Sie sich sicher?«

»Ja, hier waren auch Jugendliche unter sechzehn. Und Caroline …« In einer verzweifelten Geste griff Marissa Kolp nach einem Bleistift und rieb ihren Daumen über das Holz. »Caroline predigt gern, dass wir eine Vorbildfunktion hätten. Sie, ich, die erwachsenen Schauspielerinnen und unsere Techniker. In Gegenwart der Kinder würde sich Caroline nicht das kleinste Schlückchen gönnen. Niemals.«

»Also sind Sie der Meinung, es handelt sich um Fremdverschulden?«

»Sie wollen wissen, ob ich einen der Gäste verdächtige?«

»Oder einen Ihrer Kollegen.«

Lindas Schlussfolgerung schien der Leiterin mehr Unbehagen zu bereiten als eine Angestellte, die sich vor Kindern und Jugendlichen einen Drogencocktail verabreichte. In dem engen Büro war es fast still; allein das Kratzen von Marissa Kolps Nagel auf dem Bleistift brachte die Luft zum Schwingen. Nach einer Weile gelang der Theaterleiterin wieder ein Lächeln.

»Niemand würde so etwas tun«, sagte sie mit krampfhafter Zuversicht. »Wir sind eine große Familie.«

Marissa Kolp erzählte, dass Caroline Meyer bei allen beliebt sei. Sie trete Ihren Dienst stets pünktlich an und nehme Überstunden bereitwillig in Kauf. Überstunden, so fügte sie rasch hinzu, seien im Theaterbetrieb nicht zu vermeiden. Schnell könnten die Proben bis zehn Uhr abends oder sogar länger dauern. In diesem Fall greife der Jugendschutz, da viele der Schauspielerinnen und Schauspieler noch minderjährig seien. Sobald die Proben überzogen werden, müsse man ohne Wenn und Aber die Eltern benachrichtigen. Das sei Carolines Aufgabe.

»Ist sie mit jemanden enger befreundet?«, fragte Linda.

»Sie hat mal eine Freundin namens Katja erwähnt.«

»Und am Theater?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Und wissen Sie von Beziehungen, die über Freundschaft hinausgehen?«

»Wir haben nie über intime Verhältnisse gesprochen.«

»Kein Satz über irgendwelche Partner oder Liebschaften?«

»Nein.«

»Rein gar nichts?«

Die Skepsis in Lindas Stimme war nicht zu überhören. Henry begriff nicht, weshalb seine Partnerin mit solcher Vehemenz vorpreschte. Hatte sie etwa einen Verdacht? Schweigend ließ Marissa Kolp ihren Blick über den Schreibtisch wandern, als fände sich in dem Chaos ein Beweis, der ihr Nein untermauern würde. Linda wechselte das Thema, indem sie sich erkundigte, wie es mit dem Theater weitergehe.

Diesmal antwortete Marissa Kolp ohne Umschweife. Ein Kulturbetrieb sei heutzutage mit einer Firma vergleichbar. Nach ein paar Tagen öffentlicher Anteilnahme müsse der Alltag wieder in den Vordergrund rücken. Das Theater werde von Verbänden gefördert, und die Vorstände wollen Ergebnisse sehen. Immerhin seien Gelder geflossen. Also würden die aktuellen Projekte fortlaufen, die Werkstätten wieder öffnen. Nichts zuletzt sei man das den Kindern und Jugendlichen schuldig.

Linda schrieb ihre Telefonnummer auf die Rückseite einer Visitenkarte, und Henry schloss sein Notizbuch. Sie verabschiedeten sich voneinander, und als sie durch die Tür schritten, fragte Marissa Kolp: »Und wenn alles bloß ein Irrtum ist? Zum Beispiel eine allergische Reaktion auf ein Gläschen Sekt?«

Linda schaute sie an, und Henry wusste, dass Marissa Kolp die Antwort nicht gefallen würde.

8

Lennart Mikowski hatte unten im Foyer gewartet. Er lehnte lässig an der Bar, als hätte er gerade ein Bier geordert. Mit gespieltem Entsetzen meinte er zu ihnen, dass der Kühlschrank hinter dem Tresen durch ein Vorhängeschloss gesichert sei. Henry versuchte sich auszumalen, wie es bei der Feier zugegangen sein mochte. Etwa dreihundert Gäste hatten in dem Saal Platz. An den Wänden hingen geschwungene Leuchter, deren Licht garantiert für eine heimelige Atmosphäre inklusive schattiger Winkel sorgte; das bot zumindest die Möglichkeit, ungesehen etwas in ein Getränk zu mischen.

Er durchquerte das Foyer und suchte den Vorstellungsraum auf. Die Sitze waren mit purpurnem Samt bezogen, die hölzernen Armlehnen zerkratzt. Sofort erfasste ihn ein Gefühl der Vertrautheit. Er hockte sich in die letzte Reihe, und die Härte der Polster erinnerte ihn an alte Kinosessel.

»Wow, genau wie früher.« Linda, die auf den Nachbarplatz gesunken war, stupste ihn mit der Schulter an. »Weißt du noch? Theater in der neunten Klasse. Romeo und Julia und das ganze Zeug.«

»Ja, daran musste ich auch denken.« Er legte die Unterarme auf die Rückenlehne des Vordersitzes und fotografierte die Bühne.

Die Wände waren mit schwarzem Stoff bespannt, der Fußboden geschwärzt. Rechts von der Bühne warf ein schwarzer Vorhang tiefe Falten, links leuchtete ein Scheinwerfer mit schwarz lackiertem Gehäuse.

»Wie kann ein so dunkler Raum so viel Vergnügen bereiten?«, sinnierte Henry laut.

Linda neigte sich vor. »Das fragt ausgerecht einer, der sich mit True Crime die Zeit vertreibt?«

Er grinste, bevor er ihr berichtete, dass das Leben des Schauspielers Harold Norman auf der Bühne geendet habe. Seine Partnerin runzelte die Stirn, was er als Einladung zum Exkurs interpretierte.

»Das geschah 1947«, fuhr Henry fort. »Im letzten Akt von Macbeth wird Norman beim Schwertkampf tödlich verwundet.«

»Ah, der Endkampf zwischen Macbeth und Macduff«, ergänzte Linda.

Henry hob vor Erstaunen die Brauen.

»Manchmal verirre ich mich ins Kulturprogramm.«

»Verletzte Schauspieler und abgebrannte Bühnen waren bei diesem Stück keine Seltenheit. Man spricht sogar von einem Macbeth-Fluch.«

»Glaubst du daran?«

»An Flüche nicht. Eher an sich selbst erfüllende Prophezeiungen.«

Er stemmte sich aus dem Sessel, lief zur Bühne hinunter und fotografierte von dort aus den Zuschauerraum.

»Hey«, rief Linda. »Keine Paparazzifotos!«

»Die sind für Wenzels Akte. Arbeitsnachweise.«

»Na, dann hab ich noch was.« Linda zeigte ihm den Stinkefinger und ließ ihr Krähenlachen hören.

»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Eine Stimme aus den verborgenen Schichten des Vorhangs, so plötzlich und unerwartet, dass Henry vor Schreck über den Bühnenrand stolperte und auf allen vieren landete.

Ein etwa sechzigjähriger Mann trat aus der Dunkelheit ins Rampenlicht. Er trug einen unförmigen Anzug, der ihm zwei Nummern zu klein war.

»Kripo Jena!«, rief Linda auf dem Weg zur Bühne. »Mein schreckhafter Kollege Herr Kilmer und meine Wenigkeit. Linda Liedke.«

Sie hielten dem Mann ihre Ausweise unter die Nase. Bis auf den Anzug war alles an ihm von imposanter Größe. Der Schädel so riesig wie die Stirn breit. Ein Schnauzbart, der die gesamte Oberlippe verhüllte, dazu Hände und Beine, für die das Adjektiv klobig eine Untertreibung war. Linda fragte ihn, mit wem sie die Ehre hatten.

»Torsten Knaak«, brummte der Mann. »Mit doppeltem A.«

»Sind Sie Schauspieler?«

»Nur im wahren Leben.«

»Und das soll bedeuten?«

»Dass ich im Theater echter bin als draußen.«

»Also sind Sie kein Schauspieler?«

»Ja, tut mir leid. Ich bin bloß der Mann für alles.«

»Bloß der Mann für alles«, wiederholte Linda. »Klingt, als wären Sie unentbehrlich.«

»Früher hätte man mich einen Hausmeister genannt. Heute bin ich jemand, der anderen sagt, wo was nicht funktioniert.« Torsten Knaak stolzierte an den Bühnenrand und sprach zu den leeren Sitzreihen. Seine riesige Hand wies auf den Scheinwerfer. »Der Neunelfer versengt unseren Schauspielern das Haupt, ihr Narren.« Seine Hand wies abwärts. »Wer soll denn barfuß über den Drecksboden wandeln?« Er wies beidhändig in den Zuschauerraum. »Sollen unsere Gäste auf knarrenden Stühlen schlafen?«

Dieser Knaak hatte nicht nur eine beeindruckende Gestalt, darüber hinaus wirkten all seine Gesten ausladend und übertrieben.

»Sind die Ordnungshüter wegen der traurigen Geschichte hier?« Er sprach noch immer in Richtung der Sitze.

»Wenn Sie Frau Meyers Unfall meinen, dann ja«, antwortete Linda.

»Das arme Mädel.«

»Sie ist dreiundzwanzig. Könnte man eine Frau nennen.«

»Mädel oder Frau. Wer weiß das heutzutage schon?«

»Das Gesetz«, erwiderte Linda streng.

Wider Erwarten bat Torsten Knaak um Verzeihung. Er senkte die Stirn und sagte, dass er seinen Spruch zutiefst bereue. Während seine Stimme vor Aufrichtigkeit strotzte, wirkte seine Geste von Ironie gelenkt. Henry machte für diesen Eindruck Knaaks übertriebenes Gebaren verantwortlich.

Der Mann für alles stieg von der Bühne, setzte sich in die erste Reihe, und ohne dass sie ihn erst auffordern mussten, begann er zu erzählen.

Ja, er kenne Caroline Meyer. Er kenne sie sogar gut, das brave Mädel. Darauf folgte postwendend eine Entschuldigung. Caroline und er hatten hin und wieder ein Tässchen Tee zusammen getrunken. Auf die feine englische Art, mit Zucker und einem Schuss Milch.

»Und gab’s auch mal einen Schuss Alkohol dazu?«, fragte Linda.

»Nein, nein. Was denken Sie?«

»Keinen Royal Tea mit Sherry?«

Knaak rümpfte die Nase, wobei sein riesiger Schnauzer aufgeregt hüpfte. Dann erklärte er, dass Caroline über das kostbarste Gut verfüge, das man am Theater haben könne. Etwas, von dem die meisten Künstler behaupteten, es nie zu haben – und seine Chefin zähle in diesem Fall auch zu den Künstlern. Indem er sich demonstrativ aufs Handgelenk tippte, sagte er: »Zeit, die hat Caroline mitgebracht. Zeit und Muße.«

»Ist sie oft länger hiergeblieben?«

»Länger als jede andere.«

»Und warum tut man sich das an?«

»Na, wegen der Millionen, die man am Theater verdient.« Er warf beide Arme über die Rückenlehne und lachte. Henry war sich unschlüssig, ob dieses Lachen gespielt war oder ob sich Knaak über seinen eigenen Sarkasmus amüsierte. »Nein«, korrigierte er sich betont freundlich. »Einfach, um einen Fuß ins Theater zu kriegen. Welches Mädchen träumt nicht davon, auf oder hinter der Bühne zu stehen?«

»Ich wollte nie zum Theater«, entgegnete Linda.

»Sind Polizisten nicht irgendwie auch Schauspieler?«

Sie setzte sich neben ihn, und er nahm den linken Arm von der Lehne. »Sie sind doch das Gehör dieser Bühne …«

»Sie wollen, dass ich tratsche.«

»Ich will, dass Sie schildern, was andere übersehen.«

Unter seinem Schnauzbart zuckte ein schelmisches Grinsen. »Man wird nicht umsonst der Mann für alles.«

»Das glaube ich gern.«

»Aber lockere Schrauben lassen sich nicht mit Geschwätz festziehen.« Knaak beugte sich vertraulich zu Linda. »Ich habe mir ein selektives Gehör angeeignet.«

»Sie wollen mir weismachen, Sie interessieren sich nur für kaputte Stühle und lockere Schrauben?«

»Eine Familie funktioniert am besten, wenn man in den richtigen Momenten weghört.«

Lindas Gesicht war gezeichnet von Skepsis. Henry wusste sofort, was ihr sauer aufstieß. Der schöne Vergleich mit der Familie war an diesem Tag bereits das zweite Mal gefallen; im Grunde stand er für eine Gemeinschaft, die keine Eindringlinge duldete.

9

Kaum waren sie aus dem Schulgebäude, brach das Gelächter aus ihnen heraus; genau genommen fing Sarah zu lachen an, woraufhin Alina mit einstimmte. Sie amüsierten sich darüber, wie Alina Frau Halberstedt gelinkt hatte. Sarah behauptete sogar, dass sie ihr das niemals zugetraut hätte.

»Ich hab mich einfach freiwillig gemeldet«, bemerkte Alina, als wäre ihre Aktion das Simpelste auf der Welt gewesen.

»Hast du keine Angst gehabt?«

»Wieso denn?«

»Frau Halberstedt hätte dich drannehmen können.«

»Mich muss sie nicht kontrollieren. Sie weiß, dass ich meine Hausaufgaben mache.«

»Danke, Alina«, äffte Sarah die Deutschlehrerin nach. »Ich möchte lieber jemand anderes hören.«

»Clever, oder?«

»Der Trick funktioniert auch bloß bei Strebern«, sagte Sarah ernst und schob sich die Wollmütze auf den Pagenkopf. »Mich hätte die blöde Kuh garantiert vorlesen lassen.«

Sie überquerten die Karl-Liebknecht-Straße und liefen den Hügel zum Rabenstieg hinauf. Vereinzelte Wolken trieben unter einem eisblauen Himmel über die Gärten und Häuser. Alina setzte ebenfalls ihre Wollmütze auf und fragte Sarah, ob sie in ihren Augen eine Streberin sei.

»Auf alle Fälle machst du immer alles ordentlich.«

»Das heißt aber nicht, dass ich mir Mühe gebe.«

»Das kannst du deiner Mutter erzählen.«

»Nein, echt jetzt«, protestierte Alina. »Das mache ich alles mit links.«

»Was? Einsen schreiben und Referate halten?«

»Ja.«

»Dann musst du ein Genie sein.«

Die Ironie in Sarahs Stimme war nicht zu überhören. Gern hätte Alina ihrer Freundin anvertraut, dass sie aus einem Impuls heraus gehandelt hatte; ihre Aktion war kein cleverer Trick gewesen, sondern eine Art Selbstmordkommando. Die Angst vor schlechten Noten hatte Alina unlängst verloren. Einen Eintrag wegen fehlender Hausaufgaben zu kassieren, befürchtete sie kaum. Sie hatte sich eine enorme Routine angewöhnt, wobei sie die Aufgaben weniger aus Pflichtgefühl oder gar Ehrgeiz erledigte. Sie tat eben die Dinge, die sie seither getan hatte, wenn auch ohne Interesse und Begeisterung. Den Rest verdankte sie dem Image, das sie bei Lehrern und Mitschülern genoss. Ihre Freundin war von diesem Ruf genauso geblendet. Alina, die Streberin. Alina, das graue Mäuschen. Alina, die unsichtbare Gefährtin von Sarah Strobel.

»Dreh dich nicht um!« Sarah berührte sie beim Gehen am Ärmel. »Rede einfach weiter.«

»Ich habe gar nichts gesagt.«

»Dann sag halt irgendwas.«

»Was denn?«

»Na, irgendwas halt.«

»Wenn die Stunden hell verflogen.

Und den Himmel keine Wolke trübte,

Führte mich deine Anmut hin zu dir.«

»Wow« stieß Sarah hervor. »Woher ist das?«

»Aus Morella

»Hab ich noch nie von gehört.«

»Läuft auch nicht auf Netflix.«

»Haha.«

»Sorry. Morella ist ein Theaterstück.«

»Und was soll das heißen? Morella

»Das ist ein Name.« Alina versuchte, sich an Bens Worte zu erinnern. »Morelle noire ist die französische Bezeichnung für den Schwarzen Nachtschatten.«

»Interessant«, sagte Sarah.

»Das ist eine Giftpflanze. Die kann dich töten.«

»Und wozu brauchst du das?«

Alina hob in falscher Leichtfertigkeit die Schultern. Sie wollte Sarah nicht auf dumme Gedanken bringen, denn das Theater im Schloss Thalstein war ihre Bühne.

Während sie in den Rabenstieg einbogen, fragte Alina, ob jetzt alles in Ordnung sei.

»Nein«, erwiderte Sarah geheimnistuerisch. »Er verfolgt uns.«

»Wer?«

»Marcel Schneider.«

»Der wohnt doch hier.«

»Trotzdem verfolgt er uns.«

Alina war außerstande, Sarahs Aufregung nachzuvollziehen. Ihr Interesse für Marcel hielt sich in Grenzen; gleichaltrige Jungen fand sie so spannend wie die Darbietung des weihnachtlichen Schultheaters.

»Shit, er kommt näher«, flüsterte Sarah. »Guck bloß nicht hin.«

Alina folgte der Anweisung ohne Widerrede. Als hätte Sarah Augen im Hinterkopf beschrieb sie jede von Marcels Bewegungen. Den Rucksack trage er wie ein Idiot aus der dritten Klasse vorne auf der Brust. Manchmal spiele er den Unschuldigen, indem er stoppe und genüsslich an einer Semmel lutsche. In Wirklichkeit glotze er ihnen auf den Arsch. Sarahs Beschreibung vermittelte ihr ein Bild, ohne dass sie sich nach dem Jungen umdrehen musste. Marcel mit dem Rucksack auf der Brust. Marcel mit geiferndem Blick und Ständer in der Hose. Teigreste auf dem Zahnfleisch, ein perverses Stöhnen zwischen den Lippen und in den Augen die pure Geilheit. Kalter Zorn wallte in ihr auf, und sie hatte Mühe, ruhig neben Sarah herzulaufen.

»Jetzt wischt sich der Idiot die Krümel von der Hose«, kommentierte ihre Freundin, und Alina sah im Geiste, wie sich Marcel über den Schritt strich.

»Jetzt grinst er auch noch.«

Da schnellte Alina herum und schrie: »Verpiss dich, du perverse Sau!«

Marcel Schneider ließ vor Schreck seine Semmel fallen. Sein ansonsten blasses Gesicht errötete schlagartig, ehe er mit gesenktem Kopf die Straßenseite wechselte. Er warf ihnen einen kurzen ängstlichen Blick zu und rannte heimwärts.

Als er außer Sicht war, bemerkte Alina das Schmunzeln in Sarahs Gesicht.

»Du überraschst mich heute schon zum zweiten Mal.«

»Das wollte ich nicht«, sagte Alina beschämt.

Zuvor hatte ihr die Explosion noch eine ungeheure Erleichterung verschafft. Leider schwand das befreiende Gefühl ebenso schnell, wie es sich hochgeschaukelt hatte. Sie spürte in den Fingerspitzen ein unangenehmes Kribbeln und in der Brust die Last eines schlechten Gewissens.

»Das wird die Runde machen.« Sarah lachte. »Das kannst du mir glauben.«

Alina reagierte nicht, und Sarah begann, ihr Lieblingsthema auszuwalzen. Sie erzählte von einem Jungen, den sie unbedingt treffen wolle, einen Jeremy oder Justin oder Jason. Alina hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie sehnte sich nach der Bühne auf Schloss Thalstein, in die dunklen Räume ihrer eigenen Welt.

10

Der letzte Zeuge, den sie an diesem Tag aufsuchten, wohnte im Dachgeschoss der Zwätzengasse 40.

Als sie oben anlangten, empfing sie ein Mann von dürrer Statur. Er trug eine Stoffhose und eine kragenlose Strickjacke mit V-Ausschnitt. Sein dunkles Haar reichte ihm bis zur Nase. Mit einer lässigen Geste klemmte er sich ein paar Strähnen hinters Ohr und lächelte charmant. Sobald sie einander vorgestellt hatten, fragte Ben Schilling, wie er ihnen weiterhelfe könne. Linda erkundigte sich, ob er über den tragischen Unfall unterrichtet worden sei.

Ben Schilling nickte. »Ich dachte, der Schuldige wäre ermittelt.«

»Sie denken an den Fahrzeughalter?«

»Ja.«

»Hat Frau Kolp Sie nicht informiert?«

»Worüber?«

»Es tut mir leid, Herr Schilling, der Fall ist wesentlich komplizierter.«

Er senkte den Blick, als ratterten ihm sämtliche Bedeutungen des Adjektivs kompliziert durchs Hirn. Dabei verschleierte ihm sein Haar das halbe Gesicht. Nach kurzer Bedenkzeit hob er den Blick, und da bemerkte Henry seine leuchtend blauen Augen. Bisher hatte er eine solch intensive Augenfarbe nur im Fernsehen gesehen, bei den Stars und Sternchen aus Hollywood.

Ben Schilling bat sie hinein, und sie traten direkt in ein geräumiges Wohnzimmer. Mitten im Raum ragten zwei hölzerne Stützbalken zur Decke hinauf. Unter der Dachschräge eine Couch, über deren Polster eine gehäkelte Decke drapiert war. Auf dem Tisch davor stand eine Milchkanne aus Emaille, in der ein Strauß Trockenblumen steckte. Ein Foto des Inventars hätte in jedes Lifestyle-Magazin gepasst.

»Nehmen Sie ruhig Platz«, sagte Schilling.

Während Linda dem Angebot folgte, wurde Henrys Aufmerksamkeit von den Bücherregalen beidseits der Tür gefesselt. Mit Interesse überflog er die stattliche Bibliothek. Hier eine Sammlung romantischer Lyrik, dort ein Bericht aus einem sowjetischen Gulag. Eine ganze Reihe vergilbter Kriminalromane in roten und gelben Einbänden, darüber die gesammelten Werke von Edgar Allan Poe. Auf Lindas Räuspern hin entschuldigte er sich und trat zur Couch. Auf dem Tisch lag ein mit Maschine geschriebenes Manuskript.

»Ein neues Stück?«, fragte Henry ehrfurchtsvoll.

»Mein aktuelles«, antwortete Schilling. »Morella. Nach Edgar Allan Poe.«

»Sie tippen noch auf der Schreibmaschine?«

»Ja, eine alte Angewohnheit.«

Eine alte Angewohnheit – das klang in Henrys Ohren, als hätten sie einen Autor vor sich, der auf eine lebenslange Karriere zurückblicken konnte. Ben Schilling musste Anfang dreißig sein und somit waren sie beinahe Altersgenossen.

Der Regisseur bot ihnen einen Platz an und schob eine Schale Walnüsse in die Tischmitte. Henry beeindruckte diese Gefälligkeit, denn normalerweise überversorgte sie der Großteil der Zeugen mit Kaffee und Ablehnung.

»Bedienen Sie sich«, sagte Schilling. »Nüsse stimulieren das Gehirn.«

»Das Hirn meiner Partners braucht eher Downers«, erwiderte Linda.

»Oh, denkt er zu viel?«

»Zu viel und zu finster.«

»Das gefällt mir.« Ben Schilling lächelte anerkennend. Er ließ sein Handy auf den Tisch gleiten und teilte ihnen mit, dass er Caroline Meyer im Krankenhaus habe besuchen wollen. Eine Freundin der Familie habe ihm davon abgeraten. Die Eltern stünden unter enormem Druck, und Besuch von Bekannten würden sie im Augenblick nur als Belastung empfinden. Linda erkundigte sich erneut, ob er den Grund ihres Erscheinens kenne, doch Schilling wirkte unverändert ahnungslos. Indem sie Begriffe wie toxikologische Untersuchung und K.-o.-Tropfen gebrauchte, legte sie ihm die Situation dar. Auf seine Nachfrage hin erwiderte sie, ja, das sei die Vergewaltigungsdroge, und nein, Caroline Meyer sei nicht vergewaltigt worden.

»Ich bin fassungslos.« Schilling strich sich mit beiden Händen übers Gesicht.

Linda fragte ihn, ob er sich den Vorfall erklären könne.

»Nein, absolut nicht. Caroline ist bei allen beliebt.«

»Ich will betonen, dass es sich um den Tatbestand der Körperverletzung handelt.«

»Meinetwegen können Sie auch von versuchtem Mord sprechen.«

»Das gibt die Faktenlage nicht her.«

»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht voreingenommen erscheinen.«

»Sind Sie denn voreingenommen?«

»Es zu leugnen, wäre eine glatte Lüge. Ich mag Caroline.«

»Was für ein Verhältnis haben Sie zu ihr?«

»Ein sehr gutes.«

»Freundschaft? Oder mehr?«

»Wie Cousin und Cousine.«

Henry vermochte nicht zu sagen, was Schillings Vergleich bezwecken sollte. Warum hatte er nicht von Freundschaft gesprochen? Linda, eine halbe Walnuss zwischen Daumen und Zeigefinger, war bereits einen Gedanken weiter.

»Sie sehen sich wohl als Teil einer großen Familie?«

»Ja, auch wenn es nach einem Klischee klingt.«

»Gibt es Kollegen, die Caroline Meyer besonders nahe sind?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Hat man nicht einen Lieblingscousin oder eine Lieblingscousine?«

»Caroline behandelt alle gleich.«

Henry fokussierte Schillings Gesicht, um auch die winzigste Regung wahrzunehmen. Immer wieder zogen die blauen Augen seine Aufmerksamkeit auf sich, immer wieder befreite er sich aus ihrem Bann.

»Haben Sie einen Partner oder eine Partnerin?«, fragte Linda freiheraus.

»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Und die Antwort lautet Nein.«

»Caroline Meyer ist eine attraktive Frau.«

»Und?«

»Mögen Sie keine attraktiven Frauen?«

»Sie ist nicht mein Fall.«

»Und könnte sonst jemand an Frau Meyer interessiert sein?«

»Vielleicht dieser Hausmeister.«

»Sie meinen Herrn Knaak?«

»Ja.«

»Ist der nicht ein bisschen zu alt für sie?«

»Wer sagt denn, dass das Interesse auf Gegenseitigkeit beruht?«