Leseprobe Schatten über Havensbury

Kapitel 1

Manchmal braucht es nur ein Foto, um Erinnerungen herbeizurufen, die man eigentlich vor langer Zeit vergraben hat. Erinnerungen an das Meer und seine unendlichen, wunderschönen Weiten. Das kühle Nass auf der Haut. Der feine Sand zwischen den Zehen und die Sonne im Gesicht. Allein der Gedanke daran reichte aus, dass Emilia wehmütig wurde. Sie war schon so lange nicht mehr am Meer gewesen.

Sie atmete tief ein und verzehrte sich förmlich nach der vertrauten Brise, doch da waren nur die abgestandene Büroluft und das Bild vom Fußballcamp an der schottischen Küste. Enttäuscht klickte sie das Foto weg und starrte stattdessen aus dem Fenster. Der Regen peitschte gegen die Scheiben, der Himmel war grau und trist. Unbehaglich rieb sie sich über die Arme. Vielleicht brauchte sie Urlaub. Eine Auszeit außerhalb Londons. Abstand von dem Alltagstrott, den sie nun seit fast einem Jahr pausenlos verfolgte.

»Hudson!«, ertönte es von der Tür. »Wie weit bist du mit der Homepage?«

Emilia schaute müde auf. Brenna, die Chefin von Camden Creative Design – kurz CCD –, trat mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihren Schreibtisch und musterte sie ungeduldig von oben herab.

»Ich bin gleich fertig. Gib mir noch eine Stunde, dann …«

»Was ist an einer Webseite für den Jugendfußball in Camden denn so schwer? Du hast immerhin drei Tage dafür gehabt.«

»Das Material zu sammeln hat mehr Zeit in Anspruch genommen als erwartet«, erklärte Emilia sachlich. »Ich war vor Ort, habe mit den Jugendlichen gesprochen und Fotos für die Seite gemacht. Das eingereichte Material war unbrauchbar.«

»Was war denn daran verkehrt?«

»Eine schlechte Auflösung und ziemlich amateurhaft.«

Brenna verschränkte die Arme vor der Brust. »Na gut. Sechzig Minuten und keine Sekunde länger.«

»Das krieg ich hin.«

»Willst du eine Tasse Kaffee?«

»Gern.«

»Zumindest der ist pünktlich in diesem Büro«, grummelte Brenna und zog ab.

Emilia verdrehte genervt die Augen und widmete sich wieder dem Projekt. Sie mochte diesen Job, immerhin war es schon immer ihr Wunsch gewesen, in der Kreativbranche tätig zu sein. CCD war zwar nur ein kleines Unternehmen, aber Emilia war dankbar für die Chance, die Brenna ihr gegeben hatte. Ihre Chefin glänzte zwar ab und an mit ihrem zynischen Tonfall, war im Großen und Ganzen aber ganz in Ordnung – vor allem, was die Kaffeeversorgung anging.

Gerade, als Emilia die Arbeit an der Seite fortsetzen wollte, vibrierte ihr Handy. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf. Es war eine Nachricht von ihrer Cousine Jennifer.

»Das muss jetzt leider warten«, murmelte sie und drehte das Smartphone um.

Genau eine Stunde später schickte sie die Mail zum Abschluss der Webseite ab und atmete erleichtert durch. Es war jedes Mal ein berauschendes Gefühl, ein Projekt fertigzustellen und auf das Feedback der Vorgesetzten zu warten … eine Mischung aus Spannung, Nervenkitzel und Stolz … und natürlich aus Zweifeln, ob man nicht das schlechteste Ergebnis aller Zeiten abgegeben hatte.

Emilia nippte an ihrem bereits kalten Kaffee, nahm ihr Handy in die Hand und lehnte sich zurück.

Es war Monate her, dass sie und ihre Cousine Kontakt miteinander gehabt hatten. Beim letzten Mal hatte Emilia eine Einladung zu einem Konzert abgelehnt, weil sie das Wochenende hatte durcharbeiten müssen. Sie tippte die Nachricht ihrer Cousine an und rechnete schon fast damit, dass Jennifer eine Unterkunft in London brauchte, denn dafür war Emilia seit ihrem Umzug nach London immer gut genug gewesen.

Grandma geht es sehr schlecht. Du solltest besser herkommen. Sie ist im John Radcliffe Hospital in Oxford.

»Grandma?«, wisperte Emilia und spürte plötzlich ein seltsames Ziehen in der Brust. Sie legte die linke Hand auf ihr Herz und setzte sich gerade hin. Ihr Atem beschleunigte sich augenblicklich, als sie das Telefonmenü öffnete und die Nummer ihrer Cousine auswählte.

»Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«

Das ist nicht dein Ernst, Jen. Emilia stöhnte auf. Dann blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als es bei ihrer Tante zu versuchen.

»Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«

So ein Mist. Tränen stiegen in ihr auf. Emilia musste auf der Stelle wissen, was mit ihrer Grandma los war und wie es ihr ging. Immerhin war diese alles, was Emilia noch hatte. Beim gestrigen Telefonat hatte sie noch betont, wie fit sie sich mit ihren einundachtzig Jahren fühlte und dass die beiden demnächst mal wieder etwas gemeinsam unternehmen sollten.

Emilia suchte übers Internet die Adresse des Krankenhauses heraus und prüfte die Route. Mit der Bahn würde sie mehrfach umsteigen müssen und das war ihr gerade viel zu stressig. Ein Taxi könnte sie innerhalb von anderthalb Stunden zum Klinikum bringen, wenn sie sich sofort auf den Weg machte. Sie fuhr den Computer herunter und packte ihre Sachen zusammen. Jetzt galt es, keine Zeit zu verlieren. Ihre Grandma war ihr Lieblingsmensch und Jennifer würde sich nicht bei Emilia melden, wenn die Situation nicht wirklich kritisch wäre. Sie musste nach Oxford. Sofort.

Emilia schlüpfte in ihre Jeansjacke und schnappte sich ihre Tasche. Eilig lief sie zu Brennas Büro und klopfte. Kaum hatte sie ein zustimmendes Grummeln gehört, riss sie die Tür auf und stürmte hinein.

»Wenn du wegen der Homepage da bist: Nein, ich kam noch nicht dazu, sie mir anzusehen.«

»Darum geht es nicht. Ich muss mir für den Rest des Tages freinehmen«, sagte Emilia bestimmt. »Es tut mir sehr leid, aber es ist ein familiärer Notfall.«

»Ein Notfall?« Brenna musterte sie mit ihrem durchdringenden Blick und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück.

»Bitte«, flehte Emilia. »Es geht um meine Granny. Ich muss sofort nach Oxford ins Krankenhaus.«

»Das ist auch keine faule Ausrede, weil du keine Lust mehr zu arbeiten hast?«

»Meinst du die Frage wirklich ernst?«

Ihre Chefin seufzte resigniert. »Na schön. Ich bin ja kein Unmensch. Verzieh dich, Hudson.«

»Danke!« Emilia machte auf der Stelle kehrt. »Vielen Dank!«

»Ja ja, schon gut.« Brenna wedelte mit der Hand und bedeutete Emilia, zu gehen. »Pass auf dich auf, das Wetter soll noch schlechter werden.«

Emilia stürmte aus dem Büro. Unterwegs zum Ausgang bestellte sie sich per App ein Taxi, das in den nächsten Minuten eintreffen sollte.

Draußen goss es wie aus Eimern und für Juni war es ziemlich frisch. Die junge Frau huschte schnell in das nahe gelegene Café, um sich einen Kaffee für die Fahrt zu holen. Sie war bereits seit den frühen Morgenstunden im Büro und hatte noch nicht einmal die Zeit gefunden, etwas zu essen. Statt sich jedoch etwas Festes mitzunehmen, auf das sie sowieso keinen Appetit hatte, schnappte sie sich nur den Zuckerspender. Sie kippte eine beachtliche Menge in das Getränk, um auf diese Weise ihre Zuckerreserven aufzufüllen, und versuchte dann mit zittrigen Fingern, den Deckel auf den Becher zu drücken.

Als sie das Café verließ, wartete das Taxi bereits auf sie. Ein Mann mittleren Alters stand neben dem Wagen und rauchte trotz des strömenden Regens eine Zigarette. Emilia ging auf ihn zu. Wirklich vertrauenerweckend sah er nicht aus. Sein Vollbart war ungepflegt, die blonden, fransigen Haare lugten unter einer schwarzen schmutzigen Kappe hervor.

»Ham Sie ein Taxi bestellt?«, nuschelte er mit der Kippe im Mundwinkel und schien sich nicht daran zu stören, dass er pitschnass wurde.

»Ja, das war ich. Können Sie mich bitte nach Oxford zum John Radcliffe Hospital bringen?«

Er runzelte die Stirn und schaute Emilia gelangweilt an. »Das wird aber nicht billig, junge Dame.«

»Kein Problem«, erwiderte Emilia hastig. »Ich steige schon mal ein, ja?« Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern öffnete die Tür und flüchtete ins Wageninnere. Rasch stellte sie den Kaffeebecher in die Halterung der Tür und kramte ihr Handy hervor. Vielleicht ging Jennifer ja jetzt endlich dran.

»Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«

»Scheiße!«, fluchte Emilia und schmiss das Smartphone frustriert in ihre Tasche zurück. Sie beugte sich vor und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Das darf doch wohl nicht wahr sein.

Der Fahrer öffnete jetzt die Tür und setzte sich auf seinen Sitz. Mit ihm drang ein unangenehmer Rauchgeruch ins Wageninnere. »Nach Oxford, sagten Sie? Na, dann wollen wir mal.«

Emilia schwieg und schnallte sich an. Ihr Blick wanderte zum Fenster, an dem die Regentropfen unaufhörlich hinabperlten. Es war, als hätte sich das Wetter ihrer Gefühlslage angepasst. Auch wenn der Regen in London nichts Ungewöhnliches war, so empfand sie ihn heute als schwerer und erdrückender als sonst. Wie ein schlechtes Omen. Inständig hoffte sie, dass es sich dabei nur um einen Trugschluss handelte.

»Bitte sei okay, Granny«, flüsterte sie und ließ ihren Kopf gegen die Lehne sinken.

»Ham Sie was gesagt?«

»Nein, nichts.«

Der Taxifahrer fädelte sich auf dem Westway ein und folgte der Route in Richtung A40. Als die Nachrichten kamen, drehte er das Autoradio lauter.

»Von Westen her zieht eine Unwetterfront über das Land. Es werden Sturmböen, Starkregen und Hagel erwartet. Bitte passen Sie auf sich auf und bleiben Sie, wenn möglich, zu Hause.«

»London ist echt ein feines Örtchen«, sagte der Fahrer. »Aber der Regen geht mir total auf den Sack.«

»Man gewöhnt sich dran.«

»Kommen Sie von hier?«

Emilia war nicht zum Small Talk aufgelegt, wollte aber auch nicht unhöflich sein. »Nein, aus Oxford. Ich bin wegen eines Jobs nach London gezogen.«

»Bereuen Sie es?«

»Nein. Es war die beste Entscheidung meines Lebens.«

»Warum?«

»Genug Abstand zur Familie garantiert mir weniger Probleme in diese Richtung.«

»Ah, eine Flüchtige.« Er grinste sie über den Rückspiegel amüsiert an.

»Was hat Sie hierher verschlagen?«

»Diese Branche garantiert mir einen sicheren Arbeitsplatz, denn in London wird immer und überall ein Taxi gebraucht. Und wer weiß«, er zwinkerte ihr zu. »Vielleicht trifft man auch die eine oder andere besondere Person?«

Emilia tat so, als habe sie den seltsamen Unterton in seiner Stimme nicht bemerkt, und starrte wieder aus dem Fenster. Sie griff nach dem Kaffeebecher, dessen Inhalt noch immer heiß war. Vorsichtig nippte sie daran. Das Getränk war zuckersüß, aber genau das brauchte sie jetzt.

Die nächste Stunde verbrachten die beiden schweigend. Im Radio lief Rockmusik, die im Laufe der Zeit im Prasseln des Regens unterging. Dieser wurde immer stärker und die Sicht zunehmend schlechter. Der Verkehr verdichtete sich. Kurz vor High Wycombe fing es zu allem Überfluss auch noch zu hageln an.

»Ganz schön laut.« Unbehaglich strich sich Emilia über die Arme. Die Hagelkörner schlugen mittlerweile wie Pistolenkugeln auf die Karosserie und die Scheiben ein. Instinktiv sank sie tiefer in den Sitz.

»Keine Angst, hier drinnen sind wir sicher.« Der Fahrer setzte den Blinker, um auf die Überholspur zu wechseln. Alle anderen Autos, die auf der Autobahn unterwegs waren, wurden langsamer. Doch zu Emilias Entsetzen drückte der Taxifahrer aufs Gas und raste an ihnen vorbei. »Die sollen sich mal nicht so anstellen. Ist doch nur ein harmloser Schauer.«

Über ihnen ertönte jetzt ein dröhnendes Donnergrollen. Vor Schreck zuckte Emilia zusammen. Nur wenige Sekunden später folgte ein Blitz, der sich durch die gewaltigen Wolkenmassen zog und den gesamten Himmel erhellte.

Das Taxi schoss viel zu schnell über die Autobahn. Was der Fahrer da tat, war absolut unvernünftig und gefährlich und gerade, als Emilia ihn darauf hinweisen wollte, folgte ein weiterer Donnerschlag.

Vor ihnen tauchten plötzlich lauter rotleuchtende, verschwommene Lichter auf. »Scheiße!« Der Taxifahrer rammte seinen Fuß auf das Bremspedal. Doch zu spät. Die Straße war zu nass und der Wagen geriet ins Rutschen. Fluchend riss er das Steuer herum, wodurch das Auto ausscherte und den Halt zur Fahrbahn verlor.

Emilia schrie auf und warf die Arme hoch. Mit einem Ruck wurde sie nach oben geschleudert und der Anschnallgurt blockierte. Die Geräuschkulisse war ohrenbetäubend, die Welt um sie herum drehte sich und Glas zersplitterte. Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde, doch es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.

Und in dieser Ewigkeit wurde sie an einen vollkommen anderen Ort katapultiert.

Sie und ihre Grandma standen auf einmal am Strand, Hand in Hand, und die sanfte Meeresbrise verströmte eine friedvolle Stimmung. Alles war ruhig und sanft. Mit einem Mal veränderte sich Grannys Gesicht und eine jüngere Version ihrer selbst stand neben Emilia. Sie ging vor ihr in die Hocke und betrachtete sie liebevoll.

»Wenn du alt genug bist, mein Schatz, werde ich dir von ihm erzählen …«

»Von wem, Granny?«

Dann wurde alles dunkel.

 

Als Emilia die Augen öffnete, hörte sie das Rauschen des Regens. Wie Trommelschläge krachten sie in ihren Ohren. Genauso wie die lauten Rufe und Stimmen, die immer näher und näher an sie herandrangen. Benommen versuchte sie, die Lage zu begreifen. Ihr ganzer Körper schmerzte und das Blut pulsierte in ihren Schläfen. Der Gurt würgte sie und schnitt ihr in die Schulter. Sie war vollkommen orientierungslos und es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie kopfüber im Wagen hing. Sie fühlte sich unendlich schwer und nur der Sicherheitsgurt bewahrte sie vor dem Fall.

»Oh mein Gott«, krächzte sie und bekam kaum noch Luft. Vorsichtig drehte sie den Kopf. Die Scheibe war von einem Netz aus Rissen durchzogen, sodass sie das reflektierte Licht von Scheinwerfern auf der nassen Straße nur erahnen konnte. Blau. Gelb. Rot. Die Farben verschwammen zu einer undeutlichen Masse. Verzweifelt schluchzte sie auf und versuchte, ihre Unterarme gegen das Dach zu stemmen, um ihr Gewicht ein wenig abzufangen.

Plötzlich machte sich jemand an dem Fenster zu schaffen.

»Hallo? Können Sie mich hören?«

Die männliche Stimme klang dumpf und Emilia hatte Mühe, die Worte zu verstehen.

»Ja, ich höre Sie«, presste sie leise hervor.

»Bleiben Sie ganz ruhig, Miss.«

Es folgte eine kurze Pause, dann sagte eine zweite Person: »Wir brauchen den Spreizer!«

»Haben Sie keine Angst«, erklärte der erste Mann. »Wir holen Sie gleich da raus.«

Emilia schluckte schwer und nickte kaum merklich.

»Können Sie den Kopf bewegen?«

»Ja.«

»Haben Sie Schmerzen in der Wirbelsäule?«

»Nein, ich glaube nicht.«

Die Helfer erklärten ihr nach und nach, was als Nächstes geschehen würde, aber Emilia hörte kaum noch zu. Es war ihr egal, was sie taten. Hauptsache, sie kam endlich aus diesem Wagen heraus.

Ein lautes Quietschen hallte jetzt durch den Wagen. Es war beängstigend und Emilia schloss die Augen, bis die lauten Geräusche endlich nachließen.

Neben ihr tauchten zwei behandschuhte Hände auf. »Gleich geschafft.« Es folgte ein Ruck und den Helfern gelang es, den Ausgang freizumachen. Dann schaute jemand zu ihr hinein. Der Tränenschleier und der Schwindel erschwerten ihr die Sicht, sodass sie das Gesicht kaum erkennen konnte. »Wir werden Sie jetzt vorsichtig herausholen.«

 

Sie hatte keine Ahnung, wie sie ins Freie gelangt war, doch plötzlich spürte sie den Regen auf ihrer Haut und wurde von Sanitätern umringt, die sie behutsam zu einem Krankenwagen transportierten. Wie ein Roboter beantwortete sie die Fragen über ihren Zustand und ließ die Erstuntersuchung über sich ergehen.

»Wir nehmen Sie sicherheitshalber mit ins Krankenhaus. Sie stehen unter Schock und haben ein paar Schnittverletzungen.«

Diese Worte katapultierten Emilia zurück in die Wirklichkeit. »Nein, nicht ins Krankenhaus!«, rief sie und setzte sich hastig hin. Sofort begann sich alles zu drehen und sie versuchte, den Schwindel panisch wegzublinzeln, doch der Rand ihres Sichtfeldes wurde schwärzer und schwärzer. »Ich muss nach Oxford«, nuschelte sie. »Meine Grandma! Sie …« Nun wurde sie sich ihrer Umgebung schlagartig bewusst und schnappte nach Luft. Das Taxi, in dem sie einige Minuten zuvor noch gesessen hatte, lag mitten auf der Straße auf dem Dach. Ein weiterer Wagen stand völlig demoliert im Graben. Auf dem Asphalt waren Autoteile verteilt. Mehr konnte Emilia von ihrem Platz aus nicht sehen, aber die Menge der Einsatzwagen deutete an, dass es noch mehr Beteiligte gab. Überall waren Polizisten und Sanitäter zugange. Es sah aus, wie auf einem Schlachtfeld und sie war mittendrin.

Der Mann, der zuvor bereits mit ihr gesprochen hatte, tauchte jetzt vor ihr auf und nahm vorsichtig ihre Hände in seine. Er schien kaum älter als sie zu sein und trug eine Feuerwehruniform. »Beruhigen Sie sich bitte. Wie ist Ihr Name?«

»Em… Emilia.«

»Gut, Emilia. Meine Kollegen werden Sie jetzt nach High Wycombe bringen, wo Ihre Wunden versorgt werden. Wenn alles in Ordnung ist, können Sie danach zu Ihrer Grandma. Aber zuerst müssen wir sicherstellen, dass es Ihnen wirklich gut geht. Das würde Ihre Grandma bestimmt auch wollen. Verstehen Sie das?«

Emilia biss sich auf die Unterlippe und versuchte, den nächsten Tränenschwall zurückzudrängen. Gehorsam nickte sie.

 

Während der gesamten Fahrt ins Krankenhaus und bei ihrer Ankunft in der Notaufnahme konnte Emilia an nichts anderes denken als an die Erinnerung an ihre Grandma, die sie im Augenblick des Unfalls vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte. Zum Glück hatte sie daran gedacht, den Feuerwehrmann zu bitten, ihre Handtasche und ihr Handy aus den Überresten des Taxis zu holen, sodass sie Jennifer bei der nächsten Gelegenheit anrufen konnte. Die Tatsache, dass sie gerade nur knapp dem Tod entronnen war, verdrängte sie, denn zu groß war die Sorge um ihre geliebte Granny.

 

»Es wäre ratsam, wenn Sie über Nacht zur Beobachtung hierbleiben würden.«

Emilia kam es so vor, als würde sie aus einem langen Traum erwachen. Ihr gegenüber saß eine junge Ärztin, der sie in den letzten Minuten kaum zugehört hatte.

»Nein, das geht nicht.«

Die Ärztin runzelte die Stirn. »Der Aufprall war sehr heftig und wir können nicht ausschließen, dass Sie sich ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen haben. Wie es aussieht, haben Sie wohl einen Schutzengel gehabt.«

»Wissen Sie, wie es dem Taxifahrer geht?«

»Sie hatten viel Glück. Ihn hat es wesentlich schlimmer erwischt.«

Emilia öffnete den Mund und senkte betroffen den Blick. »Aber … er ist doch am Leben, oder?«

»Tut mir leid. Ich darf Ihnen leider keine Auskunft geben.«

»Ihr Ernst?«

Die Ärztin zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Er ist am Leben, aber mehr darf ich Ihnen nicht sagen, wenn Sie keine direkte Angehörige sind.«

»Na gut«, grummelte Emilia und zupfte an ihrem Jackenärmel. »Nichtsdestotrotz werde ich nicht hierbleiben. Mir geht es gut und ich muss so schnell wie möglich nach Oxford.«

Die Ärztin sah Emilia lange an, dann seufzte sie. Sie machte keinen Hehl daraus, was sie von Emilias Entscheidung hielt. »Sind Sie sich wirklich sicher?«

»Ja, das bin ich. Ich muss nach Oxford zu meiner Grandma. Sofort!«

»Meinetwegen. Dann müssen Sie aber ein Formular unterschreiben, dass Sie die Klinik auf eigenen Wunsch verlassen. Wir werden keine Haftung übernehmen, falls Ihnen infolge des Unfalls etwas passiert.«

»Einverstanden.«

In den nächsten Minuten wurde Emilia umfänglich über die Risiken ihrer selbst gewählten Entlassung aufgeklärt, aber die Worte drangen gar nicht zu ihr durch. Wie in Trance unterschrieb sie das Formular und verließ die Notaufnahme.

Unterwegs zum Ausgang machte sie einen Abstecher zur Damentoilette und schaute in den Spiegel. An der Stirn hatte sie eine Schnittwunde, die geklebt worden war, und eine blutige Spur zierte den Kragen ihrer Bluse. Auf Autopilot wusch sie sich das Gesicht und versuchte, sich zu sammeln. Der Schrecken steckte ihr immer noch tief in den Knochen.

Ihre Finger zitterten, als sie das Handy aus der Tasche kramte. Ein Riss zog sich durch das gesamte Display, doch zu ihrer großen Erleichterung funktionierte das Gerät dennoch. Sie entsperrte den Bildschirm und starrte auf die Meldung.

Drei Anrufe in Abwesenheit. Alle von Jennifer.

Emilia wählte hektisch die Nummer ihrer Cousine in der Telefonliste aus und hielt sich das Smartphone ans Ohr. Nach dem dritten Klingeln ging Jennifer dran.

»Hallo?«

»Wie geht es Granny?«

Nach einem Moment der Stille sagte Jennifer leise: »Es tut mir so leid, Em. Ich weiß doch, wie sehr du an ihr hängst …«

»Bitte sag mir nicht, dass …« Emilia ahnte es bereits. Das bedrückende Gefühl, das sie seit dem Unfall hatte, wurde schlimmer und schlimmer.

»Doch, Em. Es ist vorbei. Granny hat uns verlassen.«

»Nein.« Emilias Beine gaben unter ihr nach und sie sackte zu Boden. »Das kann nicht sein!«

Es fühlte sich an, als würde ihr Grannys Hand, die die ihre die ganze Zeit über gehalten hatte, entgleiten. Ihre Grandma wendete sich ab und lief den Strand entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Emilia hingegen blieb zurück. Mutterseelenallein und am Boden zerstört.

Kapitel 2

Zusammengesunken kauerte Emilia auf einem der Stühle im Wartebereich und umfasste ihren Kopf mit den Händen. »Zu spät. Zu spät. Ich bin schon wieder zu spät«, wiederholte sie immer wieder. Granny war fort. Sie hatte es nicht mehr rechtzeitig nach Oxford geschafft, um ihr bei ihrem letzten Atemzug beizustehen.

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?« Eine Krankenschwester mittleren Alters ging vor Emilia in die Hocke. »Haben Sie sich schon in der Ambulanz angemeldet?«

»In der Ambulanz?« Emilias Stimme fühlte sich kratzig an und es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass die Schwester auf ihre Verletzungen anspielte.

»Em!«, hallte es plötzlich durch den Raum und Jennifer, der rothaarige Wirbelwind, kam auf Emilia zugeeilt. »Da bist du ja endlich!«

Warum musste ihre Cousine bloß immer so laut sein?

»Vielen Dank, es geht schon«, erwiderte Emilia an die Krankenschwester gewandt.

Diese stand auf und machte Jennifer Platz.

»Ach du scheiße, wie siehst du denn aus? Wurdest du von einem Laster überfahren?«

»So ähnlich.«

Für das, was geschehen war, sah Jennifer überraschend gut aus. Im Gegensatz zu Emilias roten, vom Weinen verquollenen Augen, waren deren makellos geschminkt und die Trauer sah man ihr keineswegs an. Darin war Jennifer schon immer eine Meisterin gewesen: Gefühle hinter ihrer scheinbar perfekten Fassade zu verstecken. Das lag offenbar in der Familie. Ihre Mutter und ihr Bruder verhielten sich nämlich genauso. Nur, dass Jennifer zumindest ab und zu Empathie zeigen konnte. So wie auch jetzt. Sie sah aus, als sei sie unschlüssig, ob sie Emilia in den Arm nehmen sollte oder nicht. Stattdessen sagte sie: »Meine Mum und Colin sind in der Cafeteria.«

Granny ist gestorben und ihr geht Kaffeetrinken? Emilia spürte Wut in sich aufsteigen. Dabei wusste sie ganz genau, wie irrational und von Trauer getrieben ihre Gefühle waren. Schnell mahnte sie sich daher zur Vernunft. »Was ist mit meiner Mum?«

Ein trauriger Ausdruck erschien auf Jennifers Gesicht und sie legte Emilia eine Hand auf die Schulter. »Ich habe sie angerufen, aber Christine sagte, sie habe kein Interesse daran, herzukommen.«

Ja, das klang ganz nach Emilias Mutter. Diese wusste genau, wie sehr Emilia an ihrer Großmutter hing, und dennoch hielt sie es nicht für nötig, zum Krankenhaus zu kommen. »Schon gut. War ja nicht anders zu erwarten.«

»Tut mir leid, Em. Warte, ich helfe dir hoch.«

Sie streckte Emilia die Hand entgegen, die diese nach kurzem Zögern ergriff. Beim Aufstehen schwankte sie und fasste sich an den Kopf. Schwindel und die dumpfen Kopfschmerzen, die sie seit dem Unfall begleiteten, drohten nun, sie zu Fall zu bringen. Verzweifelt versuchte Emilia, sich auf den Beinen zu halten, und sich dabei möglichst nichts anmerken zu lassen.

»Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist? Du bist ganz blass«, hakte Jennifer nach. »Ist das etwa Blut an deiner Kleidung?«

»Nicht der Rede wert«, nuschelte Emilia und ließ die Hand sinken.

Das nutzte Jennifer aus, um vorsichtig Emilias Pony beiseitezuschieben, wodurch die geklebte Wunde sichtbar wurde. »Was, um Himmels Willen, ist mit dir passiert, Em? Bist du etwa mit dem Skateboard hergekommen?«

»Mit dem Taxi, aber ich musste zwischendurch umsteigen.«

»Red keinen Scheiß und beantworte meine Frage.«

Emilia stöhnte genervt auf. »Ich habe mir den Kopf gestoßen, okay?«, keifte sie und riss sich von ihrer Cousine los. »Warum interessiert dich das überhaupt so brennend, obwohl Granny gerade gestorben ist?« Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. Die anderen Wartenden schauten irritiert zu ihr hinüber. Die Stille, die daraufhin einkehrte, machte Emilia nur umso schmerzlicher bewusst, was ihre eigenen Worte bedeuteten. Die Trauer drückte sie nieder wie eine Lawine und sie verlor den Boden unter den Füßen. Laut schluchzend sank sie in die Arme ihrer Cousine und ließ den Tränen freien Lauf.

 

Jeder geht anders mit dem Tod einer geliebten Person um. Die einen können ihre Trauer nicht verbergen, die anderen leiden still, und dann gab es Menschen wie Tante Lucy und ihren Sohn Colin. Die beiden saßen seelenruhig in der Cafeteria, aßen Kuchen, tranken Kaffee und taten so, als sei nichts geschehen.

Als Emilia und Jennifer sich ihnen näherten, lachte Tante Lucy gerade über irgendetwas, das Colin ihr auf seinem Smartphone zeigte. Von Traurigkeit keine Spur. Dabei hatte diese gerade ihre Mutter verloren. Die scheinbare Gleichgültigkeit ihrer Familie schockierte Emilia jedes Mal aufs Neue. Bereits beim Tod ihres Vaters hatte es so ausgesehen, als seien Granny und sie die Einzigen gewesen, die wirklich offen und aufrichtig getrauert hatten.

Nicht nur Emilias Mutter, sondern auch ihre eigene Tochter Lucy hatten ein schlechtes Verhältnis zu Granny gehabt. Sie war schon immer ein Papa-Kind gewesen und nach dem Tod von Emilias Großvater hatte sie sich kaum noch bei Grandma blicken lassen. Emilias Dad hingegen war seiner Mutter sehr ähnlich gewesen. Emotional, aufrichtig, liebenswert und absolut wundervoll.

Emilia wollte keine Minute länger als nötig mit diesem Teil der Familie verbringen, denn sie ertrug die ausgelassene Stimmung an diesem rabenschwarzen Tag einfach nicht. Tröstende Worte brauchte sie von ihnen sowieso nicht zu erwarten. Sie tupfte sich noch einmal die Tränen weg und trat an den Tisch heran. »Hallo.«

Ihr Cousin machte sich nicht einmal die Mühe, von seinem Handy aufzusehen. Tante Lucy wirkte sogar genervt. »Da bist du ja endlich.«

»Warum seid ihr noch hier?«

»Jennifer wollte unbedingt auf dich warten.«

»Oh. Das ist … nett.«

Es kostete Emilia einiges an Überwindung, die folgende Frage zu stellen: »Wisst ihr schon, woran Granny gestorben ist?«

»Wahrscheinlich an Herzversagen.«

»Wart ihr bei ihr, als sie …?«

Tante Lucy schüttelte ihre perfekten, kastanienfarbenen Korkenzieherlocken. »Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich hatte einen Termin und habe deshalb Jenny vorgeschickt.«

»Du hast sie vorgeschickt?« Fragend schaute Emilia ihre Cousine an.

Diese senkte betroffen den Blick und murmelte in Richtung Boden: »Als ich ankam, war es schon zu spät.«

»Das heißt, ihr habt sie allein sterben lassen?« Emilias Stimme war leise und brüchig. »Niemand war bei ihr und hat ihre Hand gehalten, als sie für immer eingeschlafen ist?«

»Sie war stabil. Wir dachten, wir hätten noch Zeit.«

»Wie bitte?«, rief Emilia bestürzt.

»Emilia, es tut mir …«

»Lass es gut sein, Jen. Du hast es wenigstens versucht«, unterbrach Emilia ihre Cousine und hatte Mühe, ihre Enttäuschung hinunterzuschlucken, was gar nicht so einfach war, wenn zusätzlich auch noch Wut und Trauer miteinander verschmolzen und unter der Oberfläche brodelten wie ein Supervulkan, der zu explodieren drohte.

»Viele Menschen sterben allein. Ist ja nicht so, als würden sie es vorher ankündigen«, meinte ihre Tante trocken.

Emilia wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und ballte die Hände zu Fäusten.

»Em, beruhig dich«, bat Jennifer und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es bringt doch nichts, jetzt einen Schuldigen zu suchen, wo keiner ist.«

Sie hatte ja recht … Nach kurzem Schweigen fragte Emilia: »Habt ihr den Schlüssel von Grannys Wohnung dabei?«

Tante Lucy betrachtete sie teilnahmslos und verzog den Mund. Vermutlich war ihr Emilias verdrecktes Erscheinungsbild aufgefallen. Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen Schlüsselbund heraus. »Wofür brauchst du ihn denn?«

»Es war ein langer, anstrengender Tag und ich möchte mich in Ruhe von Granny verabschieden.«

»Meinetwegen.« Tante Lucy pulte an dem Bund herum, beugte sich vor und hielt Emilia zwei separate Schlüssel entgegen. »Aber es bleibt alles an Ort und Stelle, bis das Testament verlesen worden ist.«

»Mum!«, rief Jennifer entsetzt, als Emilia seelenruhig die Schlüssel entgegennahm.

»Bring sie mir zurück, wenn du abreist.« Eindringlich starrte Tante Lucy ihre Nichte an, wie um ihre Worte durch eine stumme Drohung zu untermauern.

Doch davon ließ sich Emilia nicht beeindrucken. Tonlos sagte sie: »Danke. Schönen Abend noch.«

Ihre Füße trugen sie wie von selbst aus dem Krankenhaus hinaus. Jennifer folgte ihr und rief ihren Namen, doch sie blieb nicht stehen. Als ihre Cousine sie schließlich eingeholt hatte, war diese ziemlich außer Puste.

»Bist du dir sicher, dass du klarkommst?«

»Natürlich«, antwortete Emilia automatisch. »Das tue ich immer. Mach dir keinen Sorgen.«

Jennifer sah nicht überzeugt aus. »Melde dich, wenn du mich brauchst.«

»Das mach ich.« Emilia lief zielstrebig zum Taxistand, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie fühlte sich wie betäubt von den Ereignissen des Tages und wollte unbedingt allein sein. Allein mit ihrer Trauer, mit ihren Gedanken und mit den was-wäre-wenns, die ihr immer wieder durch den Kopf gingen.

 

Eine halbe Stunde später hielt das Taxi vor dem Mehrfamilienhaus aus rotem Backstein, in dem ihre Großmutter viele Jahre gelebt hatte. Es war eine gut betuchte Gegend in Wolvercote, einem der nördlichen Stadtteile von Oxford. Hier hatte Emilia ihre Kindheit verbracht und war sogar ganz in der Nähe zur Schule gegangen.

Sie betrat das Haus und stieg die Treppen zum zweiten Stock hinauf. Dort entriegelte sie die Tür und ging in die Wohnung hinein. Es fühlte sich an wie immer. Die heimische Atmosphäre … der gewohnte Geruch nach Flieder … nur eine fehlte: Granny.

Gestern war noch alles in Ordnung, dachte Emilia und ging den Flur entlang. Dabei ließ sie ihre Finger über die polierten Möbel gleiten. Jetzt bist du plötzlich fort …

Der Frühstückstisch in der Küche war noch gedeckt. Es war, als wäre alles wie immer und Granny würde gleich um die Ecke kommen. Die Kaffeetasse stand unberührt da, das Marmeladenbrot war nur einmal angebissen worden. Granny war nicht einfach gegangen. Sie war aus dem Leben gerissen worden. Neben dem Teller entdeckte Emilia das Telefon. Sie ging um den Tisch herum und nahm das Gerät in die Hand. In der Wahlwiederholung fand sie die Nummer des Notrufs vor. Granny hatte also bemerkt, dass etwas nicht stimmte, und selbst Hilfe geholt? Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie es nicht getan hätte. Womöglich hätte sie tagelang in ihrer Wohnung gelegen und keiner hätte etwas davon mitbekommen. Wie sie es auch drehte und wendete, das Schicksal ihrer Großmutter ging Emilia unfassbar nahe und schürte das Feuer der Trauer nur noch mehr an. Dass sie nicht bei ihr hatte sein können, machte sie untröstlich. Doch andererseits, was hätte es geändert? Der Schmerz über den Verlust wäre derselbe.

Hoffentlich ging es ihr gut, dort, wo sie jetzt war. Wenn sie diese Reise schon ganz allein hatte antreten müssen, sollte sie zumindest am Ende ihres Weges glücklich werden. Ob Grandpa sie in Empfang genommen hatte?

Emilia ging in das – wie immer – aufgeräumte Wohnzimmer. Anders, als man es von einer Dame in Grannys Alter erwarten würde, war der Raum sehr modern und schick eingerichtet. Die weißen Möbel waren mit farbigen Nuancen wie Vasen mit bunten Blumen und unzähligen gerahmten Fotos versehen. An der Wand hingen gemalte Bilder vom Meer, von Stränden, von Sonnenaufgängen, und einem Hafen in einem Küstenort, dessen Namen Emilia nicht kannte. Nach dem Tod ihres Mannes hatte Grandma die alten Familienerbstücke entsorgt und die Wohnung komplett neu und ganz nach ihrem eigenen Geschmack gestaltet. Der Rest der Familie hatte dieses Verhalten als befremdlich empfunden, Emilia hingegen hatte ihre Grandma mit Freuden dabei unterstützt, weil sie dadurch noch einmal so richtig aufgeblüht war. Emilia war es so vorgekommen, als hätte sich die alte Dame von einer Last befreit, doch über ihre Beweggründe gesprochen hatte sie nie.

Emilia blieb vor den Fotos stehen und betrachtete sie eingehend. Es waren zum Teil alte Aufnahmen. Eines zeigte ihre Grandma in jungen Jahren am Strand. Sie trug ein weites, weißes Kleid, an dem der Wind zerrte. Der wehende Stoff bildete einen feinen Kontrast zu ihrer entspannten Haltung. Mit der rechten Hand hielt sie einen Hut fest, die andere hatte sie von sich weggestreckt, als sei sie der freieste Mensch der Welt. Grandma Anna war wunderhübsch, unbeschwert und fröhlich gewesen.

Auf diese Weise hatte Emilia ihre Granny nie gesehen. Oft war diese in sich gekehrt gewesen und hatte ihr Lächeln stets mit Bedacht gewählt, fast so, als würde sie es nur mit ausgewählten Menschen teilen.

Bei Emilia hingegen war sie vollkommen anders gewesen. Sie hatte ihre Enkelin immerzu mit offenen Armen empfangen, sie an sich gedrückt, und ihr stets gezeigt, wie sehr sie sie geliebt hatte.

Emilia schniefte leise und schaute sich traurig die weiteren Fotos an. Je mehr sie sah, desto mehr legte sich ihre Stirn in Falten.

Keines der Bilder zeigte Grandma mit ihrem Ehemann. Es gab zahlreiche Aufnahmen von Emilias Dad und seiner Schwester. Als Kinder, bei der Hochzeit, gemeinsam mit den Enkelkindern … doch von Grandpa Paul war keine Spur zu sehen. So, als hätte er niemals existiert. Das war Emilia zuvor noch nie aufgefallen.

Ein Bilderrahmen zog jetzt ihre Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich. Es war ein Foto von ihr und Granny, das kurz nach dem Tod von Emilias Vater aufgenommen worden war. Die beiden standen, Hand in Hand, an eine Kaimauer gelehnt da. Sie sahen sich so vertraut und liebevoll an, wie Emilia es gewohnt war. Sie nahm den Rahmen hoch und betrachtete das Motiv genauer. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie daran dachte, wie schmerzlich die Zeit damals gewesen war. Nicht nur Emilia hatte ihren Vater verloren, auch Grandma Anna war der Sohn genommen worden. Dennoch war sie stark geblieben und für Emilia da gewesen. Ihr Fels in der Brandung, als sie jemanden gebraucht hatte, der sie festhielt.

Emilia presste das Bild gegen ihre Brust. Es war schwer, die vielen Gefühle zurückzuhalten und nicht vollends zusammenzubrechen.

Um sich abzulenken, drehte Emilia den Bilderrahmen um. Sie wollte unbedingt wissen, wie der Ort hieß, an dem sie damals mit ihrer Großmutter gewesen war. Vielleicht gab es ja einen Hinweis auf der Rückseite des Fotos. Granny hatte Bilder oft beschriftet. Sowohl mit dem Ort als auch mit der Jahreszahl. Vorsichtig pulte Emilia mit dem Fingernagel die Metalllaschen des Rahmens auf, um das Pappstück herauszunehmen. Dabei fiel ihr auf, dass es ziemlich stark unter Spannung stand. Eine unscheinbare Wölbung war dafür verantwortlich. Neugierig beeilte sich Emilia mit dem Öffnen der Laschen und rammte sich dadurch eine davon ins Nagelbett.

»Au!«, fluchte sie und ließ beinahe den Rahmen fallen. Sie schüttelte die Hand mit dem schmerzenden Finger aus und verzog gequält das Gesicht, ehe sie mit der Arbeit fortfuhr. Schließlich gelang es ihr endlich und sie entfernte die Pappe. Darunter kam ein Umschlag zum Vorschein, auf dem ihr Name stand.

Ein Brief? Das war eindeutig Grannys Handschrift. Überrascht holte sie ihn heraus und legte den Rahmen mitsamt dem Bild vorsichtig auf dem Schrank ab.

Behutsam öffnete sie den Umschlag. Darin kamen eine silberne Kette mit einem ovalen Anhänger und eine Karte zum Vorschein. Emilia hielt unwillkürlich die Luft an und holte beides heraus. Die Postkarte zeigte ein traditionelles Cottage, das mit Blumen gesäumt war. Auf einer Tafel über dem Eingang stand der Name Pension Zur weißen Lilie. Im Hintergrund waren saftige, grüne Wiesen zu sehen. Die Umgebung kam Emilia vage bekannt vor. Befand sich die Pension womöglich im selben Ort? Gespannt verglich Emilia die Postkarte mit dem Foto, auf dem sie und Granny zu sehen waren, und untersuchte die Motive nach Parallelen. Da sie nicht fündig wurde, legte sie das Bild zurück und drehte die Karte um. In geschwungenen Buchstaben standen darauf die Worte:

Meine kleine Emilia,

du bist die Erste, der ich davon erzähle.

Ich habe einen großen Fehler gemacht, für den ich mein Leben lang bezahlt habe. Wenn du meinen Spuren folgst, wirst du verstehen, was in Havensbury begraben liegt.

Mach es besser als ich und höre stets auf dein Herz, Emilia. Pass gut darauf auf.

In Liebe

Grandma Anna

Emilia zitterte wie Espenlaub. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit so einer Nachricht. Ihre Grandma schien sich sicher gewesen zu sein, dass Emilia diejenige war, die den versteckten Brief eines Tages finden würde. Warum nur hatte sie ihn ihr nicht zu ihren Lebzeiten gegeben oder ihr von ihrem Geheimnis erzählt? Sie überflog die Zeilen noch einmal. »Havensbury«, sagte sie laut und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Havensbury! Das war der Ort, den sie damals zusammen mit ihrer Grandma besucht hatte.

Anschließend betrachtete sie die Kette genauer. An den feinen Gliedern hing ein Medaillon, das mit filigranen Blumenranken verziert war. Es schien sehr alt zu sein und Emilia wusste instinktiv, dass es ihrer Grandma sehr viel bedeutet haben musste. Vorsichtig öffnete sie den Anhänger und fand darin das verschwommene Porträt eines Mannes. Ein Mann, den Emilia nicht kannte. Das Bild war verblichen und ließ keine Details erkennen, doch da die Person dunkle Haare hatte, konnte Emilia ausschließen, dass es sich um ihren Großvater Paul handelte, denn dieser war in jungen Jahren blond gewesen.

Was hat das alles zu bedeuten, Granny? Behutsam strich Emilia über das Foto. Ihre Gedanken kreisten um die Postkarte, das Bild und den Fehler, den ihre Grandma so sehr bereute, dass sie ihre Enkelin nun auf die Suche nach Antworten schickte. Warum hatte sie zu Lebzeiten nie mit Emilia darüber gesprochen? Warum hinterließ sie ihr jetzt so eine kryptische Nachricht?

»Du führst mich also nach Havensbury …«, sagte sie laut und musste gar nicht lange darüber nachdenken. »Wenn du dir das wünschst, werde ich natürlich dort hinfahren.«