Leseprobe Rosenknospensommer

1

Josephines Versuch, sich aus der innigen Umarmung ihres Lebensgefährten zu befreien, wirkt wenig überzeugend. Zärtlich küsst sie ihn ein weiteres Mal, während sie seine Hände von ihrer Taille löst.

„Ich muss jetzt wirklich los“, mahnt sie flüsternd, aber Paulhapunkt zieht sie ein weiteres Mal an sich heran. Nur allzu gerne schlingt Josephine ihre Arme erneut um seinen Hals, während er sie leidenschaftlich küsst. Sie quietscht vergnügt auf, als er sie frech in den Hintern kneift. Dazu muss er zwangsläufig den Griff um ihre Taille lockern und ermöglicht es Josephine damit, sich endgültig aus seiner Umarmung zu befreien.

Paulhapunkt ergreift ihre Hände und schnurrt: „Ich vermisse dich jetzt schon.“

„Ich dich auch“, seufzt sie. „Viel lieber würde ich bei dir bleiben als zu diesem nervigen Workshop zu fahren, aber es muss sein! Morgen Abend bin ich ja wieder da“, verspricht sie ihrem gutaussehenden, fast zwei Meter großen, schlanken, dunkelhaarigen Freund und wirft ihm einen schmachtenden Blick zu.

Obwohl Josephine schon fast fünf Jahre mit Paulhapunkt zusammen ist, ist sie immer noch verliebt in ihn wie am ersten Tag. Dieser Mann, ein wahr gewordener Schwiegermutter-Traum, der jede hätte haben können und der tatsächlich sie erwählt hat, ist die Liebe ihres Lebens. Obendrein ist er ein intelligenter Kerl, der mühelos die Karriereleiter in einem internationalen Konzern hinaufgeklettert und dabei bescheiden und bodenständig geblieben und außerdem ein treusorgender Familienmensch ist. Eigentlich kann Josephine es immer noch nicht fassen, dass sie diesen Hauptgewinn an Land gezogen hat!

Während sie Paulhapunkt verliebt anstrahlt, kann Josephine nicht vermeiden, dass ihr Blick die Fassade des gelb verklinkerten Einfamilienhauses aus den siebziger Jahren hinter ihm streift, in dem sie beide im Dachgeschoss zusammen leben. Sie sieht, wie sich die Gardine eines der Fenster im Erdgeschoss bewegt und meint, eine verstohlene Bewegung dahinter wahrzunehmen. Ein Schatten huscht über ihr Gesicht. Schnell versucht sie, ihre Miene wieder unter Kontrolle zu bringen, aber Paulhapunkt hat ihre Regung bemerkt.

„Was ist los?“, fragt er.

„Ach ... nichts.“

Josephine fühlt sich ertappt und streicht sich verlegen eine Strähne ihres braunen Pagenschnittes hinter das Ohr. Paulhapunkt nimmt ihr das nicht ab. Er fasst ihr zärtlich unter das Kinn und hebt ihr Gesicht ein wenig an, sodass sie seinem Blick nicht länger ausweichen kann. Tapfer bemüht sie sich um eine zuversichtliche Miene.

„Vermutlich liegt mir einfach nur der Workshop im Magen“, schwindelt sie und küsst ihren Lebensgefährten gleich noch einmal, um ihn von ihren düsteren Gedanken abzulenken. Die möchte sie lieber nicht zur Sprache bringen. Paulhapunkt könnte sie sowieso nicht nachvollziehen, und sie würde damit nur die innige Stimmung zwischen ihnen beiden verderben.

Wie so oft wird sich Josephine dessen bewusst, dass es nur eine einzige Sache gibt, die in ihrer ansonsten perfekten Beziehung zu einem Reizthema werden kann und ihr Liebesglück eine Winzigkeit einzutrüben vermag ... manchmal auch etwas mehr als eine Winzigkeit ... und das ist Edeltraud, Paulhapunkts Mutter. Deren Silhouette hatte sie eben hinter der Gardine erahnt.

Josephine weiß, dass ihr Lebensgefährte nichts dafür kann, dass Edeltraud seine Mutter ist. Leider kann sie jedoch nicht umhin, ihm ein wenig Mitverantwortung an der angespannten Situation zuzuschreiben. Die hat damit zu tun, dass sie mit seinen Eltern zusammen unter einem Dach leben und es Paulhapunkt einfach nicht gelingt, Edeltraud Grenzen zu setzen. Grenzen, die Josephine für dringend nötig hält, um ihre Beziehung vor der ständigen Einmischung seiner Mutter zu bewahren. Leider ist ihr Lebensgefährte in diesem Punkt sehr viel nachsichtiger als sie selbst, und darüber geraten sie ein ums andere Mal in Streit.

Paulhapunkt stupst Josephine zärtlich in die Seite und holt sie damit in die Gegenwart zurück. Um sie aufzumuntern, schaut er sie wie ein Bernhardiner treuherzig mit seinen großen, braunen Augen an.

Dieser Blick war ihre Achillesferse. Genau damit hatte er es geschafft, sie gegen ihre ausdrückliche Überzeugung dazu zu bringen, in diese kleine, muffige Zwei-Zimmer-Dachgeschosswohnung im Haus seiner Eltern einzuziehen.

Dazu war es gekommen, als Josephine, wenige Wochen, nachdem sie Paulhapunkt kennengelernt hatte, eine Kündigung ihrer eigenen kleinen Wohnung erhielt. Da ihre Beziehung damals noch recht frisch war, war sie ziemlich erstaunt gewesen, als er ihr vorschlug, zu ihm zu ziehen. „Das ist eine gute Gelegenheit auszuprobieren, ob es mit uns beiden klappt. Wenn nicht, kannst du dir immer noch eine neue eigene Wohnung suchen“, hatte er gesagt. Josephine hatte es unendlich geschmeichelt, dass er so schnell einen so weitreichenden Schritt wagen wollte. Zwar war sie alles andere als begeistert davon gewesen, in die Butze unter dem Dach seiner Eltern einzuziehen, in der Paulhapunkt sich eingerichtet hatte, um ein bisschen auf die beiden aufzupassen, wie er es nannte. Weil er ihr aber versprochen hatte, dass es nur eine Übergangslösung sein sollte, bis sie eine passende Wohnung für sich zusammen gefunden hätten, hatte sie zugestimmt.

Das war vor drei Jahren gewesen. Seitdem war ihren Umzugsplänen immer wieder etwas dazwischengekommen.

Aber das ist jetzt vorbei, denkt Josephine zuversichtlich. Jetzt gibt es keinen Grund mehr, warum Paulhapunkt und ich uns nicht aus dem Haus seiner Eltern verabschieden sollten. Dort, wo seine Mutter pausenlos auf der Matte steht, um unsere traute Zweisamkeit zu stören. Und wenn wir erst ausgezogen sind, wird unsere Beziehung rosige Zeiten erleben. Es wird einfach herrlich werden!

Dieser wunderschöne Gedanke zaubert ihr unversehens ein Lächeln ins Gesicht, und sie seufzt unwillkürlich auf. Sie tritt ganz nah an ihren Lebensgefährten heran und flüstert: „Du ahnst gar nicht, wie sehr ich mich auf nächsten Dienstag freue, wenn wir uns die schöne große Wohnung mit Terrasse ansehen, die der Schwester meiner Kollegin gehört!“

Paulhapunkt schmunzelt über das strahlende Gesicht seiner Freundin. „Ist das wirklich sooo wichtig für dich?“, fragt er ungläubig lächelnd und streicht ihr zärtlich durch die Haare.

Und wie, denkt Josephine und hätte fast angefangen zu schnurren, weil er nun auch noch ihren Nacken krault.

Dann fällt ihr etwas ein. Zwar kann sie sich nicht wirklich vorstellen, was ihren Besichtigungstermin jetzt, im letzten Moment noch, verhindern oder gar den erhofften Umzug unmöglich machen könnte, aber es wäre dumm, etwas zu riskieren. Sie fühlt sich unwohl dabei, Paulhapunkt ein bisschen Theater vorspielen zu müssen, aber sicher ist sicher. Sie richtet sich auf ihre Zehenspitzen auf und raunt ihm verschwörerisch ins Ohr: „Es ist bestimmt besser, wenn Edeltraud vorerst nichts von der Wohnungsbesichtigung erfährt. Sie würde sich nur aufregen und Sorgen machen. Du weißt, wie sie ist – du kennst sie besser als ich.“

Josephines Stimme trieft vor geheucheltem Verständnis für seine Mutter. Innerlich hasst sie sich dafür, dass sie ihrem Liebsten etwas vormachen muss. Aber leider bestand die Gefahr, dass Edeltraud alle ihr zur Verfügung stehenden Register ziehen würde, um zu verhindern, dass sich ihr geliebter Sohn ihrem Einfluss entzieht, wenn sie etwas von dem Besichtigungstermin erführe. Von einem eingewachsenen Zehennagel bis zum Vortäuschen einer Krankheit, die ihr baldiges Ableben in Aussicht stellt, ist ihr alles zuzutrauen, um den Auszug ihres einzigen Kindes unmöglich zu machen. Wobei das mit dem Ableben für Josephine kein Grund gewesen wäre, auf eine eigene Wohnung zu verzichten. Es könnte – wenn sie ehrlich ist – sogar ein weiteres Argument dafür sein. Allerdings weiß sie auch, dass Paulhapunkt diesbezüglich anderer Meinung ist, weil normalerweise schon die kleinste Andeutung, dass seiner Mutti ein Leid geschehen könnte, ausreicht, damit er alles für sie tut!

„Meinst du wirklich, dass dieses Versteckspiel nötig ist?“, fragt Paulhapunkt und schaut sie belustigt an, als fände er ihre Sorge übertrieben. Aber wenn Josephine jetzt so darüber nachdenkt, hält sie es mehr und mehr für dringend nötig.

„Vertrau mir“, antwortet sie milde lächelnd und kommt sich dabei vor wie die Schlange Kaa im Dschungelbuch, als diese versucht, Mowgli zu hypnotisieren, um ihn zu verspeisen. Um ihre Heuchelei wieder gutzumachen, küsst Josephine ihren Lebensgefährten noch einmal besonders zärtlich. Es ist schließlich auch zu seinem Besten …

Jetzt wird es höchste Zeit, dass sie aufbricht, wenn sie nicht zu spät zu ihrem Workshop kommen will. Sie reißt sich zusammen, löst sich ein letztes Mal aus Paulhapunkts Armen, dreht sich um und steigt in ihren Wagen. Fröhlich winkend und Kusshände durch die Scheibe werfend, fährt sie rückwärts aus der Einfahrt. Anschließend legt sie den ersten Gang ein und braust die Straße hinunter. Im Rückspiegel sieht sie ihren Liebsten vor dem Haus seiner Eltern stehen und ihr hinterherwinken. Sie betrachtet das Bild mit gemischten Gefühlen. „Nicht mehr lange, und du wirst vor unserem eigenen Zuhause stehen und mir nachwinken, wenn dieser hässliche Klinkerbau im Hintergrund endlich Geschichte ist“, murmelt sie vor sich hin. „Dann wird endlich alles gut.“

Jedenfalls in ihrem Privatleben. Denn schon in wenigen Stunden wartet die zweite Großbaustelle ihres Lebens auf sie: ihr Job, beziehungsweise ein zweitägiger Marken-Workshop mit ihrem Chef, Dr. Taler, und der unsäglichen Werbeagentur, an der er mit sturem Vertrauen festhält. Trotz deren nachgewiesener Unfähigkeit! Josephine seufzt, mahnt sich dann aber zur Zuversicht. Auch hier bahnt sich eine Lösung an, sagt sie sich. Schließlich hat nun sogar die Unternehmensleitung der Personalvermittlung Cornelius mitbekommen, dass die horrenden Ausgaben an diese Agentur eine komplette Fehlinvestition sind und dringend etwas passieren muss, um den werblichen Auftritt des Unternehmens zu professionalisieren. Auch wenn Josephine es immer noch für die weitaus bessere Lösung hielte, ganz auf Reithofer & Friends zu verzichten, so muss sie die Tatsache, dass der Agenturchef wenigstens dazu genötigt wurde, eine kompetente Mitarbeiterin einzustellen, die die Personalvermittlung zukünftig als Senior Account Managerin betreuen soll, als positives Signal werten.

„Wenn die gute Frau Gutenberg-Voss wirklich ein Vollprofi ist, wie behauptet wurde, und tatsächlich schon für viele namhafte Brands und mit großen Etats gearbeitet hat, dann besteht wohl ein Fünkchen Hoffnung“, murmelt Josephine. „Möglicherweise darf ich dann sogar endlich einmal eine Kampagne auf den Weg bringen, für die ich mich nicht in Grund und Boden schämen muss.“

2

Josephine hält das Lenkrad so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortreten. Mit weit aufgerissenen Augen und blassem Gesicht, umrahmt von wild gerauften Haaren, starrt sie durch die Windschutzscheibe. Nur mit Mühe gelingt es ihr, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, beziehungsweise die von ihrem Sehnerv gesendeten Informationen zu verarbeiten.

„Oh mein Gott“, stöhnt sie ein weiteres Mal. „Wie kann es nur so viel unterirdische Inkompetenz, schockierende Ignoranz und peinliche Eitelkeit auf einmal geben?“

Vermutlich ist das alles nur ein böser Traum, versucht sie sich einzureden. Aber dann fällt ihr ein, dass selbst wenn es so wäre, dieser Traum noch nicht vorbei wäre, sondern genau genommen gerade erst angefangen hätte!

Bei diesem Gedanken stöhnt Josephine auf und will ihren Kopf gerade voller Verzweiflung auf das Lenkrad fallen lassen, als ihr trotz ihrer jämmerlichen Verfassung bewusst wird, dass sie so etwas nicht tun sollte, während sie mit 160 Stundenkilometern über die Autobahn jagt. Im letzten Moment reißt sie sich zusammen und zwingt sich dazu, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. So richtig will ihr das jedoch nicht gelingen. Stattdessen tauchen Bilder aus dem zurückliegenden Workshop in den protzigen Räumlichkeiten von Reithofer & Friends vor ihrem inneren Auge auf, und sie verkrampft ihre Hände noch etwas mehr ums Lenkrad.

Wie konnte sie nur so naiv sein, zu glauben, dass dieser Workshop, verbunden mit der Einstellung einer neuen Mitarbeiterin, tatsächlich einen Wendepunkt in der katastrophalen Zusammenarbeit mit der Agentur markieren könnte? Das absolute Gegenteil ist der Fall! Sollte es wirklich soweit kommen, dass die während dieses Marken-Relaunch-Workshops entwickelten Strategien umgesetzt würden, würde das unweigerlich das Ende der Personalvermittlung Cornelius einläuten! Eigentlich kann sie jetzt nur noch kündigen, wenn sie sich sich weiterhin als Marketing-Expertin bezeichnen möchte. Aber was dann?

Josephine weiß, wie schwer es ist, eine Stelle im Kommunikationsbereich zu finden, die ausreichend gut bezahlt wird und zumindest auf dem Papier – wenn auch nicht in der Realität – einen anspruchsvollen Aufgabenbereich umfasst.

Sie denkt zurück an einen Tag im August vor bald sieben Jahren, als ihr Elend begann. Damals betrat sie die Personalvermittlung Cornelius zum ersten Mal, um sich auf die Stelle der Marketingreferentin zu bewerben. Sie war vierunddreißig und hatte nach ihrem Studium diverse Jahre auf schlecht bezahlten Aushilfsposten oder als befristete Schwangerschaftsvertretung in diversen Unternehmen zugebracht. Deshalb war sie geradezu begeistert von der Aussicht gewesen, endlich fest angestellt und vor allem sogar verantwortlich für den werblichen Auftritt eines Unternehmens zu sein.

Ihr Chef, Dr. Taler, Abteilungsleiter für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit, zu jener Zeit Mitte vierzig und schon mit Bierbauch und Halbglatze ausgestattet, hatte damals davon gesprochen, dass sich die Personalvermittlung „im Bereich CI und so“ professionell aufstellen müsse und es im Auftritt des Unternehmens einiges zu verbessern gäbe. Man wolle „von der Regional- in die Bundesliga der Personalvermittlungsagenturen aufsteigen“, hatte er erklärt.

In Anbetracht des Erscheinungsbildes der Personalvermittlung hatte Josephine ihm nur zustimmen können und sich auf ein dankbares Betätigungsfeld gefreut. Mit Feuereifer hatte sie sich in die Arbeit gestürzt und gemeinsam mit einer versierten Werbeagentur eine verbindliche Gestaltungsrichtlinie entwickelt. Doch als sie und die Kreativdirektorin dieses Corporate Design Dr. Taler und Heribert Cornelius, dem Inhaber der Personalvermittlung, präsentierten, hatten diese es als zu unspektakulär abgelehnt. Dabei fielen Argumente wie: „Also dieses dezente Blau ... ich weiß nicht. Passt Gold nicht viel besser zu unserem Qualitätsanspruch?“ und „Wo finde ich denn in dem Logo die Qualifikationen unserer Arbeitnehmer wieder? Mindestens ein Schraubenschlüssel und ein Computer müssen da mit rein.“ Nach diversen weiteren Äußerungen dieser Qualität hatte die Kreativdirektorin paralysiert das Unternehmen verlassen, und die Herren Taler und Cornelius verständigten sich darauf, dass die Agentur nicht die geeignete für ihre Vorstellungen sei. Dem konnte Josephine nicht widersprechen. Die Vorstellungen der beiden Herren umzusetzen, setzte eine Leidensfähigkeit auf Agenturseite voraus, die den Rahmen eines seriös arbeitenden Unternehmens sprengte.

Josephine schüttelt sich unwillkürlich, als sie an jene dunkle Stunde zurückdenkt. Und das war nur der Anfang ihres beruflichen Martyriums gewesen! Denn kaum dass die Agentur das Unternehmen verlassen hatte, erinnerte sich die Assistentin der Geschäftsführung, Francine Schulze, daran, dass ihre Schwester vor vielen Jahren einmal mit dem Inhaber einer Werbeagentur liiert gewesen war und schlug vor, diesen einzuladen, damit man prüfen könne, ob er zu helfen imstande wäre. Und das war er!

Dennis Reithofer, Chef der Agentur „Reithofer & Friends – Werbung und mehr“ hatte sich einst sein abgebrochenes BWL-Studium als Surflehrer finanziert, bevor er selbstständiger Versicherungsmakler wurde. Als solcher hatte er seine Heimatstadt mit einer selbst entworfenen Anzeigen- und Plakat-Kampagne überrollt, die entgegen jeder Wahrscheinlichkeit ein durchschlagender Erfolg gewesen sein soll. Das Kampagnenmotiv hatte ihn selbst gezeigt wie er, mit Telefonhörer am Ohr, schmierig in die Kamera gegrinst, mit dem Finger auf den Betrachter gezeigt und in einer Sprechblase verkündet hatte: „Vertrauen ist gut, Reithofer ist besser! Versicherungen und mehr.“ Böse Zungen behaupteten, die Kampagne sei so schlecht gewesen, dass sie gerade deshalb zum Kult wurde, durch den Dennis Reithofer eine fragwürdige Berühmtheit erlangte. Danach kannte ihn jeder. Zwar hat er niemals Fragen danach beantwortet, wie viele Kunden sich aufgrund dieses Marketingerfolgs in Versicherungsfragen tatsächlich vertrauensvoll an ihn gewandt hatten. Aber das war auch gar nicht nötig gewesen, denn mit diesem Coup, der ihn mit einem Schlag zum Stadtgespräch und damit zu einem der bekanntesten Unternehmer der Region gemacht hatte, hatte er beschlossen, dass Werbung seine eigentliche Berufung war. Kurze Zeit später gab er sein Versicherungsgeschäft auf und gründete seine Agentur.

Eben dieser Dennis Reithofer, damals Anfang dreißig, groß, blond, braungebrannt und sehr von sich überzeugt, überzeugte auch die Herren Cornelius und Dr. Taler bei einem Essen im Sternelokal und anschließendem Nachtclubbesuch von seinen Qualitäten. Von da an konnte Josephine nur noch hilflos zuschauen, wie astronomische Summen für Kampagnen aufgebracht wurden, um, von der Öffentlichkeit und besonders der potenziellen Kundschaft der Personalvermittlung nahezu unbemerkt, zu versickern. Im Rausch des bunten Agenturlebens mit Castings, Shootings, Sektchen und Häppchen und natürlich jeder Menge Events, zu denen ihr Chef eingeladen wurde, ging jede Frage nach dem Erfolg der kostenintensiven Werbemaßnahmen unter und jeder Zweifel an der Marketingkompetenz der Agentur erstarb.

„Vermutlich kann ich nichts anderes tun, als wenigstens innerlich zu kündigen und mich auf mein Privatleben zu konzentrieren, bis ich irgendwann eine Chance erhalte, den Job zu wechseln“, murmelt sie frustriert. Allerdings weiß sie genau, dass sie nicht abgebrüht genug ist, ihre Arbeitssituation einfach an sich abperlen zu lassen und emotionsneutral auszusitzen. Um deshalb nicht in einem Anfall von Verzweiflung gegen einen Brückenpfeiler zu rasen, zwingt sie sich dazu, ihre Gedanken in eine angenehmere Richtung zu lenken.

„Wenigstens in meinem Privatleben zeichnet sich endlich eine Lösung ab“, seufzt sie und ruft Bilder ihres geliebten Paulhapunkt vor ihrem inneren Auge auf. „Wie gut, dass ich ihn habe. Andernfalls wäre mein Leben wirklich eine Katastrophe“, stößt sie hervor.

Ihre Gesichtszüge entspannen sich, und sie beschließt, jeden Gedanken an den grässlichen Workshop und das, was er für ihre berufliche Zukunft bedeutet, über das Wochenende hinter sich zu lassen. Es reicht, wenn sie sich am Montagmorgen wieder mit der grausamen Realität ihres Jobs befasst. Bis dahin will sie lieber davon träumen, mit Paulhapunkt zusammen eine eigene schöne Wohnung, weitab von seinen Erzeugern, zu beziehen, in der sie endlich ihre traute Zweisamkeit ungestört genießen können.

Josephines angenehme Gedanken werden durch das melodische Läuten ihres Smartphones unterbrochen. Sie nimmt das Gerät vom Beifahrersitz und wirft einen kurzen Blick darauf. Liebevoll lächelnd tippt sie auf die Freisprechanlage.

„Gerade habe ich an dich gedacht“, flötet sie.

„Das höre ich gerne“, antwortet Paulhapunkt schnurrend. „Ich hoffe, du bist schon auf dem Weg nach Hause. Ich vermisse dich! Wie war’s?“

„Quäl mich nicht mit solchen Fragen!“, antwortet Josephine mit weinerlicher Stimme. „Furchtbar war es! Und es war naiv von mir, dass ich mir etwas Besseres von diesem Termin erhofft habe.“

„Was ist passiert?“, fragt Paulhapunkt erstaunt. „Ich dachte, dass nun sogar eurem Geschäftsführer, diesem Heribert Cornelius, endlich aufgefallen ist, dass die Aufwendungen für das Marketing à la Reithofer in keinem Verhältnis zum erreichten Bekanntheitsgrad oder gar zu einer Verbesserung der Auftragslage stehen. Hattest du nicht sogar erzählt, dass er deinen Chef, Dr. Taler, zu sich zitiert hat und dass der aussah wie ein geprügelter Hund, als er von dem Vorstandseinlauf zurückkehrte?“

„Ja, das habe ich“, antwortet Josephine kleinlaut und würde am liebsten wirklich anfangen zu weinen – so groß ist ihre Enttäuschung, die der Hoffnung nach all den furchtbaren Jahren mit „Reithofer & Friends – Werbung und mehr“ folgte.

Mühsam reißt sie sich zusammen und schimpft mit gepresster Stimme: „Ich hätte es wissen müssen! In dem Moment, als Dennis Reithofer es irgendwie geschafft hat, meinen Chef davon zu überzeugen, dass die Lösung aller Probleme in einem Relaunch der Marke unter seiner Regie zu finden ist, war die Messe gesungen. War doch klar, wohin das führt!“ Josephine atmet tief durch, um sich zu beruhigen, was ihr jedoch nicht gelingt. „Ich vermute, dass der Meinungswechsel Dr. Talers mit der Einladung zum Presseball zu tun hatte, die nach seinem Telefonat mit Dennis Reithofer auf seinen Schreibtisch geflattert ist. Dieser Scharlatan der Werbeindustrie schreckt wirklich vor gar nichts zurück!“, empört sie sich. „Nur deshalb musste ich die letzten anderthalb Tage über diesen sogenannten Relaunch, der angeblich auf direktem Weg in die Bundesliga ‚der Personalvermittlungen‘ führen sollte, ernsthaft diskutieren und dafür auch noch den Weg zur Agentur auf mich nehmen, die schlappe drei Stunden Fahrtzeit von uns entfernt residiert! Ich schwöre dir: Obwohl ich nun schon so viele Jahre an den Blödsinn der bekloppten Agentur gewöhnt bin, stellt das in diesem Workshop Beschlossene alles bislang Dagewesene in den Schatten!“, jault sie verzweifelt auf.

„Mein armer Schatz!“, antwortet Paulhapunkt mitfühlend. „Kann ich dich irgendwie aufheitern?“

Unwillkürlich muss Josephine trotz ihrer Verfassung lächeln. Ja, das kann er, denkt sie. Und dazu muss er nicht einmal etwas tun, beziehungsweise erst in einigen Tagen, wenn sie den Besichtigungstermin für ihr neues Zuhause haben. Dann braucht er nur noch Ja zu sagen, und wenigstens ihr Privatleben erlebt ein Happy End!

Und weil sich Josephine wie eine Schneekönigin darauf freut, kann sie nun voller Inbrunst auf Paulhapunkts Frage antworten: „Mein Schatz, dein Anruf allein heitert mich auf!“

Dazu lächelt sie liebevoll, auch wenn Paulhapunkt das nicht sehen kann. „Und wenn der Besichtigungstermin nächste Woche erfolgreich ist und unser Wohnungsproblem der Vergangenheit angehört, dann schockt mich sogar mein Job nicht mehr“, lacht sie, redlich bemüht, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie das auch so meint.

„Du tust ja gerade so, als würden wir in einer unzumutbaren Absteige hausen“, empört sich Paulhapunkt mit gespielter Entrüstung in der Stimme.

Josephine ist so klug, nicht darauf einzugehen. Sie kennt ihren Liebsten gut genug, um zu wissen, dass dieses Feld vermint ist, selbst wenn er darüber scherzt. Schnell bemüht sie sich, von ihren unterschiedlichen Auffassungen bezüglich ihrer Wohnsituation abzulenken. Jetzt bloß keinen überflüssigen Streit aufkommen lassen. Wozu auch? Die Wohnung im Haus seiner Eltern wird bald Geschichte sein.

„Aber natürlich nicht, mein Schnäuzelchen“, säuselt sie in Richtung ihres Smartphones und verzieht dabei ihr Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, was Schnäuzelchen glücklicherweise ebenfalls nicht sehen kann. „Es ist nur schön, wenn wir endlich etwas Eigenes haben, was groß genug für zwei ist. Und du weißt, wie sehr ich mir einen Balkon oder eine Terrasse wünsche, wo wir mit Freunden zusammen grillen können ...“

„Das können wir bei uns auch!“

„Aber natürlich könnten wir das“, beschwichtigt Josephine und rollt ihre Augen gen Himmel. „Nur säßen wir dabei quasi deinen Erzeugern auf dem Schoß, weil es im Obergeschoss keinen Balkon gibt und wir mit unseren Gästen durch die Wohnung deiner Eltern hindurch in den Garten gehen müssten ... meine Güte, Schnäuzelchen, darüber haben wir doch oft genug gesprochen!“ Sie lacht gekünstelt, ehe sie fortfährt. „Aber darüber müssen wir jetzt nicht mehr diskutieren, denn das gehört bald der Vergangenheit an. Ich habe das sichere Gefühl, dass wir die ideale Wohnung für uns gefunden haben.“

„Wieso bist du da so sicher? Vielleicht ist die Wohnung gar nicht so toll, wie du dir das ausmalst.“

„Sie hört sich aber so an“, erwidert Josephine geduldig. Meine Güte, was ist nur schon wieder mit ihm los? „Außerdem finde ich, dass wir ein bisschen Glück verdient haben. Schließlich haben wir so lange gesucht.“

Du hast gesucht. Ich bin eigentlich ganz zufrieden, so wie es ist.“

Diese Äußerung irritiert Josephine.

„Wie meinst du das?“, fragt sie erstaunt.

„So wie ich es sage!“ Paulhapunkt klingt gereizt, und Josephine versteht die Welt nicht mehr.

„Was ist los, Liebling?“

„Was soll schon los sein?“, entgegnet ihr Liebling aggressiv. „Ich stelle bloß klar, dass du eine neue Wohnung willst. Ich bin mit unserer durchaus zufrieden!“

Josephine ist baff. Zwar hat sie längst begriffen, dass Paulhapunkt die Wohnsituation bei seinen Eltern weit weniger unangenehm ist als ihr. Auch wenn er bislang stets behauptet hat, dass er sich nach mehr Abstand zu seinen Erzeugern sehnt – wenn nur nicht immer die Umstände gegen ihn wären! Wenn er sich nur darauf verlassen könnte, dass sein Vater seine Tabletten regelmäßig nimmt, wenn seine Mutter ihn nur nicht gerade jetzt so dringend bräuchte und so weiter und so fort. Deshalb kommt die plötzliche Begeisterung für die Wohnung im Haus seiner Eltern überraschend. Und während Josephine versucht, sich von dieser Überraschung zu erholen, schwant ihr etwas, und sie könnte sich dafür ohrfeigen, dass sie so lange gebraucht hat, um zu kapieren, warum ihr Liebster sich verhält, wie er sich verhält. Dafür kann es nur eine einzige Erklärung geben.

„Du hast nicht zufällig mit deiner Mutter über den Besichtigungstermin gesprochen?“, fragt sie und bemüht sich um einen beiläufigen Tonfall. Jetzt heißt es, die Nerven zu behalten.

„Wie kommst du darauf?“, fragt Paulhapunkt unwirsch.

„Also ja“, seufzt Josephine.

„Was soll das denn jetzt? Was hat meine Mutter damit zu tun?“

„Nun, ich nehme an, dass deine plötzliche Meinungsänderung damit zusammenhängt, dass du ihr von dem Termin erzählt hast und sie nicht glücklich darüber ist.“

Josephine realisiert, wie sich ein warmes Gefühl in ihr ausbreitet, was vermutlich damit zusammenhängt, dass ihr Blutdruck steigt. Sie weiß, dass es nicht hilfreich sein wird, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Andererseits weiß sie auch, dass es ihr kaum gelingen wird, sie unter Kontrolle zu halten, wenn Paulhapunkt den Fehler begehen sollte, jetzt das Falsche zu sagen. Gleichzeitig weiß sie, dass er ganz bestimmt diesen Fehler begehen wird, weil er bereits vorher einen Fehler beging, nämlich den, seiner Mutter von dem Besichtigungstermin zu erzählen.

„Lass bitte meine Mutter aus dem Spiel“, sagt er streng. „Sie hat nichts damit zu tun! Außerdem geht es ihr gerade nicht gut ...“

Unwillkürlich stöhnt Josephine auf. Natürlich! Das war ja zu erwarten gewesen! Edeltraud hat wie üblich mit Krankheit reagiert. Vermutlich mit einer plötzlich auftretenden, denn als Josephine vor anderthalb Tagen das Haus verließ, war sie putzmunter.

„Warum sagst du es nicht einfach?“, faucht sie. „Du hast deiner Mutter von der Besichtigung erzählt, obwohl wir abgemacht hatten, dass du es nicht tust!“

„Wir haben gar nichts abgemacht“, korrigiert Paulhapunkt sie. „Du hast verfügt ...“

„Geschenkt“, fällt Josephine ihm ins Wort. „Du hast ihr alles erzählt und ... lass mich raten: Spätestens eine Stunde später klagte sie über irgendeine Unpässlichkeit.“

Josephine weiß, dass es nicht klug ist, etwas gegen Edeltraud vorzubringen, aber das ist zu viel für sie. Erst der furchtbare Workshop mit der furchtbaren Werbeagentur, ihrem furchtbar unfähigen Chef und den furchtbaren Konsequenzen, die das für ihre Arbeit haben wird. Einzig und allein die Aussicht auf eine entscheidende Verbesserung ihres Privatlebens, das nicht unerheblich durch ihre Wohnsituation geprägt ist, hatte sie aufrecht gehalten. Und nun wird das infrage gestellt, weil Paulhapunkts Mutter sich angeblich nicht wohl fühlt?

„Meine Mutter ist nicht mehr ganz neu. Da ist es wohl normal, dass sie auch mal krank wird.“

Josephine schließt die Augen, um nicht auszurasten. Sie öffnet sie allerdings schnell wieder, als ihr klar wird, dass sie mittlerweile mit 190 Stundenkilometern auf der Autobahn unterwegs ist. Sie beschließt, das Tempo zu drosseln. Gleichzeitig atmet sie tief ein und wieder aus und versucht vergeblich, sich zu beruhigen.

Paulhapunkt hat wohl Ähnliches versucht, denn er fährt mit sanfterer Stimme fort.

„Sie wird sich bestimmt bald erholen. Es ist eben gerade ein ungünstiger Zeitpunkt. Wir müssen Geduld hab...“

Plötzlich bricht seine Stimme ab. Josephine schaut auf ihr Smartphone. Ist sie in ein Funkloch gefahren? Das wäre vermutlich nicht einmal das Schlechteste, sagt ihr Verstand, weil sich dieses Telefonat in eine Richtung entwickelte, die kaum noch eine konstruktive Wendung wahrscheinlich macht. Aber ihr Verstand kann sich mit diesem Einwand nicht durchsetzen, weil sich in Josephines Magen eine Unmenge Wut angesammelt hat, die sich entladen will. Ob das vernünftig ist oder nicht, ist der Wut egal. Sie schreit nur noch danach, Paulhapunkt mitzuteilen, was sie von seinem symbiotischen Verhältnis zu seiner Mutter hält!

Aber ein Blick auf das Display ihres Smartphones zeigt nicht nur keinen Balken, es zeigt gar nichts mehr. Es dauert einen Moment, bis Josephine begreift, was passiert ist: Der Akku ist leer. Ein paar Sekunden später dringt außerdem zu ihr durch, was sich im soeben unterbrochenen Telefonat mit ihrem Liebsten abgespielt hat, und diese Erkenntnis trifft sie mit voller Wucht. Paulhapunkt will den Besichtigungstermin für eine Traumwohnung platzen lassen! Weil seine Mutter angeblich unpässlich ist! Und er verlangt allen Ernstes von ihr, dass sie sich schon wieder geduldig zeigt? Nachdem sie seit drei Jahren vergeblich auf eine eigene Wohnung hofft?

Ihre Finger schließen sich so fest ums Lenkrad, als wolle sie es erwürgen. Sie atmet erneut tief ein und wieder aus und versucht sich zu beruhigen, obwohl sie weiß, dass das unter diesen Umständen vergeblich ist.

Wie soll man bloß ruhig bleiben, wenn das Leben eine einzige Katastrophe ist? Wenn es weder im Job, noch in der Beziehung eine Hoffnung auf bessere Zeiten gibt? Statt der Aussicht auf eine eigene Wohnung wartet eine wimmernde Edeltraud zu Hause, die einen bitter für den Fluchtversuch büßen lassen wird, indem sie ihren Sohn noch mehr beansprucht, als sie es sowieso schon tut.

Das bevorstehende Wochenende ist unter diesen Umständen bereits gelaufen, und die nächsten zwanzig Jahre eigentlich auch, die Josephine im Haus von Paulhapunkts Eltern zubringen wird. Und dieses Elend wird nur von ihrem Arbeitsalltag unterbrochen, wo bereits das nächste Elend auf sie wartet, und zwar schon Montag, wenn sie auf einen gut gelaunten Chef trifft, der selbstverständlich von ihr erwartet, dass sie mit vollem Einsatz die unsäglichen Ideen einer unsäglichen Agentur umsetzt – und das, ohne eine Miene zu verziehen!

„Verdammte Scheiße!“, bricht es mit der Aussicht auf ein komplett verpfuschtes Leben aus Josephine heraus. Dann schreit sie nur noch: „Aaaaaahhh!!!“

Josephine hört erst wieder damit auf, als die Information in ihr Hirn vordringt, dass in einiger Entfernung immer mehr orangefarbene Lichter aufblinken. Ihr Verstand reimt sich zusammen, was das bedeuten könnte. Es braut sich ein Stau zusammen. Das auch noch!

In letzter Sekunde bemerkt sie die Ausfahrt, die kurz vor dem Stauende auftaucht. Instinktiv setzt sie den Blinker, wechselt auf die Abbiegerspur und verlässt die Autobahn.

Leider hat sie keine Ahnung, wo sie ist und wie sie von hier aus nach Hause kommt. Das liegt zum einen daran, dass sie nicht mit voller Konzentration beim Autofahren war. Der zweite Grund ist, dass sie sich irgendwo im Nirgendwo befindet, was sie feststellt, als sie auf das Ende der Abfahrt zusteuert und auf den Hinweisschildern von Orten liest, die sie bestenfalls aus dem Verkehrsfunk kennt und die sich außerdem in vielen Kilometern Entfernung befinden. Sie hat nicht die geringste Ahnung, welche Richtung sie einschlagen soll, doch hinter ihr rollen schon die nächsten Autos heran.

Spontan entscheidet sie sich dafür, nach links abzubiegen. Weil ihr Akku leer ist und sie weiß, dass sie in diesem Teil der Welt keine Chance hat, sich ohne die Navigations-App auf ihrem Smartphone zurechtzufinden, biegt sie einige hundert Meter weiter in einen Feldweg ein, um in Ruhe das Ladekabel aus ihrem Handschuhfach zu fischen. Sie steckt es in den Zigarettenanzünder und erwartet das vertraute Brummen des Geräts, das anzeigt, dass der Akku aufgeladen wird.

Leider hört sie nichts dergleichen. Sie ruckelt am Kabel, dann betrachtet sie den Stecker im Zigarettenanzünder genauer. Dort müsste jetzt eigentlich ein Lämpchen aufleuchten, aber das tut es nicht.

„Neeeiiin! Nicht jetzt!“, stöhnt sie, bevor sie sich in einer Reihe nicht druckfähiger Flüche ergeht. Schon wieder ist die Sicherung hinüber! Sie weiß, dass sie keinen passenden Ersatz im Auto hat, denn sie hatte neue Sicherungen besorgen wollen, ist aber noch nicht dazu gekommen. Aber Moment! Müsste nicht irgendwo eine alte Straßenkarte im Auto herumfliegen?

Obwohl Josephine nicht wirklich daran glaubt, macht sie sich auf die Suche: im Handschuhfach, in den Taschen hinter den Vordersitzen, unter den Sitzen, im Kofferraum, unter der Abdeckung für den Ersatzreifen – vergeblich. Entnervt lässt sie sich schließlich wieder auf den Fahrersitz fallen.

„Was für ein unendlich beschissener Tag“, murmelt sie.

Stoisch starrt sie durch die Windschutzscheibe und versucht einen klaren Gedanken zu fassen, aber es will sich keiner einfinden. Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkommt, erwacht sie wie aus einer Trance. Sie fühlt sich unendlich müde, viel zu müde, um noch wütend zu sein. Für einen Moment überlegt sie, einfach hier auf diesem Feldweg stehen zu bleiben und zwar für immer! Nichts, aber auch wirklich gar nichts zieht sie nach Hause in die Dreizimmerwohnung im Haus von Paulhapunkts Eltern und schon gar nicht zurück an ihren Arbeitsplatz in der Marketingabteilung der Personalvermittlung Cornelius.

„Ist das alles, was ich von meinem Leben erwarten kann? Für die nächsten zwanzig Jahre? Oder sogar darüber hinaus?“

Sie schüttelt sich. Um Himmels willen, bloß das nicht! Aber da sie nicht einfach hierbleiben kann, muss sie wohl oder übel zurück.

Es kostet Josephine fast übermenschliche Kraft, den Zündschlüssel herumzudrehen und ihren Wagen zu starten. Zwar hat sie immer noch keine Vorstellung davon, wie sie den Weg finden soll, aber sie vertraut darauf, dass irgendwann ein Schild auftauchen wird, das auf einen größeren Ort hinweist, der ihr wenigstens ein bisschen bekannt vorkommt. Irgendwie muss es in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland wohl möglich sein, ohne Navigations-App und Straßenkarte nach Hause zu finden, ohne sich unterwegs auf Nimmerwiedersehen zu verirren …

So dachte Josephine. Nach mehr als einer Stunde Herumkurverei in einer Gegend, die ohne Ortschaften, von denen die Welt jemals Notiz genommen hat auskommt, weiß sie es besser. Es gibt sie noch, die Wildnis mitten in Deutschland! Immer noch hat sie nicht die leiseste Ahnung, wo sie sich befindet. Ihre Suche wird durch Dutzende von Baustellen erschwert, die wie aus dem Nichts auftauchen und sie in schöner Regelmäßigkeit – kaum, dass sie glaubt, eine Straße gefunden zu haben, die irgendwann in Drei Teufels Namen in einen größeren Ort führen muss – erneut vom Weg abbringen.

Als sie nun ein paar hundert Meter hinter in einem kleinen Dorf, das sie vermutlich niemals gefunden hätte, wenn sie danach gesucht hätte, erneut vor einer aufgerissenen Straße steht und durch ein Schild mit einem schwarzen „U“ auf gelbem Grund dazu angeleitet wird, sich auf einem schmalen asphaltierten Weg links in die Büsche zu schlagen, gibt sie entnervt auf.

„Ich werde niemals zurück nach Hause finden. Niemals!“, stöhnt sie entnervt auf und schlägt wutentbrannt auf ihr Lenkrad ein.

Dabei fällt ihr auf, dass sie eigentlich auch nichts dahin zieht.

Allerdings gibt es dort wenigstens ein Klo, einen gefüllten Kühlschrank und ein weiches Bett, sagt sie sich. Außerdem ist es mittlerweile nach acht Uhr, es wird dunkel und sie hat das letzte Mal am Vormittag etwas gegessen. Auf die Toilette muss sie auch, und zwar dringend!

Josephine fällt plötzlich ein, dass sie im letzten Dorf, durch das sie gefahren ist, einen Hinweis auf einen Gasthof gesehen und sich gefragt hat, ob wohl jemals ein Fremder auf der Durchreise diesem Schild gefolgt ist, um dort einzukehren. Sie kann sich das immer noch nicht vorstellen und bezweifelt außerdem, dass er geöffnet hat. Aber sie weiß auch, dass ihr kaum etwas anderes übrig bleibt, als es zu versuchen.

Josephine widersteht dem drängenden Impuls, aus dem Wagen zu steigen, das Umleitungsschild zu Boden zu reißen und darauf herumzutrampeln. Stattdessen legt sie den Rückwärtsgang ein und wendet.

Das Ortsbild wird von alten, weit von der Straße zurückgesetzten Backsteinhäusern mit Kopflinden vor den Türen geprägt. Mit den blühenden Fliederbüschen an den Seiten sieht es aus, als ob die Zeit stehengeblieben sei. Schließlich findet Josephine am Rande eines großen grasbewachsenen Platzes, auf dem ein Kriegerdenkmal unter hohen Eichen steht, das gesuchte Hinweisschild „Dreiseitenhof – Hotel und Restaurant“.

„Hoffentlich meinen die das ernst mit dem Restaurant“, murmelt Josephine. Eine weitere Enttäuschung nach einem Tag, über den sie vermutlich irgendwann einmal sagen wird, dass er den Tiefpunkt ihres Lebens markierte, würde sie nicht ertragen.

Sie folgt der Straße ungefähr hundert Meter, vorbei an dunklen Holzzäunen und blühenden Hecken. Schließlich entdeckt sie in der Dämmerung tatsächlich eine Hofeinfahrt zwischen zwei hochgewachsenen Eichen. Auf dem Torbogen kündet ein großes Schild, das von zwei schmiedeeisernen Laternen angeleuchtet wird, von dem gesuchten Gasthof. Josephines Erleichterung ist riesig.

„Vielleicht gibt es tatsächlich so etwas wie Leben in dieser abgeschiedenen Gegend“, spricht sie sich Mut zu. Dabei passiert sie den Torbogen und fährt die Auffahrt entlang, die von mächtigen Bäumen gesäumt wird. Sie führt an weiten Rasenflächen mit üppig blühenden Beeten vorbei und mündet nach wenigen hundert Metern in einen Hof, der an drei Seiten von beeindruckend hübsch restaurierten Gebäuden umgeben ist.

Josephine parkt ihr Auto neben weiteren Wagen mit Kennzeichen, die ebenfalls nicht von hier stammen. Sie überlegt, ob die auch zu Menschen gehören, die an den vielen Baustellen und den völlig undurchsichtigen Umleitungen gescheitert sind. Dann jedoch erinnert ihre Blase sie daran, dass sie gerade andere Probleme hat! Eilig steigt Josephine aus und versucht sich auf dem großen Innenhof zu orientieren.

Links entdeckt sie einen großen Bau, der wie eine ehemalige Scheune aussieht. Ein großes, grob gezimmertes, zweiflügeliges Tor lässt vermuten, dass früher sogar Wagen mit hochgestapelten Heuballen hindurchpassten. Heute dagegen scheint eine in das Tor eingelassene kleinere Tür der bevorzugte Zugang zum Gebäude zu sein. Weiß gestrichene Sprossenfenster mit hellen Gardinen im Obergeschoss zeigen, dass sich Zimmer oder Wohnungen darin befinden. Diese sind durch eine an der Fassade emporgebaute Holztreppe zu erreichen, die auf einer mit blühenden Blumenkästen behängten Galerie endet. Von dieser aus führen diverse kleine grün-weiß gestrichene Holztüren ins Innere.

Auf der anderen Seite des Platzes vermutet Josephine ehemalige Stallungen. Die unebene, weiß gekalkte Hauswand, die mit groben Gittern versehenen Fensterlöcher im Erdgeschoss sowie einige zweiteilige Stalltüren, wie man sie oft auf Bildern von Pferdeställen sieht, weisen darauf hin. Heute sind die vergitterten Fenster weiß gestrichen und einladend mit bunt bepflanzten Blumentöpfen dekoriert. Über das Erdgeschoss erstreckt sich ein hohes, mit hellroten Ziegeln gedecktes Dach, in das großzügige Gauben mit bis zum Boden reichenden Fenstern eingebaut sind. Geradeaus, flankiert von diesen beiden ehemaligen Wirtschaftsgebäuden, nimmt das Haupthaus seinen Platz ein. Die hellgelb gestrichene Fassade und die hohen, hell erleuchteten Fenster strahlen Wärme und Gediegenheit aus. Eine breite Steintreppe führt ein paar Stufen hinauf zu einer zweiflügeligen Eingangstür. Darüber ist ein Schild mit dem Hinweis „Restaurant“ angebracht.

Josephine ist erleichtert. Es sieht tatsächlich so aus, als hätte sie das erste Mal an diesem Tag ein bisschen Glück. Und weil sie befürchtet, dass sich daran etwas ändern könnte, wenn sie sich nicht beeilt – es ist schließlich schon fast halb neun – fischt sie ihre Tasche vom Beifahrersitz und eilt auf den einladend erleuchteten Eingang zu.

Als sie den Gastraum betritt, hält sie die Luft an. Das hat sie nicht erwartet! Hier, mitten in der tiefsten Provinz, wo es nur Wälder und Felder und ab und zu ein verschwindend kleines Nest gibt, steht sie urplötzlich in einem modernen, im Landhausstil eingerichteten Lokal, das sie so auch in dem noblen Vorort einer Großstadt finden könnte. Staunend blickt sie auf freigelegte Backsteinmauern neben mit groben Holzplanken getäfelten Wänden, die durch indirekte, im Boden und hinter Balken versteckte Lampen vorteilhaft in Szene gesetzt werden. Sie bewundert schwere alte Tische, die sich in reizvollem Kontrast zu leichten, mit auffällig gemusterten Stoffen in verschiedenen Naturtönen bezogenen Stühlen befinden. Ihr Blick verliert sich kurzzeitig in einer Reihe von Spiegeln im hinteren Teil des Lokals. Zusammen mit geschickt eingefügten Raumteilern und einem langgezogenen Podest, auf dem einige Sitzgruppen untergebracht sind, lassen sie den Raum noch weitläufiger erscheinen als er sowieso schon ist. Überrascht muss Josephine außerdem feststellen, dass sie nicht der einzige Gast ist. Im hinteren Teil des Speiseraums, wo bis zum Boden reichende Fenster einen herrlichen Blick auf den dahinter liegenden Park gewähren, sind zwei Tische mit Pärchen und ein weiterer von einer größeren Gruppe besetzt.

Josephine geht auf einen beeindruckenden, aus Feldsteinen, Glas und dicken Ästen kunstvoll gestalteten Tresen zu, hinter dem eine drahtige, ungefähr sechzigjährige Frau mit einem flotten, jungenhaft wirkenden Kurzhaarschnitt gerade eine Flasche Wein öffnet, um zwei Gläser zu füllen. Die Frau blickt lächelnd auf, als Josephine sich nähert.

„Guten Abend“, grüßt sie freundlich. Als sie Josephines erschöpftes Aussehen bemerkt, fügt sie hinzu: „Möchten Sie etwas essen?“

„Das wäre ein Traum!“, seufzt Josephine dankbar und wirkt dabei so erleichtert, dass die Frau hinter dem Tresen schmunzelt. „Aber erst einmal ...“, beginnt sie.

„Natürlich“, fällt ihr Gegenüber ihr ins Wort. Sie scheint genau zu wissen, dass jemand, der sich hierher verirrt, das letzte Mal vor sehr langer Zeit die Möglichkeit hatte, eine reguläre Toilette zu benutzen. Sie nickt mit dem Kopf in Richtung einer Tür mit einem dezent gestalteten Hinweis. Dankbar lächelt Josephine ihr zu, stellt ihre Tasche auf einem der schicken Barhocker ab und eilt davon.

Als sie ein paar Minuten später zurückkehrt und am Tresen Platz nimmt, wo die freundliche Dame ihr bereits eine Speisekarte hingelegt hat, merkt Josephine, wie die Anspannung in ihr langsam abfällt. Die Aussicht, es sich nach einem nervenzerfetzenden Workshop, einem nicht minder unerfreulichen Telefonat mit ihrem Liebsten und einer anschließenden Odyssee durch eine der vermutlich abgelegensten Gegenden Deutschlands endlich einmal gutgehen lassen zu können, versetzt sie in eine fast heitere Stimmung. Außerdem liegen verlockende Essensdüfte in der Luft und sie hat riesigen Appetit. Wenn es jetzt noch Schnitzel mit Bratkartoffeln gibt, ist sie vermutlich im Paradies gelandet, denkt sie. Exakt eine Sekunde später entdeckt sie genau dieses Gericht auf der Speisekarte!

„Es gibt einen Gott“, murmelt Josephine.

„Wie bitte?“, fragt die Dame hinter dem Tresen irritiert.

„Das Schnitzel“, antwortet Josephine, während sie aufblickt und die Wirtin aus ihren hellblauen Augen anstrahlt. „Ich hätte gerne das Schnitzel mit Bratkartoffeln.“

„Möchten Sie dazu auch etwas trinken?“

Josephine überlegt. Und wie! Am liebsten Wein. Viel Wein! So viel Wein, dass sie alles vergisst, wenigstens für diesen Abend. Aber leider ...

„Ich habe noch einen weiten Weg vor mir“, erklärt sie und hebt bedauernd die Schultern. Dabei fällt ihr auf, dass diese Bemerkung nicht nur auf diesen Abend, sondern auf ihre gesamte Lebenssituation zu passen scheint. Zumindest dann, wenn sie nicht ewig in der Hölle schmoren will.

„Deshalb nur ein Wasser, bitte.“

Eine Viertelstunde später steht ein großer Teller mit einem perfekt gebräunten Schnitzel, herrlich duftenden Bratkartoffeln und einer großen Portion bissfestem Gemüse appetitlich angerichtet vor ihr. Von nun an zählt nur noch eins: dieses leckere Essen! Als der Teller restlos geleert ist, tupft sich Josephine die Lippen mit der Serviette ab, trinkt einen Schluck Wasser und nimmt zum ersten Mal, seit ihr das Essen serviert wurde, ihre Umgebung wieder wahr.

„Hat’s geschmeckt?“, fragt die Dame hinter dem Tresen überflüssigerweise, während sie eine Reihe von benutzten Gläsern auf die Bürste im Spülbecken taucht.

Josephine nickt. „Es war großartig!“ Dankbar setzt sie mit einem inbrünstigen Seufzer hinzu: „Ich glaube, ich will nie wieder weg!“

Die Frau hinter dem Tresen lacht über diese Bemerkung und Josephine stimmt mit ein. Doch einen Moment später stellt sie irritiert fest, dass das sogar stimmt.

Ich will wirklich nicht weg, realisiert sie bitter. Wo soll ich auch hin? Nach Hause zu einem Freund, den ich zwar liebe, der aber nie Zeit für mich hat, weil seine Mutter ihn ständig für sich beansprucht? Zurück an einen Arbeitsplatz, gegen den die Hölle ein Kinderspielplatz ist, um dort Dinge tun zu müssen, die ich mir niemals verzeihen kann? Was soll ich da? Wenn das mein Leben ist, dann ... dann ...

Bevor sie den Gedanken zu Ende denken kann, hört sie die Restaurantbesitzerin hinter der Bar sagen: „Sie können über Nacht bleiben, wenn Sie mögen. Wir haben Gästezimmer.“

Als sie sieht, dass Josephine ernsthaft über das Angebot nachzudenken scheint und vermutlich ahnt, dass ihr Gast keinen leichten Tag hinter sich hat, fügt sie hinzu, „Wenn es richtig schlimm sein sollte, können Sie hier sogar einziehen.“

Josephines schaut sie verdutzt an.

Die Dame hinter der Theke grinst. „Die Saison beginnt gerade, und ich suche eine Aushilfe. Sozusagen ein Mädchen für alles, gegen Kost und Logis und ein besseres Taschengeld“, erklärt sie, während sie ein weiteres Glas auf die Spülbürste schiebt.

Immer noch verdutzt versucht Josephine, das Gehörte zu verarbeiten. Hat die Frau hinter dem Tresen ihr tatsächlich gerade den Vorschlag gemacht, zu bleiben? Hier zu leben und zu arbeiten? In einem Ort, von dem sie nicht einmal weiß, wo genau er sich auf der Landkarte befindet? Was für ein völlig abwegiger Gedanke!

„Überlegen Sie es sich“, sagt die Frau hinter der Bar lächelnd. „Noch einen Kaffee? Oder einen Espresso?“

„Einen Espresso bitte. Danke“, antwortet Josephine verwirrt.

Einfach dableiben und alles hinter sich lassen, wie soll das gehen? Natürlich weiß sie, dass das nicht möglich ist. Rein theoretisch wäre es das zwar schon, aber ...

Verwundert stellt Josephine fest, dass sie anfängt, über diese völlig abwegige Option ernsthaft nachzudenken. Könnte sie tatsächlich hier, im hintersten Winkel der Republik, wo sie nichts und niemanden kennt, als Aushilfe arbeiten? Sie, die ihr Studium ehrgeizig mit Bestnote hinter sich gebracht hat, um dann nach vielen Jahren harter Arbeit und einer unendlichen Anzahl von Bewerbungen endlich einen halbwegs passenden Job zu ergattern? Könnte sie das alles aufgeben, um quasi von jetzt auf gleich ein neues Leben zu beginnen? Undenkbar!

Plötzlich aber schieben sich andere Gedanken in den Vordergrund: Was hatte sie bislang wirklich erreicht? Sie verdiente einigermaßen gut und war theoretisch sogar zuständig für Markenführung, Werbelinie und Kampagnenplanung eines mittelständischen Unternehmens. Das war immer ihr Ziel gewesen. Aber praktisch? Praktisch hatte ihr der just hinter ihr liegende Workshop einmal wieder bewiesen, dass sie in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich überhaupt nichts zu sagen hatte!

Josephine denkt zurück an den Workshop. Dort, so war ihnen versprochen worden, sollten ihr Chef und sie nicht nur die „Wunderwaffe zur Rettung der Marke“, sprich Frau Gutenberg-Voss kennenlernen, sondern auch ihren Vorstellungen von einem fundierten Prozess zur Neupositionierung der Personalvermittlung mit anschließendem behutsamen Relaunch der Marke lauschen. Das hätte ein akzeptabler Anfang werden können. Tatsächlich jedoch muss Josephine leider das Resümee ziehen, dass selbst dann, wenn Frau Gutenberg-Voss etwas konnte, dieser Umstand vollkommen irrelevant war. Denn kaum, dass die frischgebackene Senior Account Managerin – Ende zwanzig, blonde Locken, die mit einem bunten Tuch lässig nach hinten gebunden waren, was unheimlich kreativ aussah – sich in knappen Worten und coolem Sprech selbst vorgestellt hatte, hatte der Agenturchef das Wort wieder an sich gerissen. Er hatte es auch nicht mehr an seine Mitarbeiterin abgegeben – außer, um ihre Bestätigung für seine wie immer fragwürdigen Vorstellungen von einem gelungenen Markenauftritt der Personalvermittlung Cornelius einzuholen.

All das bedeutet leider, dass nicht nur Josephines aktuelle Jobsituation hoffnungslos ist. Es bedeutet außerdem, dass sie auch anderswo nie wieder einen Job in einer Marketingabteilung bekommen würde! Schließlich würde bei ihrer Bewerbung herauskommen, dass sie etwas mit dem furchtbaren Auftritt ihres jetzigen Arbeitgebers zu tun hatte. Und mit dieser Referenz hatte sie nicht einmal mehr als Praktikantin eine Chance! Unbezahlt!

Von dieser niederschmetternden Bilanz aus wandern ihre Gedanken weiter zu ihrem Privatleben, in dessen Zentrum Paulhapunkt steht. Ihr allerliebster Paulhapunkt. Geschrieben „Paul H.“, wobei das „H.“ für Herkules steht, eine Reminiszenz an seinen Großvater mütterlicherseits.

Schon als Kind hatte Paulhapunkt eingesehen, dass er es mit dem Namen Herkules im Leben schwer haben würde. Das merkte er zum Beispiel daran, dass seine Klassenkameraden gar nicht anders konnten, als ihn deswegen aufzuziehen. Jeder, der nicht bekloppt war, hätte das ebenfalls schnell eingesehen. Nur Paulhapunkts Mutter nicht. Edeltraud hatte trotz der vielen Hänseleien, denen ihr Sohn ausgesetzt war, darauf bestanden, dass er nicht Paul, sondern Paul Herkules hieß und nicht davon abgelassen, ihn so zu nennen – auch nicht vor seinen Freunden. Das hatte irgendwann zu einer ernsthaften Meinungsverschiedenheit zwischen Mutter und Sohn geführt, weil Paul Herkules nicht einmal seiner Mutti zuliebe bereit war, weiterhin den Spott seiner Klassenkameraden auf sich zu ziehen. Nach zähem Ringen, endlosen Diskussionen und schließlich sogar Paulhapunkts Entschluss, im örtlichen Kinderheim nach einem freien Platz zu fragen, war es ihm gelungen, seiner Mutti den Kompromiss auf die Namensverkürzung Paul H., gesprochen Paulhapunkt, abzuringen.

Leider war es bei diesem ersten heroischen Kampf – und Sieg(!) – eines schmächtigen Zehnjährigen über einen furchtbaren Drachen namens Edeltraud geblieben. Jedenfalls vermutet Josephine, dass es danach keine richtigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden mehr gegeben haben kann. Denn trotz häufiger Scharmützel, die sie wegen irgendwelcher Nichtigkeiten austragen, lebt Paulhapunkt genau das Leben, das seine Mutter für ihn vorgesehen hat: unverheiratet, im Haus seiner Eltern und stets bereit, auf ihren Ruf hin zu springen. Zwar tut er das fast immer unter Protest, aber das ändert nichts daran, dass er springt. „Ich kann nun mal nicht anders“, „Es sind eben meine Eltern“ und „Da musst du Verständnis haben“, sind stets seine Entschuldigungen. Josephine muss zugeben, dass es ihr nach nunmehr drei Beziehungsjahren immer schwererfällt, Verständnis zu haben. Das wiederum stößt bei Paulhapunkt auf wenig Verständnis, „weil es schließlich nicht zu ändern ist, dass meine Eltern mich brauchen“. Und so wird manches Mal ein Wehwehchen seiner Mutter – auch wenn es nur ein eingebildetes ist – zu einem handfesten Zankapfel zwischen ihnen beiden, wie es auch bei all seinen vorherigen Beziehungen war. Das gibt er zwar nicht zu, aber Josephine weiß von einer Ex-Freundin, dass es so ist.

An dieser Situation hat sich nichts geändert, seit Josephine wider besseren Wissens bei Paulhapunkt eingezogen ist, weil er ihr versprach, mit ihr gemeinsam nach einer passenden Wohnung für sie beide zu suchen. Ihre Schwester Friederike hatte ihren Entschluss damals mit den Worten kommentiert, dass es gerade die Übergangslösungen wären, die am längsten Bestand hätten. Aber Josephine – blind vor Liebe, wie sie sich heute selbstkritisch vorwirft – wollte sich nicht beirren lassen und war außerdem überzeugt davon gewesen, schnell eine bessere Lösung finden zu können. Nach einigen Monaten hatte sie allerdings einsehen müssen, dass die Unkenrufe ihrer älteren Schwester begründet gewesen waren. Zwar hielten Josephine und Paulhapunkt anfangs noch fleißig nach passenden Immobilien Ausschau – beziehungsweise hielt Josephine Ausschau und schlug Paulhapunkt Objekte zur Besichtigung vor – aber die fanden immer seltener seine Zustimmung. Bald wurde es schwierig, ihn überhaupt noch dazu zu bewegen, sich passende Angebote wenigstens anzusehen, und schließlich war es ein kurzer Krankenhausaufenthalt seines Vaters nach einem leichten Herzinfarkt und die wegen dieses Umstandes hyperventilierende Mutter, die mehr Betreuung brauchte als ihr Herr Gemahl, die die Suche vollends zum Erliegen brachte. Selbstverständlich nur vorläufig! Sobald sich die Situation stabilisiert hätte, versprach Paulhapunkt, würden sie die Wohnungssuche fortsetzen. Und wieder einmal hatte ihre Schwester, der Josephine versehentlich davon erzählte, mit ihrer Mutmaßung, dass sich ihre Auszugspläne damit endgültig erledigt hätten, recht gehabt. Doch Josephine hielt an ihrem Glauben an Paulhapunkt und an sein Versprechen fest, dass alles nur ein Aufschieben, aber kein Aufheben sei.

Aber irgendwann hat auch Josephine eingesehen, dass sie den Einfluss der liebenden Mutter auf ihren ergebenen Sohn komplett unterschätzt hatte, weil sich seitdem an dem Status quo nichts änderte, obwohl Karl Gustav gesundheitlich längst wieder wohlauf war und sich kaum noch jemand an seinen Herzinfarkt erinnerte. Josephine hatte damals zähneknirschend beschlossen, stillschweigend auf den richtigen Moment zu warten, um die Sache bei passender Gelegenheit doch noch zu einem guten Abschluss zu bringen. Und genau diese Gelegenheit schien nun endlich gekommen zu sein: ein sensationelles Wohnungsangebot, ein gesundheitlich stabiler Vater und eine nichtsahnende Mutter.

Doch diese einmalige Gelegenheit war nun Geschichte. Und so muss sich Josephine auch hinsichtlich ihres Privatlebens eingestehen, dass es sich nicht nach einer Erfolgsgeschichte anhört.

Als sie aus ihren düsteren Überlegungen erwacht, stellt sie mit Erstaunen fest, dass der Vorschlag, hier in diesem Gasthof zu bleiben – so abwegig er auch sein mag – einiges für sich hat. Mehr noch: In ihrer verzweifelten Lage ist die Möglichkeit, zeitweise Unterschlupf auf einem friedlichen, beschaulichen Fleckchen Erde zu finden – weit entfernt von allen Übeln –geradezu ein Himmelsgeschenk! Auch, wenn sie natürlich niemals wirklich bleiben könnte.

„Soll ich Ihnen mal das Zimmer zeigen, das Sie beziehen könnten?“

Erschrocken blickt Josephine, die bis eben in ihre trüben Gedanken versunken gewesen war, auf und schaut in das lächelnde Gesicht der Frau hinter dem Tresen.

„Ich heiße übrigens Carmen. Carmen George. Mir gehört dieses Anwesen.“

„Josephine Oppermann“, antwortet Josephine mechanisch.

Sie findet, dass die Situation etwas extrem Surreales an sich hat und fragt sich, ob sie auf der langen Odyssee hierher irgendwo in ein Kaninchenloch gefallen ist oder versehentlich den Bahnsteig nach Hogwarts erwischt hat.

Die Gutsbesitzerin dreht sich währenddessen zu der Bedienung um, die gerade einen Tisch am Fenster abkassiert, und ruft ihr zu, dass sie kurz im Haus unterwegs ist. Dann verlässt sie ihren Platz hinter dem Tresen und bedeutet Josephine mit einer Handbewegung, ihr zu folgen.

Wie in Trance erhebt sich diese vom Barhocker, ergreift ihre Tasche und folgt der Wirtin.

Sie steigen die Stufen zum Hof hinunter und gehen schräg über den Hof zur ehemaligen Scheune. Carmen öffnet die kleine Tür im großen Scheunentor und schlüpft hindurch, dicht gefolgt von Josephine.

Sofort erhellt warmes Licht das Innere des Gebäudes. Beeindruckt sieht Josephine sich in der riesigen Halle um: Zu ihren Füßen bewundert sie altes Kopfsteinpflaster, das eindeutige Abnutzungsspuren von Fuhrwerken aufweist. Fachwerk aus hell lasierten Holzbalken, gefüllt mit hellroten Backsteinen schmückt die hohen Wände, die von modernen Wandleuchtern aus Milchglas erhellt werden. Zwei einfache Holztreppen, die eine an der linken, die andere an der rechten Seite, führen hinauf in das Obergeschoss, von dem – genau wie hier unten – jeweils vier Türen an jeder Seite in Gästezimmer zu führen scheinen. Besonders entzückt ist Josephine von dem Dachstuhl, der hoch über ihr den Blick auf eine umfangreiche Balkenkonstruktion freigibt, in deren Weitläufigkeit man sich fast zu verlieren meint.

Sie hat nicht viel Zeit, sich umzusehen, denn Carmen erklimmt schon die linke der beiden Treppen, läuft die Galerie im Obergeschoss entlang und bleibt schließlich vor der letzten Zimmertür stehen. Sie schließt auf und tritt zur Seite.

„Das könnte Ihr neues Reich sein!“, meint sie, während sie das Licht einschaltet.

Josephine schaut in ein großes Gästezimmer mit weiß getünchten Wänden. Grobe Holzdielen führen zu zwei hohen Fenstern, an deren Seiten hellgraue Vorhänge von einem hoch unter der Decke angebrachten Drahtseil herabfallen. Massive Holzmöbel und ein breites Bett verleihen dem Raum eine wohltuende Stabilität und Einfachheit. Am meisten gefällt ihr, dass sich auch in diesem Zimmer die im Flur bestaunte offene Balkenkonstruktion bis unter das Scheunendach fortsetzt. Josephine fühlt sich sofort wohl. Ehe sie weiß, was sie tut, sagt sie: „Überredet, ich bleibe!“