Leseprobe Rezept zum Mord

Kapitel 2

Als Stephanie nach ihren Einkäufen wieder auf ihren Hof fuhr, sah sie Licht im Wohnzimmer bei Christof. Es war erst 17:00 Uhr, aber in den alten Häusern mit den kleinen Fenstern musste man an so nebeligen Tagen wie heute schon früh das Licht einschalten. So wie es aussah, ging es Christof wieder besser. Zumindest stand er im Wohnzimmer und versuchte, Gonzo das Halsband anzulegen. Sie parkte und lud ihre Besorgungen aus, dann ging sie zu Christof hinüber.

»Salut Christof, geht es dir besser? Du hast zumindest wieder ein bisschen Farbe im Gesicht.«

»Ich fühle mich ganz gut, bis auf das seltsame Kribbeln in meinem Arm und einen ziehenden Schmerz in meiner Hand.«

»Hat der Arzt gesagt, auf was du aufpassen musst? Kann das normal sein?«

»Ja, ich glaube, er sagte, wenn die Betäubung nachlässt, kann es kribbeln und die Gegend, wo die Fäden sitzen, ziepen. Ich warte mal ab, wie es mir morgen geht.«

»Ich hoffe, du hast keine allzu großen Schmerzen. Kann ich noch etwas für dich tun?«

»Für mich nicht, aber Gonzo würde sich, glaube ich, sehr freuen, wenn du seine Runde mit ihm gehst.«

Stephanie streichelte dem Golden Retriever den Kopf und kraulte seine Backen. »Na dann komm, mein Dicker. Du gehst heute mit mir Gassi, vielleicht solltest du auch bei mir schlafen?«

Sie griff nach der Leine und ging hinaus. Bevor die Tür ins Schloss fiel, hörte sie Christof noch etwas Unverständliches murmeln.

»Oder du schläfst hier«, wiederholte Christof sein Angebot leise, obwohl er wusste, dass sie es nicht mehr hören konnte. Siedend heiß fielen ihm die Boudin ein, die er noch immer nicht gebrüht hatte. Er ging in die Schulküche und öffnete die Schublade mit den großen Töpfen. Dabei stieß er sich den Arm an. Ein flammender Schmerz durchzuckte seinen Körper. Er lehnte sich gegen den Schrank mit den Trockenzutaten. Langsam glitt er daran hinunter, bis er auf dem Boden saß.

Wie soll ich denn meine Schule eröffnen, wenn ich nicht kochen kann? Cacahuète, das hat mir gerade noch gefehlt!

Mühsam stand er auf. Endlich wieder aufrecht stehend, sah er sich in seiner Küche um. Er war nicht einmal dazu gekommen, seinen Arbeitsplatz zu säubern. So konnte er das doch nicht stehen lassen. In diesem Moment hörte er Stephanie, die nach ihm rief. Er ging zurück ins Haus und fand sie im Gang, wo sie gerade Gonzos Fell putzte.

»Hey Christof, ich bin wieder zurück. Du setzt dich jetzt vor den Fernseher, ich mache in deiner Küche schnell klar Schiff, und danach bereite ich dir eine kalte Platte fürs Abendessen zu, einverstanden?«

»Das kann ich doch nicht von dir verlangen, meine Liebe. Lass mich das mal machen. Ich brauche wahrscheinlich dreimal so lange, aber ich bekomme das schon hin. Das Einzige, worum ich dich gern bitten würde, ist, dass du einen großen Topf auf den Herd stellst. Ich muss die Boudin unbedingt sieden, sonst gehen die kaputt.«

»Du hast frische Boudin gemacht? Die würde ich unheimlich gern kosten. Ich habe schon lange keine mehr gegessen. Was muss ich denn genau machen?«

»Drei Sachen. Die Würste, die im Kühlschrank liegen, herholen und für dreißig Minuten bei 96 °C bis 98 °C sieden lassen, Kartoffelpüree mit viel Meerrettich und Butter zubereiten, sowie den Salat vorbereiten. Ich decke derweil den Tisch. Was meinst du, laden wir Mathieu und Léon auch ein? Ich habe mehr als genug Boudin gemacht.«

»Wenn du möchtest«, antwortete Stephanie enttäuscht, denn sie hatte sich auf einen gemütlichen Abend zu zweit gefreut. Das hatten sie schon lange nicht mehr gemacht. Immer war irgendetwas dazwischengekommen. Die Baustelle, der Pokerabend, ein unerwarteter Besuch.

Wollte Christof nicht mehr mit ihr allein sein?

Sie nahm den großen Topf aus der Schublade, füllte ihn mit Wasser und gab Salz hinzu, dann schaltete sie die Kochplatte ein.

»Das nächste Mal, liebe Stephanie, gibst du das Salz erst ins Wasser, wenn es kocht. Denn durch das Salz verändert sich der Siedepunkt des Wassers. Darum brauchst du mehr Energie, um das Wasser zum Kochen zu bringen.«

»Macht das wirklich so viel aus?«

»Das nicht, aber wenn man schon überall davon spricht, nachhaltig und energiesparend zu handeln, ist es zumindest ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.«

Während Christof den Tisch vorbereitete, sah er immer wieder zu Stephanie hinüber.

Sie kommt mir irgendwie verstimmt vor. Habe ich etwas Falsches getan oder gesagt?

Er legte das Besteck und die Teller an ihren Platz und überlegte, ob er Stoffservietten oder welche aus Papier hinlegen sollte. Stephanie war gerade dabei, die Kartoffeln für das Püree auf den Herd zu stellen und warf ihm dabei einen verstohlenen Blick zu. Sie sah seinen fragenden Blick und nahm all ihren Mut zusammen.

»Müssen wir wirklich noch jemanden einladen? Ich hatte mich so sehr auf einen gemeinsamen Abend gefreut … nur wir zwei. Oder magst es du nicht, wenn nur wir zwei zusammensitzen und uns unterhalten?«

Christof wurde heiß und kalt zugleich. Was sollte er darauf antworten? Natürlich mochte er es, wenn sie beide zusammen waren.

»Stephanie, ich weiß nicht, was du meinst. Wir sind doch heute Abend zusammen.«

Stephanie wischte sich ihre Hände ab und kam hinter der Kücheninsel hervor. Sie sah Christof an, legte ihre Hände auf seine Schultern und küsste ihn. Er war überrascht und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er genoss ihren Annäherungsversuch und fühlte sich wohl bei ihrer Umarmung. Aber er war viel zu alt für Stephanie, darum zuckte er zurück.

»Christof! Ich verstehe dich einfach nicht. Warum wehrst du dich so dagegen?«

»Ich … du bringst mich in Verlegenheit. Wie soll ich denn deiner Meinung nach reagieren? Ich finde, ich bin zu …«

»Bla, bla, bla! Weißt du was, ich gehe jetzt! Vielleicht hast du recht, ich sollte mich auf mein Leben konzentrieren. Ich bin noch jung. Ich finde schon noch einen Deckel, der zu mir passt.«

Sie zog ihre Schürze aus, warf sie energisch auf den Boden und stampfte zornig hinaus.

»Männer können solche Idioten sein!«, rief sie schluchzend und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Christof sah ihr hinterher, als sie an seinem Wohnzimmerfenster vorbeirannte. Es schmerzte ihn, zu sehen, wie traurig sie war. Das Klappern des Deckels auf den Kartoffeln erinnerte ihn an die beiden Töpfe auf dem Herd.

»Merde, wie soll ich das denn jetzt allein machen? Ich muss Mathieu anrufen. Heute Abend brauche ich Hilfe.«

Zwanzig Minuten später stand Mathieu bei Christof in der Küche und kümmerte sich um das Abendessen. »Weißt du was, ruf doch Gaston an, dann machen wir einen Herrenabend mit Alphonse zusammen. Das wird dir guttun und dich von Stephanie ablenken.«

»Du Depp! Ich brauche keine Ablenkung. Aber es ist trotzdem eine gute Idee.«

»Sag Gaston, er soll Brot mitbringen, ich mag frisches Baguette zur Boudin.«

Wenig später saßen die Männer bei Picon und Eichelbrot mit Leberpastete zusammen.

»Mathieu, schmeiß die Boudin auf den Grill, das Püree ist fertig, wir können gleich essen.«

Das aufdringliche Fiepsen von Alphonses Handy ließ das Gespräch abrupt verstummen.

»Entschuldigung, das ist meines. Einer ruft die Notfallnummer an, da muss ich dran gehen.«

Alphonse ging auf den Flur hinaus, um zu telefonieren, während Christof eine weitere Runde Picon eingoss. »Dann warten wir, bis Alphonse wieder zu uns stößt. Das ist aber ein nervenaufreibender Ton, den er da auf seinem Handy hat, findet ihr nicht? Ist so was überhaupt erlaubt?«

»Dafür gibt es leider kein Gesetz, soweit ich weiß. Aber mal was anderes, ich bin für eine Sonderuntersuchung nach Paris berufen worden. Du wirst also die nächsten paar Monate ohne mich auskommen müssen. Ich bin nicht erreichbar, auch nicht im Notfall. Schaffst du das, ohne wieder über Leichen zu stolpern?«

»Ha, ha, ha. Du bekommst heute keinen Picon mehr. Du scheinst mir schon genug zu haben.«

»Christof, das ist mein Ernst. Ich muss heute um 20:30 meinen Zug bekommen.«

Christof sah auf die Uhr. »Da musst du dich aber sputen, du hast nur noch knapp eineinhalb Stunden Zeit.«

Mathieu sah auf die Uhr, leerte sein Glas und stand auf. »Du hast recht, verflucht! Jetzt kann ich deine Bodin gar nicht mehr kosten.«

Er stieß beinahe mit Alphonse zusammen, der gerade zurückkam.

»Christof, ich muss leider zu einem Notfall. In der Gemeinde findet eine Versammlung statt und die haben keinen Strom mehr, jetzt sitzt der Gemeinderat im Dunkeln. Mit ein wenig Glück bin ich in einer halben Stunde wieder zurück, dann können wir essen, wenn du mir noch etwas anderes außer Boudin anbieten kannst.«

Christof klopfte Alphonse auf die Schulter und begleitete die beiden zur Tür hinaus. Er sah sehnsüchtig über den Hof zu Stephanies Haus hinüber.

Er spürte einen Orkan in seinem Bauch toben, und wusste nicht, wie er sich in Zukunft ihr gegenüber verhalten sollte. Er schüttelte den Kopf und verdrängte den Gedanken an den Streit von heute Nachmittag. Er ging zurück ins Wohnzimmer.

»Christof, du hast es gut. Wie bist du denn auf die Idee gekommen, einfach alles hinter dir zu lassen und abzuhauen? Ich beneide dich darum!«

»Ich dachte, du bist glücklich in deiner Bäckerei? Zumindest ist dein Brot so einzigartig, dass ich niemals daran gezweifelt hätte, denn da steckt so viel Liebe und Leidenschaft drin, dass man es bei jedem Frühstück schmeckt.«

Gaston schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung. Klar, das Backen macht mir Spaß. Es ist meine Leidenschaft, so wie bei dir das Kochen. Aber immer nur früh aufstehen, um die Miete, den Strom, die Steuern und sonstige Kosten bezahlen zu können, ist nicht das, was ich mir für den Rest meines Lebens vorgestellt habe.«

Christof setzte sich zu ihm und stieß sich dabei erneut seinen Arm an der Arbeitsfläche an. »Autsch verflucht! Sei mir nicht böse, Gaston, aber ich denke, den Herrenabend lassen wir für heute sausen. Alphonse kommt nach seinem Noteinsatz bestimmt nicht mehr hierher, der muss zu seiner Celestine, Mathieu fährt nach Paris und ich bin total fertig von der ganzen Aufregung heute. Ich wünsche dir eine gute Nacht, trink in Ruhe aus und zieh die Tür hinter dir zu, wenn du gehst.«

Gaston stand kopfschüttelnd auf, ließ sein volles Glas stehen, verabschiedete sich von Christof und ging nach draußen. Christof schaltete den Herd und das Licht aus und sah noch einmal durch das Wohnzimmerfenster hinüber zu Stephanie. Bei ihr war auch noch Licht zu sehen. War es das Wohnzimmer oder ihr Schlafzimmer? Er wusste es nicht, er spürte nur, dass sie ihm fehlte. Er war müde, stand unter Schmerzmitteln und hatte sie zutiefst verletzt.

Was bin ich nur für ein Idiot! Kann ich das jemals wieder geradebiegen? Wird Stephanie jemals wieder unbeschwert und frei mit mir sein?

Er nahm sich zwei der Schmerztabletten und spülte sie mit seinem Picon hinunter. Bedrückt und frustriert ging er zu Bett und versuchte, zu schlafen. Das gleichmäßige Atmen von Gonzo war das einzige Geräusch, das er wahrnahm. Oder war da noch etwas anderes? Hörte er da ein leises Schlurfen, gerade so, als ob jemand mit Filzpantoffeln über das alte Parkett schlich? Er tastete nach seinem Handy und leuchtete sein Schlafzimmer aus. Nein, es war nichts zu sehen. Niemand hatte sich in sein Zimmer geschlichen.

Christof legte sein Smartphone wieder weg, allerdings nicht ohne auf die Uhr zu sehen. Es war kurz nach elf, also noch zu früh zum Aufstehen, aber auch zu früh, um noch eine Tablette zu nehmen. Er drehte sich um, versuchte wieder, einzuschlafen, doch dieses seltsame Geräusch ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Er hatte das Gefühl, als stünde jetzt jemand neben seinem Bett. Konnte das sein? Hätte Gonzo dann nicht angeschlagen?

Christof grübelte weiter, schlief dann aber irgendwann ein und träumte prompt von Stephanie. Er fühlte, wie sie sanft über sein Gesicht strich, ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn gab und sich dann neben ihn auf das Bett setzte, so wie sie es getan hatte, als er im Winter diese schwere Grippe gehabt hatte. Er hörte sie flüstern; leise und zärtlich an seinem Ohr.

»Christof, schläfst du schon? Ich habe es nicht mehr ausgehalten in meiner Wohnung. Weißt du, dieser blöde Streit von heute Nachmittag, der tut mir wirklich leid. Ich vergesse manchmal, dass du mehr Zeit brauchst. Ich wäre so gern immer an deiner Seite, und ich bin mir sicher, eines Tages wirst du auch bereit für uns sein.«

Er spürte, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Er bildete sich ein, ihre zarten Finger auf seiner Wange spüren können. Abrupt schlug er die Augen auf.

»Was ist … wer bist … Stephanie?«

Erschrocken fuhr er hoch, unkontrolliert tastete er nach seinem Smartphone und seiner Nachttischlampe. »Licht, ich brauche Licht!«

»Christof, mein Schatz, keine Angst, ich bin es, Stephanie. Beruhige dich, keiner will dir was Böses.«

»Wie kommst du hier rein?«

Sie hielt ihm einen Schlüssel vor die Nase. »Damit. Du selbst hast ihn mir doch gegeben, damit ich jederzeit in dein Haus kann.«

»Ach ja, das hatte ich vollkommen vergessen. Was machst du eigentlich hier?«

»Ich musste nach dir sehen, und sichergehen, dass es dir gut geht. Es tut mir …«

»Stop, Stephanie! Hör bitte auf. Gib mir ein Glas Wasser und meinen Bademantel, dann setzen wir uns zusammen hin und reden. Ich habe mich wie ein Idiot verhalten. Es tut mir leid, dass ich deine Gefühle verletzt habe. Ich empfinde sehr viel für dich, aber du musst mir Zeit lassen. Ich bin keine fünfundzwanzig mehr. In meinem Alter ist man vorsichtig mit seinen Gefühlen.«

Sie sah ihm tief in die Augen, legte ihre Hände an seine Wangen, zog ihn an sich und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund, sodass ihm der Atem wegblieb. Dieses Mal wich er nicht zurück. Er ließ es geschehen, legte seine Arme um ihren schlanken Oberkörper und erwiderte ihre Zärtlichkeit.

Auf einmal spürte er etwas Feuchtes, Kühles auf seinem Oberschenkel, dort wo sein Bademantel verrutscht war. Er hielt abrupt inne, und auch Stephanie hörte auf und sah ihn irritiert an.

»Was ist denn jetzt schon wieder los?«

»Gonzo drängt sich zwischen uns, entschuldige bitte. Er hat mir gerade seine kalte Schnauze auf den Schoß gelegt. Ich glaube, er ist der Meinung, dass wir uns noch ein wenig Zeit lassen sollten.«

»Er oder du?«

»Ich habe es dir doch schon gesagt … lass mir bitte noch etwas Zeit. Ich danke dir, dass du zu mir gekommen bist, obwohl das eigentlich mein Part gewesen wäre. Du hast mir heute Abend gefehlt, darum wollte ich mich mit einem Herrenabend ablenken, der allerdings unglaublich in die Hose gegangen ist.«

»Ich lasse dich jetzt schlafen, du musst schließlich deinen Arm kurieren und ich habe morgen früh einen wichtigen Termin.«

»Du bist mir aber nicht mehr böse, oder?«

Sie lächelte ihn an, beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn noch einmal zärtlich. »Nein, das bin ich nicht. Jetzt schlaf gut und träume was Schönes. Ich schaue morgen früh noch mal nach dir, bevor ich zur Arbeit fahre, einverstanden?«

Kapitel 3

Das Hupen eines Autos ließ Christof erschrocken hochfahren. Er war an seinem Schreibtisch eingenickt. Sein Kopf lag auf der Tastatur und auf seinem Bildschirm stand eine Seite voller fghjhg. Noch einmal quäkte die Hupe durch den Vormittag, gefolgt von einem aufdringlichen Klingeln an der Tür. Mühsam stand er auf und schlurfte zum Fenster. Er riss es auf und schrie: »Ich komme ja gleich, gib mir zwei Minuten.« Kurz darauf stand er vor der Tür und starrte in das Gesicht von Commissaire de Police Léon.

Christof sah den tropfnassen Léon verwundert an. Es hatte in der Zwischenzeit offenbar begonnen, zu regnen. Zum Glück war Gonzo bei den ersten Tropfen vor dem Regen in die Scheune geflüchtet, als es noch trocken war.

»Hallo Léon, komm doch rein.«

»Hast du vielleicht einen Kaffee für mich? Es ist saukalt und nass. Bei diesem Wetter jagt man noch nicht einmal einen Hund vor die Tür.«

»Was verschafft mir die Ehre deines unerwarteten Besuches?«

Léon blickte ihn verständnislos an. »Darf ich nicht einfach einen alten Freund besuchen?« Er sah Christof an und mustere seinen verbundenen Arm. »Klär mich bitte auf, mit wem hast du dich denn jetzt schon wieder angelegt? Oder bist du erneut über eine Leiche gestolpert?«

Christof wurde blass. »Was meinst du mit Leiche?«

»Na, du bist doch im Oktober über einen Toten in deiner Toilette gestolpert, wenn ich mich recht erinnere.«

»Hör bloß auf, das war genug Spannung und Ärger für ein ganzes Leben. Komm herein, ich koche dir einen heißen Kaffee, oder möchtest du wieder einen kleinen Braunen?«

Léon entschied sich für den kleinen Braunen. Er schlürfte wenig später genussvoll seine Kaffeehausspezialität und lauschte Christof, der von seinem Kochbuch erzählte.

»Erkläre mir mal, was mit dir passiert ist. Du siehst so aus, als hättest du dir einen Ringkampf mit einem Gorilla erlaubt.«

»Eher mit einem bissigen Zahngestänge. Ich habe Alphonse bei der Montage eines elektrischen Monitorständers in meiner Schulungsküche geholfen. Das Gewicht des 32 Zoll Monitors hat die Zahnstange wie ein Sägeblatt nach unten rauschen lassen. Dummerweise war mein Arm im Weg, was zur Folge hatte, dass mein Unterarm jetzt mit einer schönen Narbe versehen ist.«

Léon schüttelte den Kopf. »Das kann auch nur dir passieren. Wenn du etwas brauchst, du weißt ja, wie ich erreichbar bin. Wobei es heute problematisch werden könnte, ich muss dringend mal ein wenig ausspannen.«

»Stephanie kümmert sich schon um mich … sogar mehr als mir lieb ist. Willst du mich jetzt etwa auch noch bemuttern?«

»Gott bewahre nein! Da du schon eine heiße Krankenschwester hast, werde ich mich diskret zurückhalten.«

Er stand auf, um zu gehen, aber nicht ohne Christof vorher eine Handvoll Carambars auf dem Tresen zu hinterlassen. »Falls du zwischendurch eine kleine Stärkung brauchst.«

»Stärkung? Wie darf ich das denn verstehen?«

»Na ja, wer weiß, was deine kleine Pflegerin so alles im Schilde führt.«

Christof schüttelte missmutig den Kopf. »Weißt du was, geh einfach.«

Commissaire de Police Léon lachte über seinen eigenen Scherz, klopfte Christof auf die Schultern und ging nach draußen zu seinem Wagen. Er hob zum Abschied noch einmal die Hand und fuhr dann davon.

Christof bereitete sich einen doppelten Espresso zu und setzte sich wieder an sein Manuskript. Gerade überarbeitete er sein ganz spezielles Rezept für eine Rinderroulade, gefüllt mit Radieschen-Pesto und Schwarzwälder Schinken in einer Rotweinsauce mit hausgemachten, falschen Kapern. Er hatte im letzten Sommer ein Glas davon vorbereitet. Sie mussten also inzwischen bestens durchgezogen sein. Plötzlich fiel ihm ein, dass er dieses Rezept auch noch in seinem Buch nachtragen musste. Es war ein einfaches Rezept, man musste nur die grünen Samenkapseln der Kapuzinerkresse ernten, sie waschen und anschließend die drei Samenkapseln voneinander trennen. Diese wurden dann mit reichlich Salz in einem verschlossenen Glas für eine Woche kühl gestellt, um das Wasser zu entziehen. Danach spülte man die eingelegten Samen ab, verteilte sie auf kleine Gläser und füllte diese mit gutem Essig auf. Im Kühlschrank hielt sich das ganze mehrere Monate lang. Schnell schrieb er das Rezept auf, damit es nicht wieder irgendwo unterging. Er hatte gerade das letzte Wort geschrieben, als Gonzo mit seinem lautstarken Bellen den Postboten ankündigte. Er ging hinunter und nahm ein Dutzend Umschläge entgegen, die der Briefträger ihm reichte. Er überflog die Briefe und warf den Großteil direkt und ungeöffnet zum Altpapier.

»So viel Wald, der umsonst abgeholzt wird, nur um direkt im Altpapier zu landen. Ich hoffe, das wird sich bald ändern. Nicht nur das Papier kostet Geld, auch der Versand«, murmelte er missmutig.

Ein Brief war mit dem Vermerk Persönlich – Vertraulich versehen. Diesen legte er auf seinen Schreibtisch und würde ihn nach seinem Ausflug durchlesen. Christof sah auf die Uhr: Es war schon beinahe zehn, also Zeit aufzubrechen. Er trank noch schnell einen Kaffee, überflog seine Änderungen und klappte seinen Laptop zu.

Trotz seiner Verletzung wollte er seine geplante Fahrt heute unternehmen. Er wollte durch das Grand Ried dAlsace wandern, und eine neue Sehenswürdigkeit erkunden. Diese Region zwischen Rhein und Iller, ein natürliches Überflutungsbecken und eine wunderschön bewaldete Auenlandschaft, strahlte eine unendliche Ruhe aus, so hatte man es ihm zumindest erzählt.

Gonzo saß neben ihm, wedelte mit der Rute und riss ihn aus seinen Gedanken.

»Wir zwei fahren heute ins Grand Ried. Diesen herrlichen Frühlingstag muss man im Freien genießen. Ich denke, wir werden heute auch den ersten Bärlauch ernten können. Das gibt ein feines Abendessen und einige Gläschen Pesto für den Sommer.«

Er ließ Gonzo hinten in seinen alten, blauen Citroën H5 einsteigen und fuhr hinunter nach Marckolsheim, um von dort aus, den etwas abseits gelegenen Pfad der Jagdaufseher zu nehmen. Es gab einen wunderschönen Lehrpfad durch den beinahe zweitausend Hektar großen Ill-Wald. Sein verstorbener Freund Jacky, der vor seinem abrupten Ableben der Jäger und Waldaufseher hier war, hatte ihm im letzten Herbst diesen verborgenen Weg gezeigt. Gut gelaunt stellte er seinen alten Wellblechbus auf dem Parkplatz in der Nähe des Lehrpfades ab. Von dort aus war es zu Fuß nicht mehr weit bis zum Naturschutzgebiet. Verwundert bemerkte er den orangen Kadjar, der auf dem ansonsten verlassenen Parkplatz im Schatten der Bäume parkte. Inzwischen stand die Sonne am strahlend blauen Himmel und es war angenehm warm, deshalb ließ Christof seine Jacke im Auto. Er stellte sich vor seinen alten Citroën H5 und ließ Gonzo aussteigen, der sich sofort neben den Wagen setzte und abwartend den Kopf in den Wind hob. Da Christof wusste, dass hier Damwild, Biber und etliche andere Wildtiere lebten und im Moment ihre Jungen großzogen, musste Gonzo an die Leine. Der Hund sah ihn beinahe beleidigt an, als Christof ihm das Brustgeschirr umlegte.

»Ich weiß, du hörst aufs Wort, aber wenn inzwischen ein neuer Jäger im Amt ist, kann das für dich gefährlich werden. Jacky kannte dich, aber wir wollen lieber kein Risiko eingehen. Komm, jetzt gehen wir eine gemütliche Runde, genießen den Frühling und suchen frischen ail des ours.«

Wo war der Weg abgeblieben, den er letzten Herbst gegangen war? Nach ein wenig Suchen fand er die aus Birkenholz grob gezimmerte Pforte, hinter der sich ein schmaler Pfad durch den Wald schlängelte. Schon hier war, soweit das Auge reichte, das saftige, glänzende Grün des jungen Bärlauchs zu sehen. Nicht nur das, ein zarter Duft von Knoblauch lag in der Luft, vermischt mit dem würzigen Aroma des Waldbodens. Christof rieb sich erfreut die Hände, dann machte er sich in diesem Idyll auf die Suche nach den großen Blättern, da er diese für seine gefüllten Hühnerbrüste bevorzugte. Nach einer guten Stunde war er am Ziel seiner Wanderung, am Rande der Lichtung, die auf der Homepage des Tourismusverbandes beschrieben worden war. Er hatte seinen Korb zur Hälfte gefüllt und es war Zeit für eine Pause. Der Platz hier war einfach ideal dafür. Vor sich sah er das vom Tourismusverband aufgebaute Tipi-Dorf.

Hier konnte sich der naturverbundene Tourist einmieten, um zu Fuß oder per Flachkahn das von etlichen Flussläufen durchzogene Gebiet zu erkunden. Christof setzte sich auf einen der gespaltenen Stämme, die als Bänke rund um den Feuerplatz herum aufgestellt worden waren, stellte seinen Korb in den steinernen Kreis und goss sich einen Kaffee aus seiner mitgebrachten Thermoskanne ein. Entspannt streckte er sich auf dem angewärmten Stamm aus, band sich Gonzos Leine um sein Handgelenk und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Er grübelte schon seit zwei Tagen darüber nach, was er als Ostermenü in seinem Blog schreiben sollte. Hier in dieser Ruhe ging er im Geiste erneut sein Repertoire an österlichen Spezialitäten durch, bis ihm langsam die Augen zufielen. Gonzos gleichmäßiges Atmen begleitete ihn und ließ ihn sanft einschlafen.

Der Geruch brennender Holzkohle begleitete seinen Traum von einem saftigen Onglet de Boeuf mit in Butter gerösteten Linzer Delikatess. Gerade richtete er sich einen Teller an, als er die kalte Schnauze von Gonzo an seiner Wange spürte, kurz bevor dieser lautstark zu bellen begann. Erschrocken fuhr Christof hoch und sah sich panisch um. Er hatte nicht nur von kokelndem Holz geträumt, nein, sein Weidenkorb mit dem Bärlauch brannte lichterloh! Er war eben dabei, das Feuer mit dem Kaffee aus der Thermoskanne zu löschen, als er eine dunkle Gestalt sah, die aus einem der Tipis rannte, ihn kurz ansah und danach im dichten Unterholz verschwand.

Anscheinend war eines der Tipis trotz der kalten Nächte bereits vermietet, was man auch an den noch warmen Glutnestern des Lagerfeuers auf dem Platz vor dem Tipi erkennen konnte. Ein leichter Windhauch wehte vom Wald her und trug den Geruch von Schlaf und Schweiß, vermischt mit feuchtem Leinen zu ihm hinüber.

Gonzo schnupperte, zog den Schwanz ein und setzte sich dann aufrecht hin. Christof betrachtete den verkohlten Korb. Nur wenige Blätter Bärlauch waren übrig geblieben. Er nahm eines davon aus den Überresten des Weidengeflechtes und roch daran. Ein angenehmes Aroma von Geräuchertem, vermengt mit dem typischen Knoblauchgeruch brachte ihn auf eine Idee. Er steckte sich eines der Blätter in den Mund. Der Geschmack übertraf bei Weitem das, was er erwartet hatte. Schnell packte er die Überreste zusammen, zog an der Leine des Hundes und wollte sich auf den Weg nach Hause machen, doch Gonzo machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Weder mit gutem Zureden noch mit Leckerlis war der Hund dazu zu bewegen, aufzustehen.

Er starrte nur, immer wieder schnuppernd, auf das Tipi, das in der Richtung stand, aus der ein leichter Wind wehte. Christof überlegte kurz, was er tun sollte, bis Gonzo auf einmal zu bellen anfing.

Seltsamerweise kam niemand aus dem Tipi … keiner rührte sich. Auch nach mehreren, lauten Rufen bekam Christof keine Antwort, was ihm sehr seltsam vorkam. Ein befremdliches Gefühl überkam ihn und plötzlich verspürte er den Drang, sich das Zelt näher anzusehen. Als er die vom Morgentau feuchte Leinenplane zur Seite schob und einen Blick in das Innere des Zeltes warf, blieb ihm vor Schreck beinahe das Herz stehen. Stotternd versuchte er, sich bei dem Mann, der dort auf dem Feldbett lag, zu entschuldigen, da er der festen Überzeugung war, dass er diesen gestört hatte. Denn er lag friedlich auf seinem Feldbett und schlief.

Kapitel 4

Er wollte gerade das Zelt verlassen, als er sah, wie der Arm des Mannes, der soeben noch auf dem Kissen gelegen hatte, schlaff vom Bett rutschte und gegen den noch laufenden Gasheizkörper schlug. Jeder normale Mensch wäre vor Schreck schreiend aufgesprungen, doch der Mann rührte sich nicht, obwohl die Haut auf seiner Hand bereits Blasen warf. Christof schüttelte den Kopf, als ihm schlagartig bewusstwurde, dass er erneut über eine Leiche gestolpert war.

Christof überlegte kurz. Sollte er sofort die Behörden informieren, oder zuerst selbst ein wenig ermitteln? Eine andere Möglichkeit wäre es, einfach fortzugehen und den Tatort zu vergessen. Was hatte er denn schon mit dem Fremden da drin zu schaffen?

Er war hin und her gerissen, irgendwie kam er sich seltsam fehl am Platz vor. Wenn er jetzt einfach verschwinden würde, wäre er nicht an den Ermittlungen beteiligt, was ihm in seiner aktuellen Situation äußerst entgegenkam. Auf der anderen Seite, wenn er sich ein wenig umsah und im Anschluss Commissaire de Police Léon Moreau anrief, würde er garantiert tausend Fragen über sich ergehen lassen müssen und den ganzen Tag mit Léon verbringen, wäre aber in die Ermittlungen involviert.

Der Gestank von verbranntem Fleisch erfüllte jetzt das Tipi, Christof musste unbedingt an die frische Luft, der Geruch brachte ihn zum Würgen. Als er draußen stand, sah er noch einmal zu der Leiche hinüber, deren Hand inzwischen dunkelbraun war. Sollte er den Heizstrahler ausschalten? Nein, er durfte nichts am Tatort berühren, ansonsten wäre er garantiert unter den Verdächtigen. Christof griff nach seinem Telefon. Er musste Commissaire Léon anrufen, doch zuerst machte er einige Fotos von dem Lagerplatz.

»Bureau de la gendarmerie nationale, bonjour. Comment puis-je vous aider? Wie kann ich Ihnen helfen?«

Christof war irritiert. Hatte er nicht Léons private Nummer angerufen? Wieso sprach er jetzt mit der Sekretärin der Gendarmerie?

»Salut Beatrice, ich muss dringend Léon sprechen, kannst du mich zu ihm durchstellen?«

»Salut Christof, ça va? Was verschafft mir die Ehre deines Anrufes?«

»Ça va, oui. Ich muss dringend mit Léon sprechen, kannst du mich durchstellen?«

»Nein, er ist heute nicht im Dienst. Was kann ich ihm denn ausrichten?«

»Ich habe hier etwas gefunden, was ihn interessiert, darum möchte ich ihn gern persönlich sprechen.«

»Wie gesagt, das ist heute nicht möglich. Monsieur Moreau ist nicht zu sprechen. Es ist Samstagmittag, auch ein Commissaire de Police hat ein Anrecht auf sein Wochenende.«

»Das denke ich nicht, aber wie du meinst, Beatrice. Dann richte ihm bitte aus, ich stehe hier im Grand Ried vor einer Leiche, die demnächst Feuer fängt, wenn mir nicht bald jemand sagt, was ich tun soll.«

»Lieber Christof, der Witz war gut. Schönes Wochenende noch.«

Christof hörte jetzt nur noch ein Rauschen im Telefon und sah irritiert auf sein Smartphone. Hatte Beatrice tatsächlich aufgelegt? Kopfschüttelnd wählte er erneut die Nummer der Polizei, doch die Leitung war besetzt. Er wollte sich gerade einige Notizen machen, als Léon ihn zurückrief. »Salut Christof. So, jetzt habe ich genug gelacht. Beatrice hat mir gerade eine haarsträubende Geschichte erzählt. Jetzt sag mal ehrlich, was hast du gefunden?«

»Ich stehe hier im Tipi-Dorf bei Selestat, und vor mir in einem Tipi liegt ein Toter, dessen Hand langsam von einem Gasheizer gegrillt wird. Soll ich warten, bis er brennt, oder soll ich den Heizer abstellen?«

»Du machst keine Witze?«

»Nein, natürlich nicht. Habe ich schon jemals gescherzt, wenn ich einen Toten gefunden habe?«

»Da muss ich dir recht geben, das hast du nicht. Kannst du bitte dafür sorgen, dass niemand anderes das Tipi betritt und eventuelle Spuren verwischt? Danke. Wir sind auf dem Weg!«

»Was mache ich mit dem Heizstrahler?«

»Abschalten natürlich, wenn der Tote wirklich gegrillt wird. Was für eine idiotische Frage.«

»Okay, ich kümmere mich darum. Ich gehe zum Parkplatz zurück und warte dort auf euch.«

»Wir brauchen ungefähr eine bis eineinhalb Stunden.«

Bevor Christof noch etwas erwidern konnte, hatte Léon bereits aufgelegt.

Christof steckte sein Handy ein, hielt sich den bandagierten Arm vor die Nase und versuchte umständlich, mit einer Hand das Gas des Heizstrahlers abzudrehen, dabei verbrannte er sich allerdings prompt die Finger. Kurzerhand warf er den Gasheizer vor das Tipi in die Feuerstelle. Christof ging zurück, um sich noch einmal umzusehen, es sah beinahe so aus, als sei hier ein zärtliches Tête-à-Tête unterbrochen worden. Auf dem kleinen Campingtisch standen einige abgebrannte Kerzen, zwei Sektflöten und eine Flasche Jahrgangssekt im Kühler. Ein Block Foie gras, Pain d’épice und ein Glas Oignons Confits standen auch dort.

Schade um das feine Essen. Bis die Polizei mit ihren Ermittlungen fertig ist, ist garantiert alles verdorben.

Langsam verzog sich der Gestank von verbranntem Fleisch, als Gonzo erneut anschlug. War das bereits die Polizei mit ihrem Aufgebot? Er ging aus dem Tipi und sah sich um, doch niemand war zu sehen. Hatte der Hund nur ein Stück Wild gewittert, oder war sonst noch jemand hier unterwegs, um Bärlauch zu sammeln? Christof setzte sich auf einen der Baumstämme, die etwas weiter von der Feuerstelle entfernt lagen, und dachte nach.

War der Mann in dem Zelt an einer natürlichen Ursache verstorben, oder hatte ihn jemand eliminiert? Nun, wenn Léon hier auftaucht, hat sich dieser Fall für mich erledigt und ich kann mich wieder auf meine Kochschule konzentrieren.

Ein Blick auf die Uhr ließ ihn erschrocken aufspringen. Er musste sich beeilen, wenn er noch rechtzeitig auf dem Parkplatz sein wollte, bevor Léon mit seiner Truppe dort aufschlug, also spurtete er mit Gonzo durch den Wald.

Kurze Zeit später stand Christof nervös auf dem Parkplatz und wartete. Was würde Léon wohl dieses Mal sagen? Gonzo lag neben ihm auf dem Boden und schnarchte laut. Du hast es gut. Du kannst schlafen und musst dich nicht mit der Gendarmerie herumschlagen. Während er grübelnd dastand, wurde ihm immer kälter. Die Sonne versteckte sich gerade hinter einer dunklen Wolke. Regen war für heute zwar nicht vorhergesagt, aber ab und zu zogen graue Wolken über das Elsass. Er wollte gerade in seinen Citroën H5 steigen, um sich vor der Kälte zu schützen, als er von Weitem die ersten Polizeiwagen sah, die mit Blaulicht auf den Parkplatz fuhren.

»Salut Christof, ça va? Hat sich dein Arm ein wenig beruhigt, dass du schon wieder durch den Wald schleichst?«

Léon streckte Christof die Hand zur Begrüßung hin.

»Es geht. Wenn ich aufpasse und die Hand nicht übermäßig belaste, ist es auszuhalten.«

»Zurück zu deinem Anruf. Was hast du denn Schönes für mich? Wo liegt denn deine Leiche?«

Christof deutete in den Wald. »Dort hinten im Tipi-Dorf liegt der Verstorbene.«

»Wieso bist du dir so sicher, dass es sich um einen Toten handelt?«

»Wenn er nur schlafen würde, hätte er geschrien, als seine Hand auf den Heizstrahler fiel.«

»Ach ja, du hast so etwas erwähnt. Dann führe uns mal zu deinem Fund. Kannst du Gonzo währenddessen im Bus lassen, damit keine weiteren Spuren verfälscht werden? Das wäre sehr hilfreich, falls es sich tatsächlich um den Schauplatz eines Verbrechens handelt.«

Christof streichelte Gonzo über den Kopf und öffnete die Beifahrertür. Er griff nach seiner Jacke und ließ den Hund einsteigen. »Komm, du passt so lange auf das Auto auf. Ich komme bald wieder zurück.« Er sperrte seinen Hund schweren Herzens in den Bus und wartete darauf, dass Léons Trupp gänzlich auf dem Parkplatz versammelt war.

»Jetzt sind wir komplett, Christof. Wenn du so weit bist, können wir los.«

Christof ging voraus und führte die sechs Polizisten durch das Grand Ried, vorbei an dem frischen Bärlauch, den zarten Brennnesseln, den blühenden Palmkätzchen und den lichtgrünen Blatttrieben an den alten Eichen. Durch das lichte Grün war die Lichtung mit den Tipis schnell zu erkennen. Christof blieb stehen und deutete zu der entsprechenden Stelle.

»Da vorne, wo die Bäume aufhören, befindet sich das Zeltlager. Die Feuerstelle ist noch warm. Du findest den Toten in dem Zelt, an dem das Leinen zerschnitten wurde. Es steht ein Fahrrad daneben. Brauchst du mich noch, oder kann ich mich auf den Weg nach Hause machen?«

»Non, Christof, ich würde es begrüßen, wenn du hierbleiben würdest, da ich bestimmt noch die eine oder andere Frage habe.«

Commissaire de Police Léon wies einen jungen Kollegen an, mit seinem Partner vorauszugehen, während er mit Christof reden wollte. Kaum war der Uniformierte mit einem zweiten Kollegen auf die Lichtung hinausgetreten, drehte Léon sich zu Christof um.

»Du warst also hier spazieren. Hast du jemanden gesehen? Ist dir jemand auf der Lichtung oder im Wald begegnet?«

»Begegnet nicht direkt. Ich habe nur gesehen, wie eine vermummte Person aus dem Tipi gerannt ist und direkt hinter diesem im Wald verschwand.«

»Hast du mir vielleicht sonst noch etwas zu sagen?«

»Nein, was soll ich denn zu sagen haben? Da drin liegt deine Leiche, ich habe den Gasheizer abgestellt, ansonsten ist das hier dein Tatort. Ich bin froh, dass du da bist. Ich kann dann ja wohl jetzt gehen, oder nicht?«

»Lieber Christof, ich würde nichts lieber sagen als Ja, aber leider nicht. Du musst hierbleiben, bis die Spurensicherung mit dir fertig ist. Außerdem wäre ich dir dankbar, wenn du mir mit der ganzen Technik helfen könntest.«

Léon reichte Christof das Tablet. »Kannst du das Teil mal für mich einschalten?«

»Aber natürlich doch, Léon.«

Christof betrachtete das Tablet und versuchte, es zum Laufen zu bringen.

»Hast du das Teil aufgeladen?«

»Wie aufgeladen? Das sollte doch immer funktionieren.«

Léon sah irritiert auf das Gerät in Christofs Händen. »Cacahuète, das habe ich übersehen, so ein Mist. Wie mache ich denn jetzt meine Tatortskizze?«

»Nimm einfach Bleistift und Papier, das ist dir doch sowieso viel lieber, habe ich recht?«

Léon nickte zustimmend und griff nach seiner Aktentasche. Doch diese war leer, kein Stück Papier und auch kein Schreibmaterial.

»Merde, ich muss mir wohl das Tablet eines Kollegen holen, warte bitte hier.«

Bald darauf starrte er auf sein hilfloses Gekritzel. »Sag mal, sieht das so aus wie dieser Zeltplatz?« Er hielt Christof das Tablet hin, der daraufhin zustimmend nickte. »Wenn das die Zeichnung eines Fünfjährigen sein soll, dann kommt das hin.« Léon wollte gerade etwas erwidern, als sich einer der Beamten zu ihnen gesellte.

»Commissaire de Police, wollen Sie sich das Opfer im Tipi ansehen? Bis jetzt hat noch keiner das Tipi betreten, alle warten auf Sie.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, ich werde noch ein wenig warten, bis sich der üble Geruch, von dem Herr Weinkeiler erzählt hat, verzogen hat. Ich denke nicht, dass uns der Tote derweil davonlaufen wird.«

»Aber wollen Sie nicht den Tatort in Augenschein nehmen, bevor hier zehntausend Füße durchgetrampelt sind?«

»Non, ich warte auf die Spurensicherung. Außerdem bin ich gerade mitten in einer Zeugenbefragung!« Der Beamte sah kurz zu Christof, dann drehte er sich um und stapfte zurück zu dem Tipi. »Christof, was machst du eigentlich um diese Zeit hier im Grand Ried? Bei dir zu Hause gibt es doch auch schon frischen Bärlauch.«

»Ich wollte mir diese Auenlandschaft ansehen, bevor im Sommer Hunderte von Touristen durch das Gelände trampeln. Du weißt doch, dass ich so viel wie möglich von meiner neuen Heimat erkunden will. Aber warum interessiert dich das?«

»Ich muss das fragen, du weißt doch inzwischen bestimmt, wie so eine Ermittlung abläuft.«

»Hör mir bloß auf, davon habe ich echt die Schnauze gestrichen voll.«

Commissaire Léon sah lächelnd zu Christof. »Ich habe leider keine Wahl. Da du den Toten gefunden hast, wirst du mir die näheren Umstände erklären müssen. Kommen wir zurück zu der flüchtenden Person. Kannst du mir da eine Beschreibung geben?«

»Ehrlich gesagt, nicht. Aber ich hatte den Eindruck, die Person hat sich geduckt, um ihre wahre Größe zu verbergen.«

Léon tippte hilflos auf dem Tablet herum, während Christof versuchte, sich an mehr zu erinnern. »Ach ja, ich glaube, sie war bekleidet mit einer mittelblauen Jeans und einem dunklen Kapuzen-Sweatshirt. Er oder sie trug die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.«

»Hast du zufällig auf die Uhr geschaut und kannst mir sagen, wann das ungefähr war?«

»Ich denke, das ist so eineinhalb bis zwei Stunden her.«

»Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?«

»Nein, wie gesagt, ich habe nachgesehen, ob jemand in dem Tipi ist, habe den vermeintlich schlafenden Mann vorgefunden, und festgestellt, dass er verstorben war. Danach habe ich dich sofort angerufen.«

Léon packte das Tablet wieder ein, wickelte ein Carambar aus und steckte es sich in den Mund. Er sah Christof fragend an. »Auch eines? Das hilft, die Nerven zu beruhigen.«

Christof lehnte dankend ab. »Wie lange wird das hier noch dauern?«

»Ich glaube, wir sind so weit durch, du kannst jetzt also gehen. Wenn noch etwas sein sollte, rufe ich dich an.«

Plötzlich erschien einer der Beamten bei ihnen und bedeutete Léon, mit ihm zu kommen. Die beiden unterhielten sich kurz, dann sah er zu Christof hinüber.

»Bleib bitte doch noch kurz da, ich muss mir nur schnell persönlich ein Bild des Tatortes verschaffen. Ich bin gleich wieder bei dir.«

Christof deutete einen kurzen Salut an. »Oui, Monsieur le Commissaire.«

Er setzte sich auf den bemoosten Baumstumpf und beobachtete ein Eichhörnchen, das über ihm auf einem Ast saß und sich im warmen Sonnenschein ausgiebig putzte. Christof erschrak, als man ihm plötzlich auf die Schulter tippte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass Léon wieder zu ihm gekommen war.

»Monsieur Weinkeiler, würden Sie mir bitte folgen? Ich denke, Sie sind uns eine Erklärung schuldig.«

Was ist denn jetzt passiert, dass Léon plötzlich so förmlich ist? Das letzte Mal, als der Commissaire dieses Spiel abgezogen hatte, hat es nicht gut für mich ausgesehen.

»Sag mal, Léon, was ist denn los? Werde ich etwa schon wieder von dir verdächtigt?« Léon deutete zur Lichtung. »S’il vous plaît, gehen Sie vor und erklären Sie mir bitte, was Sie dort auf der Lichtung sehen.« Christof hatte das Gefühl, als ob sich sein ganzes Blut im Magen zusammenzog und zu einem eiskalten Block wurde.

»Muss das sein? Ich habe eigentlich …«

»S’il vous plaît Monsieur Weinkeiler, ich bitte sie noch einmal höflich!«

Christof verstand, er hatte keine andere Wahl. Er ging, von Léon begleitet, zu der Lichtung. Zuerst war er geblendet, als er aus dem Schatten trat. Er schirmte sich die Augen ab und suchte nach dem Fahrrad, das vorhin noch am Tipi gestanden hatte. Was er jetzt erblickte, ließ seine Knie weich werden. Noch einmal sah er sich um, suchte den Heizstrahler, den er in die Feuerstelle geworfen hatte, und betrachtete die sieben Tipis, die im Halbkreis standen. Cacahuète! Der Heizstrahler, das Fahrrad, alles war verschwunden!

»Monsieur Weinkeiler, wo sagten Sie, stand das Fahrrad?«

»Dort, am zweiten Tipi von links, wo sich der lange Schnitt in der Zeltplane befindet.«

»Wo genau befindet sich der Tote?«

»In diesem Tipi, auf einem Feldbett. Direkt daneben steht ein Rucksack. Die Leiche liegt auf einem kirschroten Schlafsack.« Léon deutete auf das Tipi. »Zeigen Sie mir bitte genau, wo Sie den Toten gefunden haben und wie er angeblich dalag.« Christof verstand überhaupt nichts mehr. »Was soll dieses angeblich? Zweifelst du etwa an meiner Aussage?«

»Oui, Monsieur Weinkeiler, so ist es, aber sehen Sie selbst.«

Nun war Christofs Neugierde geweckt. Er ging mit zugehaltener Nase in das Tipi hinein, blieb dann aber irritiert stehen. Dort, wo vor zwei Stunden noch ein Mann lag, dessen Hand langsam gegrillt wurde, war nichts mehr zu sehen. Keine Spur von einem Rucksack, keine Heizung, absolut nichts. Selbst der gedeckte Tisch mit den Elsässer Köstlichkeiten war verschwunden. Es war kein Hinweis auf irgendeinen Besucher in diesem Tipi zu sehen, nur der leichte Geruch von verbranntem Holz und Fleisch lag in der Luft.

»Léon bitte glaube mir, da lag vor wenigen Stunden noch eine Leiche. Ich habe mir das doch nicht eingebildet!« Er ging hinaus zur Feuerstelle. »Hier, fass die Asche an, die ist noch warm, teilweise ist sogar noch Glut vorhanden.«

»Monsieur Weinkeiler, ich muss Sie bitten, bei uns zu bleiben, bis wir das ganze Gebiet abgesucht haben. Wenn hier tatsächlich ein Verbrechen stattgefunden hat, dann müssen auch Spuren vorhanden sein. Sollten wir nichts finden, sind Sie uns eine Erklärung schuldig. Ich hoffe für Sie, dass Ihre Angaben bestätigt werden, da Sie ansonsten mit einer Anzeige, zumindest jedoch mit der Rechnung für diesen Polizeieinsatz rechnen müssen.«

Christof war sprachlos. Er ließ sich auf einem der Baumstämme nieder und schüttelte den Kopf.

Was soll das denn schon wieder? Wer erlaubt sich da einen üblen Scherz mit mir?

Er beobachtete, wie die sechs Beamten akribisch das Tipi und den Boden rund um die Feuerstelle herum nach Schuhabdrücken, Schleifspuren oder Reifenabdrücken untersuchten. Einer der Uniformierten kam jetzt zu Christof.

»S’il vous plaît, ich muss Ihren Schuh sehen, damit wir Ihre Schuhabdrücke aussortieren können.« Christof hob seinen Fuß an und ließ den Beamten einen Gipsabdruck der Schuhsohle anfertigen. Dabei beobachtete er Léon, der aufmerksam den ganzen Platz abschritt und ebenfalls nach Spuren suchte. Kurz darauf setzte er sich neben Christof und wartete, bis sie allein waren.

»Sag mal, Christof, hast du Stress?«

»Nein, warum?«

»Nun, ich denke, irgendetwas muss dich dazu veranlasst haben, uns mit deiner Phantomleiche zu belästigen und uns hierher zu locken. Ich finde das übrigens nicht witzig. So etwas kann dich teuer zu stehen kommen.«

»Ich bin doch nicht blöd! Wenn ich sage, ich habe einen Toten gefunden, dann kannst du mir das ruhig glauben. Wenn jemand hier sauber gemacht hat, nachdem ich die Entdeckung gemacht habe, muss doch zumindest irgendwo in diesem Wald eine Spur des Opfers oder des Täters zu finden sein. Ein abgeknickter Ast, ein Fußabdruck im Morast, irgendetwas muss doch zu finden sein.«

»Was sind das für Schmerztabletten, die du nimmst?«

»Paracetamol, warum?«

»Nur Paracetamol? Nichts anderes, kein Tramadol oder vielleicht noch ein bisschen Homöopathie, zum Beispiel Opiate oder Morphine?«

»Nein, das Ganze ist nur eine Fleischwunde, da genügt das vollkommen. Warum fragst du?«

»Schade, das würde erklären, warum du von Leichen halluzinierst.«

»Ich habe keine Wahnvorstellungen! Hör auf, mich so seltsam anzusehen.«

Léon klopfte ihm auf die Schulter. »Wenn hier etwas zu finden ist, dann werden wir das auch … ich hoffe es für dich. Wo bist du denn langgegangen?«

»Ich bin den Weg gegangen, den ich euch gezeigt habe, dann um den Feuerplatz herum und zu dem Tipi. Danach bin ich geradewegs zurück zum Parkplatz gegangen.«

Das laute Rufen eines Beamten unterbrach ihr Gespräch. »Commissaire de Police Léon Moreau, kommen Sie bitte kurz zu mir? Ich habe etwas gefunden. Ich denke, das wird Sie interessieren«, schallte es quer über die Lichtung. Léon stand auf, klopfte Christof auf die Schulter und streckte den Rücken durch. »Christof, es sieht gut für dich aus.«

»Oder vielleicht noch schlechter, du weißt ja noch nicht, was deine Kollegen da gefunden haben. Wahrscheinlich wieder irgendein dummes Indiz, das auf mich hinweist.«

»Schau einer an, du kannst ja schon wieder Scherze machen. Ich schau mir das mal an. Kommst du mit?«

Christof schüttelte den Kopf. »Nein, macht ihr ruhig eure Arbeit, ich komme dazu, sobald ihr fertig seid.«

Er sah von seinem Sitzplatz aus zu, wie sich die Beamten hinter dem Tipi versammelten. Plötzlich gingen zwei der Männer zu dem großen Metallkoffer hinüber, den sie am Rand der Lichtung abgestellt hatten. Sie öffneten den Koffer, holten eine Kamera und mehrere LED-Strahler sowie Beweismitteltüten heraus. Christof wurde nun doch neugierig.

Waren Léon und sein Team doch noch auf eine Spur des verschwundenen Toten gestoßen? Er stand auf und schlenderte zu den Beamten hinüber. Bevor er Léon erreicht hatte, wurde er allerdings zurückgehalten. Einer der Männer spannte gerade direkt vor seiner Nase ein Absperrband, um ihm den Zutritt zu verweigern.

»Monsieur Weinkeiler, bleiben Sie bitte hinter der Absperrung, dies ist nun ein offizieller Ort einer polizeilichen Ermittlung.«

Christof fühlte sich, als hätte man ihm gerade drei Tonnen Last von den Schultern genommen. »Ihr habt also eine Spur meiner Leiche gefunden?«

Léon sah kurz zu ihm, schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. »Warte dort drüben auf mich, ich werde dich in wenigen Minuten aufklären. Aber schon mal eines vorweg: von deinem Toten haben wir noch immer keine Spur gefunden.«

Christof ging zurück zum Lagerplatz und setzte sich wieder auf den Baumstumpf. Er drehte sich mit dem Gesicht zur Sonne, schloss die Augen und genoss die warmen Strahlen auf seiner Haut, dabei schlief er ein. Erst Léon, der ihn an der Schulter rüttelte, holte ihn zurück in die Gegenwart.

»Bist du wieder wach?«

»Sorry, ich war kurz weggenickt. Was gibt es Neues? Nachdem du wieder normal mit mir sprichst, nehme ich an, du hast meine Leiche gefunden?«

»Solange keiner meiner Kollegen da ist und noch keiner eine Akte angelegt hat, kann ich mir das erlauben.«

»Was wolltest du eigentlich von mir? Kann ich dir noch behilflich sein oder darf ich endlich nach Hause gehen?«

Léon nahm sein Tablet und wischte mehrmals hin und her. »Du hast gesagt, du warst hier, um Ail des Ours, Bärlauch zu sammeln?«

»Ja, ich habe einen ganzen Korb voll davon geerntet. Leider ist der Korb …« Christof sah sich suchend um. »Wo ist denn mein Korb abgeblieben? Er ist …«

»… in Flammen aufgegangen und dann hast du ihn hinter dem Tipi entsorgt?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, er stand, mit einigen geräucherten Blättern, die nicht vollkommen verkohlt waren, dort auf dem großen Stein. Wenn du in die Feuerstelle schaust, kannst du noch die verkohlten Überreste des Weidengeflechts entdecken.«

Léon hielt ihm das Tablet vor die Nase. »Kannst du diese Überreste identifizieren?«

»Cacahuète, das ist mein Korb! Siehst du, da liegen noch die Blätter, mit denen ich meine nächste, gefüllte Hühnerbrust, zubereiten wollte.«

»Nachdem du bei der Rettungsaktion des Korbes deine Bandage in Brand gesetzt hast, hast du diese zusammen mit dem Korb entsorgt? Also wirklich Christof. Ich hätte dir ein bisschen mehr Fantasie zugetraut.«

»Du spinnst dir da schon wieder eine Geschichte zusammen, lieber Léon. Eine Spannende zwar, aber eine, die vollkommen an den Haaren herbeigezogen ist. Dieser Verband an meinem Arm ist der Originale aus der Klinik. Ich finde, du solltest dich mehr auf deine Arbeit konzentrieren, und nicht immer gleich deinen Freund verdächtigen.«

Inzwischen war einer der Beamten zu ihnen gestoßen und räusperte sich.

»Commissaire Léon, nous avons trouvé des gouttes de sang.«

Léon betrachtete die Bilder auf dem Smartphone seines Kollegen. »Sag mal, Christof, was hast du für eine Blutgruppe? Wir haben nämlich einige Tropfen frisches Blut gefunden. Wenn du Glück hast, können wir dich schon bald als Verdächtigen ausschließen.«

Christof spürte, wie sein Kopf langsam rot anlief. Innerlich brodelte er, wie ein Vulkan. Plötzlich schrie er Léon an: »Du willst wohl witzig sein, oder? Ich vergaß, du bist ja wieder im Dienst, da kannst du ja nicht lachen. Zu deiner Information, ich habe A-Negativ. Alle weiteren Fragen stellst du bitte meinem Anwalt. Adi, ich gehe jetzt!«

Léon hob beschwichtigend die Hände. »Christof, beruhige dich bitte. Mir geht es wirklich nur darum, dich zu entlasten, damit du mit deinem Hund nach Hause fahren kannst. Wenn du dich dazu bereit erklärst, stellen wir in wenigen Minuten deine Blutgruppe offiziell fest. Ein kleiner Pikser und du kannst vielleicht gleich gehen.«

Christof betrachtete irritiert den Alukoffer, den der Beamte zu Léon gebracht hatte.

»Wie jetzt? Ihr macht direkt vor Ort einen Blutgruppen-Test?«

»Ja, manchmal ist es notwendig und seit Neuestem können wir das ganz schnell und unkompliziert erledigen.«

Léon nahm einen kleinen, verschweißten Beutel aus dem Koffer und legte ihn demonstrativ darauf. »Darin befindet sich alles, um deine Blutgruppe zu bestätigen. Jetzt liegt es an dir mein Lieber.«

Christof zuckte mit den Schultern. »Warum nicht. Fang an und lass uns diese Farce endlich hinter uns bringen.«

Léon legte das Tablet auf den Koffer, riss die Tüte auf und breitete den Inhalt auf seinem Tablet aus. Christof betrachtete das medizinische Mise en place. Ein in Alu verschweißtes Tuch mit Desinfektionsmittel, ein metallenes Plättchen mit einer scharfen Spitze, mehrere Phiolen mit Flüssigkeiten darin, sowie eine kleine Pappkarte. Er griff nach der Bedienungsanleitung und las sie in Ruhe durch. Zwei Tropfen Blut waren ein geringer Preis dafür, endlich nach Hause fahren zu können und sich von jedwedem Verdacht zu befreien. Kurzerhand riss er die Packung mit dem Desinfektionstuch auf, reinigte seinen linken Zeigefinger und stach sich mit dem Pikser in die Fingerkuppe. Danach ließ er einen Tropfen Blut auf den markierten Bereich der Pappkarte fallen und beträufelte das Ganze anschließend mit den beiden Flüssigkeiten. Danach reichte er die Karte Léon. »In zehn Minuten weißt du Bescheid, und dann kann ich hoffentlich gehen.«

»Noch nicht ganz, der Test mit dem Blut auf der Binde dauert etwas länger, da das Blut schon angetrocknet ist. Aber in ungefähr einer Stunde sollten wir mit Gewissheit ausschließen können, dass es sich bei dem Blut auf dem Verband um deines handelt.«

»Lieber Léon, ich muss mir jetzt ein bisschen die Beine vertreten. Du wirst mich entschuldigen müssen. Ich verschwinde mal kurz da hinten im Wald. Bis das Ergebnis da ist, bin ich aber wieder zurück. Hier hast du meinen Führerschein und den Autoschlüssel, damit du keine Angst haben musst, dass ich abhaue.«

Bevor Léon etwas erwidern konnte, war Christof aufgestanden und hatte sich bereits auf den Weg in Richtung Wald gemacht. Je weiter er sich vom Fundort der Leiche entfernte, umso leichter wurden seine Gedanken. Er hatte bei dem ganzen Trubel beinahe vergessen, warum er überhaupt hierhergekommen war. Abgesehen von der Suche nach frischem Bärlauch musste er ja noch seine lang geplanten Vorbereitungen kontrollieren. Es sollte doch schließlich alles perfekt werden für seinen Ausflug. Von Weitem sah er bereits, dass alles zu seiner Zufriedenheit war. Das rote Band flatterte im Wind und markierte wie vereinbart die entsprechende Stelle für den Ausflug, den er mit Stephanie plante.

Erneut stieg ihm der zarte Knoblauchduft in die Nase und erinnerte ihn daran, dass seine Ernte vollkommen verbrannt bzw. wieder einmal beschlagnahmt war. Kurzentschlossen kniete er nieder und pflückte mehrere große Blätter Bärlauch. Zumindest für das Abendessen wollte er welchen mitnehmen, auch wenn es bereits weit nach Mittag war und die meisten Aromen wieder in den Wurzeln versunken waren. Er wusste nämlich, dass die beste Zeit zur Ernte von wilden Kräutern die zwei Stunden nach elf Uhr waren, dann standen sie voll im Saft und waren am aromatischsten.

Die Geräusche der Beamten, die in weitläufigen Kreisen den Wald nach etwaigen Spuren absuchten, wurden immer leiser, je weiter Christof sich von dem Tipi-Lager entfernte. Plötzlich stand er am Ufer des Wasserlaufs. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er sich langsam wieder auf den Weg zurück zu Léon machen sollte. Denn der Commissaire war durchaus dazu im Stande, ihm deswegen auch noch eine Haft anzudrohen. Er befeuchtete eines seiner Papiertaschentücher und wickelte es um die Stiele des Bärlauches, damit dieser frisch blieb. Dann machte er sich auf dem kürzesten Weg zurück zum Lager. Kaum war er aus dem Dickicht getreten, stand auch schon Léon neben ihm und sah ihn böse an.

»So, so – nur eine kleine Runde, um die Beine zu vertreten, was?«

»Ja, ich war doch nicht so lange weg, oder?«

»Seit einer geschlagenen Stunde warte ich darauf, dass du wiederkommst. Ich selbst wäre nämlich auch gern wieder in meinem warmen Büro, um mich mit einem heißen Kaffee aufzuwärmen. Nur wegen dir stehe ich hier noch in der Kälte herum und starre Löcher in die Luft.«

»Dann tu uns beiden doch den Gefallen und sage mir, was Sache ist. Stehe ich noch weiter unter Verdacht, oder kann ich mich jetzt auf den Heimweg machen?«

»Die Blutgruppen stimmen nicht überein, was beweist, dass zumindest das Blut auf der Bandage und den Überresten des Korbes nicht von dir ist. Ja, du kannst nach Hause gehen, aber bitte gib mir Bescheid, falls du dich auf eine längere Reise begeben willst. Dieser Scherz mit der Leiche, der hat ganz bestimmt noch ein behördliches Nachspiel.«

Sie tapsten schweigend durch den Wald. Nach knapp zwei Stunden hatten sie es geschafft und waren endlich am Parkplatz angekommen. Zuallererst musste Christof Gonzo rauslassen, der arme Hund war den ganzen Nachmittag über in dem Wagen eingesperrt gewesen.