Leseprobe Poppy Dayton und die Tote im Helford River

4

Der für die Nacht angekündigte Regen war ausgeblieben, keine Abkühlung in Sicht, und so waren schon frühmorgens der Pool und die von Bouginvillea beschattete Terrasse dicht bevölkert.

Poppy war noch satt vom opulenten Willkommens-Dinner am Vorabend, griff sich nur ein Croissant und einen Becher Kaffee und ging ins Büro.

„Pat, kann ich Torry bei dir lassen?“ Als sie ihre Freundin sah, bereute sie es, sofort mit ihrem Anliegen herauszurücken. Pats Augen waren gerötet, sie wirkte übernächtigt.

Poppy griff nach ihrer Hand. „Entschuldige, ich will dich nicht …“

„Ist schon in Ordnung, klar bleibt Torry bei uns, nicht wahr, mein Kleiner?“ Sie steckte ihm ein Würstchen von ihrem Teller mit dem typischen englischen Frühstück zu, das sie kaum angerührt hatte.

Poppy sah auf die Uhr. „Ich hoffe, wir finden später ein bisschen Zeit zusammen.“

Pat nickte wortlos. Als sie sich den Unterlagen auf dem Schreibtisch zuwandte, stand Poppy auf. Auf dem Weg zum Auto dachte sie an ihre Freundin.

Es geht ihr nicht gut. Ich habe das Gefühl, das Kind ist das Einzige, das sie bei Bruce und auf Wythcombe hält.

Für die eine Stunde Fahrt bis nach Falmouth wählte Poppy die längere, dafür schönere Strecke über Gweek und Constantine. In Gweek machte sie kurz halt.

Es wird knapp, aber für einen Kaffee muss es reichen.

Vom Boatyard Inn aus genoss sie den Ausblick auf den tief eingeschnittenen Fjord des Helford River. Es war Ebbe, die Segeljachten und bunten Fischerboote lagen auf dem Trockenen, ihre Masten wandten sich einander zu, als ob sie sich unterhielten.

Poppy beschloss, bald wiederzukommen, zusammen mit Barney. Mein Herz läuft schier über vor Freude, aber sie nützt mir wenig, wenn ich sie nicht mit ihm teilen kann.

Zügig fuhr sie weiter, erreichte eine Viertelstunde später das Zentrum von Falmouth und fand einen schattigen Parkplatz in der Killigrew Street. Weil sie den betagten Klappmechanismus nicht zu sehr beanspruchen wollte, beschloss sie, das Verdeck offen zu lassen.

Die Moor Art Gallery war im ersten Stock des Municipal Buildings untergebracht, einem prächtigen viktorianischen Gebäudekomplex.

Poppy überquerte den sonnenüberfluteten Vorplatz und betrat die Vorhalle der Bibliothek, die das Untergeschoss einnahm. Bevor sich ihre Augen an die plötzliche Dunkelheit gewöhnen konnten, baute sich ein Mann vor ihr auf, der nach ihren Unterarmen griff, doch sofort losließ, als Poppy erschrocken zusammenzuckte.

„Ich bin’s doch, Mrs Dayton.“ Die Stimme wirkte vertraut, ebenso wie die rundliche Gestalt.

„Inspektor Edwards! Sie haben mich erschreckt.“

„Das wollte ich nicht, ganz im Gegenteil. Ich freue mich, Sie zu sehen.“

Poppy umarmte ihn kurz und spontan, was den Inspektor in Verlegenheit brachte.

Sie musterte ihn. Der Mitsechziger war seit ihrem letzten Treffen vor einigen Wochen sichtlich gealtert. Deshalb fragte sie behutsam: „Sollten Sie seit August nicht in Pension sein?“ Edwards strich sich die spärlichen schwarzen Haare aus der Stirn und legte sie quer über den hohen Schädel. Die tief liegenden Augen blinzelten unter den buschigen Augenbrauen hervor.

„Meine Nachfolgerin hatte eine Frühgeburt, deshalb habe ich zugestimmt, drei Monate zu verlängern. Danach ist definitiv Schluss.“

Er blickte die Marmortreppe hoch, an deren oberem Ende eine zierliche Frau mit roten Locken aufgetaucht war. Nervös knetete sie ihre Hände.

Edwards sagte leise: „Man erwartet Sie ungeduldig, Mrs Dayton.“

Poppy hatte schon die halbe Treppe erklommen und nahm immer zwei Stufen auf einmal.

„Mrs James!“ Als sie sich daran erinnerte, dass sie und die Direktorin sich nach ihrer letzten Begegnung geduzt hatten, verbesserte sie sich schnell. „Alice.“

„Poppy, ein Segen, dass du da bist!“ Die Direktorin streckte ihr die Rechte entgegen und Poppy erschrak über den harten Händedruck, die schlanken Finger waren kalt.

Ohne weiteren Kommentar zog sie Poppy hinter sich her, und der Inspektor folgte ihnen ins Büro.

Sorgfältig schloss sie die Tür und nahm hinter dem Schreibtisch Platz, der mit Akten, Katalogen und Broschüren übersät war.

Poppy sah sich diskret um.

Alice schien ihre Gedanken zu erraten. „Verzeih die Unordnung. Ich stehe unter erheblichem Druck. Deshalb will ich mich nicht mit langen Vorreden aufhalten. Poppy, du erinnerst dich an den Matisse?“

„Natürlich! Poppies – der Mohnblumenstrauß. Da haben wir uns kennengelernt. Ich stand vor dem Gemälde und habe es bewundert. Als du meine Kommentare gehört hast, sprachst du mich an, ob ich Malkurse gebe.“

Das Lächeln der Direktorin wirkte verkrampft. „Malkurse. Es findet tatsächlich gerade einer statt. Ein paar pensionierte Lehrerinnen beschäftigen sich mit dem Fauvismus, der flächenhaften Farbgebung, mit der sich Matisse damals vom Impressionismus löste.“

Poppy nickte. „Eines der Schlüsselwerke von Matisse.“

Alice schüttelte den Kopf. Für einen Moment hatte ihr der fachliche Exkurs Halt gegeben, dann wurde die Stimme wieder brüchig. „Wenn es von ihm ist.“

Poppy lief es kalt den Rücken hinunter.

„Der Matisse? Der ist Millionen wert.“

„Ich habe ihn im Februar gekauft, aus der Sammlung von Lord Wainwright, in Bristol.“

„Das sagt mir nichts.“

„Ich wusste auch nicht viel davon. Der Lord schien Geld zu brauchen, um sein Schloss zu renovieren.“

Das erinnert an Wythcombe Manor.

„Walter Milton, ein Rechtsanwalt aus Bristol und Mitglied im Kuratorium des Museums, hat den Kauf vermittelt, die reichen Geldgeber überzeugt und auch das Gutachten organisiert. Das Werk schien über jeden Zweifel erhaben. Inzwischen ist es eines der Highlights unserer Sammlung. Zurzeit ist Hochsaison, die Besucherzahlen steigen. Wenn sich herausstellt, dass das Bild eine Fälschung ist, gäbe das einen riesigen Skandal. Auf jeden Fall müsste ich meinen Hut nehmen und meine Karriere wäre beendet.“ Sie rang mit den Händen. „Das wäre nicht das Schlimmste, nur würde so ein kleines Museum wie unseres die Rufschädigung nicht verkraften.“

„Wie kommst du überhaupt darauf, dass der Matisse falsch sein könnte?“

„Entschuldige. Du hast recht. Eins nach dem anderen.“ Die Direktorin holte tief Luft. „Vor gut drei Wochen kam eine Frau auf mich zu. Sie bat darum, mich an einem ruhigen Ort zu sprechen. Ich hatte Zeit und führte sie in mein Büro. Wir hatten uns gerade in mein Büro zurückgezogen, als sie aus dem Fenster sah und sofort zur Tür lief. Ich wurde ungehalten und fragte, was los sei. Sie drehte sich zu mir um, aus ihrem Blick sprach pure Verzweiflung. Mir fiel auf, wie hübsch sie war.“

„Hat sie sich vorgestellt?“

„Eben nicht. Sie war jung, höchstens Mitte zwanzig, mit langen schwarzen Haaren, hohen Wangenknochen und ausdrucksvollen grauen Augen. Ich erinnere mich so genau daran, weil sich ihr nächster Satz so tief in mich eingebrannt hatte: ‚Der Matisse, der Mohnblumenstrauß, ist falsch‘, sagte sie. Ich dachte zuerst, ich hätte mich verhört, und sie meinte vielleicht, das Bild hänge falsch. Aber sie wiederholte es. Mir verschlug es die Sprache. Dann stand sie auf. Ich konnte sie nicht so einfach gehen lassen, doch als ich nachhaken wollte, sah die junge Dame wieder aus dem Fenster. Irgendetwas musste sie beunruhigt haben, jedenfalls ging sie zur Tür und lief wie gehetzt den Gang hinunter. Im Gedränge der Besucher habe ich sie aus den Augen verloren.“

„Hat sie sich noch mal gemeldet?“

„Nein! Das ist es, was mich verrückt macht. Das Problem ist, ich wage es nicht, offiziell ein neues Gutachten anzufordern, das würde zu Gerüchten führen.“

„Vielleicht handelt es sich bei der jungen Frau um eine verwirrte Person.“

„Das kann ich nicht ausschließen. Obwohl sie einen orientierten und intelligenten Eindruck auf mich machte. Bevor sie losrannte, sprach sie ganz ruhig. Deshalb nehme ich es ernst. Danach habe ich nur mit dem Inspektor gesprochen, und wir sind beide gleichzeitig auf dich gekommen, Poppy.“

„Ich verstehe. Aber ich wiederhole, dass ich keine ausgewiesene Expertin bin.“

Der Inspektor räusperte sich. „Wir haben eine Examensarbeit von Ihnen im Internet gefunden …“

Poppy grinste. „Kompliment, gute Arbeit. Sie und Alice sind ein gutes Team. „Wie hast du dir den Ablauf vorgestellt?“, fragte sie die Direktorin.

„Morgen ist Mittwoch. Da schließen wir um dreizehn Uhr. Das gesamte Personal hat frei bis auf den Kurator, Peter Abrams. Er wird mit uns zusammen das Bild abnehmen und kann dir assistieren. Im Obergeschoss haben wir ein Labor, es sind alle Geräte vorhanden. Du hast freie Hand.“

„Könntest du mir nicht assistieren, Alice? Warum noch jemanden ins Vertrauen ziehen, wenn dir Diskretion so wichtig ist?“

„Das war meine Idee“, sagte der Inspektor. „Mr Abrams Verhalten ist … sagen wir, seltsam.“

„Was meinen Sie damit?“

„Mr Abrams schien die junge Frau zu kennen.“

Alice nickte. „Nachdem sie aus meinem Büro gerannt war, sah ich, dass er am Treppenabsatz mit ihr zusammenstieß. Als ob er auf sie gewartet hätte. Er hielt sie am Arm fest und sprach mit ihr, aber ich war zu weit weg, um etwas zu verstehen. Dann riss sie sich los und verschwand.“

„Hast du ihn darauf angesprochen?“

„Natürlich. Er sagte nur, die Frau habe einen verwirrten Eindruck gemacht und er habe sie gefragt, ob er ihr helfen könne.“

„Das wäre doch möglich.“

„Möglich ja. Irgendwie wirkte es anders. Die Art und Weise, wie er sie packte, seine Miene, als er etwas sagte.“

„Und jetzt wollt ihr den undurchsichtigen Herrn auf mich loslassen?“

Edwards knetete seine Finger, und die Knöchel knackten unangenehm. „Mrs Dayton, ich habe Mrs James von ihrer Auffassungsgabe erzählt. Es kann nichts schaden, wenn Sie ihm beim Gespräch unter Fachleuten ein wenig auf den Zahn fühlen könnten.“

„Und das Untersuchungsergebnis? Das bekäme er aus erster Hand mit.“

„Das Risiko müssen wir eingehen“, sagte Alice und trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch herum. „Vielleicht bringt uns seine Reaktion darauf sogar einen Schritt weiter. Als ich Abrams ins Vertrauen zog, erschrak er sichtlich. Er riet mir zunächst ab, ein Gutachten erstellen zu lassen, und fragte, warum ich mich auf die Bemerkung einer offenbar gestörten Person einlassen würde. Für ihn sei das Gemälde über jeden Zweifel erhaben.“

Edwards faltete die Hände. „Vielleicht sind wir zu misstrauisch und er erweist sich als loyaler und kooperativer Mitarbeiter, der für Sie eine wertvolle Hilfe ist, Mrs Dayton.“

„Und wenn nicht? Ich werde ein paar Stunden mit ihm allein sein.“

Alice nickte. „Ich kann verstehen, dass dir das unangenehm ist. Zuerst überlegte ich, dass wir einen Mitarbeiter des Wachdienstes mit einbeziehen, aber noch mehr Zeugen brauchen wir tatsächlich nicht.“ Sie stellte sich ans Fenster und sah hinunter auf die Straße. „Deshalb werde ich immer wieder bei euch reinschauen. Das wird nicht auffallen. Wie ich mich kenne, werde ich ohnehin sehr nervös sein und schauen wollen, wie weit du bist.“

„Also gut. Damit kann ich leben.“ Poppys Neugier wuchs. Aus einem trockenen Gutachten scheint ein kleines und dazu noch gut bezahltes Abenteuer zu werden. Wenn nur nicht so viel davon abhängen würde. Sie unterdrückte ihre Anspannung. Laut fragte sie: „Kann ich das Bild sehen?“

„Jetzt? Natürlich, wie alle anderen Besucher auch.“

„Ich will nur ein paar Fotos machen, vom Rahmen, der Leinwand und der Signatur. Das spart Zeit.“

Die Direktorin sprang auf. „Danke!“ Die Spannung löste sich, und an den bebenden Schultern sah Poppy, dass sie einen Schluchzer unterdrückte. Alice nahm ein Taschentuch, putzte sich die Nase und ging vor.

Der Mohnblumenstrauß hing in der Mitte eines Zwischenstocks, von dem rechts und links Treppen nach oben führten.

Die unmittelbare Nachbarschaft bildeten Werke von Renoir und Edvard Munch.

„Aber das sind nur Radierungen.“ Poppy stand andächtig davor. „Gegen die Leuchtkraft des Ölbildes kommen sie nicht an. Und das liegt nicht nur am Motiv.“

Alice lächelte, es wirkte gequält.

Eine Schulklasse stürmte hinter ihnen die Treppe hoch, auf dem Absatz entstand urplötzlich ein Gedränge, das sich nur langsam auflöste. Poppy legte Alice eine Hand auf die Schulter. „Lass mich in Ruhe meine Fotos machen. Kann ich sie in deinem Büro ausdrucken?“

„Natürlich.“ Alice nickte dankbar. „Bis gleich.“

Der Inspektor räusperte sich. „Auch ich darf mich verabschieden.“

Poppy gab ihm die Hand. Die Geste fiel kurz aus, sie wollte sich endlich dem Matisse zuwenden, da spürte sie seine Enttäuschung.

„Wollen wir zusammen ein Glas Weißwein trinken?“ Ihr Vorschlag zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. „Gerne, Mrs Dayton. Beim letzten Mal hatten Sie versprochen, zu uns zum Essen zu kommen. Meine Frau will Sie unbedingt kennenlernen.“ Er klang verlegen. „Eine Mischung aus Neugier und Eifersucht treibt sie um, seit ich ihr von unserem letzten Abenteuer erzählte.“

Poppy versprach, sich zu melden, und der Inspektor verschwand. Sie wartete, bis eine Lücke im Besucherstrom entstand und brachte ihre Digitalkamera in Stellung.

5

Als sie eine Stunde später mit einer Mappe frischer Ausdrucke unter dem Arm zum Auto ging, stand die Sonne im Zenit.

Poppy bereute, die Shorts angezogen zu haben, als sie sich auf das glühend heiße Lederpolster setzte und ihre Oberschenkel sofort daran festklebten.

Sie wollte auf dem kürzesten Weg raus aus der Stadt, orientierte sich am Hügel mit dem markanten Pendennis Castle auf der Spitze, bis sie auf die Cliff Road traf, der sie nach Westen folgte.

Neidisch musterte sie die Badenden am Gyllyngvase Beach, die sich in den glitzernden Fluten vergnügten. Viel zu voll, tröstete sie sich.

Dann stieg die Straße an, und hinter dem Falmouth Golf Club wurde es grün. Sie gab Gas, entfernte sich ein Stück vom Meer, bis die Straße von schattenspendenden Eichen, Zedern und Rotbuchen eingerahmt wurde,

Sie dachte an das Gespräch mit Alice und an die ersten Ergebnisse ihrer Foto-Session mit dem Gemälde. Beides passte nicht zusammen. Natürlich verstand sie die Aufregung, den der Besuch der jungen Frau ausgelöst hatte, und sie wollte der ausführlichen Analyse nicht vorgreifen – allerdings hatte sie nicht den geringsten Hinweis auf eine Fälschung finden können. Im Gegenteil. Auch wenn es aus einer wenig bekannten Sammlung kam und anscheinend bisher nicht katalogisiert worden war, stellte es ein herausragendes Beispiel für die Fauve-Phase des berühmten Malers dar. Kein Wunder, dass sich Direktorin und Kuratorium über den vergleichsweisen günstigen Preis gefreut hatten.

In Wythcombe Manor ging sie direkt ins Büro, wo Torry sie ungeduldig erwartete.

Pat und Bruce saßen nebeneinander am Bildschirm und starrten auf einen Online-Katalog. Poppy freute sich über die zärtliche Geste, mit der Bruce die Hüfte seiner Frau berührte.

Pat sah hoch. „Poppy, du siehst ja ganz zerzaust aus, und deine Stirn ist knallrot.“

„Das kommt vom Cabrio-Fahren.“

„Pass auf – wir haben heute über fünfunddreißig Grad.“ Bruce schüttelte den Kopf, seine Haare fielen strähnig über die feuchte Stirn. „Die Bauern auf dem Markt sagten mir heute Morgen, wenn es nicht bald regnet, fallen ihnen die Bohnen von den Stangen.“

Poppy sah ihn ungläubig an. „Und das in Cornwall.“

„Aber Donnerstag soll der große Regen kommen“, sagte Pat.

„Ich muss jetzt ins Meer, sonst platzt mir der Schädel.“ Poppy verabschiedete sich.

Es war fast Ebbe, und sie suchte vergebens nach Wellen und erfrischender Brandung. Torry schien das besser zu gefallen, er führte sie zu einem Priel hinter der Sandbank, die parallel zum Strand verlief. Das Wasser war tief genug zum Schwimmen und kalt genug, um Poppys Kopf klarzukriegen: Schlagartig fiel ihr ein, dass sie in der Eile die Mappe mit den Fotografien im Büro liegen gelassen hatte.

Sie ärgerte sich über ihr unprofessionelles Verhalten, lief aus dem Wasser und beorderte Torry zurück ins Haus.

Ach was soll’s, beruhigte sie sich, wer interessiert sich schon für ein paar Kunstfotos?

Das Büro war leer, aber die Mappe lag offen auf dem Tisch. Hastig griff sie danach, klappte sie zusammen, drehte sich um – und stieß mit Pat zusammen, die gerade hereinkam.

„Schöne Fotos hast du da!“ Vergnügt zeigte sie auf Poppys Mappe. „Sind die fürs Museum?“

So viel zur Diskretion. Poppy knurrte innerlich und improvisierte. „Eine Neuerwerbung. Mrs James möchte sie eventuell in der Tate Gallery in London zeigen.“

„Die Direktorin ist eine zauberhafte Frau, nicht wahr?“

Pat drehte sich zu Bruce um, der dazugekommen war und Poppy fixierte. Sie konnte den Blick nicht deuten. Er nickte. „Wir haben sie neulich erst getroffen, auf dem Charity-Ball der Moor Gallery. Arbeitest du mit ihr an einem Projekt?“

Poppy fiel die betonte Gelassenheit auf, mit der er die Frage stellte.

„Das ist noch offen.“ Sie versuchte allgemein zu bleiben, gleichzeitig spann sie ihre Geschichte weiter aus. „Es geht um eine Leihgabe, doch die Versicherungen machen uns Probleme.“

„Ach ja?“ Er klang spöttisch. „Eigentlich sollen Versicherungen doch das Gegenteil bewirken und uns davon befreien.“

Poppy wechselte das Thema. „Habt ihr eine Pinwand für mich?“

„Klar. Sie ist hinter der Speisekammer bei den Kongresssachen.“ Pat stieß Bruce an. „Bringst du sie ins Zimmer hoch, bitte?“

Poppy ging hinauf und legte die Mappe auf dem Empire-Schreibtisch ab.

Sie nahm die Fotos heraus und teilte sie in vier Stapel ein: Aufnahmen vom Rahmen, von den Details des Bildes, von der Signatur und Vollporträts aus verschiedenen Winkeln.

Bei der letzten Gruppe stutzte sie. Sie meinte sich zu erinnern, dass es zehn Fotos waren.

Sie zählte erneut – neun. Sie holte die Kamera hervor und glich die digitalen Aufnahmen mit den Prints ab. Eine fehlte.

Es klopfte an die Tür, die geöffnet wurde, ohne Poppys Reaktion abzuwarten. Bruce rollte die Pinwand hinein. Seine dunklen, ausdruckslosen Augen flitzten zwischen Poppy und den Fotos hin und her.

„Wo soll das Ding hin?“

„Lass es einfach stehen, ich suche mir noch einen Platz.“

Er holte eine Schachtel mit Reißzwecken aus der Tasche. „Die wirst du auch brauchen.“

„Danke.“ Poppy beschloss, die Flucht nach vorne anzutreten. „Bruce, ich glaube, eines der Fotos fehlt. Vielleicht habe ich es verloren? Wenn es irgendwo auftaucht … Wer hat denn alles Zugang zum Büro?“, fragte sie so beiläufig wie möglich.

Bruce zog die Augenbrauen hoch. „Ins Büro kommt jeder mal im Lauf des Tages. Alle – außer den Gästen, natürlich.“ Er hob eine Hand, und Poppy zuckte zurück, aber er legte sie nur auf den oberen Rand der Pinwand. Er zog sie nah an sich heran und schuf dadurch einen engen, dreieckigen Raum um sich und Poppy. „Ich habe keine Ahnung, was du schon wieder im Schilde führst, und es geht mich auch nichts an …“

„Was soll dann die drohende Haltung?“ Sie blieb gelassen und stützte sich auf dem Schreibtisch ab. Die kühle Platte fühlte sich gut an.

Er schien sich zu beruhigen, befreite sie beide aus der beengten Lage und stellte die Pinwand vor das Fenster.

„Gut so?“

Sie nickte.

„Wie geht’s Barney? Ich vermisse meinen alten Freund. Warum ist er nicht mitgekommen?“ Offenbar bemühte er sich um positivere Stimmung, und Poppy war erleichtert.

„Er hat viel zu tun, vielleicht kommt er am Wochenende.“

„Wie lange bleibst du eigentlich?“ Das klang wieder lauernder. „Ich will dich nicht loswerden, nur wird das Zimmer gerade renoviert …“

„Höchstens ein paar Tage, wahrscheinlich kann ich euch morgen schon mehr sagen.“

Sanft, aber nachdrücklich schob sie ihn zur Tür. „Jetzt lass mich arbeiten.“

„Vergiss nicht die Pool-Party. Cocktails um achtzehn Uhr, dann Büfett und Tanz.“

„Ich komme gerne.“

Erleichtert stieß sie die Luft aus, als er endlich gegangen war. Sie zählte nochmals die Fotos und kam wieder zum selben Ergebnis. Wahrscheinlich habe ich es doch im Museum liegen lassen.

Kaum hatte sie die Fotos an der Pinwand gruppiert, klopfte es wieder.

Torry, dem aufgefallen war, dass sie nicht gestört werden wollte, bellte ungehalten.

Die junge Frau steckte nur den Kopf herein.

Als Poppy sie erkannte, hellte sich ihre Miene auf. „Nancy! Komm her! Ich brauche deinen analytischen Blick.“

„Ich wollte dich nur fragen, ob wir uns nachher ein ruhiges Plätzchen suchen wollen, um ein wenig zu quatschen.“ Wie immer war sie ganz in Blau, doch heute trug sie keines der üblichen Baumwollkleider, sondern einen raffiniert geschnittenen Overall aus Fallschirmseide.

„Du siehst so schick aus, was hast du vor?“

„Einer von den Gästen nimmt an meinem Schreibkurs teil, und er hat mich vorgewarnt, dass er mit mir tanzen möchte. Hast du Lust, an unseren Tisch zu kommen? Ganz allein wollte ich da nicht mit ihm sitzen, schon um die anderen Kursteilnehmer nicht eifersüchtig zu machen.“

„Und ich spiele die Anstandsdame? Mache ich gerne. Darf ich dafür Torry morgen Nachmittag bei dir lassen? Das Museum ist kein guter Ort für ihn.“

„Na klar!“ Nancy kraulte Torry hinter den Ohren. Der schnüffelte diskret an ihren Händen, und sie kicherte. „Ich glaube, er riecht meine Katze.“

„Torry liebt Katzen. Schade nur, dass die das nicht wissen.“ Sie zog Nancy zu sich. „Sag mir, was du siehst.“

Einen Matisse?“

„Sehr gut. Weiter. Was fällt dir auf?“

„Auf den ersten Blick wirkt das Gemälde wenig spektakulär.“ Nancy betrachtete es eine Weile. „Auf einem grob gezimmerten Holzhocker steht eine bauchige, weiße Porzellanvase mit stilisierten blauen Motiven – ist es eine Landschaft? Oder ein Drache? Darin ein Strauß mit sechs Mohnblüten in unterschiedlichen Stadien der Öffnung, angereichert mit Gräsern und Ginsterzweigen. Den Hintergrund bildet ein vierteiliger Paravent.“ Nancy legte den Kopf schräg. „Das ist spannend.“

Poppy strahlte. „Hervorragend beobachtet. Was meinst du damit?“

„Die aufgefalteten Flächen scheinen gleich mehrere Räume mit verschiedenen Tapeten zu simulieren, und dazu bieten sie noch einen Blick aufs dunkelblaue Meer und einen in den milchig blauen Himmel.“

Poppy klatschte Beifall. „Darf ich dich für mein Gutachten zitieren?“ Nancy nickte, woraufhin Poppy fortfuhr. „Jetzt sag mir, was passiert, wenn du den Pinselstrichen folgst.“

Nancy ging nahe heran. „Schade, dass ich die dicken Striche nicht berühren kann. Sie sind sehr unterschiedlich, je nachdem, ob sie die altmodischen Tapetenmuster wiedergeben oder das Meer.“

„Genau! Auf ein und demselben Bild endet der feingliedrige Impressionismus und der vitale Fauvismus beginnt.“

„Opfert Matisse dafür sogar die korrekte Perspektive?“, fragte Nancy.

„Allerdings. Er zerstückelt den unteren Rand des Paravents …“

„… und das Meer scheint auf den Boden des Salons auszulaufen.“

Poppy nickte begeistert. „Schöner hätte ich es nicht formulieren können, ich danke dir“, sagte sie. Genau das ist es, was mir Sorgen macht. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Es gibt ähnliche Ausführungen von Matisse, aber dieses ist …

„Poppy, ich habe den Tisch unter der Bougainvillea – bis gleich!“ Nancy ging aus dem Zimmer, und Poppy vertiefte sich in ihre Notizen.

Erst, als durch das geöffnete Fenster verführerische Grilldüfte drangen und Torry freudig erregt hin und her tippelte, ließ sie von ihrer Arbeit ab.

Bruce winkte sie zu sich. Er war wieder in seinem Element, umgeben vom Meeresfrüchte-Büfett und dem riesigen Gasgrill, auf dem Lobster, Lammfilet und Gambas brieten.

„Surf and Turf!

Poppy hielt ihm ihren Teller hin, elegant platzierte er Fisch und Fleisch übereinander.

Pat, die ihm assistierte, fügte geröstetes Gemüse hinzu.

In einen edel verchromten Napf legte Bruce ein sehr kurz angebratenes Steak. „Für Torry!“

Poppy bedankte sich. So verkehrt ist er gar nicht, dachte sie und zwinkerte Pat zu.

Der volle Bauch und die Anspannung vor ihrem Einsatz im Museum ließ sie erst im Morgengrauen einschlafen.

Poppy träumte von einer jungen Frau, die in einem Getreidefeld stand.

Sie pflückte Mohn und Kornblumen. Die Frau winkte und kam auf sie zu. Sie war noch ein Stück entfernt, als sie den Mund öffnete und etwas rief, doch Blitz und Donner fuhren dazwischen und beendeten die sommerliche Idylle. Ein dichter und undurchdringlicher Regenvorhang drängte sich dazwischen und spülte das Bild der Frau weg. Es blieb nur ein schmutziger Streifen, als ob ein Schwamm über ein Blatt Aquarellpapier wischte.

Poppy wachte auf. Vor der Küste tobte ein nächtliches Gewitter, die Ausläufer erreichten den Park, und Regenböen klatschten gegen die Fassade des Manor. Sie stand auf, schloss das Fenster und ging ins Bett zurück.

Sie starrte in den Stoffhimmel, auf dem sich Drachen und Einhörner jagten, und dachte an den Traum.

Seit ihre Familie vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, bekam sie nicht nur gelegentlich Besuch von ihrer toten Schwester Gwen. Auch andere Gestalten führten ein allzu realistisches Eigenleben in ihren Träumen. Dr. Trelawney, ein befreundeter Arzt, hatte das Phänomen „Shining“ genannt: Es sei selten, unbedenklich und manchmal sogar nützlich.

Ihre Erfahrungen bestätigten das, doch das Unbehagen blieb.

Nein, der Traum eben war keiner von den „Besonderen“, entschied sie und schlief wieder ein.

6

Alice James fing Poppy vor dem Museum ab und leitete sie auf einen Parkplatz hinter dem Gebäude. Durch den Nebeneingang und eine schmale Stiege gelangten sie ins Obergeschoss. Die Lampen waren bis auf die Notbeleuchtung abgeschaltet. Durch die verhängten Fenster kam gedämpftes Licht. Die Motive der Bilder waren nicht zu erkennen, sie sahen aus wie dunkle Lücken in den Wänden.

Wortlos durchquerten sie die Gänge. Die Direktorin öffnete eine unscheinbare Tür und trat zur Seite.

„Hier findest du alles, was du für deine Untersuchung brauchst. Spektroskop, Stereo-Mikroskop, Infrarot-Reflektografie – alles da.“

Poppy nickte. „Beeindruckend – nur das Bild fehlt. Apropos, habe ich eventuell eines der ausgedruckten Fotos in deinem Büro liegen lassen?“

Alice schüttelte den Kopf. „Nein, zumindest ist mir nichts aufgefallen.“

Ein Mann stand plötzlich in der Tür. Als Poppy sich zu ihm umdrehte, verbeugte er sich steif in ihre Richtung. Seine Hände steckten in weißen Glacéhandschuhen. „Ich bin Peter Abrams. Mrs Dayton, nehme ich an? Gut, dass Sie hier sind. Ich stehe Ihnen zur Verfügung.“

Poppy fiel seine devote Art auf, ebenso wie die Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe. Die wuchernden schwarzen Brauen hinderten sie daran, seine Augen zu sehen. Sie bedankte sich freundlich.

Gemeinsam gingen sie zum Mohnblumenstrauß.

Poppy berührte den Rahmen und zog die Hand zurück. „Die Alarmanlage …?“

Alice grinste. „… ist vorübergehend deaktiviert.“

Poppy zog die Zwirnhandschuhe über, die Alice ihr reichte. Zu dritt hoben sie das Bild vom Haken, trugen es in den Analyseraum und legten es vorsichtig auf einem mit grünem Filz bespannten Tisch ab. Poppy bemerkte, dass Abrams Hände zitterten. Hastig zog er die weißen Baumwollhandschuhe aus und kratzte sich an den Unterarmen.

Als ob er an einer Allergie leidet.

Die Direktorin räusperte sich, trotzdem klang ihre Stimme belegt. „Viel Erfolg. Ihr wisst, wie viel von eurer Arbeit abhängt. Poppy, ich danke dir …“

„Warte damit ab, bis ich fertig bin.“

Sie schob Alice hinaus, ging zum Tisch zurück und warf einen Blick auf den Matisse. Das Gemälde verschwamm vor ihren Augen.

Im Neonlicht verlieren die Mohnblüten ihre Nuancen zwischen Rot und Orange, alles glänzt fahl. Oder liegt es an mir? Sie blinzelte irritiert. Schlagartig spürte sie die Last der Verantwortung. Warum tust du dir das an? Überschätzt du dich nicht total?

Poppy wischte sich über die Augen. „Wir fangen an“, sie korrigierte ihre Stimmlage nach unten, „zuerst der Keilrahmen.“

Gemeinsam drehten sie das Bild um. Mit einer Pinzette sammelte Abrams winzige Holzspäne und Staubpartikel, die sich in den Winkeln des Holzrahmens abgesetzt hatten. Wieder irritierte Poppy seine zitternde Hand.

Sie legte den Splitter ins Spektroskop und begann mit dem Test.

„Das Holz ist mit Sicherheit über hundert Jahre alt“, stellte sie am Ende fest. „Falls es eine Fälschung ist, hat man sich zumindest damit große Mühe gegeben.“

Der Kurator wischte sich über die Stirn. Er setzte zum Sprechen an, schwieg dann aber.

Poppy bemerkte es. „Mr Abrams, Sie wollten etwas sagen?“

„Mrs Dayton, wenn Sie mich fragen, halte ich die Tests für überflüssig. Ich fürchte, man hat Sie umsonst herbestellt.“

„Warum sollten Sie das fürchten? Es wäre doch wunderbar, wenn sich alles als falscher Alarm herausstellen würde.“

„Davon gehe ich aus. Ich hatte die Gelegenheit, das Bild bereits in der Sammlung des Vorbesitzers kennenzulernen. Es ist über jeden Zweifel erhaben.“

„Wie gelangte es denn ursprünglich in die Wainwright Collection?“

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Vor zehn Jahren, aus Frankreich. Bouchard hat es gegen einen Turner getauscht.“

Poppy war der Galerist aus Paris ein Begriff. „Gute Provenienz.“

„Nicht wahr? Wir können das Ganze hier kurz machen.“

Darauf ging Poppy nicht ein.

Stunde um Stunde verging mit der Abfolge von Testprozeduren: Probeentnahme, Analyse und Dokumentation. Der Nervosität und den Zweifeln am Anfang folgten zunehmend Ruhe und Sicherheit, und nach einer Weile arbeiteten Poppy und der Kurator zusammen wie ein gut eingespieltes Team. Unterbrochen wurden sie nur von Alice James, die häufiger um die Ecke lugte.

„Lasst euch nicht stören, ich halte es nur nicht in meinem Büro aus.“

Dann verschwand sie wieder.

Irgendwann kam sie mit einem Tablett mit Sandwiches und Kaffee zurück. Sie aßen zusammen, und Alice nutzte den Moment, um Fragen zu stellen. Poppy kaute bedächtig auf dem Lachssandwich und schluckte.

„Noch zwei Stunden, dann wissen wir es. Um dich schon mal zu beruhigen: Es sieht bisher alles gut aus.“

Sie setzten die Arbeit fort – und nur einmal stutzte Poppy: An einem überlappenden Bereich zwischen Rahmen und Leinwand entnahm sie eine Probe, die den Querschnitt durch sämtliche Farbschichten darstellte. Sie griff mit der Pinzette tief in den Spalt hinein – und zog ein Haar heraus.

Poppy betrachtete es. „Lang und dunkel – ein Frauenhaar?“

Abrams Kopf zuckte kurz nach oben, dann wandte er sich wieder seinem Notizblock zu. Diesmal dauerte es länger, bis er antwortete. „Kann sein. Der Matisse hing im Boudoir. Lady Wainwright hat lange schwarze Haare.“

Poppy sicherte das Fragment. Das Haar legte sie auf ein weißes Blatt Papier.

Sie nahm die Farbprobe, platzierte sie unter das Stereomikroskop und fokussierte es.

„Typischer Schichtaufbau. Wollen Sie mal sehen?“

Der Kurator nickte. Als er am Tisch vorbeiging, streifte er das Blatt mit dem Frauenhaar und fegte es vom Tisch. „Wie ungeschickt von mir, ich kümmere mich gleich darum.“ Nachdem Poppy ihm das Analyseergebnis diktiert hatte, hob er das Blatt auf und machte sich auf dem Fußboden zu schaffen. „Das Haar … Es tut mir leid, ich kann es nicht mehr finden.“

Poppy schüttelte den Kopf. „Das ist ärgerlich.“ Sie war zu absorbiert von ihrer Arbeit, um näher darauf einzugehen.

Sie verlor jedes Gefühl für Zeit und sah erst wieder auf die Uhr, als es an die Tür klopfte. Es war kurz vor elf. Alice James kam herein. „Entschuldige, Poppy, dass ich wieder störe … Braucht ihr noch lange?“

„Ich bin fast fertig und muss nur noch den Bericht schreiben.“

„Nein!“ Die Reaktion kam unmittelbar. Poppy sah sie überrascht an.

„Bitte – nichts Schriftliches, du weißt, wegen der Diskretion. Mir reicht dein mündliches Urteil. Wenn du gestattest, nehme ich es auf meinem Smartphone auf. Eine Zusammenfassung genügt.“

Poppy zuckte die Schultern. „Wie du meinst. Also los.“ Sie blätterte durch die Unterlagen, was die Nervosität der Direktorin noch zu steigern schien. Poppy atmete tief ein und aus.

„Ich beginne mit dem Keilrahmen. Mit der Spektroskopie konnte ich Koniferen-Holz nachweisen mit einem Alter von einhundertfünf Jahren, plus/minus zehn Jahre. Dann zur Untersuchung der Malschicht: Spektroskopie und Stereomikroskopie zeigen keine Craquelure. Da diese bei der Verwendung der entsprechenden Farben aber erst etwa hundert Jahre nach Entstehung des Bildes beginnt, ist ihr Fehlen nicht auffällig.“

Ein erstes erleichtertes Aufatmen von Alice James. Abrams starrte sie unbewegt an.

„Die Pigmentzusammensetzung ist typisch für die Zeit. Das Weiß zum Beispiel setzt sich zusammen aus Bleiweiß und Bariumsulfat, unter Zusatz von Zinkweiß.“

„Und Titanweiß?“, fragte die Direktorin ängstlich.

„Keine Spur davon. Trotzdem ist das eine gute Frage. Diese Farbe wurde 1920 eingeführt, kurz nach der Entstehung dieses Bildes, und Matisse hat sie später durchaus verwendet.“

„Sehr gut – und die Signatur?“, fragte Alice drängend.

„Sie erscheint ebenso authentisch wie die Skizzierungslinien unter den Farbschichten, die für diesen Maler typisch sind.“ Poppy sah in den Notizen nach. „Wenn es überhaupt etwas Auffälliges gibt, ist es das vollständige Fehlen von Reparaturen oder Ausbesserungen.“

Sie ließ den Block sinken und lächelte. „Nach allem, was ich feststellen konnte, ist das Bild makellos, und vor allem – es gibt keinen Hinweis auf Fälschung.“

Alice James fiel ihr um den Hals, dann lief sie wortlos aus dem Raum. Poppy schüttelte den Kopf. Sie sah, wie sich Abrams abwandte und hektisch in sein Smartphone tippte.

„Sie informieren nicht gerade die Presse?“

Er fuhr herum, und sie wunderte sich über sein rotes Gesicht. „Nein, natürlich nicht! Ich schreibe nur meiner Frau, dass wir fertig sind.“ Er grinste schief. „Sie ist sehr eifersüchtig und nimmt mir meine Überstunden nicht ab.“

„Dann fahren Sie mal schnell nach Hause. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.“

„Keine Ursache. Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert wir sind. Schade, dass wir Ihre tolle Arbeit nicht an die große Glocke hängen dürfen, aber offiziell haben die Zweifel an dem Bild ja nie bestanden.“

Alice James kam zurück, mit einem Umschlag in der Hand. Sie sah Abrams an. „Poppy und ich hängen das Bild zurück. Danke für Ihre Hilfe, Peter.“

Er verlor seine gebeugte Haltung und lächelte. Die Nervosität war von ihm abgefallen, und er schwitzte nicht mehr. „Ich habe zu danken, ich durfte heute eine Menge lernen.“

Nachdem er verschwunden war, reichte die Direktorin Poppy den Umschlag.

„Wie vereinbart. Bestimmt wunderst du dich über das Bargeld. Du verstehst sicher, dass ich das nicht über unsere Konten laufen lassen kann.“

Sie griff nach dem Stapel von Poppys Notizen. „Die nehme ich an mich, wenn es dir recht ist?“

„Kein Problem, Alice, für mich ist die Sache damit erledigt.“

„Das vergesse ich dir nie.“ Die Erleichterung war körperlich zu spüren, als die Direktorin die Luft ausstieß. „Und Abrams? Ist dir an ihm etwas aufgefallen?“

„Nichts Besonderes. Er war sehr bemüht. Und sehr selbstsicher. Er hielt es für Zeitverschwendung.“

„Für mich und das Museum war es alles andere als das, Poppy.“ Sie machte eine Pause. „Wollen wir morgen Mittagessen gehen? Zusammen mit dem Inspektor?“

Poppy merkte in diesem Moment, dass sie noch nicht darüber nachgedacht hatte, was sie im Anschluss an den Auftrag machen wollte. „Gerne. Eigentlich habe ich sehr viel zu tun in London, doch auf einen Tag kommt es nicht an.“

„Dann ist das abgemacht.“ Sie strahlte. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin. Ich freue mich jetzt schon auf das Essen, seit Wochen verspüre ich wieder so etwas wie Appetit. Jetzt gibt es kein Haar mehr in der Suppe meines Museums!“

Poppy stutzte und griff nach Alices Arm. „Das Haar … Hast du ein transparentes Paketklebeband oder etwas Ähnliches?“

„Klar, wofür brauchst du es?“

„Ich habe etwas vergessen. Nur eine Kleinigkeit.“

Poppy eilte zurück in den Analyseraum. Sie schnitt halbmeterlange Stücke von dem Band und ging damit den Boden um die Stelle ab, an der Abrams das Haar vom Tisch gefegt hatte. Das wirre Muster des Linoleumbodens erleichterte die Suche nicht, aber mit dem dritten Klebeband wurde sie fündig. Sie zog es vom Boden ab, löste das lange Haar mit einer Pinzette und verwahrte es in einem Plastikröhrchen.

Sie ging zurück ins Büro, und Alice begleitete sie hinaus.

„Bis morgen, Poppy! Ich verspreche dir, wir reden über alles Mögliche, nur nicht über den Matisse!“

Poppy legte das Röhrchen ins Handschuhfach. Nachdenklich ließ sie den Motor an und fuhr durch die Nacht zurück nach Wythcombe Manor. Die Sicherheit und Gewissheit, mit denen sie das Analyseergebnis vorgetragen hatte, schwanden wieder.

Woher kommen die Zweifel? Habe ich etwas übersehen? Es ist doch alles prima. Dieser Abrams ist ein komischer Kauz. Trotzdem ist es gut, dass er dabei war, er kann bezeugen, dass die Tests korrekt gelaufen sind.

Sie verscheuchte die Bedenken. Viel lieber wollte sie über einen guten Grund nachdenken, um ihren Aufenthalt in Cornwall noch ein wenig zu verlängern.

An der Rezeption traf sie Nancy Drake, die den Nachtdienst übernommen hatte. Zu ihren Füßen lag Torry, friedlich eingekringelt. Für Poppy hatte er nur eine hochgezogene Augenbraue übrig. Sie knuddelte ihn. Langsam taute er auf und leckte ihre Hand.

„Mein Alter, ich weiß, das war lang, aber du hattest es bestimmt gut.“

„Ich glaube schon. Wir haben Kaninchen gejagt, auf der Heide hinter Lizard Point.“

„Jetzt verstehe ich. Das darf er bei mir nicht!“

Als Poppy sich aufrichtete, fiel ihr Blick in das Brieffach ihres Zimmers. Ein Bogen Papier lag darin. Sie zog ihn heraus.

Mein Foto.

„Wie kommt das hierhin?“

„Ist das nicht eines von deinen Matisse-Fotos?“

„Ich muss es neulich hier verloren haben.“

„Heute Nachmittag sah ich, wie Bruce es in der Hand hatte.“

„Bruce? Bist du sicher?“

„Er betrachtete es und telefonierte dabei mit jemandem. Als ich in die Rezeption kam, beendete er das Gespräch. Dann rief Pat ihn aus der Küche, und er ließ das Foto auf dem Tisch liegen. Ich habe sofort gesehen, dass es eines von deinen ist und legte es in dein Fach.“

Poppy runzelte die Stirn. „Danke, dann ist meine Serie ja wieder komplett.“

„Was treibt dich denn so spät noch durch die Landschaft?“, fragte Nancy.

Poppy ging nicht darauf ein. „Weißt du was?“ Sie legte den Arm um sie. „Ich bin so aufgedreht und kann bestimmt nicht schlafen.“ Ich muss nachdenken. Außerdem habe ich keine Lust, mich vom Shining heimsuchen zu lassen. „Ich übernehme deine Nachtschicht.“

„Ich habe morgen frei …“

„Umso besser. Keine Widerrede. Dann bist du ausgeschlafen und kannst den Tag genießen.“

„Du bist ein Schatz, Poppy! Dann übernachte ich nicht hier, sondern fahre ins Blaue Haus. Im eigenen Bett ist es am schönsten. Dieses Gemäuer …“ Nancy ließ den Satz unvollendet, gab ihr einen Kuss und verschwand.

Poppy spürte dem schwachen Rosenduft von Nancys Parfum nach. Zu Hause …

Wieder überkam sie Wehmut bei dem Gedanken, dass ihre Arbeit hier zu Ende war.

Zu Hause … Der Gedanke daran löste hier in Cornwall etwas anderes bei ihr aus als in London.

Sie zog den Umschlag aus der Tasche, öffnete ihn zum ersten Mal und zählte nach. Sechstausend. Mehr als vereinbart. Das muss wirklich existenziell für Alice gewesen sein.

Sie musste an die Luft. „Komm, Torry, wir machen einen Kontrollgang.“

Als sie vor das Haus trat, war die Nacht klar und mondlos, der Himmel sternenübersät. Richtung Meer hob sich das Lizard Lighthouse schwarz vom Horizont ab, in ruhiger Regelmäßigkeit wischte der Lichtstrahl über die Wellen wie ein Pinsel mit Silberfarbe.

Unter den Rhododendren raschelte es, Torry hob witternd die Nase, doch nach einem Blick auf Poppy verzichtete er auf einen Vorstoß. Anerkennend tätschelte sie seinen Kopf.

Du weißt, worauf es ankommt, mein Guter, im Gegensatz zu mir.

Sie fasste einen Entschluss. Morgen würde sie zwei Dinge tun: Erst Peter Hammett anrufen. Der Mann wurde ihr bei ihrem ersten Treffen als „Regisseur, Hauptdarsteller und Kartenabreißer der Volksbühne von Falmouth“ vorgestellt. Er gehörte zu den Cornwall Brothers, der gut vernetzten Bruderschaft, die sich für die Erhaltung von Kultur und Umwelt einsetzten.

Die Brothers könnten sie bei der Verwirklichung ihres Traums unterstützen, eine Bleibe in Cornwall zu finden, eine Wohnung oder, besser noch, ein kleines Cottage.

Ihr war klar, dass dies nicht im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten lag. Oder war es eine Frage der Priorität?, sinnierte sie.

Das Erbe nach dem Tod ihrer Familie hatte sie zum großen Teil in ihr Geschäft in London gesteckt, aber es war noch etwas übrig.

Und die zweite Sache, die sie sich vornahm: Ich muss mit Barney sprechen. Es ist nicht fair, wenn ich diese Dinge an ihm vorbei plane.

Am Himmel stand das Sternbild der Kassiopeia im Zenit. Das große W wölbte sich über Poppy wie eine Umarmung, aus der sie sich nur widerwillig löste.

Ich muss meine Cornwall-Euphorie bremsen. Eins nach dem anderen.

Leise pfiff sie nach Torry, und sie machten sich auf den Weg zurück zum Manor. Die Silhouette des Gebäudes schnitt schwarz und kantig in den Sternenhimmel, der in der aufkommenden Morgendämmerung verblasste.

Ein Motorengeräusch riss sie aus ihren Gedanken. Der weiße Mercedes, der ihr auf dem Weg hierher die Vorfahrt genommen hatte, hielt auf dem Parkplatz. Jazzklänge hallten herüber, bis die Zündung unterbrochen wurde.

Ein Mann und eine Frau stiegen aus. Aus der Entfernung konnte Poppy sie nicht erkennen, aber sie sah, dass sie sich zum Abschied küssten. Dann löste sich der Mann aus der Umarmung und lief mit langen Schritten über den Kiesweg in Richtung Portal. Als er näher kam, duckte sich Poppy hinter einer großen Hortensie. Es war ein kurzer Eindruck, doch das Profil war eindeutig.

„Bruce, wo treibst du dich um vier Uhr morgens herum?“, murmelte sie. „Und warum interessierst du dich plötzlich für Kunst?“

7

Um sieben wurde sie an der Rezeption abgelöst. Pat war überrascht, Poppy statt Nancy dort vorzufinden und freute sich sehr.

„Es ist das erste Mal, dass wir einen Moment zusammen haben. Bruce schläft noch. Er ist erst im Morgengrauen zurückgekommen und wird bis in die Puppen schlafen.“

„Wo war er denn?“

„Er war mit Alexander Steele unterwegs.“

„Ist das nicht der neue Ehemann von Lady Barbara?“ Die Viscountess of Falmouth war eine Freundin der Familie, Poppy hatte die charismatische und sozial engagierte Frau im Frühjahr kennengelernt.

„Viel Zeit scheint er nicht mit ihr zu verbringen. Steele veranstaltet exklusive Partys auf Herrensitzen in der Umgebung, wo Geschäftsleute viel Geld bezahlen, um mit einflussreichen Leuten aus der Oberschicht in Kontakt zu kommen.“

„Und Bruce hilft ihm dabei? Hat er hier nicht genug zu tun?“

„Schon.“ Pat spielte nervös mit einer Haarsträhne. „Aber Alexander beteiligt ihn an den Einkünften. Das sind mehrere Tausend Pfund im Monat, und die können wir gut gebrauchen.“

„Ich verstehe.“ Sachte berührte Poppy Pats Arm. „Glücklich macht dich das nicht, oder?“

Pat schüttelte den Kopf. „Das ist die Frage. Wenn ich ehrlich bin, kann ich die nicht beantworten. Ich habe mich dran gewöhnt und bin auf Abstand gegangen. Vielleicht wappne ich mich damit auch vor dem Moment, an dem Bruce verurteilt wird.“

„Droht ihm Gefängnis?“

„Wahrscheinlich nur eine Bewährungsstrafe, zumindest solange Jack D’Arcy Staatsanwalt ist. Er ist mit Bruce befreundet, du hast die beiden im Frühjahr zusammen erlebt. Aber es gibt Gerüchte, dass er abgelöst wird. Sollte das der Fall sein und sie schicken jemanden aus London, wird hier ein anderer Wind wehen.“ Das Wort schien sie auf eine andere Assoziation zu bringen. Sehnsüchtig sah sie aufs Meer hinaus, wo in einer aufkommenden Brise immer mehr Boote vor Lizard Point auftauchten.

„Du denkst an deinen Käpt’n?“, fragte Poppy leise.

Pat wurde schlagartig rot, aber sie senkte nicht den Kopf, sondern strahlte Poppy an.

„Wie kommst du darauf?“

„Erstens bin ich deine Freundin, und zweitens ist unser gemeinsamer Bootsausflug auf Carys schöner MERMAID erst ein paar Wochen her.“

Pat nickte, nur das Strahlen fiel in sich zusammen, und ein paar Tränen rollten über ihr Gesicht. „Jede Stunde mit ihm ist pure Freude und Entspannung für mich, und es fällt mir schwer, nicht auf sein Werben einzugehen. Aber ich habe ein Hotel zu führen, einen Mann und auch noch sein Baby im Bauch.“

Poppy konnte die Mischung aus Freude und Verzweiflung in ihren Augen nachvollziehen.

„Bauch ist gut. Ich will und kann mich nicht einmischen, Pat, am Ende musst du deinem Gefühl folgen. Der Rest wird sich klären. Hab keine Angst – auch materiell sitzt du am längeren Hebel.“

„Ich weiß, das sagt Cary auch. Nur der Skandal! Erst das Verfahren und dann noch eine Scheidung?“

„Das kommt in den höchsten Kreisen vor. Weißt du was? Wo wir gerade bei Geständnissen sind: Ich möchte nach Cornwall ziehen. Allerdings nicht zu euch.“ Sie sah Pat an und war froh, dass die ihr Grinsen erwiderte.

„Schade, aber verstehen kann ich es.“

„Bisher war es ein Traum, doch ab sofort werde ich ernsthaft nach einer Bleibe suchen. Ich werde die Brothers einschalten.“

„Wunderbare Idee! Du in meiner Nähe – das macht alles leichter! Aber wie wird Barney darauf reagieren?“

„Mit gemischten Gefühlen, bestenfalls! Er hängt sehr an London und an unserem Laden. Nur ist die Miete exorbitant hoch und steigt immer weiter.“

„Fragt er sich nicht auch, ob es sinnvoll ist, ihn zu halten?“

„Gelegentlich schon. Vor allem, weil der Handel mit alten Büchern hauptsächlich online stattfindet. Eine teure Adresse ist nicht nötig.“

„Außerdem könnte er dich viel leichter nach Cornwall begleiten, wenn er nicht so einen Klotz am Bein hätte.“

„Das hast du fein gesagt, Pat, das Argument verwende ich, mit deiner Erlaubnis.“ Poppy lächelte. „Am Ende wird es ihn nicht überraschen, er kennt mich und meine Sehnsucht. Ich muss nur ernsthaft mit ihm reden.“

„Tu das.“ Pat seufzte. „Ich beneide dich um deine Klarheit, vielleicht kannst du mir ein bisschen davon abgeben.“

„Gerne. Jetzt will ich Barney anrufen, er macht sich bestimmt Sorgen, dass ich mich gestern nicht gemeldet habe.“

Barney nahm erst nach dem vierten Klingeln ab. „Poppy?“ Sie hörte ein dumpfes Geräusch im Hintergrund.

„Darling? Bist du aus dem Bett gefallen?“

Er gähnte. „So ungefähr. Es war etwas lang gestern, ich habe ein paar Fellows von der Uni getroffen.“

„Dann haben wir was gemeinsam, außer dass ich mir die Nacht mit Arbeit um die Ohren geschlagen habe.“ Sie berichtete vom Einsatz im Museum, dem positiven Ergebnis und dem Honorar.

„Wow, das ist großartig.“ Er klang jetzt deutlich wacher. „Ich bin stolz auf dich! Heißt das, du kommst bald wieder zurück?“ Er machte eine Pause. Als sie nichts sagte, sprach er weiter. „Gestern kam Niall Flexer in den Laden, mit ein paar Künstlern im Schlepptau. Ich glaube, er hat sich gefreut, mich kennenzulernen, war aber sichtlich enttäuscht darüber, dass du nicht da warst. Er wollte die Ausstellung mit dir planen.“

„Das kann warten.“ Sie seufzte. „Barney? Wir müssen reden.“

„Hast du dich verliebt?“ Es sollte lustig klingen, allerdings verging ihm der Humor, als er ihre Antwort hörte.

„Ja, und es ist ernst.“

Er schluckte hörbar. Poppy kicherte, sie wollte ihn nicht länger auf die Folter spannen.

„Nicht, was du denkst, Darling. Wie kommst du überhaupt darauf, so etwas zu denken?“, fragte sie mit gespielter Empörung. Ernst sagte sie: „Du kennst meine Liebe. Sie heißt Cornwall.“

Es dauerte eine Weile, bis er reagierte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. War das jetzt zu spontan? Es fühlt sich nicht gut an, ein so grundlegendes Thema unseres Lebens allzu beiläufig zur Diskussion zu stellen.

„Das sollten wir tatsächlich nicht am Telefon besprechen“, sagte er bedächtig, aber nicht unfreundlich. „Was hältst du davon: Ich mache den Laden zu, springe in den Zug, du holst mich heute Abend in Truro ab, wir machen uns ein schönes langes Wochenende am Lizard Point und du zeigst mir die Liste der Immobilien, die du im Auge hast.“

Die folgende Pause schien kein Ende zu nehmen.

„Habe ich dich sprachlos gemacht, Poppy? Das ist mir noch nie gelungen, soweit ich mich erinnere.“

„Ich … Ich liebe dich, Barney.“

Das Gespräch mit Peter Hammett verlief weniger hoffnungsvoll. Der Theatermann reagierte freundlich und versprach, sich umzuhören. „Erwarten Sie nur nicht zu viel, Mrs Dayton, es ist kaum etwas auf dem Markt, schon gar nicht zu einem vernünftigen Preis. Und der wirkliche Experte unter uns Brothers kann Ihnen nicht helfen, den haben Sie ja ins Gefängnis gebracht.“ Er spielte auf Keith Roberts an, er war Immobilienentwickler.

„Mr Hammett, jedem das Seine!“

Er lachte. „Ich mag Ihren Humor, Mrs Dayton. Besuchen Sie doch mal eine meiner Vorstellungen. Sie kriegen eine Freikarte.“

„Ich komme darauf zurück.“

Nach einem ausgedehnten Strandspaziergang fuhr sie mit Torry nach Falmouth.

Alice James hatte ihr eine SMS geschickt:

Zum Lunch um eins im Lookout, Arwenack Street 6. Ich freue mich!

The Lookout hielt, was der Name versprach. Das Restaurant lag oberhalb der High Street, zwischen Victoria Quay und Fähranleger, der Ausblick auf die Bucht und die gegenüberliegenden grünen Hügel von Flushing war grandios. Eine kühle Brise aus Osten hatte die Sommerhitze vertrieben, und eine zarte Dunstschicht dämpfte das Sonnenlicht.

Als Poppy und Torry mit ein paar Minuten Verspätung eintrafen, saßen Alice James und Edwards bereits an einem Tisch im Patio. Rote Sonnenschirme und farblich passende Stühle sorgten in dem blumengeschmückten Hof für eine mediterrane Atmosphäre.

Sie passte zum lockeren Auftritt und der heiteren Stimmung der Gäste: Die Direktorin trug statt ihres ewig schwarzen Kostüms ein blau-weiß gestreiftes Sommerkleid und der Inspektor statt seines Anzugs eine helle Stoffhose. Nur das weiße Hemd mit den Brusttaschen hatte einen Anklang von Uniform.

Edwards stand auf und kam strahlend auf Poppy zu. „Mrs James berichtet mir gerade von Ihrer abendfüllenden Untersuchung. Großartiges Ergebnis! Wir wussten, dass Sie das bravourös meistern würden!“

Poppy schmunzelte. „Nicht so laut, das war doch ein Geheimauftrag.“

Alice sah sich erschrocken um; beruhigte sich aber, als sie merkte, dass die anderen Gäste keine Notiz von ihnen nahmen.

Sie nahmen Platz. Eine junge Frau in Jeans und T-Shirt mit Batikmuster kam und verteilte die Speisekarten. „Wir haben frische Muscheln in Weißwein. Und das Risotto mit Zucchinistreifen und grünem Spargel ist auch sehr zu empfehlen.“

Poppy und Alice entschieden sich für das Risotto, der Inspektor nahm die Muscheln.

„Dazu eine Flasche Chardonnay?“

Die drei stießen an. „Auf dich, Poppy. Du hast keine Ahnung, wie erleichtert ich bin.“ Alice trank einen Schluck Wasser hinterher.

„Das glaube ich dir.“ Poppy lächelte verständnisvoll. „Das Ergebnis der Analysen ist absolut eindeutig. Das Einzige, was mich wundert, ist ehrlich gesagt die ganze Aufregung.“

Bevor Alice darauf eingehen konnte, fragte Edwards dazwischen: „Und der Kurator? Ist Ihnen bei ihm nichts aufgefallen?“

„Ich verstehe Ihre Frage, Inspektor. Und wenn es bei dem Gemälde Zweifel geben würde, dann …“ Poppy zögerte. „Er war ein bisschen seltsam, wirkte hyperkonzentriert und fahrig zugleich. Ich hatte ein Haar gefunden, in einem Leinwandfalz und …“

„Ein Haar?“

„Ja, ein langes dunkles. Mr Abrams hat es mit einer ungeschickten Bewegung weggefegt, aber ich konnte es sichern.“

Das Essen kam. Alice legte die Serviette auf ihren Schoß und griff nach der Gabel. „Eigentlich wollten wir von etwas anderem reden. Das Risotto sieht köstlich aus. Guten Appetit!“

Sie genossen den Lunch, und auch Torry kam auf seine Kosten: Es gab frisches Wasser und eine kleine Schale mit Leckerlies, die verdächtig nach Fisch rochen, was ihm nichts auszumachen schien.

Auf den Matisse kamen sie nicht mehr zurück. Dafür nutzte Poppy die Gelegenheit, ihre Suche nach einem Cottage zu kommunizieren, und beide versprachen, sich umzuhören.

Edwards verteilte den Rest des Weins auf die Gläser, als sein Handy klingelte.

Er nahm das Gespräch an. Nach den ersten Worten sprang er auf und verließ eilig den Hof. Es dauerte einige Minuten, bis er zurückkam. Er blieb stehen, nestelte ein Taschentuch aus der Hose und wischte sich über die Stirn.

„Ich muss Sie verlassen, die Arbeit ruft.“

„So schnell? Ist es etwas Ernstes?“

„Ich fürchte, ja, Mrs Dayton.“ Er beugte sich zu ihr hinunter. „Am Helford River wurde eine Leiche gefunden, in der Penarvon Cove.“