Leseprobe Poppy Dayton und das Geheimnis von Wythcombe Manor

Kapitel 3

Blauregen und Bougainvillea schoben die Äste über der Terrasse zusammen wie die Finger zweier gefalteter Hände. Zu dieser Jahreszeit war ihr Grün noch nicht so dicht und ließ ein Mosaik aus Lichtflecken auf die zwei Frühstücksgäste fallen.

Pat hatte den Tisch mit appetitlich arrangierten Häppchen und Gerichten gedeckt. Deftiger kornischer Schinken, französischer Ziegenkäse, gebratener Hering, verschiedene Marmeladen, Joghurt und Obstsalat besetzten das strahlend weiße Tischtuch bis zum letzten Winkel.

Pat goss ihnen noch Kaffee und Orangensaft ein, dann war sie verschwunden, ohne dass es Poppy gelungen wäre, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Barney zuckte die Achseln und konzentrierte sich auf den Teller vor ihm. Poppy sah ihm zu. „Du gibst dem Tag mit deinen zwei Eggs Benedict eine solide Grundlage.“

Sie nahm eine halbe Gabel voll von ihrem vergleichsweise winzig kleinen Kräuteromelette.

„Nur kein Neid!“ Barney grinste und goss reichlich Sauce Hollandaise über die pochierten Eier. „Ich kann es mir leisten.“

Poppy seufzte still. Er hatte recht. Bei seiner Größe und der athletischen Konstitution brauchte er sich keine Gedanken zu machen; selbst seine Schwäche für Garrys Macarons hinterließen keinerlei Spuren. Bei ihr war es anders.

Barney schien zu merken, dass er mit seiner Bemerkung danebengegriffen hatte und versuchte hastig, Boden gut zu machen. „Du siehst wunderbar aus heute Morgen, als ob wir schon eine Woche lang in Urlaub wären!“ Er traf damit ihren natürlichen Vorzug: Ein Tag im Cabrio hatte genügt, um die erste Bräune auf Gesicht und Arme zu zaubern.

„Das lässt sich noch ausbauen.“ Poppy griff nach kurzem Zögern nach einem Croissant.

„Ich freue mich auf unseren ersten Strandspaziergang.“ Sie belud die Spitze mit Himbeergelee und betrachtete nachdenklich das glitzernde Häufchen. „Dann stören wir auch unsere Gastgeber nicht.“

Barney nickte, und beide blickten verstohlen in Richtung Salon. Hinter den halb geöffneten Fensterflügeln konnten sie erkennen, wie Pat und Bruce miteinander redeten. Ihren erregten Gesten nach war es mehr als nur ein ruhiges Gespräch.

Barney lehnte sich zurück. Da sie immer noch allein waren, schien er keine Hemmungen zu haben, eine Schachtel Senior Service aus der Weste zu angeln. Mit seinem alten Sturmfeuerzeug zündete er sich eine Zigarette an. Genüsslich erzeugte er Rauchkringel, die von der Meeresbrise fortgetragen wurden.

Hastig wischte er ein paar Aschekrümel von der neuen Hose. Poppy musste schmunzeln. Entsprach die dunkelblaue Weste aus Sommertweed und das Leinenhemd mit Stehkragen noch dem konservativen Muster, war die Baumwollhose in modischem burnt orange vergleichsweise kühn. Ausnahmsweise hatte sie die für ihn ausgesucht, und sie hatte sich gefreut, dass er sich das überraschend leicht gefallen ließ.

Mit der Aussicht auf den Strand hatte Poppy für sich die Kombination aus blau-weiß geringeltem Bretagne-Shirt und ausgewaschenen Jeans gewählt, und jetzt hielt sie nichts mehr auf ihrem Stuhl.

Sie sprang auf, und Barney konnte gerade noch seine Zigarette ausdrücken, da waren sie schon unterwegs auf dem gewundenen Weg in Richtung der Klippen.

 

Es gab keinen Zaun zwischen dem Anwesen und der zum Meer hin offenen Heidefläche, nur geschickt angeordnete Azaleen und Rhododendron-Büsche erzeugten eine natürliche Abschirmung.

Jenseits davon griff der Wind ungehindert nach ihnen, und das Geräusch der Brandung war deutlich zu hören.

Ein tiefer Einschnitt durchbrach die gerade Felslinie.

Poppy blieb stehen und blinzelte. Auf der heidebewachsenen Ebene war die Vegetation eher eintönig gewesen. Jetzt gerieten sie in eine Farbenflut.

Zwischen Klippen und Strand floss ein weiß, pink und orange funkelnder, fast metallisch anmutender Strom von Mittagsblumen. Sie bedeckten den Boden lückenlos und klammerten sich mit kräftigen Wurzelsträngen in den sandigen Grund.

Ein gewundener Pfad führte zum Strand.

Poppy zog ihre Sneakers aus und lief zur Brandungszone. Die Flut war auf dem Rückzug, so dass die Spaziergänger einen immer breiter werdenden Sandstreifen nutzen konnten.

An einem Felsbrocken, den das Wasser freigegeben hatte, hielt sie an. „Gibst du mir dein Taschenmesser?“

Barney reichte es ihr. Poppy klappte die Klinge auf, die sonst zum Öffnen von Kronkorken da war, und traktierte den Felsen. Triumphierend hielt sie zwei unansehnliche Brocken hoch. „Austern!“ Mit dem gleichen Werkzeug knackte sie die Muscheln und hielt sie Barney hin. Der zögerte einen Moment zu lange, und so schlürfte Poppy gleich beide Schalen aus. „Köstlich! Schmeckt nach mehr!“

Sie schielte nach dem Felsen, aber ihr Mann zog sie weiter. Er küsste sie und kräuselte die Nase. „Mir genügt die Ahnung von Meeresfrüchten auf deinen Lippen.“

„Oh, mein Poet! Versuch mich mal zu fangen!“

Poppy rannte über den feuchten Sand, Barney ihr dicht auf den Fersen; mit den großen Füßen löschte er ihre zierlichen Spuren aus.

 

Als sie gegen Mittag zum Manor zurückgingen, kamen sie an einem Transparent vorbei, das zwischen den Wildrosenbüschen aufgespannt war: HÄNDE WEG VON UNSERER KÜSTE!

Poppy blieb stehen. „Vorhin war das noch nicht da. Was bedeutet es? Hier steht doch alles unter Naturschutz.“
„Das denke ich auch. Vielleicht übereifrige Ökos?“

Poppy sah ihn schräg an. „Es wird bestimmt seinen Grund haben. Ich werde Pat fragen.“

 

Das Haus schien leer zu sein, und das Mittagessen fiel offenbar aus.

Poppy grinste über Barneys missmutigen Ausdruck. „Selbst schuld. Du hättest ja ein paar von meinen Austern nehmen können.“

Seine Antwort, ein Magenknurren, ging in lautem Klirren unter. Sie folgten dem Geräusch in Richtung Küche und stießen auf Pat und Bruce, die zwischen Glassplittern in Grün- und Blautönen standen.

„Die Lalique-Vase! Die hätten wir gut verkaufen können!“, brüllte Bruce. Pat schien noch wütender zu sein, denn sie trampelte auch noch auf den Scherben herum.

Poppy blieb in sicherer Entfernung stehen. „Was ist denn hier los?“

Die beiden fuhren herum und starrten sie an.

„Ihr seid schon da?“ fragte Pat.

„Wir hatten Hunger“, brummte Barney und Poppy stieß ihn in die Seite.

„Entschuldigt bitte.“ Pat schien sich zu fangen. Wortlos holte Bruce ein Kehrblech und sammelte das Glas auf. „Das ist mehr als peinlich.“

Poppy sah, wie ihr eine Träne die Wange herunterrollte und war in zwei Schritten bei ihr. „Was ist denn los? Können wir euch helfen?“

Bruce schüttelte den Kopf und brachte die Scherben hinaus, Pat blickte mit geballten Fäusten hinterher. Poppy schob sie auf einen Stuhl, was sie sich widerstandslos gefallen ließ. Sie versuchte jetzt nicht mehr, ihre Tränen zu verbergen, und griff nach Poppys Hand.

„Ich weiß nicht mehr weiter. Euch ist gestern ja sofort aufgefallen, dass wir leer sind. Ich musste meiner Geschäftsführerin kündigen, nicht sie hat gekündigt.“ Sie starrte auf den Boden, atmete tief durch und sah dann Poppy direkt an. „Das Hotel steht kurz vor der Pleite.“

„So schlimm?“

„Die meisten Gäste kommen nur aus dem Inland. Es gibt viel zu viele kleine Hotels an der Küste, und fast allen geht es genauso wie uns.“ Pat wischte sich über die Augen.

„Deshalb musstet ihr ans Tafelsilber gehen?“

Überrascht blickte sie Poppy an. „Wie kommst du darauf?“

„Im Salon ist mir ein heller Fleck auf der Seidentapete aufgefallen, und im Garten gibt es ein paar Marmorsockel mit runden Aussparungen im Moos.“

„Dir entgeht wirklich nichts, Poppy.“ Pat seufzte. „Und Barney hatte auch schon eine Ahnung davon bekommen.“

Poppy zog die Augenbrauen hoch. Barney zuckte mit den Schultern. „Bruce bat mich, ein paar der antiken Bücher aus der Bibliothek zu verkaufen. Aber er hat mich schwören lassen, nichts zu verraten.“

„Schluss mit der Geheimnistuerei! Wir sind doch Freunde. Ihr seid allein und könnt euch unmöglich um alles kümmern. Ich frage dich nochmal: Können wir euch irgendwie unterstützen?“

Pat richtete sich auf und straffte die Schultern. „Das ist lieb von dir, Poppy. Wir brauchen tatsächlich Hilfe. Ich habe nur Angst, euch euren wohlverdienten Urlaub zu verderben.“

„Papperlapapp! Bloß den Strand auf und ab zu gehen, ist langweilig. Und die ganze Zeit im Liegestuhl, wie sollen wir dann die Pfunde der wunderbaren Schlossküche wieder loswerden?“

„Ich habe heute eher abgenommen“, ließ sich Barney vernehmen, und bevor Poppy einschreiten konnte, sprang Pat auf und lief zum Kühlschrank.

„Bitte verzeiht mir, ihr müsst ja sterben vor Hunger. Ich habe noch französische Gänseleber, da mach ich ein paar Toasts!“

„Meine Austern wollte er nicht.“

Zum ersten Mal lächelte Pat. „Von den Felsen? Ich war ewig nicht mehr da unten. Ich hab auch noch Radieschen aus dem Garten und frische Butter.“ Rasch kreierte sie einen Imbiss und stellte Obst, Käse und eine Karaffe mit Rosé dazu. Sie setzte sich zu den beiden, rührte aber selbst nichts an.

„Zu deinem Angebot, Poppy. Vielleicht nehme ich es an.“

„Nur zu!“ Poppy positionierte eine Flocke salziger Butter auf ihrem Radieschen.

„Es gibt keine Angestellten, weil ich sie nicht bezahlen kann. Ich habe nur den Wanderführer. Ich selbst kann nicht weg, weil im Hotel so viel zu tun ist. Denn eigentlich geht es gerade aufwärts. Ab morgen haben wir zwei Gruppen im Haus. Eine Art Heimatverein hier aus der Gegend. Vormittags kommt aber eine Gruppe Ausländer an. Deutsche! Die sind wichtig für uns. Wenn sie so regelmäßig kommen wie früher, können wir wieder etwas optimistischer sein.“

„Na also! Dann lass uns gleich die Ankunft vorbereiten!“

„Das wäre wunderbar!“ Pat strahlte jetzt. „Ich muss auch noch den neuen Guide in das Programm einweisen.“

„Micah? Den kannst du gerne mir überlassen.“ Poppy lachte und registrierte befriedigt, wie Barney sich an einem Stückchen Toast verschluckte und hustete.

„Seine Fischerkate scheint inzwischen halbwegs bewohnbar zu sein, jedenfalls ist er meistens dort. Nachdem er aus den USA zurückkam, hat er eine Weile hier im Kutscherhaus gewohnt. Dafür hat er mir versprochen, die Gruppen anzuleiten, bis ich mir wieder einen professionellen Führer leisten kann.“

„Nimm mich einfach mit in dein Büro und zeig mir die Unterlagen.“ Poppy stand auf.

Barney tat es ihr nach. „Ich sehe mal nach Bruce.“

Poppy zwinkerte ihm dankbar zu.

Pat schnaubte sich geräuschvoll die Nase. „Euch schickt der Himmel.“

Kapitel 4

„Im Management braucht ihr vielleicht Hilfe, aber in der Küche seid ihr unübertroffen!“

Barney nahm den letzten Rest Rotweinsauce mit einem Stückchen Weißbrot auf.

Pat und Bruce hatten ihren Streit beigelegt und zusammen ein opulentes Abendmenü kreiert: Hummerconsommé, kornischer Schinken in Petersiliengelee und Boeuf Bourguignon.

Mit seligem Ausdruck nippte Barney am Portwein, den er sich statt eines Desserts gewünscht hatte. Bruce stieß mit ihm an. „Pat hat mir erzählt, wie schnell ihr ein Gefühl für unsere Situation bekommen habt.“ Er prostete auch Poppy zu. „Und das Büro sieht schon ganz anders aus, nachdem du zwei Stunden drin warst.“

Poppy lachte. „Eigentlich wollte ich immer nur Künstlerin sein, aber ich manage für mein Leben gern.“

„Und wenn ich an unseren eigenen Laden denke, viel besser als so ein verschrobener Professor wie ich“, brachte Barney einen Toast auf sie aus.

„Ich bin auch nicht gerade der Macher, im Gegensatz zu meinen Vorfahren“, stellte Bruce fest. „Das waren herausragende Führer, die Reichtum und Landbesitz mehrten.“

„Und dabei über Leichen gingen“, ergänzte Pat mit rollenden Augen. „Sogar ein Vorfahre von Micah musste dran glauben. Caedmon Morgan verwaltete für die Wythcombes ihren Grundbesitz und fiel in Ungnade …“

„Das ist dreihundert Jahre her“, unterbrach Bruce seine Frau. „Aber du hast recht, Pat. Das sind nicht gerade Vorbilder für eine moderne Betriebsführung.“

Dabei sah er Barney an. Der wechselte das Thema, indem er Bruce zu einer Zigarre auf die Terrasse einlud.

 

Poppy kam aus dem Bad. Barney hatte sich auf die Seite gedreht. Das Schlafzimmer lag im Dunkeln.

Energisch zog sie die geschlossenen Vorhänge zurück. Mondlicht flutete den Raum.

„Ich will das Glitzern auf den Wellen sehen“, stellte sie klar, „und zwar von meinem Bett aus!“

Sie schlüpfte zu Barney unter die Decke und kitzelte ihn. „Aber zuerst werden wir dieses stille royale Gemach mit bürgerlicher Liebe beleben. Und morgen erzählst du mir, was die vielsagenden Blicke zwischen dir und Bruce bedeuten!“ Sie freute sich, als Barney alle Anzeichen von Schläfrigkeit ablegte und seine Arme um sie schlang.

 

Poppy schlief unruhig. Die Ereignisse des ersten Ferientags, das Rauschen der Brandung, der salzige Geschmack von Barneys Haut auf ihren Lippen, das alles ließ sie zwischen Traum und Wachen hin und her pendeln.

Als der Mann neben ihrem Bett auftauchte, raffte sie erschrocken das Nachthemd zusammen, das Barney ihr abgestreift hatte.

„Mylady, verzeihen Sie, ich schaue weg.“

„Sind Sie etwa …“

„Ein Gespenst? Nein!“ Er kicherte. „Oder glauben Sie an Geister?“

„Natürlich nicht, aber wie kommen Sie …“

„In Ihr Zimmer? Da bin ich gar nicht. Ich bin in Ihrem Kopf, Madame.“

„Ein Traum?“

„Wenn Sie so wollen. Sie haben von mir gehört, vorhin, beim Abendessen.“

„Caedmon?“

„Derselbe.“ Es folgte eine vollendet höfische Verbeugung. „Caedmon Morgan, Chamberlain des Hauses Wythcombe, im Jahre des Herrn Siebzehnhundertzwanzig – zu Ihren Diensten, Mylady.“ Er richtete sich auf und rückte seine weiß gepuderte Perücke zurecht. „Nein, ich fürchte, es ist andersherum. Ich bin es, der Sie um einen Gefallen bitten muss.“

Bestürzt sah Poppy, wie aus den ausdrucksvollen Augen Tränen über die eingefallenen Wangen liefen und sich zitternd am Kinn sammelten.

„Wie soll ich einem Traum einen Gefallen tun?“

Caedmon schenkte ihr ein verhangenes Lächeln. „Ihr stellt die richtigen Fragen, Mylady, das muss ich sagen. Aber die Dinge sind etwas komplizierter.“ Er kam näher und schien den ganzen Raum über dem Himmelbett auszufüllen. Poppy zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch.

„Ich wollte immer nur das Beste für die Wythcombes. Aber sie haben es mir böse vergolten und ich kann keine Erlösung finden. Es sei denn, Sie helfen mir dabei, die Dinge zu richten.“

Caedmon wich ein Stück zurück, und Poppy entspannte sich.

Seltsame Träume waren bei ihr keine Seltenheit, und sie hatte die Erfahrung gemacht, dass sie durchaus steuerbar waren. Dieser Traum machte sie neugierig.

„Sehen wir uns jetzt öfter?“

„Vernehme ich da ein wenig Koketterie?“ Caedmon zupfte an seinem Halstuch. „Nur, wenn Sie es wollen und mich in Ihre Träume lassen … Ich entdecke in Ihnen eine verwandte Seele, sonst könnte ich gar nicht zu Ihnen vorstoßen. Und es gibt noch jemanden davon.“

„Micah?“

„Ihren Scharfsinn werden wir wahrhaftig noch gut gebrauchen können. In der Tat ist mein Nachfahre in die Sache involviert. Er ist sogar der Schlüssel. Nur will er sich nicht ins Schloss stecken lassen, wenn ich so sagen darf. Er ist störrisch wie seine Vorfahren, aber ich versuche, ihn zu überzeugen. Das wird ein wenig dauern, und wenn nicht – dann darf ich wieder bei Ihnen vorsprechen, Mylady?“

„Ich bin gespannt.“

 

„Auf was bis du gespannt, Poppy?“

Sie schlug die Augen auf. Statt Caedmons Perücke war Barneys zerzauster Kopf über sie gebeugt. „Du hast im Schlaf gesprochen“, stellte er gelassen fest. Er kannte die Angewohnheit seiner Frau. „Wer war es denn diesmal?“

Poppy blinzelte schlaftrunken. „Ein charmanter Edelmann.“

Sie schloss die Augen wieder und versuchte vergeblich, in den Traum zurückzufinden.

 

Beim Frühstück schilderte Poppy ihre nächtliche Begegnung.

„Und ich habe sie bei ihrem Rendezvous gestört!“, stöhnte Barney übertrieben zerknirscht.

„Wir haben gestern Abend wohl zu viele Schauergeschichten erzählt“, sagte Pat, und Bruce meinte nur: „Das Boeuf Bourguignon kann einem schwer im Magen liegen.“

Poppy schwieg. Sie hatte schon ähnliche Träume gehabt, in denen jemand versuchte, sie in sein Schicksal zu verwickeln. Deshalb wäre sie nicht überrascht, wenn Caedmon erneut auftauchen würde. Und dann war da noch Micah, dachte sie und häufte genüsslich Strawberry Jam und Clotted Cream auf ihr Scone.

Als ob Pat ihre Gedanken gelesen hätte, sah sie auf die Uhr. „Gleich kommt unser neuer Wanderführer. Führst du ihn in den Routenplan für die Woche ein?“

Poppy nickte eifrig.

„Dann bin ich ja überflüssig.“ Barney zog die Mundwinkel nach unten.

Poppy grinste. „Wer schmollt, kann nicht küssen.“

Barney tat es trotzdem und stand auf. „Ich bin in der Bibliothek. Ich habe einen Atlas von der Region hier entdeckt.“

„Gestern hing ein Transparent über der Steilküste, Hände weg oder so ähnlich“, sagte Poppy. „Was soll das denn bedeuten?“

Bruce zuckte zusammen. „Das sind irgendwelche Spinner“, wiegelte er ab. Pat stand hastig auf und stapelte lautstark das Geschirr auf ein Tablett.

Poppy sah die beiden stirnrunzelnd an. Als nichts kam, sagte sie: „Irgendwie treffe ich heute nicht die richtigen Themen.“

Von der Halle her läutete die kleine Glocke an der Rezeption.

„Das ist Micah!“ Poppy lief los, froh, der Frühstücksrunde entronnen zu sein.

 

Sie bat ihn, ihr gegenüber im Büro Platz zu nehmen. Zügig gingen Poppy und Micah die Anmeldungen der deutschen Gäste durch, in denen auch bisherige Wandererfahrungen vermerkt waren. Im nächsten Schritt stellten sie aus verschiedenen Karten und Wegbeschreibungen die passenden Routen zusammen.

Die Begegnung auf der Landstraße war nur flüchtig gewesen; deshalb freute sich Poppy umso mehr, wie vertraut und leicht ihr Umgang miteinander war und wie schnell sie bei der Arbeit auf den Punkt kamen.

„Zwei davon scheinen echte Lauffreaks zu sein.“ Micah deutete auf ein Ehepaar aus Hamburg. „Ich bin gespannt, ob ich mit denen mithalten kann. Aber es gibt auch Anfänger.“

Poppy betrachtete ein Aquarell, das über dem Schreibtisch hing. Es zeigte die Bucht von St. Yves, blaugrünes Wasser mit bunten Fischerbooten darauf. „Du musst bloß ein paar schöne Pausen einbauen, am besten am Meer.“

Micah fuhr sich durch die Locken. In den braunen Augen blitzte es. „Du liebst das Meer auch?“ fragte er und legte die Hand auf ihre.

Das geht aber schnell, dachte Poppy. Aber es fühlte sich gut an, freundschaftlich und ein klein wenig prickelnd, und so gab sie dem Impuls, sie zurückzuziehen, nicht nach.

„Sehr sogar.“ Sie machte eine Pause. „Es erinnert mich an meine Kindheit, an sorgenfreie Ferien mit meiner Schwester und meinen Eltern.“

„Leben sie nicht mehr?“

„Wie kommst du darauf?“

„Deine Augen sahen traurig aus, als du das sagtest.“

„Stimmt. Ein Autounfall.“

„Das tut mir leid.“ Jetzt war er es, der die Hand wegzog. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Meine Eltern sind lange tot. Die Morgans gehören zu den alten Familien hier. Aber mein Ast ist fast ausgestorben. Ich bin der letzte der Morgans vom Lizard Point.“

„Jetzt schaust du aber traurig.“

„Egal. Was zählt, ist das Hier und Heute.“ Seine Stimmung hellte sich wieder auf. „Als Pat mir gesagt hat, dass du meine Vorgesetzte bist, fand ich das super!“

Poppy gähnte plötzlich herzhaft, und Micah sah sie überrascht an. „Langweile ich dich?“

Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldige, nein, im Gegenteil. Ich habe nur etwas unruhig geschlafen.“

„Verstehe. Lag es bei dir an der Matratze? Als ich hier war, habe ich mich auch oft im Bett gewälzt, weil die Dinger so durchgelegen sind.“

„Stimmt, da könnte investiert werden.“ Sie zögerte. „Nein, bei mir hatte es einen anderen Grund.“ Sollte sie ihm von ihrem Traum erzählen? Klang das nicht zu verrückt? Sein Urahn auf ihrer Bettkante?

Die Nähe, die sie zu ihm fühlte, ließ sie sich ein Herz fassen. Sie betrachtete Micah und lächelte. „Die gleichen braunen Augen … Sagt dir der Name Caedmon etwas?“

„Mein Vorfahre?“

„Er scheint gerne in den Traumwelten anderer Leute herumzuspazieren“, formulierte Poppy behutsam und wartete ab, wie er reagieren würde.

Micah ließ die Landkarte sinken. „Poppy, jetzt verblüffst du mich wirklich.“

Er sah sich um, als ob er sich davon überzeugen wollte, dass keiner mithörte. „Jedenfalls verliert der alte Knabe keine Zeit. Bei mir war er gestern Nacht auch. Er war bester Laune und sprach von einer hübschen Lady, die er gerade besucht habe. Die bereit wäre, ihn zu unterstützen, wenn ich weiter so stur bliebe. Wenn ich geahnt hätte, dass du es bist …“ Er stockte. „Das Ganze ist mir ebenso peinlich wie lächerlich.“

„Das muss es nicht sein.“ Poppy grinste. „Du denkst wenigstens nicht, dass ich ein komisches Mädchen mit Verdauungsstörung bin, wie Pat und Bruce vorhin.“ Sie wurde wieder ernst. „Caedmon fabulierte etwas von Seelenverwandtschaft.“

„Ein netter Begriff. Keine Ahnung, wie er es schafft, sich in unsere Träume zu stehlen. Bisher dachte ich, das sei auf unsere Familie beschränkt. Nicht alle fanden das lustig. Meine Mutter stürzte es in regelrechte Depressionen. Hat er dich erschreckt?“

„Nein, bloß überrascht. Träume sind spannend. Aber es stimmt. Nicht immer gehen sie gut aus.“

Sie dachte an nächtliche Begegnungen mit ihrer jüngeren Schwester. Auch mit ihr führte sie im Traum Zwiegespräche. Meist waren es friedliche Begegnungen, aber manchmal endeten sie in dem unbeschreiblichen Schmerz des Autounfalls.

„Was wollte Caedmon von dir?“ fragte Micah.

„Er sprach von einem Fluch. Aber leider hat Barney mich geweckt, bevor er richtig loslegen konnte. Was meinte er denn damit?“

„Die Wythcombes waren schon immer etwas chaotisch. Männer wie Caedmon haben über Generationen Haus und Hof zusammengehalten. Aber Caedmon ging zu weit. Er hat einen Deal um Grund und Boden verhindert, der das Machtgleichgewicht hier in der Region aus den Fugen gebracht hätte.“

„Das ist doch gut.“

„Die Wythcombes sahen das anders. Sie warfen ihn in den Kerker, und er starb kurz darauf.“

„Wie furchtbar. Aber was können wir jetzt noch für ihn tun?“

Micah lächelte. „Ich merke, du willst ihm wirklich helfen, das ist lieb von dir. Aber ich rate dir, lass dich nicht darauf ein.“ Er seufzte. „Es geht um eine Bodenurkunde, die Caedmon damals verschwinden ließ. Wenn sie wieder auftaucht, wäre er erlöst. Aber dann entstünden neue Begehrlichkeiten. Es geht um ein besonders schönes Stück Land, direkt an der Küste.“

„Die Öffentlichkeit scheint auch aufmerksam geworden zu sein. Wir haben das Transparent gesehen, über dem Strand.“

„Das sind Umweltschützer aus Falmouth, sie wehren sich. Aber es ist kompliziert.“

„Das sagte Caedmon auch.“

Micah stöhnte. „Ehrlich gesagt, wäre ich froh, wenn Caedmon mich mit der Sache in Ruhe ließe und dich auch. Wenn ich ihn das nächste Mal treffe, sage ich ihm das. Du hast Urlaub und brauchst deinen Schlaf. Da ist kein Platz für alte Männer und ihre Heimsuchungen.“ Er sah auf die Uhr und griff wieder nach der Karte. „Lass uns jetzt mit der Routenplanung weitermachen. Ich muss wieder auf die Baustelle in meiner Wohnung.“

 

Am Nachmittag traf die Wandergruppe ein. Poppy wartete draußen auf sie. Sie war ein wenig nervös, fühlte sich aber gut vorbereitet. Sie legte sich sogar ein paar Sätze auf Deutsch zurecht. Während ihres Studiums hatte sie ein Semester an der Kunstakademie in Düsseldorf verbracht und musste ihre Sprachkenntnisse nur ein wenig aufpolieren.

Der Minibus mit der Aufschrift Bristol Airport bremste vor dem Portal. Poppy trat aus der Staubwolke hervor. Sie atmete tief ein und hustete. Der Fahrer öffnete die Schiebetür, und sieben Personen stiegen aus.

„Willkommen!“, begrüßte sie Poppy. „Folgen Sie mir bitte zur Rezeption. Ich bin Mrs Dayton. Lord und Lady Wythcombe werden Sie später noch persönlich begrüßen.“

„Ein echter Lord?“, kiekste eine zierliche junge Frau mit langen blonden Locken und bekam von ihrer Begleiterin einen Stoß in die Rippen. Sie war hochgewachsen, die kurzen dunklen Haare betonten die mit Ringen und Piercings behängten Ohren. „Ich weiß, du bist die Herrin“, reagierte die Kleinere halblaut.

Ein Mann mittleren Alters im karierten Hemd und einer beigen Windjacke sagte zu der Frau im Partnerlook neben ihm: „Hochadel? Du hast mir legere Wanderferien versprochen.“

„Wir sind in England und nicht im Sauerland, mein Schatz!“

„Sag nichts gegen das Sauerland. Das Essen …“

„Lady Patricia steht hier selbst in der Küche“, schritt Poppy ein. „Lassen Sie sich überraschen!“

„Und wir sind überrascht, dass Sie so gut Deutsch sprechen“, kam es auf Englisch zurück. Der Versuch, galant zu sein, klang etwas hölzern, was vielleicht an dem starken deutschen Akzent lag. Trotzdem lobte Poppy den Herrn in der Windjacke. „Vielen Dank! Aber Ihr Englisch ist mindestens genauso gut. Damit werden Sie beim Bier in unseren Pubs großen Erfolg haben!“

Die Gruppe ließ sich in Richtung Rezeption dirigieren, und Poppy verteilte die Schlüssel. „Die Honeymoon-Suite für Herrn Bäcker und Frau.“

Die Angesprochenen, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatten, schienen nur widerwillig ihre Umarmung zu lösen. Die kräftige Brünette sah zu dem Mann mit dem roten Kopf und Bürstenhaarschnitt hoch. „Honeymoon? Soll das ein Antrag sein? Wie süß von dir!“

Beide verschlungen sich wieder ineinander, bis Poppy mit dem altmodischen Schlüsselbund klimperte.

Er guckte betont schuldbewusst. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er augenzwinkernd. „Wir sind noch gar nicht verheiratet.“

„Das kann ja noch werden, Herr Bäcker. Würden Sie sich bitte hier eintragen?“

 

Allmählich leerte sich die Rezeption. Ein Schlüssel lag noch auf dem Tresen.

Poppy sah sich suchend in der Halle um. An der Stirnseite des langen Eichentisches, fast verdeckt durch die Vase mit den weißen Lilien in der Mitte, saß eine Frau. Als sich ihre Blicke trafen, stand sie auf.

Sofort war Poppy gefangen. Ihre Größe und der athletische Körperbau, ihre fließenden, aber beherrschten Bewegungen und die stolze Haltung des Kopfes imponierten ihr. Poppy schätzte sie auf Anfang vierzig, aber ihre schönen, leicht schräg gestellten Augen und der blonde Pony ließen sie jünger wirken und machten sie sehr attraktiv.

„Frau Andersen?“

„Brigid Andersen. Sie können Brigid zu mir sagen.“ Sie sprach hervorragendes Englisch mit einem schwer definierbaren Akzent.

„Gerne! Ich bin Poppy.“ Sie gab ihr die Schlüssel in die Hand, und augenblicklich legte Brigid die langen schmalen Finger darüber.

„Der Kleine ist für die Haustür, nach 22 Uhr abends, und der Große ist für das Zimmer. Es ist im ersten Stock, gleich das erste links. Sie sind keine Deutsche, oder?“

„Danke. Ich bin in Schweden geboren“, sagte sie und ging die Treppe hinauf. Poppy sah ihr hinterher. Für Plaudereien schien Brigid nichts übrig zu haben. Überraschend blieb sie auf dem Treppenabsatz stehen und drehte sich nochmal um. „Sehen wir unseren Wanderführer Micah heute noch?“

„Ja. Aber woher kennen Sie …?“

Brigid nickte nur, dann war sie verschwunden.

 

Das Willkommensdinner fand für alle gemeinsam am großen Tisch in der Halle statt. Brigid saß an der Stirnseite. Das passt zu einer Alleinreisenden, dachte Poppy.

Es war auch der Platz, von dem man den Eingang am besten im Auge behalten konnte.

Sie hatte das Essen kaum angerührt, und Poppy wollte gerade ihren Teller abräumen, als Brigid zusammenzuckte. Micah war hereingekommen und winkte fröhlich in die Runde.

„Guten Appetit! Lasst euch nicht stören. Ich bin Micah Morgan, euer Wanderführer. Den Kaffee bekommt ihr nachher im Salon. Da warte ich auf euch, und wir sprechen über unsere erste Tour morgen.“

Er durchquerte die Halle und zog dabei alle Blicke auf sich. Poppy, die hinter Brigid gestanden hatte, entging nicht, dass Micahs Blick an ihr hängen blieb. Sie schien diesen Augenblick gesucht zu haben und hob leicht die Hand. Er nickte, freundlich, aber nicht besonders engagiert.

Mit beleidigter Miene knüllte Brigid ihre Serviette zusammen und warf sie auf den Teller in Poppys Hand.

 

Im Salon begann Micah mit einer Vorstellungsrunde; Poppy gesellte sich dazu.

„… und erzählt bitte, was ihr von dieser Woche erwartet.“

„Ich bin Lara und das ist Annette“, erklärte die Frau mit den gepiercten Ohren. „Aus Dortmund. Ich bin beruflich ziemlich gestresst und freue mich auf viel Bewegung an frischer Luft. Aber ich bitte um Rücksicht auf die Teilnehmerinnen mit kürzeren Beinen.“ Sie sah auf ihre Freundin hinunter.

Der Rest der Gruppe schaute etwas betreten.

Annette ließ sich nicht provozieren. „Danke für das Kompliment.“ Sie zupfte an ihrem weißen Leinenrock. „Macht euch keine Sorgen um mich.“

Das Paar im Partnerlook übernahm. „Klaus und Susanne aus Hamburg. Wir brauchen noch hundert Kilometer für unser Abzeichen. Meine Frau …“ – „… kann für sich sprechen, danke.“ Susanne deutete auf die Karte zwischen ihnen. „Dürfen wir auch zwischendurch Schwimmen gehen?“ – „Susi, dann schaffen wir die Strecke nicht!“

„Nur kein Stress.“ Micah lachte. „Beides geht. Ihr bestimmt den Rhythmus. Wir wandern entlang der schönsten Küste der Welt. An den herrlichen Stränden werden wir nicht einfach vorbeigehen. Für Anfang Juni ist es warm, und das Wasser hat mindestens sechzehn Grad.“

„Lars und Janina. Wir sind aus Köln.“ Der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt hatte den Arm wieder um die Schultern seiner Partnerin gelegt, die sich eng an ihn schmiegte. „Klingt gut. Aber vielleicht machen wir zwischendurch einen Tag Wanderpause.“

Janina wurde rot. „Wir kennen uns noch nicht so lange.“

„Klar, auch das ist möglich. Alle sollen sich wohl fühlen. – Jetzt fehlt noch …“

Poppy räumte die Kaffeetassen ab. „Brigid ist nach draußen gegangen. Sie sagte, sie bräuchte frische Luft.“

Micahs Blick überraschte Poppy. „Bist du genervt?“, fragte sie leise.

„Nein, nur etwas erschöpft. Ich hatte Ärger mit den Bauarbeitern.“

Er ging in Richtung Terrasse. „Morgen früh um sieben Uhr dreißig geht’s los. Es soll heiß werden, deshalb starten wir lieber etwas früher.“

An seinem sachlichen Ton spürte Poppy, dass sie zum Thema Brigid nichts weiter von ihm erfahren würde. Aber eines wollte sie noch von ihm wissen: „Wenn mich Caedmon heute Nacht wieder besucht, auf was muss ich mich gefasst machen?“

Micah runzelte die Stirn. „Falls ich vor dir einschlafen sollte und ihn sehe, sage ich ihm, er soll dich aus dem Spiel lassen.“

 

Nach ihrem ersten „Arbeitstag“ war Poppy so müde, dass sie um zehn Uhr im Bett war und durchschlief.

Barney weckte sie am nächsten Morgen mit einem Kuss und stellte ihr eine Tasse Tee auf den Nachttisch. „Na, hast du wieder von deinem Edelmann geträumt?“

„Lieb von dir!“ Sie griff nach der Tasse, dann hielt sie inne. „Nein, diesmal nicht.“

Sie wunderte sich, wie enttäuscht sie darüber war.