Leseprobe Der tote Berliner

Prolog

Der muffige Geruch des giftgrünen Filzteppichs stieg ihm in die Nase. Bei jedem Schritt löste sich Staub, wurde aufgewirbelt und flirrte im Licht der altersschwachen Glühbirnen. Die Räder des Putzwagens quietschten, als Janis ihn durch den fensterlosen Pensionsflur zur nächsten Tür schob.

Er könnte jetzt mit seinen Freunden durch die Straßen von Köln ziehen und ein Kölsch nach dem anderen kippen. Stattdessen schuftete er sich hier den Buckel krumm für seinen Onkel.

Bei dem Gedanken trat Janis gegen den seitlich eingesetzten Putzeimer. Es platschte, Seifenwasser schwappte über den Rand und verteilte sich auf seine neuen Sneaker. Wütend fluchte er. An welchem Punkt war eigentlich alles schiefgelaufen?

Hier benötigte es sowieso weitaus mehr als eine Putzkolonne. Eine Abrissbirne wäre hilfreicher für diese heruntergekommene Pension. »Ich musste mir mein Geld in den Semesterferien auch verdienen«, äffte er seinen Onkel nach. Er hasste ihn für solche Sprüche. »Und an Karneval ist es doch immer dasselbe, da ist sowieso niemand an der Uni.«

Janis schob den Wagen mit eingelassenem Müllsack, Wischmopp, Mini- Seifen für das Bad und allerlei sonstigen Reinigungsutensilien – von deren Existenz er eigentlich nie etwas hatte wissen wollen – weiter über den Gang. Vorbei an der braunen Wandvertäfelung aus Kunstholz und Blumenkübeln mit Plastikpflanzen. Das übergeschwappte Seifenwasser ließ er eintrocknen, schaden würde es dem Teppich nicht.

Janis Grupka würde sein klägliches Ende in der Pension seines Onkels finden, während all seine Freunde einen draufmachten und den Tag mit einer Menge Spaß im Bett ausklingen lassen würden.

An Karneval war nämlich alles möglich.

Bei dem Gedanken sank seine Laune endgültig auf arktische Temperaturen, während sein Selbstmitleid ungeahnte Höhen erklomm. Janis seufzte noch einmal tief, akzeptierte sein Schicksal und holte aus. »Zimmerservice!« Er hämmerte mit der Faust gegen die Tür. Wenigstens würde ihm ohne Feiern auch die Kotzerei am nächsten Morgen erspart bleiben.

Aus dem Zimmer kam keine Antwort.

Janis zog den Universalschlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Der Gast war um diese Uhrzeit sowieso nie anzutreffen, hatte sein Onkel gesagt, da er die Pension normalerweise recht früh verließ. Nicht mal das Frühstück nahm er hier ein, was allerdings jeder nachvollziehen konnte, der hier schon einmal gegessen hatte.

Janis warf einen schnellen Blick in das Zimmer, um einzuschätzen, wieviel Arbeit auf ihn zukam.

Er erschrak, als sein Blick auf einen älteren Mann am Boden fiel. Der Hinterkopf war nur noch eine breiige Masse, Blutspritzer hatten sich über die Wand verteilt.

Janis beugte sich zur Seite und – ganz ohne, dass er auch nur an einem Kölsch gerochen hatte, kotzte er sich die Seele aus dem Leib.

1. Kapitel

Das Chaos war über Niederteerbach hereingebrochen und verschonte niemanden.

»Guten Morgen Frau Pech«, wurde sie von ihrem Kollegen Lukas Yilmaz begrüßt. Seine Uniform saß wie immer perfekt und er wirkte, als habe er ein überdimensioniertes Lineal verschluckt, so kerzengerade hielt er sich.

»Hmhm«, grummelte sie zurück und warf seiner aufgesetzten Clownsnase einen skeptischen Blick zu.

Auch die Luftschlangen, die über der Deckenlampe und dem Stuhl hingen, waren gestern noch nicht hier gewesen.

»Ich war dagegen«, verteidigte er sich sofort. »Die Dienstvorschriften …« Maike winkte ab. »Sehe ich so aus, als stehe mir gerade der Sinn nach Dienstvorschriften?«

Er wusste mittlerweile, dass es ein schlechtes Zeichen war, wenn sie rhetorische Fragen stellte. Weshalb er das einzig Richtige tat und schwieg.

Sie betrat ihr Büro, das eher einem Schuhkarton glich und in dem sich nicht einmal das Fenster vernünftig öffnen ließ. Am liebsten hätte sie Lukas auf den Innenarchitekten gehetzt, damit er ihm einen Tag lang die Bauvorschriften rezitierte. Man konnte nicht einfach eine Rigipswand einziehen und aus einem Büro zwei machen. Das wusste sogar sie. Vor allem nicht, wenn diese Wand in der Mitte des Fensters endete.

»Was machen Sie überhaupt hier?«

Er deutete auf ihren Schreibtisch, auf dem ein Teller stand. »Gabi hat heute Berliner mitgebracht, und ich habe Ihnen einen gesichert.«

»Also, das ist ja nett.« Ihre Laune ging von tiefster Nacht in Morgendämmerung über.

Wie immer, wenn ein süßes Teilchen in Sichtweite lag.

Das silberne Hütchen mit den roten Punkten, das neben dem Teller stand, ignorierte sie dagegen entschieden.

Lukas freute sich sichtlich und straffte seine Schultern. »Die Bürgermeisterin ist auch gerade nebenan.« Er deutete mit dem Daumen auf die Rigipswand, hinter der Stimmengemurmel erklang.

Maike schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihr wenigstens noch ein paar Minuten Ruhe vergönnt waren. Sabine Graefe war ein politischer ICE, der ständig auf Höchstgeschwindigkeit lief und nur ein Ziel kannte: Wählerstimmen einfangen. Und ihr neuestes Projekt war jene Person, die erst kürzlich erfolgreich einen alten Mordfall aufgeklärt hatte: Maike.

Sie griff nach dem Berliner und biss herzhaft hinein. Die Erdbeermarmelade schoss wie eine Fontäne heraus und verteilte sich auf ihrem Pulli.

»Der Bäcker benutzt sehr viel … also, Marmelade«, sagte Lukas stockend.

»Ach, wirklich? Das haben Sie jetzt aber gut beobachtet.« Maike überdachte ihr freundschaftliches Verhältnis zu Berlinern, während sie ein Taschentuch aus ihrer Jeans zog und notdürftig die klebrige Masse entfernte.

»Na sowas, Frau Kriminalhauptkommissarin.« Die Bürgermeisterin stockte, ihr Blick fiel auf den mittlerweile verschmierten Marmeladenfleck. »Hat es denn wenigstens geschmeckt?« Sie betrat das Büro wie stets mit der Absicht, zum Fokus aller Anwesenden zu werden.

»Sie hat zu fest hineingebissen«, erklärte Lukas.

»Wer hat zu fest gebissen?« Gabi steckte den Kopf durch die Tür.

»Ach, das tut mir aber leid. Ich hole gleich was zum Wischen.«

Es musste an der Aussicht auf den nahenden Ruhestand liegen, dass Polizistinnen und Polizisten ab fünfzig einen geradezu manischen Elan entwickelten.

»Das ist wirklich nicht nötig«, rief Maike.

Doch von Gabi war bereits nichts mehr zu sehen.

»Wo wir gerade so nett zusammenstehen, wollte ich mich unbedingt mit Ihnen unterhalten.« Die Bürgermeisterin verfiel in diesen vertraulichen Ton, sodass sich jedes einzelne Nackenhaar von Maike einzeln aufstellte und Achtung, Gefahr signalisierte. Die Graefe-Lösung hatte sich mittlerweile in ihre Alpträume geschlichen. »Aha?«

»Es gibt nämlich eine tolle Gelegenheit.«

»Schon wieder?«

»Unser Niederteerbacher Volksblatt möchte einen weiteren Artikel über Sie bringen – das hatte ich ja bereits angekündigt. Dieses Mal aber mit einer sehr persönlichen Note. Und nun raten Sie mal worüber.«

»Also, das ist ganz schlecht, da kann ich nicht«, sagte Maike im Reflex.

»Wie bitte?« Die Bürgermeisterin wirkte für einen Augenblick pikiert, dann lag das Lächeln wieder wie eine astreine Botoxinjektion auf ihrem Gesicht.

»Das kriegen wir zeitlich schon hin. Und aktuell ist doch nicht viel los.« Im Stillen betete Maike für einen Mord.

Gabi steckte erneut den Kopf in den Raum. »Da gab es wohl gerade einen Mord beim Raibach.«

»Nein! Das tut mir jetzt leid, Frau Graefe, aber da muss ich direkt los.«

»Beim Raibach«, wandte die Bürgermeisterin sich sofort Gabi zu.

»Wissen wir da schon Näheres?«

»Wir fahren da jetzt erstmal hin und wir halten uns an das Dienstgeheimnis.«

Sie warf Lukas einen auffordernden Blick zu, doch im Beisein der Bürgermeisterin schwieg er eisern, der kleine Feigling. Da gab es plötzlich keine Dienstvorschriften und Paragraphen mehr, die er doch sonst so gerne zitierte.

Ein weiterer Blick in seine Richtung, und er trabte aus dem Raum, Maike folgte ihm.

»Männliche Leiche, älterer Herr«, rief ihnen Gabi hinterher. »Mehr hat der Anrufer nicht gesagt.«

Was bedeutete, dass es sich auch um einen Unfall handeln konnte. Da reichte schon ein kurzer Schock, der Junior fand den Opa leblos neben einer umgefallenen Vase, und es hieß Mord.

»Wo genau fahren wir hin?«, fragte Maike.

»Der Raibach hat die einzige Dorfpension. Hauptstraße runter und dann links, ein Stück hinterm Friedhof. Da brauchen wir zu Fuß fünfzehn Minuten.«

Maike vergegenwärtigte sich die Umgebung, und ihr kam ein Gebäude mit 70er-Jahre-Fassade in den Sinn. In Niederteerbach gab es überraschend viele hässliche Häuser, und sie verdächtigte ein und denselben Architekten, dafür verantwortlich zu sein.

»Und da wohnen tatsächlich Leute?« Nicht mal ihren schlimmsten Feind würde sie dort in ein Zimmer stecken.

»Gibt halt sonst nichts. Und gerade im Moment ist in und um Köln alles ausgebucht wegen Karneval.«

Sie stiegen die Treppen hinunter und traten auf die Straße hinaus. Niederteerbach war ein verschlafenes Dorf, was Maike vom Augenblick ihrer Ankunft an sofort realisiert hatte. Wer konnte, ging in den Fluchtmodus. Davon war sie überzeugt. Doch um die Karnevalszeit schien diese Regel außer Kraft gesetzt zu sein.

Überall waren Menschen zu sehen, die meisten in irgendeinem Kostüm und schon oder mittlerweile wieder betrunken.

Sie gingen über den Parkplatz zum Dorfplatz. Hier war es noch schlimmer. Alle Altersgruppen und Geschlechter hatten über Nacht den Verstand verloren.

»Haben wir überhaupt genug Ausnüchterungszellen?«, fragte Maike.

»Aber wir stecken da doch niemanden über Karneval rein«, sagte Lukas.

»Das sind ja ganz neue Töne.«

Er seufzte. »Die Gabi war da eindeutig. Sie hat da im Subtext …«

»Gedroht?« Maike grinste.

»… ihre Position verdeutlicht. Und ich habe ihr zugestimmt. Unter Protest.« Lukas räusperte sich und zupfte bei diesen Worten an seinem Kragen.

Von weitem sah Maike Horst, der auch nicht wirklich ausgenüchtert wirkte. Hatte er die Nacht etwa nicht an seinem Lieblingsort verbracht – in seiner Arrestzelle? Karneval brachte die schlimmsten Dinge in den Menschen hervor.

»Einfach schrecklich«, sagte Lukas.

In diesem Augenblick begriff Maike, dass sie Leidensgenossen waren. Als Kölner war er vermutlich durchaus ein Freund von Karneval, aber das Missachten der Vorschriften war niemals akzeptabel.

»Wir schaffen das.« Sie tätschelte ihm den Rücken. »Jetzt haben wir ja erst mal was zu tun.«

Die Hauptstraße entlang ging es in Richtung Friedhof. Immerhin lag die Pension Raibach so nah, dass sie die Strecke tatsächlich zu Fuß zurücklegen konnten. Der Friedhof wirkte verschlafen wie immer und schien der einzige Rückzugsort vor den Jecken zu sein. Vielleicht ein kleiner Spaziergang in der Mittagspause zwischen dichten Buchen an Gräbern entlang?

Maike schüttelte sich.

Was machte der Karneval nur mit ihr?

»Da vorne.« Lukas deutete in die vermutete Richtung.

Neben der Eingangstür hing ein Glaskasten, in dem die Pensionspreise auf vergilbtem Papier geschrieben standen.

»War mal ein Restaurant«, erklärte er.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Maike.

»Haben Sie den Stadtführer nicht gelesen, den Gabi Ihnen als Willkommensgeschenk hingelegt hat«, erkundigte sich Lukas. »Da steht alles drin.«

»Also dieser Raibach hat ja heftige Preise«, überging sie die Frage geflissentlich und betrachtete stattdessen die Karte in dem Glaskasten intensiver. So weit käme es noch, dass sie an ihrer neuen Dienststelle einen Reiseführer las. »Das sind dann wohl Karnevalspreise.«

Sie stiegen drei unebene Stufen hinauf, Lukas öffnete die Tür und sie traten ein. Hinter einem schweren Vorhang, der ein Halbrund bildete, erwartete sie schummriges Dämmerlicht und der Geruch nach muffigem Teppich in Morgenkälte.

»Heimelig.« Maike sah sich um.

Hinter der Rezeption saß ein junger Kerl, keinesfalls älter als zweiundzwanzig. Sein dunkles Haar stand wuschelig in alle Richtungen ab, das Shirt hing an seiner schlaksigen Gestalt.

»Sie sind …«, begann Maike.

Der Angriff erfolgte aus dem toten Winkel eines angrenzenden Raumes. »Raibach. Tobias Raibach. Endlich sind Sie hier!«

Kleine Schweinsäuglein blitzten hinter einer Drahtgestellbrille hervor. Ein Wunder, dass der Bierbauch Maike nicht kurzerhand in die Ecke katapultierte, so nah kam er ihr. Zigarettenatem umwölkte sie.

»Kriminalhauptkommissarin Pech, das ist mein Kollege, Polizeikommissar Yilmaz.«

»Ich weiß natürlich, wer Sie sind. Stand doch alles in der Zeitung über diese Sache mit der Leiche in der Wand.« Sein Blick richtete sich auf den Marmeladenfleck.

»Und Sie haben jetzt auch eine?«, fragte Maike.

»Was?«

»Eine Leiche?« Sie betonte die Worte, um seine Aufmerksamkeit wieder auf die wichtigen Dinge zu lenken.

»Oh, richtig, richtig.« Raibach deutete zur Treppe. »Mein Neffe, Janis, war das. Also das Finden, nicht das … Sie wissen schon.« Raibach deutete einen Schlag an. »Er verdient sich hier etwas dazu, studiert Philosophie. Kann er schon mal sehen, was die Zukunft bereithält. Schlecht bezahlte Jobs oder Arbeitslosigkeit. Er hat die Leiche, also den Toten gefunden.« Maike warf dem Studenten einen kurzen, mitleidigen Blick zu, bevor sie alle gemeinsam die Treppe erklommen. Der junge Mann wirkte bleich und zittrig, das Erlebnis hatte ihn eindeutig mitgenommen. Es war etwas anderes, im wahren Leben mit einem Toten konfrontiert zu werden, als im Film. Gerüche, der Anblick, die ganze Situation konnten selbst eine abgehärtete Person aus der Bahn werfen.

Der eingezogene Teppichboden erinnerte Maike an den verfilzten Teppich ihrer alten Schule. Die Wandvertäfelungen waren eindeutig Zierholz, und es gab zu wenig Lampen hier oben. Über allem lag ein muffiger Geruch.

»Wie viele Zimmer vermieten Sie hier?«, fragte sie.

»Zwei im Erdgeschoss und dann noch mal jeweils vier auf den beiden darüberliegenden Stockwerken.«

Lukas zückte sein Notizheft und schrieb mit, Maike konzentrierte sich auf die Beobachtung.

»Dort, ganz am Ende hat er gewohnt.« Raibach deutete in den Gang und stapfte darauf los. »Wir kriegen das doch schnell geklärt, ja?«

»Na jetzt schauen wir erst mal, was Sache ist, bevor ihr Neffe erneut den Wischmopp schwingen darf.« Auf das hoffnungsvolle Leuchten in den Augen des Pensionswirtes ergänzte sie: »Das war ein Scherz.«

»Natürlich.« Er lachte künstlich.

Sie erreichten die Tür, die noch immer offenstand.

Der Raum entpuppte sich als genauso hässlich, wie der Rest des Gebäudes. Risse in der Wand und ein verschlissener Teppich, dahinter eine graue Gardine. Der Tote lag der Tür abgewandt und dem gegenüberliegenden Fenster zugewandt. Maike zog ein Paar Gummihandschuhe und Füßlinge aus der Tasche, streifte beides über und trat ein.

»Hat einer von Ihnen etwas hier drin bewegt oder berührt?«, fragte sie.

»Käm’ mir nicht in den Sinn. Ich habe nichts angefasst«, antwortete Raibach nachdrücklich.

Janis schüttelte schweigend den Kopf, deutete aber auf einen größeren Fleck in der Ecke. »Tut mir leid.«

Maike warf nur einen kurzen Blick auf das Erbrochene. Die Fleischbrocken waren eindeutig. »Fressoase? Currywurst?«

Janis nickte und wirkte dabei, als wolle er sich direkt noch einmal übergeben.

Maike ging neben der Leiche in die Hocke und betrachtete sie eingehend. Der Mann lag auf dem Bauch, die Kopfwunde befand sich auf der Rückseite des Schädels. »Tod durch externe Gewalteinwirkung.«

Sie nickte Yilmaz auffordernd zu, der sofort sein Diensthandy zog, auf den Gang trat und telefonierte. Hier musste die Spurensicherung ran, bevor sie den Toten bewegte.

Die Kleidung bestand aus einem karierten Hemd und Stoffhosen, dazu einfache Halbschuhe. Das dunkle Haar war kurzgeschnitten. Der Unbekannte trug einen Ehering an der linken Hand, darüber hinaus keinen Schmuck.

»Wann haben Sie ihn denn gefunden?«, fragte sie.

»Vor einer Stunde etwa«, sagte Janis mit kratziger Stimme.

»Sie will die Uhrzeit wissen!«, patzte Raibach.

»So kurz nach Elf.« Der Student kratzte mit der Spitze seiner Turnschuhe auf dem Boden wie ein ertapptes Kind.

»Lassen Sie mich raten, 11.11. um 11:11 Uhr.« Vermutlich war der arme Kerl an einer Karnevalsüberdosis gestorben.

»Was?! Du solltest um sieben anfangen! Bevor die ersten Alkoholleichen zurück sind, die fangen doch schon Tage vor dem offiziellen Start mit dem Feiern an.« Er wandte sich Maike zu. »Die meisten Gäste hier sind Kerle. Die kommen zur Karnevalszeit hierher, reißen sich irgendwo was auf und übernachten auswärts. Keine Ahnung, warum die das nicht einfach hier erledigen.«

»Ja, warum nur.« Maike hatte da eine genaue Vorstellung, wenn sie die klamme Bettwäsche und die Kulisse als Ganzes betrachtete.

Der Tote hatte die Nacht dagegen eindeutig hier verbracht, Decke und Kissen waren zerwühlt. Auf einem kleinen Beistelltisch standen eine benutzte Tee- und Kaffeetasse. Daneben eine Aktentasche. Maike machte ein paar Aufnahmen mit ihrem Diensthandy und öffnete dann die Tasche. Doch das Innere war leer. Auch sonst gab es keinerlei Unterlagen.

Maike legte sich auf den Boden – was ein gehöriges Maß an Überwindung erforderte – und begutachtete die Unterseite des Bettes. Dort lag etwas. Kantig, aus Holz.

Neben ihr tauchte der Kopf von Raibach auf, auch er hatte sich auf den Bauch gelegt. »Ah, da ist sie.«

»Sie?«

»Die ist aus einem vielköpfigen Set«, erklärte er. »Alle Ministerpräsidenten von NRW als handgefertigte Holzbüsten und Frau Kraft. 1960 bis heute. War total billig, hat aber Wirkung.«

»Und ist vermutlich unsere Tatwaffe.« Maike verzichtete darauf, unter das Bett zu kriechen, da musste auch die Spusi ran. »Welcher Ministerpräsident hat den armen Kerl denn das Leben gekostet?« Raibach blickte mit gerunzelter Stirn in die Dunkelheit. »Bin mir nicht mehr sicher. Kraft oder Laschet. Weißt du das noch?«

Janis schüttelte den Kopf.

Maike erhob sich und trat an die kleine Küchenzeile. Es gab einen Wasserkocher, der zur Hälfte gefüllt war. Kalk hatte sich zu einer weißen Krustenschicht abgelagert. Daneben stand eine alte Senseo, wie sie selbst eine besaß – allerdings hatte der Raibach noch eine schwarze erwischt. Ihre war pink aus dem Schlussverkauf. Vielleicht konnte sie beizeiten beide unauffällig austauschen? Sie verwarf den Gedanken. Die Pads waren in einem runden Metallgefäß gestapelt.

»Gut, dass die alle an Karneval im Voraus zahlen müssen«, sagte Raibach zufrieden. »Das hätte böse ausgehen können.« Maike wandte sich ihm zu und ließ eine Braue in die Höhe wandern.

»Ich mein ja nur«, sagte er kleinlaut.

»Jetzt gehen Sie doch mal nach unten und holen uns die Kontaktdaten, die der Tote hinterlassen hat«, forderte sie ihn auf. »Dann sind wir schneller, und Sie haben ihr Zimmer bald wieder.«

Die Aussicht ließ Raibach sogar vergessen, dass er seinen Neffen hätte schicken können. Er eilte davon.

Lukas schob gerade sein Handy in die Tasche. »Pöller lässt grüßen, er ist unterwegs. Staatsanwalt Grasso ebenfalls.«

In Kürze würde es hier also von Männern und Frauen in Weiß wimmeln, die nach DNA-Spuren suchten, Fingerabdrücke nahmen und Raibach auf kleiner Flamme köcheln ließen. Der Gedanke hatte was.

Maike überprüfte noch das Fenster. Es war verschlossen und wies keine Einbruchspuren auf. Da es sich mit der Tür genauso verhielt, ging sie davon aus, dass Täter und Opfer sich kannten.

»Hoffentlich nicht schon wieder die Ehefrau. Es ist ständig die Ehefrau«, murmelte sie.

Immerhin die Schwiegermutter ließ sich ausschließen. Legte sie das Alter des Toten zugrunde, dürfte die längst nicht mehr am Leben sein.

Gemeinsam mit Lukas trat sie auf den Gang.

»Haben Sie hier ein Plätzchen, an dem wir uns unterhalten können?« Maike verzichtete absichtlich auf den Zusatz ›gemütlich‹.

Janis schluckte und nickte. Vermutlich sehnte er sich gerade nach Ruhe und einem Kölsch. Ihr ging es genauso.

Vom anderen Ende des Ganges kam Raibach herbeigeeilt, einen Zettel in der Hand. »Ich habe die Unterlagen.«

»Ganz ausgezeichnet«, lobte Maike. »Lukas, geben Sie das Gabi durch, die soll schon mal die Personalien prüfen. Gehen wir nach unten und unterhalten uns.«

Raibach keuchte noch immer, als habe er gerade einen Marathon absolviert. »Wieder nach unten?«

Mit einem Lächeln zog Maike sich die Gummihandschuhe aus und setzte sich in Bewegung.