Leseprobe One Night Boss

Kapitel 1: Das Kennenlernen

Sonja

Sonja warf einen Blick auf die Uhr und zündete die Kerzen an. Prüfend blickte sie um sich. Sie durfte stolz auf sich sein, denn ihr Vorhaben war ihr gelungen. Leckeres Essen wartete im Backofen, der Tisch war perfekt eingedeckt und die Duftkerzen sorgten für eine romantische, entspannte Atmosphäre. Eine wunderbare Überraschung zum Ende des Tages. Daniel arbeitete viel und hatte es verdient, zudem liebte Sonja es, ihn zu verwöhnen und für Gemütlichkeit zu Hause zu sorgen.

Sie hatte ihm gesagt, sie würde sich heute Abend mit Jenny treffen und bei ihr übernachten. Umso größer wäre die Überraschung, wenn er nach Hause käme und den gedeckten Tisch sehen würde. Ohne ihm davon zu erzählen, hatte sie sich Urlaub genommen und alles ungestört vorbereitet.

Nachdem sie in der Küche fertig geworden war, zog sie sich um. Sie schlüpfte in ein langes lachsfarbenes Sommerkleid, verlieh mit einem Glätteisen ihren Locken eine hübsche Form und schminkte sich ausgiebig.

Ihre Freundin Jenny würde ihr sagen, sie sollte sich keine Mühe für diesen Typen machen. Aus irgendeinem Grund konnte sie Daniel nicht leiden. Sonja zog die Augenbrauen zusammen. Mit Daniel war es zwar nicht immer einfach, doch er war ihre große Liebe, ihr ein und alles und er sah seine Fehler ein. Er wollte sich bessern, an sich arbeiten und sie unterstützte ihn dabei. Sie blieb geduldig mit ihm und wusste, dass er es schaffen und eines Tages alle seine Lasten loswerden würde. Zusammen hatten sie bereits einiges erreicht und würden noch mehr erreichen. Dank ihrer Liebe, die ihnen Kraft und Ausdauer verlieh.

Sonja hörte ein metallisches Klacken, dann öffnete sich die Eingangstür. Ihr Herz sprang hoch und das Blut schoss ihr ins Gesicht. Mit schnellen Schritten huschte sie in den Flur und breitete die Arme aus, bereit, Daniel mit einer herzhaften Umarmung zu begrüßen.

Wie ein Reh, das auf einer Autobahn von Scheinwerfern beleuchtet wurde, blieb sie stehen. Das, was sie sah, ließ ihren Atem stocken.

Daniel war betrunken und nicht allein.

Mit einem verblüfften Blick sah Sonja abwechselnd auf sein Gesicht und das seiner Begleiterin. Dieser Anblick hatte ihr die Sprache verschlagen und sie war sich sicher, dass ihr das ganze Blut aus dem Körper wich.

Ein Jahr war vorüber gegangen. Ein Jahr, wo sie mit sich und ihren Gefühlen gekämpft hatte.

Sonja seufzte und nippte an ihrem Wein. Heute heiratete ihre beste Freundin den Mann ihrer Träume. Jenny hatte sie gebeten, ihre Trauzeugin zu sein. Eine Ehrenaufgabe, die zeigte, wie tief ihre Freundschaft war und wie sehr Jenny ihr vertraute. Dennoch hatte Sonja nachts kaum schlafen können. Ihre fünf Wecker hatte sie nicht nötig gehabt, sie war von selbst um sechs Uhr aufgewacht. Sorgfältig hatte sie ihre Haare gestylt und sich geschminkt. Danach hatte sie ihr rotes Kleid angezogen, das sie erst zwei Tage vor der Hochzeit gekauft hatte. Ihr Traumkleid aus Seide, das nicht nur gut auf ihr aussah, sondern auch bequem war und alle Blicke auf sich zog. Es umspielte ihre Knie und hatte die perfekte Länge. Dabei bestand der kunstvoll drapierte Rock aus mehreren Stofflagen. Das Oberteil hatte einen u-förmigen Ausschnitt, welcher mit Glitzersteinchen verziert war. Ein breiter Bindegürtel trennte das Oberteil vom weich fallenden Rock. Außerdem befand sich eine große üppige Stoffrose auf dem Gürtel, die dem Ensemble eine romantische Note verlieh.

Sonja lächelte bitter, während angenehme Wärme ihren Körper füllte. Sie hätte hier zusammen mit Daniel sein sollen. Dem Mann, mit dem sie viele Träume verbunden hatte und der sie mit ihrem in Tausende Splitter zerbrochenem Herzen zurückgelassen hatte. Fast ein Jahr war es her, nachdem sie ihn aus ihrer Wohnung rausgeschmissen hatte.

Er war ihr egal geworden. Inzwischen hatte sie längst beschlossen, sich auf ihre Karriere zu konzentrieren. Sie hatte keine Lust mehr auf Beziehungen, die viel Arbeit erforderten und sich im Endeffekt als Zeitverlust entpuppten. Vielmehr hätte sie Lust auf unverbindlichen Spontansex. Verdammt, sie hatte ihre Nächte viel zu lange allein mit ihrem Vibrator und bestimmten Videos auf ihrem Handy verbracht.

Mal sehen, was der Abend bringt. Sonja leerte hastig ihr Glas, stellte es auf dem Tisch ab und streifte mit ihrem Blick über die Location. Jan und Jenny wollten ihren großen Tag in der alten Scheune feiern, die Jennys Familie gehörte. Tatkräftig hatten alle das rustikale Gebäude ausgiebig mit Lichterketten und goldenen Papierdiamanten dekoriert. Die Wände und einige Lichterketten waren mit Efeu begrünt, was dem Ganzen noch mehr Leben verlieh. Weiße Tafeldecken samt kunstvoll gefalteten Servietten schmückten die hölzernen runden Tische, auf denen Gestecke aus Eukalyptusblättern und roten Rosen platziert waren. Weiße Kerzen auf goldfarbenen Kerzenleuchtern rundeten das Gesamtbild perfekt ab. Das müde Paar hatte gerade ihren Hochzeitstanz hinter sich gebracht und viele andere Gäste tummelten sich fröhlich auf der Tanzfläche. Sonjas Blick blieb auf einem jungen Mann kleben, der bereits während der Trauung ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Jans Trauzeuge, sein bester Freund, dem Sonja noch nie zuvor begegnet war, sah rattenscharf aus. Schade, dass sie noch keine Gelegenheit gefunden hatte, mit ihm zu flirten.

Wie soll ich das überhaupt anstellen? Ununterbrochen kreiste dieser Gedanke in ihrem Kopf. Sollte sie den Kerl einfach ansprechen? Ihn zum Tanzen einladen? Hierbleiben und hoffen, dass er selbst auf sie zukommen wird? Er sah ständig zu ihr und ein spitzbübisches Lächeln umspielte dabei seine vollen Lippen.

Was sollte sie denn tun? So ein Mist. Sie war völlig aus der Übung!

„Sonja, Liebes! Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, dich zu begrüßen! Bitte entschuldige!“ Heike, Jennys Mama, kam zu ihrem Tisch, umarmte sie herzlich und gab ihr ein Küsschen auf die Wange. „Bist du allein da?“ Aufmerksam sah Heike zu ihr und Sonja nickte.

„Du Arme.“ In Heikes Augen spiegelte sich Mitleid.

Entschieden schüttelte Sonja den Kopf. „Nein, nein, alles gut! Mir geht es gut.“

„Aber … Ist wirklich alles okay?“, hakte Heike vorsichtig nach und setzte ihre Brille auf die Nasenspitze.

„Na klar doch!“ Sonja versuchte, ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen. „Ich habe meine Freiheit wieder und muss mich um keinen Kerl kümmern, der vielleicht nicht bei guter Laune ist.“

Ob sie wirklich so witzig klang, wie sie es sich erhoffte?

„Richtig so, Liebe!“ Heike lächelte und beugte sich näher. „Übrigens ist Jans Trauzeuge auch ohne Begleitung hier. Schau mal, da drüben! Er und seine Freunde! Halt also die Ohren steif“, flüsterte sie geheimnisvoll und sah sich um.

Sonja schwieg und lächelte freundlich. Heike meinte es nur gut. Es wäre schön, wenn sie Jans Trauzeugen ihn näher kennenlernen würde. Aber wenn nicht – was soll’s, sie würde es überleben. Doch nach wenigen Sekunden zögerte sie erneut. Vielleicht sollte sie es doch sein lassen, Jans Freund anzuflirten. Womöglich würde sie sich nur blamieren.

„Mache ich“, flüsterte sie stattdessen und zwinkerte Heike zu. „Danke dir und nochmals herzlichen Glückwunsch!“

Mit langsamen Schritten und Traurigkeit im Herzen ging Sonja zum Getränkestand. Sie wollte sich noch Wein nehmen. Oder vielleicht doch lieber ein Glas Wasser. Schließlich hatte sie keine Lust auf üble Kopfschmerzen am nächsten Tag.

Den hübschen Trauzeugen könnte sie sich abschminken. Der Typ war mit seinen Begleitern in den Hof gegangen. Hätte er an ihr Interesse gehabt, würde er einen Small Talk mit ihr seiner Zigarette bevorzugen.

Egal, wieso regte sie sich darüber auf? Sonja blieb unschlüssig vor dem Stand stehen und entschied sich dann für eine Apfelschorle. Scheiß drauf. Sie würde sich entspannen, den Abend genießen und Yannik ein paar witzige Instagram-Videos schicken. Ihr bester Freund hatte heute Nachtschicht, ansonsten hätte Sonja ihn mit zur Hochzeit genommen. Jenny und Jan hatten sie davor gefragt, ob sie Yannik mitbringen wollte, und er hätte mit Sicherheit nicht abgelehnt.

Sonja seufzte tief. Mit einem traurigen Lächeln schenkte sie sich Apfelschorle ein, kehrte daraufhin auf ihren Absätzen um und schrie erschrocken auf, als sie mit einem Mann zusammenstieß. „O Gott … Entschuldigung …“ Erschrocken presste sie ihre Hand auf die Brust, während der heiße Trauzeuge sie an den Schultern festhielt und sie so vor dem Fallen bewahrte. „Ich habe Sie nicht gesehen …“ Hektisch blickte sie auf sein schneeweißes und wohl ziemlich teures Hemd mit karierten Stoffkanten um den Kragen und Manschetten. „Ich … Ich hoffe, ich habe nichts auf Sie verschüttet.“ Rasch stellte sie das Glas mit der Apfelschorle auf dem Getränketisch ab und griff nach einer Serviette. „Falls ja …“

„Alles gut!“ Der junge Mann grinste freundlich. „Kein Problem, mir ist nichts passiert. Sind Sie umgeknickt?“

Sonja senkte den Kopf und blickte auf ihren Absatz, bewegte vorsichtig ihren Fuß. Nichts. Sie hatte Glück gehabt. Erneut schaute sie auf den Trauzeugen und ein angenehmer Schauer rieselte ihr über den Rücken. Ja. Tatsächlich. Der Kerl sah verdammt heiß aus.

„Nein, alles in Ordnung“, stammelte sie nervös und erwiderte sein Lächeln, fragte sich dabei, ob sie gerade zerzaust war. „Tut mir leid, wirklich. Ich bin buchstäblich in Ihren Bauch reingelaufen.“

Sie fragte sich gerade, was für einen Blödsinn sie da redete. Der heiße Unbekannte würde sich über sie kaputtlachen, sobald er aus ihrem Sichtfeld verschwunden wäre.

„Von diesem hübschen Anblick war auch ich abgelenkt“, entgegnete der Mann unerwartet und sah ihr tiefer in die Augen. „Und noch einmal. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Übrigens. Habe ich etwa einen Bauch?“ Theatralisch spannte er seine Muskeln unter dem Hemd an.

Die Art, wie er Sonja mit seinem Blick gefangen hielt, ließ eine Unruhe in ihrem Magen toben. Sie hob ihre Mundwinkel und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann schlang sie ihre Arme um sich und verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Wohl sollte sie ihm zunicken und sich verabschieden, anstatt ihn so anzustarren. Und doch konnte sie ihren Blick von ihm nicht abwenden. Jetzt, wo er vor ihr stand, konnte sie nicht anders, als ihn genauer zu betrachten. Er war groß und hatte einen sportlichen Körperbau, unter seinem Hemd machten sich Andeutungen seiner durchtrainierten Brust bemerkbar. Er hatte eine längliche Gesichtsform, die von einer hohen Stirn dominiert wurde. Die Haut des Unbekannten war leicht gebräunt und bildete einen Kontrast zu seinen hellblauen Augen. Er trug einen gepflegten kurzen Bart, der seine Lippen umrandete. Sein volles langes Deckhaar war akkurat nach hinten gekämmt und bildete weiche Übergänge zu den ein bisschen kürzer geschnittenen Seiten. Klar definierte Wangenknochen, eine spitze Nase und ein schmales Kinn rundeten das Bild ab. Seine Stimme war weich und verwöhnte ihr Ohr. Er sprach ein sauberes, akzentfreies Deutsch. Nur einige Töne in seiner Aussprache ließen auf seine wohl südländische Abstammung schließen.

„Ah … Sag ruhig Du zu mir“, sagte Sonja leise und senkte ihren Blick. „Ich hasse es, wenn man mich siezt. Übrigens. Ich bin Sonja.“ Sie hob ihre Augen, um dem Unbekannten wieder ins Gesicht zu sehen, der noch einen Schritt näher zu ihr herangetreten war.

Der Mann lächelte sein unverschämt süßes Lächeln und streckte ihr die Hand entgegen. „Firas.“

Firas. Ja, sie hatte sich nicht geirrt. Der Name ließ auf eine südländische Abstammung schließen.

„Ein schöner Name“, sagte Sonja, lächelte und griff nach seiner Hand, ließ ihre kalten Finger von seiner Wärme umhüllen. „Woher kommst du, Firas?“

„Danke. Meine Familie kommt aus Syrien.“ Er musterte sie für ein paar Sekunden, als ob er es versuchte, etwas aus Sonjas Gesichtszügen abzulesen. „Aus Aleppo. Aber ich bin hier geboren und aufgewachsen“, ergänzte er hastig, als wären ihm diese Worte unangenehm, während er ihre Hand leicht schüttelte.

Warum musste dieser Firas so verteufelt gut aussehen? Ihre Knie wurden weich und ihre Fähigkeit zu sprechen verschwand. Ihre Wangen brannten heiß. Sie straffte ihren Rücken und bemühte sich um mehr Selbstbeherrschung. Schließlich war sie achtundzwanzig und nicht sechzehn, um neben einem hübschen Kerl rot wie ein Backfisch zu werden.

„Woher kennst du Jan?“, ließ sie endlich ihre Frage raus, die sie seit heute Morgen beschäftigte. „Ich meine … Ich bin mit ihm und seiner Frau gut befreundet, aber ich habe dich noch nie in unserem Freundeskreis gesehen …“

O Himmel. Was redete sie da? Was für ein Wasserfall an unnötigen Worten!

„Das wäre auch schwer möglich gewesen. Ich war drei Jahre im Ausland und kam erst vor ein paar Tagen zurück.“ Ein sanftes Lächeln lag auf Firas‘ Lippen. „Da hatte Jan mich gebeten, sein Trauzeuge zu sein. Verrückt. Ich habe nämlich noch nie bei so etwas mitgemacht. Aber das mit dem Reichen von Ringen habe ich gut hinbekommen, oder?“ Jetzt grinste er breit.

Erneut verzogen sich Sonjas Lippen zu einem breiten Lächeln. „Und wo genau warst du, wenn ich fragen darf? Warst du beruflich unterwegs?“

Firas beugte sich leicht zu ihr. „In den USA“, sagte er leise. „Ich habe dort promoviert.“

Sonja biss sich auf der Unterlippe. „Oh, okay. Und welches Fach?“

„Pharmazie. Ich habe zusammen mit Jan studiert und bin mit ihm seit dieser Zeit befreundet. Wir sind schon immer beste Freunde gewesen. Aber wie witzig, dass auch ich dich nie getroffen habe. Anscheinend gehören wir zum selben Freundeskreis“, sagte er etwas verlegen und senkte kurzzeitig den Blick. War Firas etwa schüchtern? Sie schmunzelte. Erneut kribbelte Sonjas Bauch. Nie im Leben hatte sie sich denken können, dass ein Nerd wie Jan solch‘ einen Typen zu seinem Freundeskreis zählte. Dieser Mann mit dem Körper eines Athleten und stylishen Klamotten eines Hollywoodstars hatte sich nicht nur durch das harte Pharmaziestudium gekämpft, sondern sogar promoviert.

„Ich kenne Jenny seit drei Jahren. Anscheinend haben wir uns knapp verpasst.“ Sonja nahm einen Schluck von der Apfelschorle. Ihr Blick fiel auf Jan und Jenny, die ihnen abseits des Getränkestandes wild zuwinkten. Auch Firas entging es nicht. Anscheinend sollten sie zum Brautpaar kommen.

„Ich hoffe, dass wir unser Gespräch bald fortsetzen, Sonja“, sagte Firas leise, während sie gemeinsam den Saal überquerten. „Nachdem wir erfahren, was diese zwei Turteltäubchen von uns wollen, könnten wir etwas Luft schnappen. Am besten in den Garten. Dann können wir uns an noch mehrere Geschichten aus unserem Freundeskreis erinnern. Was hältst du davon?“

Sonja sah zu ihm und lächelte erneut. „Sehr gerne.“

Jennys Augen funkelten, während sie mit einem schelmischen Blick über die Gesichter ihrer Freunde und Jan streifte.

„Wisst ihr, auf was ich so richtig Bock hätte?“

„Auf was denn?“ Fragend sahen Jan und Firas die Braut an.

„Firas, wie hieß der Tanz, den ihr letztes Jahr auf der Hochzeit deiner Schwester vorgeführt hattet? Er war so genial! Eigentlich waren alle Tänze unglaublich toll, aber dieser … Da musstet ihr eine harte Knochenarbeit leisten!“ Jenny lehnte sich zurück und tappte Sonja auf die Schulter. „Süße, das hättest du sehen müssen! Firas‘ Schwester hat letztes Jahr geheiratet und er ist deswegen für eine Woche aus den USA angeflogen. Die Party war so unbeschreiblich! Wie die Kerle dort getanzt haben! Das war der Hammer!“, schwärmte sie.

„Ja, ich erinnere mich, du hast mir einmal davon berichtet. Jan und du, ihr seid dafür extra nach Mannheim gefahren, stimmt‘s? Witzig.“ Sonja lehnte sich auf dem Stuhl zurück und wippte mit dem Fuß.

„Ich glaube, du meinst Dabke. Den Tanz habe ich deinem Mann beibringen wollen. Er ist beinahe in Ohnmacht gefallen“, sagte Firas und schaute grinsend auf Jan. „Was sagst du zum Wunsch deiner Ehefrau, Opa? Schaffst du Dabke, ohne einen Herzinfarkt zu bekommen oder soll ich vorsichtshalber jetzt schon den Krankenwagen rufen?“

„Wieso sollte ich es nicht schaffen?“, brüstete sich Jan und hob eine Augenbraue. „Ich bin in einer besseren Form als du, Freundchen!“

„Haha. Mal sehen.“ Firas schaute zu Sonja. „Machst du auch mit?“

„Ääähh …“

„Auf alle Fälle!“ Jenny freute sich und klatschte. „Sonja, mach bitte mit! Ich auch! Eigentlich sollen da mehrere Leute tanzen. Das wird ein Spaß!“

„Ob die Ältesten da mitmachen?“ Skeptisch blickte Jan umher und Jenny schubste ihn leicht. „Es ist unsere Hochzeit. Hauptsache, wir machen mit. Die anderen können weiterhin ihren Wein trinken und uns dabei zusehen.“

„Aber ich kenne nicht mal die Schritte“, wandte Sonja besorgt ein. „Was soll ich da tun?“

„Keine Sorge“, antwortete Jan und schenkte sich etwas Wein ein. „Firas wird führen. Seine Freunde folgen. Dann komme ich, danach Jenny, du und wer sonst auch immer will. Ihr müsst nur in dieselbe Richtung laufen wie wir. Mehr nicht.“

„Toll. Du hast alles nach deiner typisch deutschen Art durchgeplant“, scherzte Firas. „Ich darf die ganze Arbeit machen und du versteckst dich im Hintergrund.“ Daraufhin wandte er sich Sonja zu und streifte mit dem Blick über ihre Füße: „Zieh am besten deine hübschen Schuhe aus. Falls du Ballerinas hast, zieh sie an. Ansonsten geh barfuß. Meine Empfehlung.“

„Zu Befehl!“ Sonja sah Firas in die Augen und ihr Bauch kribbelte erneut. Ehrlich gesagt, würde sie jetzt am liebsten mit ihm alleine sein. Sich mit ihm unterhalten. Mit ihm zusammen lachen. Vielleicht würden sie sich küssen. Unauffällig betrachtete Sonja seine vollen Lippen und stellte sich für einen Moment seinen Kuss vor, der mit Sicherheit himmlisch sein musste. Womöglich würde es zu einer Fortsetzung kommen. Zu einer heißen Nacht, die sie sich gerade so ersehnte.

„Okay. Dann schließe ich mal mein Handy am Laptop an und Tobi kann die Musik abspielen. Bereitet euch schon mal vor.“ Firas klopfte Jan aufmunternd auf die Schulter und riss damit Sonja aus ihren Gedanken. „Und du wirst alles geben müssen, Grandpa. Ich habe dich im Blick.“

Der Blick, mit dem er Sonja ansah, machte ihr deutlich, dass er auch sie liebend gern im Blick behalten wollte.

DJ Tobi kündigte den Tanz an. Orientalische Musik, zusammengesetzt aus rhythmischen Paukenschlägen und begleitet von Blockflötenklängen, ertönte aus den Lautsprechern und erfüllte den Raum. Alle Gäste sahen neugierig zu, während Firas mit leichten, graziösen Schritten über die Tanzfläche ging und seine Gruppe hinter sich führte.

„Jeder darf mitmachen!“, rief der DJ und schon legte Firas los. Er schwang den freien Arm, schnippte mit den Fingern und überkreuzte blitzschnell in einem hohen Sprung die Beine. Daraufhin landete er auf den Boden und ging tief in die Hocke, verließ sie mit einem kräftigen Stoß, sich um die eigene Achse drehend und auf den Boden stampfend.

Sonja lachte vor Freude, während sie Jenny an der Hand hielt und Firas‘ Kumpels folgte. Karim, Jan und Mahmoud gingen hinter Firas, sich an den Händen festhaltend und diese im Takt der Musik hoch und runter schwingend. Indessen Firas sich fortbewegte, streifte er mit dem Blick über die Anwesenden, die begeistert applaudierten. So bewegten sie sich alle durch die Tanzfläche. Gäste und Gastgeber schlossen sich ihnen an und innerhalb von wenigen Minuten bildete sich ein großer Reigen.

Menschen, Farben, Kleider, Parfüms, sie alle vermischten sich, bildeten ein buntes Ganzes, das sich diesem turbulenten Tanz hingab. Firas führte lachend weiter. Mit den Schuhen stampfte er im Takt der Pauke, sein Körper drehte sich blitzartig, während er immer wieder hochsprang, auf dem Boden landete und in die Hocke ging. Sonja folgte Jenny und fühlte sich glücklich wie schon lange nicht mehr, während der Tanz jede Faser ihres Körpers ergriff. Noch eine Runde. Und noch eine. Ein leichter Sprung, ein Schritt nach rechts und drei nach links. Zum letzten Mal drehte sich Firas im Kreis, stampfte auf dem Boden und hob die Arme. Die Musik endete und ein donnernder Applaus bekundete den Begeisterungssturm aller Anwesenden.

Firas und Sonja hatten den Festsaal verlassen. Schweigend gingen sie durch den Gartenweg. Es war inzwischen dunkel geworden und der große Garten war von zahlreichen Lichterketten beleuchtet. Zusammen mit Papierdiamanten waren diese an den Bäumen angebracht worden und sorgten für eine romantische, kuschelige Atmosphäre.

Als sie sich weit genug von der Scheune entfernt hatten, lehnte Sonja sich wie selbstverständlich an Firas an. Dieser ließ ihre Hand los und umarmte sie zärtlich. Wie herrlich! Sie legte ihren Arm um seine Taille und stieß ein leichtes Seufzen aus.

Das war der Moment, auf den sie so lange gewartet hatte. Ein Wärmegefühl legte sich auf ihr Herz. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte sie sich entspannt und glücklich. Firas strahlte eine gewisse Selbstsicherheit aus und wirkte dennoch nicht überheblich. Obwohl sie ihn kaum kannte, fühlte sie sich an seiner Seite sicher und geborgen.

„Endlich“, sagte Firas und streichelte zart ihre Schulter. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich finde es so schön, mit dir allein zu sein und ungestört zu plaudern. Ohne diesen ganzen Rummel.“

„Geht mir genauso. Macht dir Spaß mit mir zu plaudern? Wirklich? Einige meine Kollegen behaupten, ich rede wie ein Wasserfall“, versuchte Sonja zu witzeln und legte den Kopf schief. Sie erwartete, dass Firas anfing zu lachen. Schließlich waren solche Reaktionen immer eine Antwort auf diesen Vergleich. Doch es kam unerwartet anders.

Firas blieb stehen und sah sie aufmerksam an, dann beugte er sich leicht zu ihr und hielt sie trotz der schwachen Beleuchtung mit seinem Blick gefangen. „Ich verrate dir etwas“, sprach er leise. „Ich mag es, wenn eine Frau unkompliziert und offen ist. Und das bist du. Ich weiß es, obwohl ich dich erst seit ein paar Stunden kenne. Also hör nicht auf deine Kollegen. Lieber ein Wasserfall als eine Wüste, Sonja, denn das Wasser und nicht der Sand bringt Leben mit sich.“

Seine Worte nährten ihr tief gesunkenes Selbstbewusstsein und wirkten wie Balsam auf ihrer Seele. Sonja erwiderte seinen Blick und lächelte kokett, spürte gleichzeitig, wie ihre Ohren warm wurden. „Danke! Das ist sehr lieb von dir.“

Firas lächelte, nahm ihre Hand und beschleunigte seine Schritte, bis sie eine Holzbank erreichten.

„Ich wollte hierher mit dir“, sagte er leise. „Eine wahrlich wunderschöne Ecke. Was sagst du dazu?“ Fragend sah er zu ihr und stellte sich vor sie, dann huschte sein Blick über den Garten.

Himmel. Sonjas Herz schlug so laut, dass sie es beinahe hören könnte. Dieser intensive Blick in seinem Gesicht machte sie wahnsinnig, ließ ihren Bauch kribbeln, sodass sie das Verlangen, das schon den ganzen Abend in ihr schlummerte, nicht länger unterdrücken konnte.

Ohne Worte trat sie zu ihm und legte die Arme um seine Taille. Zärtlich umfasste Firas ihr Gesicht, streichelte mit den Daumen über ihre Wangen und sie schmiegte sich an ihn. Langsam neigte er sein Gesicht zu ihr und presste seine Lippen an ihre. Während Sonja genussvoll die Augen schloss, liebkoste Firas ihre Lippen, küsste anschließend ihre Mundwinkel und hob den Kopf.

„Firas …“ Wie aus einem Traum erwachend, öffnete Sonja die Augen. „War’s das?“

„Willst du mehr?“, murmelte er und legte die Arme um sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Erneut sah er tief in ihre Augen. Sein Blick war von Lust und unermesslichem Begehren erfüllt.

„Ja“, stöhnte sie leise, während sie die Arme um seinen Hals schlug und die Lippen öffnete.

Seine Zungenspitze streichelte neckisch über ihre Lippen, und ihrer Kehle entkam ein lustvolles Seufzen. Entschlossen drückte sie die Finger an seinem Nacken fest und zog ihn näher an sich heran. Firas ließ kurz von ihren Lippen ab und vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, atmete gierig ihren Duft ein, während sich ihr Unterleib angenehm zusammenzog.

„Magst du Zungenküsse?“, keuchte er, als er sich wieder ihren Lippen zuwandte und zärtlich über ihren Rücken streichelte.

„Du fragst zu viel.“ Mit halbgeschlossenen Augen lächelte sie ihn an. „Mach einfach. Das ist wunderschön.“

„Ganz wie du willst“, flüsterte er. Ihre Lippen trennten sich nur wenige Zentimeter voneinander, bevor er den letzten Abstand überbrückte und ihren Mund eroberte.

Wie viele Minuten vergingen da? Sonja hatte die Zeit vergessen und fühlte sich wie in eine andere Welt versetzt. Eine Welt, wo es nur sie und diesen ihr kaum bekannten Kerl gab.

Langsam löste Firas seine Lippen von ihren und fuhr zärtlich mit der Fingerspitze über ihre Mundwinkel.

„Was hast du später vor?“, flüsterte er sehnsüchtig.

Sonja öffnete die Augen, verlor sich erneut in seinem Blick.

„Nichts. Und du?“

„Ich habe auch nichts vor.“ Firas sah auf sein Handy. „Wenn du möchtest … Willst du mir noch einen Tanz schenken und dann mit mir abhauen? Zu mir nach Hause?“

Blut schoss in Sonjas Wangen und sie presste ihr Unterleib gegen seinen.

„Ja“, antwortete sie kurz und legte ihre Hand in seinen Nacken, um seine Lippen erneut in einem Kuss zu erobern.

Kapitel 2: Erwachsenenleben

Firas

„Danke, Aliya.“ Firas nahm die Tasse des herrlich duftenden arabischen Kaffees aus ihrer zarten Hand und trank einen Schluck.

Die schlanke junge Frau schenkte ihm ein warmes Lächeln und warf ihr langes blondes Haar nach hinten, dann wandte sie sich Layla zu, um auch ihr Kaffee anzubieten. Seine Schwester nahm ihn dankend entgegen und warf Firas unauffällig einen Blick zu, den nur er deuten konnte.

Aliya ging in die Küche, stellte dort das Tablet ab und kehrte mit einer Schale voller arabischen Süßigkeiten ins Wohnzimmer. Lächelnd sah sie zu allen Anwesenden, strich dabei ihr langes hellblaues Kleid zurecht und setzte sich auf ihren Stuhl.

Firas lehnte sich entspannt zurück. Das war ein wundervoller Sonntagabend im Kreise seiner Familie und deren langjähriger Freunde. Nach seinem dreijährigen Aufenthalt in den USA war er glücklich, sie alle wieder um sich zu haben. In den USA hatte ihm das Beisammensein mit seiner Familie gefehlt, umso mehr freute er sich jetzt über jeden gemeinsamen Moment. Zwar war er jedes Jahr für zwei Wochen nach Deutschland gereist, doch das war ihm nicht genug gewesen.

Hassan, Aliyas Vater, hatte sie alle zu sich eingeladen. Aliya und ihre Mutter hatten zuvor den Esstisch im Wohnzimmer voll beladen, sodass Firas sich gefragt hatte, wie viele Fußballmannschaften sie einzuladen beabsichtigten. Auch hatten sie Käseschnecken gebacken und Pide gemacht. Dazu hatten sie allerlei Obst geschnitten und daraus wahre Kunstwerke geschnitzt. Sie aßen, sprachen und lachten zusammen. Das alles gab Firas das Gefühl, in seiner eigenen Welt zu sein, die ihm Erholung bot und ihn zu Kräften kommen ließ.

Jetzt genoss er den herrlich duftenden Kaffee und ließ die Seele baumeln.

Manchmal dachte er an Sonja. Die Nacht mit ihr war einmalig gewesen. Noch nie hatte er Sex so genossen, der im Unterschied zu seinen bisherigen Erfahrungen unbeschreiblich sinnlich gewesen war. Seltsam. Bislang hatte er nie an Frauen denken müssen, die mit ihm eine Nacht verbracht hatten, um am nächsten Morgen spurlos aus seinem Leben zu verschwinden. Wieso verhielt es bei Sonja anders? Weshalb dachte er immerzu an ihr zartes, ebenmäßiges Gesicht und ihr unverschämt süßes Grübchenlächeln?

„Na Firas.“ Hassans Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

Sofort setzte Firas sein charmantes Lächeln auf: „Ja?“

„Freust du dich schon in zwei Wochen loszulegen?“ Unter Hassans Schnurrbart zeigte sich ein Lächeln und seine Augenwinkel bedeckten sich mit Fältchen, die der Mann hasste, auch wenn diese in seinem Alter völlig normal waren.

„Ich kann es kaum erwarten!“ Firas hat einige Sekunden gebraucht, bis er begriff, dass es um seine Teamleiterstelle bei Bionpharma ging, einem mittelständigen Unternehmen im Herzen Saarbrückens. „Danke dir nochmals, Hassan!“

„Gott segne dich und deine Familie“, sagte Mama leise und presste dabei ihre Hand an die Brust. „Wir können uns nicht genug bei dir bedanken!“

Das erneute Lächeln auf Hassans Lippen zeigte, dass sein Ego befriedigt wurde. Firas nickte ihm zu, während sein Zeigefinger am Daumen rieb. Ein seltsames Gefühl machte sich unangekündigt in seinem Herzen breit. Musste Hassan jetzt den Job erwähnen? Eigentlich freute er sich über diese neue Chance und wusste es zu schätzen, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus den USA einen Job als Teamleiter in Hassans Abteilung bekommen zu haben. Dass er sofort eine Zusage erhalten hatte, war nicht selbstverständlich gewesen. Nicht zuletzt hatten Hassans Kontakte im Unternehmen die entscheidende Rolle gespielt und bei der aktuellen Situation auf dem Jobmarkt schätzte Firas sich glücklich, dessen Unterstützung bekommen zu haben.

Sein innerer Frieden war dennoch unerwartet nach Hassans Worten verflogen. Zum ersten Mal fragte Firas sich, ob die Zusammenarbeit mit dem alten Familienfreund wirklich gut funktionieren würde. Er hatte Jan noch nichts von dem Angebot erzählt und würde es wohl erst nach den Flitterwochen tun. Bis dahin würde er seine neue Stelle angetreten haben. Ob Jan das gutheißen würde?

Ah was. Er machte sich unnötig Sorgen. Vielleicht waren diese Umstände ein Geschenk des Schicksals. Firas vertrieb seine Gedanken und blickte zu Aliya, die ihm sofort zulächelte. Ja. Seit Jans Hochzeit dachte Firas öfter und intensiver über die eigene Familie nach. Über das eigene Zuhause. Ob die Zeit für diese wichtigen Lebensschritte bereits gekommen war? Ob er sich endlich sesshaft machen sollte?

In diesem Fall wäre Aliya mit Sicherheit die perfekte Partie für ihn. Schließlich hatten sie beide dieselben Wurzeln und kannten sich schon seit ihren Schulzeiten. Firas sah in Aliyas haselnussbraune Augen und erwiderte ihr Lächeln. Sie mochte ihn. Eindeutig.

„Also Firas, wie war denn diese Hochzeitsparty von deinem Freund?“ Alya gab ein neues Gesprächsthema vor und Firas griff nach einem Stück Baklava.

Ihre Frage rief erneut Erinnerungen an Sonja in ihm hervor. Erinnerungen, die sein Herz schneller schlagen ließen und die Gedanken an seine bevorstehende Zukunft schlagartig aus dem Hirn verbannten. „War schön“, antwortete er schulterzuckend und gespielt gleichgültig, als ob sie ihn über das Wetter gefragt hatte. „Es gab gutes Essen und getanzt wurde auch ausgiebig. Die Braut hat sich sogar Dabke von uns gewünscht. Ich bin total aus der Übung, meine Beine tun mir jetzt noch weh.“ Rasch schob er sich Baklava in den Mund und trank den mittlerweile kalt gewordenen Kaffee aus.

„War das dein deutscher Freund Jan, der geheiratet hat?“ Aliyas Mama richtete ihren Blick neugierig auf ihn. „Hast du vielleicht Bilder von der Feier?“

Hatte er Bilder? Nur wenige. Ein paar Selfies mit Karim und Mahmoud, dann welche mit Jan. Das war‘s auch schon. Firas sah zu Layla, die ihm einen spitzbübischen Blick zuwarf.

„Ehrlich gesagt, habe ich keine Bilder gemacht. Ihr kennt mich ja. Ich lasse mein Handy immer links liegen.“ Er lächelte schuldig. „Ich werde Jan fragen, ob er mir welche schicken kann.“

„Oh, das ist nicht nötig. Bitte mach dir und Jan keinen Aufwand.“ Aliyas Mutter lächelte und warf ihrem Mann einen schnellen Blick zu. „Hauptsache du hattest einen schönen Tag. Eine Hochzeit ist immer etwas Wundervolles …“ Sie legte eine kurze Pause ein und fügte hinzu: „Insbesondere die eigene.“

„Bruderherz, gibst du mir eine Zigarette?“, fragte Layla, nachdem sie das Haus ihrer Eltern verlassen hatten und zu seinem Auto gingen. „Ich würde gerne eine mit dir dampfen, bevor ich wieder zu einer anständigen Ehefrau werde.“

Sie grinste.

Theatralisch hob Firas seine Augenbrauen und pfiff leise.

„Oha, kannst du das Qualmen immer noch nicht lassen?“ Er grinste breit und nahm aus seiner Jackentasche eine frisch angebrochene Zigarettenschachtel. „Was sagt dein Mann dazu?“

Layla prustete und nahm sich eine Zigarette. Grinsend steckte sie die Zigarette mit einer geübten Bewegung zwischen die Lippen und zündete sie mit ihrem pinkfarbenen Feuerzeug an. „Er hat es noch nicht rausgefunden“, sagte sie grinsend und blies genussvoll den Rauch aus. „Genauso wie Mama und Papa es nicht wissen. Ich rauche aber gerne, das gebe ich zu. Und nur du weißt es. Es ist und bleibt unser kleines Geheimnis.“

„Warum sollte es ein Geheimnis bleiben? Wenn du gerne rauchst, mach das offen.“ Firas zuckte mit den Schultern und nahm sich auch eine Kippe. „Komm, du bist schon groß genug. Zumindest Hanie sollte es wissen. Schließlich ist er ja dein Ehemann und ihr wollt ja gemeinsam alt werden. Und er raucht selbst wie eine Lokomotive.“

„Du hast recht, aber irgendwie traue ich mich nicht.“ Layla hustete und hielt sich die Hand vor den Mund, legte danach den Zigarettenfilter erneut zwischen die Lippen. „Vielleicht bin ich daran gewöhnt, mich zu verstecken. Das macht das Rauchen viel spannender“, scherzte sie.

Gleichgültig hob Firas die Schultern. Layla sollte machen, wie es ihr lieb war. Seitdem sie sich von ihren Eltern und Aliya verabschiedet hatten, kreisten in seinem Kopf andere Gedanken. Erinnerungen daran, wie Sonja sich in seinen Armen angefühlt hatte. An ihre Lippen, die seinen Körper mit hingebungsvollen Küssen bedeckt hatten. An …

„Firo, bist du da?“ Layla berührte sanft seinen Unterarm und sah ihn verwundert an. „Du bist beinahe an deinem Auto vorbeigelaufen.“

„Sorry.“ Rasch holte er die Schlüssel raus. „Bitte schön.“ Layla setzte sich rein. Firas rauchte seine Zigarette zu Ende, warf den Stummel in einen Abwasserkanal und plumpste daraufhin auf den Fahrersitz.

„Träumst du etwa?“ Layla drehte sich zu ihm und sah ihm eindringlich in die Augen. In ihrem Blick zeigte sich ein schelmisches Funken, dem ein breites Grinsen folgte. „Hast du etwa jemanden kennengelernt?“

Layla hielt sich nie zurück. Sie hatte einen extremen Hang zur Wahrheit und Ehrlichkeit, und er hat sie schon oft gegen Wände laufen lassen. Zudem war sie neugierig. So wie kein anderer Mensch. Für Firas war es klar: So schnell würde er seiner Schwester nicht entkommen.

„Wie kommst du darauf?“, entgegnete er und schnallte sich an.

„Du bist verträumt und benimmst dich wie ein sechzehnjähriger Teenager, der zu seinem ersten Date geht. So habe ich dich noch nie gesehen. Also erzähl mal. Jetzt sind wir allein. Niemand kann uns hören. Ich bin mir ganz sicher, dass du nicht an Aliya denkst. Auch wenn sie und ihre Eltern es gerne hätten.“

Gespielt zog Firas die Augenbrauen zusammen. „Und wieso nicht? Vielleicht denke ich an sie. Woher willst du das denn wissen, Sis? Außerdem darfst du ruhig netter sein. Ich bin kein sechzehnjähriger Teenager.“ Er startete den Motor und fuhr vom Parkplatz.

„Diplomatie ist nicht so meins. Hatte ich das schon erwähnt? Also, ich höre.“

Firas seufzte und blieb an einer Ampel stehen. Er würde Laylas Befragung nicht entkommen. Er sah nachdenklich auf seine Schwester. Ihre Augen funkelten neugierig. Sie war gierig auf sein Bekenntnis. Wie ein Wolf, der das Blut eines verletzten Tieres gerochen hatte und nun seine Beute beharrlich verfolgte. Keine Sekunde ließ Layla ihn aus den Augen.

„Sag mir zuerst, wie du darauf kommst. Es ist nicht nur mein träumender Blick. Kann nicht sein.“

Layla kicherte. „Brudi, in welcher Welt lebst du bitte? Wofür haben wir alle Facebook und Instagram? Aber gut, du bist wirklich ein Neandertaler, was Social Media angeht. Das lässt sich wohl nie ändern.“

„Hey, es reicht.“ Ein verlegenes Kichern sprudelte in seiner Brust und er unterdrückte es mühevoll, sodass seiner Kehle ein komisches Gurgeln entkam. „Im Unterschied zu dir vergeude ich meine Zeit nicht, um unschuldige Menschen zu stalken und daraufhin wilde Theorien über sie aufzubauen.“

„Das sind keine Theorien. Meistens stimmt alles, was ich sage. Wenn wir ankommen, zeige ich dir etwas. Es gibt ganz viele Bilder mit dir und einer jungen Schönheit, die du wie ein hungriger Wolf ansiehst.“

Firas presste die Lippen zusammen. Facebook. Instagram. Mist! Wahrscheinlich hatte Jenny die Hochzeitsfotos auf ihrem Profil hochgeladen und Layla hatte sie gesehen. Schließlich waren sie alle miteinander befreundet und dadurch gut vernetzt. Verdammt. Er sollte definitiv seine Privatsphäreneinstellungen ändern. Oder vielleicht noch einen Schritt weitergehen und sein Profil komplett löschen.

„Es gab viele hübsche Frauen auf der Hochzeit, Layla. Und ich habe mich mit vielen Gästen fotografieren lassen. Diese Bilder haben nichts zu sagen, Schwesterherz. So sehr du mich zu einem Romantiker machen willst – ich bin nicht der Typ für große Gefühle und das weißt du.“ Seufzend blieb Firas an einer weiteren Ampel stehen. Verdammt, der sonst so kurze Heimweg kam ihm heute recht lang vor.

„Und warum reibst du an deinem Daumen?“, hakte Layla nach. Firas‘ Blick schnellte zu seinen Händen. Mist. Layla entging nichts. Gar nichts. Nicht einmal ein Atemzug blieb ungehört, wenn sie danach lauschte.

„Ich weiß, was das bedeutet“, fuhr Layla gnadenlos fort. „Du willst etwas verheimlichen. Also heraus mit der Sprache, Großer. Ich lasse nicht locker, das ist klar. Hast du die Handynummer von diesem Mädchen?“

Nein, hatte er nicht. Dafür könnte er sich am liebsten selbst ohrfeigen. Am nächsten Morgen hatte Sonja sich verabschiedet und war einfach gegangen. Sie hatte nicht mal einen Versuch unternommen, seine Nummer zu bekommen oder ihm ihre aufzuschreiben. Und er hatte nicht daran gedacht, sie danach zu fragen.

„Du musst nach Hause. Hanie wartet auf dich“, unternahm Firas einen letzten Versuch, die Neugier seiner Schwester einzudämmen, doch Layla schüttelte entschlossen den Kopf.

„Erstens habe ich noch genug Zeit und zweitens kann Hanie warten. Ich habe sowieso keine Lust, mich mit seinen Freunden zu treffen. Die Frauen in dieser Clique sind so ätzend! Lieber komme ich zu dir in die Wohnung und bleibe dort hocken, bis du mir alles erzählst“, sagte sie entschieden.

Firas wusste, dass seine Schwester es ernst meinte. Seufzend fuhr er fort: „Layla, es ist nichts. Es gibt keine Frau in meinem Leben.“ Er schwieg einige Sekunden und fuhr los. „Ich bin nicht verliebt, falls du darauf hinauswillst. Und werde es nicht sein. Gib endlich deine Hoffnungen auf. Ich bin kein Typ der großen Gefühle, Romantik und so ein Zeugs.“ Er bog innerlich erleichtert in eine Seitenstraße ab, die Richtung Nauwieser Viertel führte. „Bald sind wir da. Und weißt du, was ich machen werde? Ich werde mich umziehen und eine Runde joggen. Danach rauche ich auf dem sonnigen Balkon eine Shisha und genieße meinen vierwöchigen Urlaub, während du dich in einer Shisha-Bar zu Tode langweilst.“ Ohne seinen Blick von der Straße abzuwenden, grinste Firas frech und streckte schnell die Zunge raus. Ob er damit Layla ärgern und das Thema wechseln könnte?

„Ja, ja, für die Liebe hast du keine Zeit. Wissen wir alle. Aber gut. Wenn du nicht darüber reden willst, ist es in Ordnung, Brudi. Wenn etwas ist, weißt du, wo du mich findest.“ Layla klopfte ihm auf die Schulter und lehnte sich wieder zurück.

Firas hielt mit der einen Hand das Lenkrad und rieb mit der anderen über seine Stirn. Er dachte daran, dass er Sonja wohl nie wiedersehen würde, und unerwartet durchfuhr ein Stich sein Herz.

Vielleicht war es doch eine gute Idee, mit Layla darüber zu sprechen. Schließlich hatte er noch nie Geheimnisse vor seiner Schwester gehabt. Er dachte kurz, wie dankbar er dem Universum für seine Schwester war. Layla war seine Vertraute und kannte all seine Geheimnisse, von denen nicht mal ihre Eltern wussten. Sie war immer für ihn da und stand ihm mit Rat und Tat zur Seite. Seit sie Kinder waren, erzählten sie sich alles, teilten alles, beschützten einander und hielten sich gegenseitig den Rücken frei. Bevor Layla ihren Mann geheiratet hatte, hatte sie Firas nach seiner Meinung gefragt und sein Rat war ihr wichtiger als die Meinung ihrer Eltern. Firas kannte Hanie bereits von der Uni und er hätte sich keinen besseren Mann für seine Schwester vorstellen können.

Ja, obwohl ursprünglich anders geplant, würde er doch mit Layla reden. Sich ihr anvertrauen.

„Willst du noch eine Zigarette?“, fragte er seine Schwester schließlich und sie nickte.

„Gerne. Dann können wir uns in aller Ruhe die Bilder ansehen. Jenny hatte übrigens einen tollen Fotografen engagiert. Ich bin sogar ein bisschen neidisch. Meine Hochzeitsfotos waren furchtbar.“

„Dann komm mit hoch. Wir trinken noch einen Kaffee auf dem Balkon und du, Süchti, kannst dir das Gift holen, bevor du dich mit dieser nervigen Clique triffst.“ Firas lachte und schloss die Autotür ab.

Layla kniff ihn in den Oberarm. „Mach dich nur lustig über deine kleine Schwester. Schau dich selbst an. Du bist süchtiger als jeder, den ich kenne“, sagte sie und zog gespielt die Augenbrauen zusammen.

Ja, da hatte Layla recht. Noch in der Schule hatte er mit dem Rauchen angefangen und behielt diese Angewohnheit bis heute. Nicht mal seine Liebe zum Kickboxen hatte ihm diese Abhängigkeit austreiben können.

„Vielleicht sollst du etwas weniger rauchen, Bruderherz“, fügte Layla hinzu. „Versuch es mal. Denn so gesund ist es nicht.“

„Du bist aber eine Frau und solltest eher damit aufhören“, murmelte Firas widerspenstig und sperrte die Eingangstür auf. „Herein. Wie viel Zeit hast du noch, du Nervensäge?“

Layla sah auf ihre Armbanduhr. „Ich habe genug Zeit. Und wie gesagt. Bis du mir nicht alles erzählt hast, verlasse ich deine Wohnung nicht.“

Firas lag im Bett, streckte sich und drehte sich auf die Seite.

Zwei Uhr nachts. Und er konnte immer noch nicht einschlafen. Er streckte sich erneut und legte sich auf die andere Seite. Sein Kopf erinnerte ihn an einen vollgestopften Dachboden.

Nachdem er sich Layla anvertraut hatte, wurden seine Erinnerungen an Sonja und ihre gemeinsame Nacht noch lebendiger. Layla hatte recht: Die junge Frau war ihm unter die Haut gegangen. Wieder musste er sich an ihr gemeinsames Erwachen denken. Sonja hatte ihren Kopf auf seiner Brust gelegt und ihr zerwühltes Haar ließ sie umso hinreißender erscheinen. Sie hatte noch geschlafen, während die ersten Sonnenstrahlen ihn bereits aufgeweckt hatten. So hatte er die Möglichkeit gehabt, Sonja ausgiebig zu betrachten: Ihre Schönheit und ihren friedlichen, seligen Schlaf, den er keinesfalls unterbrechen wollte.

Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Wenn er schon nicht einschlafen konnte, würde er sich noch einmal die Hochzeitsbilder ansehen. Er nahm sein Handy, entsperrte es und drehte sich wieder auf den Rücken. Schmunzelnd scrollte er über Jans und Jennys Profile. Selfies der glücklichen Frischvermählten ploppten in seiner Timeline auf. Die beiden waren heute in die Flitterwochen nach Mallorca geflogen. Jenny hatte ein Album erstellt und über hundert Bilder hochgeladen, auch die Gäste hatte sie markiert. Er öffnete sein Profil zum zweiten Mal für heute und ging die Eindrücke dieses schönen Tages nochmals durch.

Bilder von der Trauung. Vom Sektempfang. Von der Hochzeitstorte. Von der Party. Firas scrollte ungeduldig und übersprang die meisten Fotos. Nur ab und zu hielt er inne, weil er dachte, das Gesuchte gefunden zu haben. Immerhin suchte er nach Sonja. Nach den bestimmten Bildern, die Layla ihm zuvor gezeigt hatte.

Hier!

Mit ihrem auffallenden Lächeln sah Sonja direkt in die Kamera. Firas vergrößerte das Foto und betrachtete Sonjas zarte Schultern und ihre schlanke Taille, betont von ihrem roten Kleid. Ihr Gesicht mit dem verschmitzten Blick. Ihre langen Haare geschickt zur Seite gesteckt. Mit diesem Bild hatte der Fotograf ein perfektes Porträt von Sonja erschaffen.

Firas speicherte das Bild auf seinem Handy ab. Wenigstens würde seine Erinnerung an sie nicht verblassen. Darauffolgend sah er sich die weiteren Bilder an, scrollte ungeduldig darüber, bis Sonja wieder auftauchte. Hier hatten sie Dabke getanzt. Ein verschwommenes Foto, das dennoch unglaubliche Emotionen in sich trug.

Weiter ging es. Zahlreiche Bilder vom Brautpaar, Freunden und Verwandten. Er selbst mit Jennys Tante Uschi, frech in die Kamera grinsend. Das letzte Foto im Album ließ sein Herz schneller schlagen. Sein Lieblingsfoto.

Er und Sonja waren aus dem Garten zurückgekehrt und tanzten zusammen. Sofort hatte Firas die Melodie von ‚Hungry Eyes’ im Kopf. Der Fotograf hatte den perfekten Moment erwischt und sie beide während einer innigen Umarmung festgehalten. Firas hatte seine Hand auf Sonjas Taille, indessen sie ihren Arm vertrauensvoll auf seine Schulter legte. Ihre Hände waren verschränkt, die Köpfe zueinander geneigt. Sie sahen sich tief in die Augen und ihre Blicke verrieten Innigkeit. Auch dieses Bild speicherte er ab und legte das Handy auf den Nachttisch.

„Wieso habe ich sie nicht nach ihrer Nummer gefragt?“ Eine Weile starrte er an die Decke und setzte sein Selbstgespräch in der nächtlichen Stille des Schlafzimmers fort. „Vielleicht hätten wir uns nochmals getroffen. Oder mehrere Male. Ich bin ein Idiot!“

Mit diesen Gedanken versank er langsam in Schlaf.