Leseprobe Nur eine Lady kann widerstehen

2. Kapitel

Der Bastard war hier auf der Burg.

Zum Teufel mit dem Kerl. Wütend ballte Emma Greyson eine behandschuhte Faust auf dem Geländer des Balkons. Weshalb nur hatte sie ein solches Pech? Aber, wenn sie darüber nachdachte, musste sie erkennen, dass sie bereits seit einiger Zeit vom Unglück geradezu verfolgt wurde, eine Serie, deren bisheriger Tiefpunkt ihr vor zwei Monaten eingetretener finanzieller Ruin gewesen war.

Trotzdem, dass sie nun auch noch die ganze nächste Woche gezwungen wäre, unter einem Dach zu leben mit einem Widerling wie Chilton Crane, ging wirklich auf keine Kuhhaut mehr.

Sie trommelte mit den Fingern auf dem alten Stein. Es hätte sie nicht derart überraschen dürfen, dass Crane am Nachmittag hier auf der Burg erschienen war. Schließlich war die sogenannte bessere Gesellschaft nicht sehr groß, und es war nicht weiter ungewöhnlich, dass der Bastard einer der zahlreichen zu der Landparty geladenen, wohlhabenden Gäste war.

Sie konnte es sich nicht leisten, ihren Posten zu verlieren, dachte sie. Auch wenn sich Crane sicher gar nicht mehr genau an sie erinnerte, wäre es das Vernünftigste, ihm während der Dauer der Party möglichst aus dem Weg zu gehen. Da so viele Menschen auf dem Anwesen zu Gast waren, würde es sicher nicht weiter schwierig sein, einfach unterzutauchen, versicherte sie sich. Bezahlte Gesellschafterinnen wurden sowieso von den wenigsten Menschen überhaupt je registriert.

Das leise Flüstern einer verstohlenen Bewegung in der Dunkelheit unter dem Balkon riss sie aus ihren düsteren Überlegungen. Sie runzelte die Stirn und spähte in Richtung der tiefen Schatten, die eine hohe Hecke auf den Garten warf.

Einer der Schatten rührte sich. Er bewegte sich aus der Dunkelheit und glitt über einen mondbeschienenen Rasenfleck. Sie beugte sich ein wenig vor und erhaschte einen Blick auf die Gestalt, die sich ähnlich einem Geist durch das silbrige Licht in Richtung der Gemäuer schob. Groß, geschmeidig, dunkelhaarig, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt.

Ohne dass erst für eine Sekunde das Mondlicht auf seine strengen, asketischen Wangenknochen hätte fallen müssen, erkannte sie den Mann.

Edison Stokes. Sie war gestern Nachmittag zufällig in dem Moment von einem Spaziergang auf die Burg zurückgekehrt, als er angekommen war. Sie hatte gesehen, wie er seinen schimmernden, von zwei identischen, edlen braunen Pferden gezogenen Zweispänner in den Hof gelenkt hatte.

Die riesigen Geschöpfe hatten auf Stokes’ leichte Handbewegungen hin den Wagen mit ruhiger Präzision geführt. Ihr williger Gehorsam hatte Emma gezeigt, dass sich ihr Herr eher auf Technik und Können, denn auf Peitschenhiebe und Gebrüll verließ.

Später war Emma aufgefallen, dass die anderen Gäste Stokes mit verstohlenen Blicken bedacht hatten, sobald er einen Raum betrat. Sie wusste, dass ihr frettchenähnliches Interesse bedeutete, dass er höchstwahrscheinlich extrem reich, extrem mächtig und vielleicht extrem gefährlich war.

Was ihn für die gelangweilte und hoffnungslos übersättigte Elite zu einem Gegenstand faszinierten Interesses werden ließ.

Wieder nahm Emma unter sich eine Bewegung wahr und beugte sich ein Stück weiter über den Balkon. Sie sah, dass Stokes ein Bein auf den Sims eines offenen Fensters geschwungen hatte. Was sie höchst eigenartig fand. Schließlich war er Gast auf dieser Burg, sodass keine Notwendigkeit bestand, herumzuschleichen wie ein Dieb.

Es konnte nur einen Grund geben, weshalb Stokes ein Zimmer auf diesem Weg betrat. Entweder kehrte er gerade von einem Stelldichein mit der Frau eines anderen Gastes zurück oder aber er war auf dem Weg zu einem solchen Stelldichein.

Sie wusste nicht weshalb, aber so etwas hätte sie nicht von ihm gedacht. Ihre Arbeitgeberin, Lady Mayfield, hatte sie beide gestern Abend miteinander bekannt gemacht. Als er sich sehr förmlich über ihre Hand gebeugt hatte, hatte sie eine ihrer plötzlichen Eingebungen gehabt. Er war kein zweiter Chilton Crane, hatte sie sich gesagt. Edison Stokes war keiner der verderbten Schwerenöter, von denen es auf der Welt bereits allzu viele gab.

Offensichtlich hatte sie eine falsche Eingebung gehabt. Und nicht zum ersten Mal in letzter Zeit.

Wildes Gelächter drang aus einem der offenen Fenster im Ostflügel der Burg. Anscheinend hatten die Männer im Billardzimmer bereits einige Gläser geleert. Aus dem Ballsaal scholl Musik.

Unter ihrem Balkon verschwand Edison Stokes in einem dunklen Zimmer, das nicht das seine war.

Nach einer Weile machte Emma kehrt und ging langsam zurück in den spärlich beleuchteten steinernen Korridor. Sicher könnte sie sich allmählich auf ihr Zimmer zurückziehen, ohne dass Lady Mayfield nochmals nach ihr rief. Bestimmt hatte Letty inzwischen ihrer Vorliebe für Champagner ausgiebig gefrönt, sodass ihr nicht auffiele, wenn ihre Gesellschafterin sich für den Rest des Abends nicht mehr blicken ließ.

Plötzlich brachte der Klang gedämpfter Stimmen auf der selten benutzten Hintertreppe Emma mitten im Flur zum Stehen. Sie spitzte die Ohren und lauschte angestrengt. Leises Gelächter wurde laut. Offenbar handelte es sich um ein Paar. Die Stimme des Mannes klang widerlich vertraut.

»Ihr Mädchen wartet doch sicher allabendlich auf Sie?«, drang Chilton Cranes lüsternes Gemurmel an ihr Ohr.

Emma erstarrte. So viel zu ihren Hoffnungen, dass ihr Schicksal vielleicht allmählich eine positive Wende nahm. Die Wand über der Treppe wurde in flackerndes Kerzenlicht getaucht. Noch wenige Sekunden, und Crane und seine Begleiterin hätten den Flur, in dem sie stand, erreicht.

Sie saß in der Falle. Selbst wenn sie auf dem Absatz kehrtmachte und so schnell sie konnte losrannte, würde sie es niemals bis zum anderen Ende des Korridors und zur Haupttreppe schaffen.

»Reden Sie keinen Unsinn«, antwortete Miranda, Lady Arnes, ihm. »Ich habe das Mädchen entlassen, ehe ich heute Abend in den Ballsaal ging. Ich wollte nicht, dass sie noch auf ist, wenn ich zurückkomme.«

»Es bestand keine Notwendigkeit, ihr freizugeben«, klärte Chilton Miranda lallend auf. »Ich bin sicher, wir hätten eine gute Verwendung für die Kleine gehabt.«

»Mr. Crane, Sie wollen damit doch nicht etwa sagen, mein Mädchen hätte sich zu uns ins Bett gesellen sollen?«, fragte Miranda in schalkhaftem Ton. »Sir, ich bin ehrlich schockiert.«

»Abwechslung ist die Würze des Lebens, meine Liebe. Und ich habe die Feststellung gemacht, dass Frauen, die davon abhängen, dass sie einen Posten in einem Haushalt behalten, extrem bereitwillig alles tun, was man verlangt. Häufig legen sie dabei sogar einen geradezu erstaunlichen Eifer an den Tag.«

»Ihrer Vorliebe für niedere Bedienstete frönen Sie wohl besser ein andermal. Ich habe nämlich nicht die Absicht, Sie heute Nacht mit meinem Mädchen zu teilen, Sir.«

»Vielleicht könnten wir uns ja unter den etwas höheren Dienstbotenrängen nach jemandem für einen Dreier umsehen. Mir ist aufgefallen, dass Lady Mayfield eine Gesellschafterin hat. Was halten Sie davon, sie unter einem Vorwand auf Ihr Zimmer zu bestellen und –«

»Lady Mayfields Gesellschafterin? Sie meinen doch sicher nicht Miss Greyson?« Miranda klang ehrlich entsetzt. »Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie fanden Gefallen an diesem farblosen Geschöpf mit der schrecklichen Brille und der langweiligen Haube auf dem Kopf. Und dann noch dieses grauenhafte rote Haar. Haben Sie denn gar keinen Geschmack?«

»Ich habe die Feststellung gemacht, dass eine Frau hinter tristen Kleidern und einer Brille einen überraschend lebendigen Geist verstecken kann.« Chilton machte eine Pause. »Und Lady Mayfields Gesellschafterin –«

»Ist sicher alles andere als lebendig, das können Sie mir glauben, Mr. Crane.«

»Sie kommt mir irgendwie bekannt vor«, beendete Chilton seinen Gedankengang. »Ich frage mich, ob ich ihr vielleicht vorher schon einmal irgendwo begegnet bin.«

In Emma wallte heiße Panik auf. Sie hatte Grund gehabt zu hoffen, dass Crane sie nicht erkannt hatte, als sie am frühen Abend, gefangen im Musikzimmer, gezwungen gewesen war, dicht an ihm vorbeizugehen. Schließlich hatte er sie in dem Moment höchstens mit einem flüchtigen Seitenblick bedacht. Sie hatte sich gesagt, dass sich Männer wie Crane, denen es anscheinend ein Vergnügen war, sich an den wehrlosen Mädchen, Gouvernanten und Gesellschafterinnen ihrer Gastgeberinnen zu vergehen, die Gesichter ihrer Opfer nicht genauer einprägten. Und außerdem hatte sie inzwischen eine andere Haarfarbe.

Aus Furcht, dass vielleicht eine ehemalige Arbeitgeberin, von der sie wegen mangelnden Gehorsams unehrenhaft entlassen worden war, ihre Bekannten vor dem aufmüpfigen, rothaarigen Weibsbild warnen würde, hatte sie während der kurzen Phase ihrer Beschäftigung in Ralston Manor eine dunkle Perücke aufgesetzt.

»Vergessen Sie Lady Mayfields Gesellschafterin«, wies Miranda Chilton an. »Sie ist ein langweiliges kleines Ding. Ich versichere Ihnen, dass ich wesentlich unterhaltsamer und interessanter bin.«

»Aber sicher, meine Liebe. Wie Sie meinen.« Chiltons Stimme klang enttäuscht.

Emma trat lautlos einen Schritt zurück. Sie musste etwas tun. Sie konnte nicht einfach tatenlos hier herumstehen und warten, bis Miranda und Crane das obere Ende der Treppe erreicht hatten.

Sie warf einen Blick über die Schulter. Das einzige Licht kam von einer einzelnen Fackel in der Mitte des dämmrigen Flurs. Schwere, tief in den Stein gelassene Holztüren bildeten die Eingänge diverser Schlafzimmer.

Sie wirbelte herum, raffte ihre Röcke und eilte den steinernen Korridor zurück. Sie müsste sich in einem der Zimmer verstecken, dachte sie. Jeder Raum in diesem Flur gehörte einem der zahlreichen Gäste, aber bestimmt wären sie um diese Stunde alle leer. Die Nacht war jung, und Wares Freunde und Freundinnen waren noch unten, tanzten, flirteten und hatten ihren Spaß.

Vor der ersten Tür machte sie Halt und drehte vorsichtig den Knauf.

Sie war abgeschlossen.

Enttäuscht probierte sie die zweite Tür.

Auch sie war sorgsam zugesperrt.

Panisch hetzte sie zur dritten Tür, zerrte verzweifelt an dem Knauf und seufzte vor Erleichterung, als er sich mühelos bewegen ließ.

Eilig huschte sie in das Zimmer und machte lautlos die Tür hinter sich zu. Dann sah sie sich genauer um. Das helle Licht des Mondes fiel durch die Fenster auf die schweren Vorhänge vor einem großen, baldachinbewehrten Bett. Auf dem Waschtisch lagen eine Reihe Handtücher, und der Ankleidetisch war mit eleganten kleinen Fläschchen übersät. Ein spitzengesäumtes Frauennachthemd hing achtlos über einem Stuhl.

Sie würde hier warten, bis Chilton und Miranda in einem der anderen Schlafzimmer verschwunden wären, und dann würde sie sich über die Hintertreppe auf ihr Zimmer schleichen, dachte sie.

Sie drehte sich um, legte ihr Ohr ans Holz der Tür und lauschte auf die Schritte, die sich näherten.

Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Verdacht. Was, wenn sie in Mirandas Schlafzimmer geflüchtet war?

Die Schritte hielten tatsächlich vor der Tür.

»Hier wären wir, Chilton.« Mirandas Stimme wurde vom dicken Holz der Tür gedämpft. »Ich muss nur noch meinen Schlüssel holen.«

Emma trat so eilig einen Schritt zurück, als hätte sie sich plötzlich an der Tür verbrannt. Sie hatte höchstens noch ein paar Sekunden Zeit. Miranda dachte, die Tür zu ihrem Zimmer wäre abgesperrt. Sicher wühlte sie eifrig auf der Suche nach dem Schlüssel in ihrem Retikül.

Emma sah sich verzweifelt in dem Zimmer um. Unter dem Bett war nicht genügend Platz, denn dort hatte der Kammerdiener Mirandas Truhen abgestellt. Also bliebe nur der große Kleiderschrank. Lautlos rannte sie über den dicken Teppich auf ihn zu.

Auf der anderen Seite der Zimmertür wurde Cranes betrunkenes Gelächter laut. Emma hörte, wie etwas Metallenes mit leisem Klirren auf die Steine fiel.

»Da, sehen Sie, was Sie angerichtet haben?«, sagte Miranda in scherzhaft vorwurfsvollem Ton. »Jetzt habe ich ihn fallen lassen.«

»Sie gestatten«, antwortete Chilton ihr.

Emma riss die Schranktür auf, schob einen Berg aufreizender Kleider auseinander, kletterte hinein und zog die Tür hinter sich zu.

Sofort wurde sie in vollkommenes Dunkel eingehüllt, wurde eng an eine starke, felsenharte Brust gezogen, ihre Taille wurde von einem muskulösen Männerarm umfasst, und gerade, als sie schreien wollte, legte sich ihr eine warme Hand über den Mund.

Entsetzen wallte in ihr auf. Das Problem, von Chilton Crane erkannt zu werden, verblasste angesichts der Not, in der sie sich mit einem Mal befand, zu völliger Bedeutungslosigkeit. Kein Wunder, dass die Tür von diesem Zimmer offen gewesen war. Jemand anderes hatte sich bereits vor ihr heimlich Zugang zu der Räumlichkeit verschafft.

»Bitte, Miss Greyson, seien Sie still«, flüsterte Edison Stokes ganz dicht an ihrem Ohr. »Sonst haben wir beide eine Menge zu erklären, fürchte ich.«

Als sie die Tür des Schrankes aufgerissen hatte, hatte er sie umgehend erkannt. Von seinem Versteck hinter einem modischen Spazierkleid hatte Edison flüchtig den goldenen Rand einer Brille blitzen sehen.

Trotz der unhaltbaren Situation, in der er sich befand, empfand er eine eigenartige Zufriedenheit. Dann hatte er in Bezug auf Lady Mayfields vorgeblich so farblose Gesellschafterin tatsächlich recht gehabt. Bereits als man sie beide miteinander bekannt gemacht hatte, hatte er erkannt, dass sie keine der Eigenschaften besaß, die man von einer Frau in der Rolle der Gesellschafterin allgemein erwartete.

Auch wenn sie angemessen zurückhaltend und unscheinbar erschienen war, hatten ihre allzu wachen, allzu intelligenten grünen Augen statt Bescheidenheit und Demut Intelligenz, Entschlossenheit und Lebenslust versprüht.

Eine erstaunliche Person, hatte er bereits in jenem Augenblick gedacht. Und über alle Maßen attraktiv, obgleich sie diese Tatsache durch eine Brille und ein unmodernes, anscheinend mehrfach gefärbtes Rüschenkleid zu verschleiern trachtete.

Wie interessant, dass es ihr offenkundig ein Vergnügen war, sich in den Schränken anderer Leute zu verstecken, dachte er.

Emma zerrte voller Ungeduld an seinem Arm, und plötzlich nahm er überdeutlich ihre festen, runden Brüste an seinem Oberkörper wahr. Der angenehm dezente Kräuterduft, den sie verströmte, machte ihm bewusst, wie klein, wie eng und wie intim es hier in der Garderobe war. Offensichtlich hatte sie ihn ebenfalls erkannt. Es schien, als hätte ihre Panik sich gelegt und als kämpfe sie nicht länger aktiv gegen die Umklammerung. Vorsichtig nahm er seine Hand von ihrem weichen Mund, und wirklich machte sie nicht das leiseste Geräusch. Sicher war sie ebenso wenig versessen darauf, in diesem Schrank entdeckt zu werden, wie er selbst.

Noch während er sich fragte, ob er vielleicht das Versteck mit einer wagemutigen kleinen Juwelendiebin teilte, wurde nicht weit von ihm entfernt Mirandas Stimme laut. »Also wirklich, Chilton.« Sie klang nicht länger amüsiert. »So ruinieren Sie mein Kleid. Seien Sie doch bitte so freundlich und zerren Sie nicht derart daran herum. Schließlich haben wir alle Zeit der Welt. Gestatten Sie, dass ich die Kerze anzünde.«

»Meine Liebe, Sie erwecken eine solche Leidenschaft in mir, dass ich einfach nicht länger an mich halten kann.«

»Sie könnten zumindest Ihr Hemd und Ihr Halstuch ablegen.« Mirandas Stimme klang eindeutig gereizt. »Ich bin keine von Ihren lüsternen kleinen Zimmermädchen oder farblosen Gesellschafterinnen, die sich einfach an der Wand stehend von Ihnen nehmen lassen.«

Edison spürte, dass Emma erschauderte. Er strich zufällig über ihre Hand und merkte, dass sie sie geballt hatte. Ob aus Zorn oder aus Furcht, wusste er nicht.

»Aber mein Kammerdiener hat eine Ewigkeit für diesen besonderen Knoten gebraucht«, antwortete Chilton in jämmerlichem Ton. »Wissen Sie, er wird der antike Brunnen genannt und ist der letzte Schrei.«

»Dann mache ich ihn eben auf und wieder zu, bevor Sie wieder gehen«, flüsterte ihm Miranda mit honigsüßer Stimme zu. »Ich habe schon immer mal den Kammerdiener spielen wollen für einen derart prachtvollen, gut bestückten Gentleman wie Sie.«

»Ach ja?« Es schien, als hätte das Kompliment seine Wirkung bei Chilton nicht verfehlt. »Nun, wenn Sie darauf bestehen. Aber machen Sie schnell. Schließlich habe ich nicht die ganze Nacht.«

»Aber sicher haben wir die ganze Nacht. Das habe ich doch eben schon gesagt.«

Leise raschelnd fiel ein Kleidungsstück zu Boden, Miranda flüsterte etwas, was weder Emma noch Edison verstand, während Chilton stöhnte und laut zu atmen begann.

»Himmel, Sie kommen heute Abend wirklich schnell zur Sache«, stellte Miranda wenig begeistert fest. »Ich hoffe nur, dass Sie nicht zu schnell sind. Ich kann es nicht ausstehen, wenn der Herr der Dame nicht den Vortritt lässt.«

»Los, ins Bett«, murmelte Chilton wenig verführerisch. »Fangen wir endlich damit an. Schließlich bin ich nicht gekommen, weil ich mich mit Ihnen unterhalten will.«

»Lassen Sie mich nur noch Ihr Hemd ausziehen, ja? Ich liebe den Anblick einer behaarten Männerbrust.«

»Ich ziehe mir das verdammte Hemd schon selber aus.« Er machte eine kurze Pause. »So. Und jetzt lassen Sie uns endlich anfangen, Madam.«

»Verdammt, Chilton, es reicht. Lassen Sie mich los. Ich bin nicht eine der billigen Huren, die man am Covent Garden haben kann. Nehmen Sie Ihre widerlichen Pfoten weg. Ich habe es mir anders überlegt.«

»Aber Miranda –«

Chilton stieß ein heiseres Grunzen und dann ein langgezogenes Stöhnen aus.

»Verdammt«, murmelte er anschließend. »Sehen Sie, was Sie angerichtet haben.«

»Tja, auf alle Fälle haben Sie das Laken ruiniert«, stellte Miranda voller Verachtung fest. »Ich habe es extra aus London mitgebracht, um sicher zu sein, dass ich auf gutem Leinen schlafe, und jetzt gucken Sie, was Sie daraus gemacht haben.«

»Aber Miranda –«

»Inzwischen kann ich verstehen, weshalb Sie für gewöhnlich Frauen bevorzugen, deren Position es nicht erlaubt, dass sie große Anforderungen an die Fähigkeit ihrer Liebhaber stellen. Sie haben die Raffinesse eines Siebzehnjährigen, der zum ersten Mal mit einer Frau zusammen ist.«

»Das war alleine Ihre Schuld«, murmelte Chilton halb verschämt und halb erbost.

»Verlassen Sie sofort mein Zimmer. Wenn Sie auch nur eine Sekunde länger bleiben, besteht die Gefahr, dass ich vor lauter Langeweile dahinsieche. Glücklicherweise ist noch genügend Zeit, um einen talentierteren Gentleman zu finden, der mich für den Rest des Abends unterhalten kann.«

»Also, hören Sie –«

»Ich habe gesagt, Sie sollen abhauen«, kreischte Miranda schrill. »Ich bin eine Dame. Ich habe Besseres verdient. Gehen Sie und suchen Sie sich ein Zimmermädchen oder Lady Mayfields farblose Gesellschafterin, wenn Sie sich amüsieren wollen. Angesichts Ihrer erbärmlichen Liebeskünste interessiert sich sowieso keine andere Frau jemals für Sie.«

»Vielleicht mache ich das wirklich«, antwortete Chilton in beinahe drohendem Ton. »Ich wette, mit Miss Greyson hätte ich wesentlich mehr Vergnügen als mir eben hier von Ihnen geboten worden ist.«

Emma fuhr zusammen, aber Edison hielt sie am Arm zurück.

»Daran zweifele ich nicht«, schnauzte Miranda ihren inzwischen ungebetenen Besucher an. »Und jetzt gehen Sie endlich, ja?«

»Ich hatte schon einmal ein hübsches kleines Stelldichein mit einer Gesellschafterin, damals in Ralston Manor.« Chil tons Stimme bekam einen harten, kalten Klang. »Eine richtige kleine Hexe, jawohl. Hat gekämpft wie eine kleine Tigerin.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, eine armselige kleine Gesellschafterin hätte tatsächlich Ihre eleganten Liebestechniken nicht zu würdigen gewusst?«

»Sie hat sich mit Händen und Füßen zur Wehr gesetzt.« Es schien, als hätte Chilton den triefenden Sarkasmus in Mirandas Stimme überhört. »Lady Ralston hat uns zusammen in der Wäschekammer überrascht. Natürlich hat sie das dämliche Geschöpf auf der Stelle vor die Tür gesetzt.«

»Die Einzelheiten Ihrer Eroberung einer niederen Bediensteten interessieren mich nicht, Chilton«, sagte Miranda kühl. Sie hatte sich wieder vollkommen in der Gewalt.

»Natürlich ohne Referenz«, fügte Chilton voller Genugtuung hinzu. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie je wieder einen ähnlichen Posten bekommen hat. Wahrscheinlich schuftet sie inzwischen in irgendeinem Armenhaus für einen Hungerlohn.«

Emma zitterte wie Espenlaub, ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie hatte abermals die Hände zu Fäusten zusammengeballt. Immer noch wusste er nicht, ob aus Zorn oder aus Furcht. Irgendetwas sagte ihm, dass sicher Ersteres zutreffend war, und allmählich machte er sich ernste Sorgen, ob sie nicht jeden Augenblick die Tür des Schranks aufstoßen und sich auf den alten Lüstling stürzen würde. Auch wenn das sicher unterhaltsam wäre, musste er verhindern, dass es so weit kam. Durch eine solch spontane Handlung beschwor sie nicht nur ihren eigenen Ruin herauf, sondern machte auch das Vorhaben zunichte, dessentwegen er hierhergekommen war.

Er verstärkte seinen Griff um Emmas Arm, hoffte, dass sie die Geste richtig deutete, und tatsächlich hielt sie sich zurück.

»Wenn Sie nicht auf der Stelle gehen, Chilton, rufe ich meinen Kammerdiener Swan«, sagte Miranda in eisigem Ton. »Ich bin sicher, er setzt Sie ohne großes Federlesen vor die Tür.«

»Diese Mühe können Sie sich sparen«, knurrte Chilton voller Zorn. »Ich gehe schon von selbst.«

Schritte donnerten über den Boden, und Edison hörte, wie sich die Zimmertür erst öffnete und danach wieder schloss.

»Was für ein Idiot«, sagte Miranda angewidert zu sich selbst. »Schließlich bin ich eine Dame, die sich mit nichts Geringerem als dem Besten zufrieden geben muss.«

Wieder hallten Schritte auf dem Boden, als Miranda durch das Zimmer in Richtung ihres Ankleidetisches ging. Edison hoffte inständig, sie bräuchte nicht etwas aus dem Kleiderschrank.

Leise Geräusche drangen an sein Ohr: das Klicken eines Kammes, der auf die hölzerne Oberfläche des kleinen Tisches fiel, der Stopfen eines Flakons, der herausgezogen und wieder zurückgesteckt wurde, das Flüstern von teurem Satin, weitere Schritte über den Fußboden.

Die Tür des Zimmers wurde noch einmal auf- und wieder zugemacht, und endlich konnten er und Emma aufatmen. »Ich denke«, sagte er, »nachdem wir eine derart intime Erfahrung geteilt haben, sollten wir unsere Bekanntschaft ein wenig vertiefen, Miss Greyson. Ich schlage also vor, wir suchen uns einen etwas gemütlicheren Ort, an dem wir uns ungestört miteinander unterhalten können.«

»Verdammt«, entfuhr es Emma.

»Ganz meine Meinung«, pflichtete er ihr unbekümmert bei.

3. Kapitel

»Bastard. Ekelhafter, schleimiger, widerlicher kleiner Bastard.« Immer noch kochend stapfte Emma wenige Minuten später in den dunklen Garten hinaus.

»Man hat mich bereits des Öfteren mit einigem Recht einen Bastard genannt«, sagte Edison in ruhigem Ton. »Aber nur wenige haben mir das einfach mitten ins Gesicht gesagt.«

Abrupt blieb Emma neben einem überwucherten Zierstrauch stehen. »Ich habe damit zu keiner Zeit –«

»Und niemand«, fuhr er mit neutraler Stimme fort, »niemand hat je gesagt, ich wäre klein.«

Er hatte recht. Nichts an ihm war klein, musste sich Emma eingestehen. Und neben seiner Größe verfügte Stokes über eine vollkommen natürliche, maskuline Eleganz, um die ihn sicher viele Mitglieder der so genannten besseren Gesellschaft glühend beneideten, wenn sie ihm unweigerlich mit Blicken folgten wie einer großen Katze auf der Jagd.

Zerknirscht antwortete sie: »Ich habe über Chilton Grane gesprochen, Sir, nicht über Sie.«

»Das freut mich zu hören.«

»Nachdem ich von Cranes Anwesenheit auf der Burg erfahren hatte, habe ich mich an Mrs. Gatten, die Hausdame, gewandt«, erklärte Emma ihm. »Ich habe sie davor gewarnt, eins der jungen Mädchen allein auf sein Zimmer zu schicken, egal, unter welchem Vorwand er nach ihnen ruft. Außerdem habe ich ihr gesagt, dass sie dafür sorgen soll, dass die weiblichen Bediensteten so oft wie möglich paarweise arbeiten.«

»Ich teile Ihre Einschätzung von Chilton Crane durchaus. Angesichts Ihrer Reaktion auf ihn nehme ich an, Sie waren die unglückliche Gesellschafterin, die er in Ralston Manor in der Wäschekammer überfallen hat?«

Es bestand keine Notwendigkeit, dass sie auf diese Frage eine Antwort gab. Dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, wusste er auch so.

Emma trat etwas tiefer in den dicht bewachsenen Garten und spürte mehr als dass sie hörte, dass Edison ihr auf den Fersen blieb.

Die Gärten von Ware Castle wirkten tagsüber bereits nicht gerade gepflegt. Nachts aber kamen sie mit den massiven Hecken, den ungestutzten Büschen und den wuchernden Ranken einem bedrohlich wilden Dschungel gleich. Einzige Lichtquelle war der Mond. Sein Schimmer ergoss sich über die Landschaft und tauchte alles in erschreckende Schatten aus Silber und Dunkelheit. In dem geisterhaften Licht sah Edisons Gesicht wie eine mit funkelnden Augen bestückte grimmige Maske aus.

Oh je, dachte Emma. Jetzt wusste er über sie Bescheid. Über das, was ihr in Ralston Manor widerfahren war, darüber, dass sie bei einem vorgeblichen Techtelmechtel überrascht, dass sie unehrenhaft entlassen worden war. Wenn sie noch etwas retten wollte, musste sie eilig etwas tun. Sie konnte es sich nicht leisten, ihren momentanen Posten zu verlieren, solange sie nicht wusste, wie sie das finanzielle Desaster überwinden könnte, das über sie und ihre Schwester über Nacht hereingebrochen war.

Es war einfach zu viel. Am liebsten hätte Emma laut geschrien. Stattdessen zwang sie sich, logisch darüber nachzudenken, wie die Situation jetzt noch zu retten war. Es machte keinen Sinn, eine Erklärung zu geben für das, was Edison gehört hatte. Ging es um die Ehre einer Frau, nahmen die Menschen stets das Schlimmste an.

Selbst wenn sie den Vorfall in Ralston Manor in einem günstigeren Licht erscheinen lassen könnte, wäre da immer noch die Tatsache, dass er Zeuge geworden war, wie sie sich eilig in Mirandas Schrank versteckt hatte.

Nur gut, dass sie sich nicht allein in das Versteck geflüchtet hatte, dachte sie. Bei diesem Gedanken empfand sie ehrliche Genugtuung. Zweifellos würde es Edison ebenso schwerfallen wie ihr zu erklären, was er in dem Schrank gemacht hatte.

»Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Zurückhaltung, Miss Greyson«, stellte Edison ohne jede Spur von Häme fest.

Sie blickte über die Schulter zurück und runzelte die Stirn. Sie wusste, dass sie vollkommen zerknautscht aus dem Schrank gekommen war. Ihre Haube saß schief auf ihrem Kopf, einige Strähnen ihrer Haare hatten sich gelöst und fielen wirr um ihr Gesicht, und ihr Kleid war von dem engen Kontakt mit seinem Oberschenkel hoffnungslos zerdrückt.

Edison hingegen sah noch ebenso kühl und elegant wie zu Beginn des Abends aus. Jedes seiner Haare war an seinem Platz. Sein Rock sah frisch gebügelt aus und seine Krawatte wies einen ordentlichen Knoten auf. Es war wirklich ungerecht.

Bei der Erinnerung an die erzwungene Nähe in dem Kleiderschrank rann ihr ein eigenartiger Schauder den Rücken hinab.

»Zurückhaltung, Sir?«

»Sie müssen ernsthaft versucht gewesen sein, aus dem Schrank zu springen und Crane einen Schürhaken oder ähnliches über den Schädel zu ziehen.«

Errötend wandte sie sich ab. Sie traute seinem rätselhaften Lächeln nicht. Ebenso wenig wie sie wusste, was sein allzu ruhiger Ton bedeutete.

»Da haben Sie Recht, Sir. Ich konnte der Versuchung tatsächlich nur mit Mühe widerstehen.«

»Trotzdem bin ich froh, dass es Ihnen gelungen ist. Andernfalls wären wir beide in eine etwas peinliche Situation geraten, denke ich.«

»Das stimmt.« Sie heftete ihren Blick auf ein paar wild wuchernde Ranken, die im Licht des Mondes aussahen wie eine Horde Schlangen, die sich über den Kiesweg schlängelte. »Sehr peinlich sogar.«

»Miss Greyson, was genau haben Sie in Lady Arnes’ Schlafzimmer gesucht?«

Sie stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Ist das nicht offensichtlich? Ich habe gehört, wie Crane und Lady Arnes die Hintertreppe heraufgekommen sind. Ich wollte ihnen keinesfalls begegnen, also habe ich mich im ersten unverschlossenen Schlafzimmer, das ich finden konnte, vor ihnen versteckt. Zufällig handelte es sich dabei um Lady Arnes’ Schlafgemach.«

»Ich verstehe.« Er klang nicht ganz überzeugt.

Emma blieb stehen und wirbelte zu ihm herum. »Und wie steht es mit Ihnen, Sir? Würden Sie mir vielleicht ebenfalls freundlicherweise erklären, weshalb Sie sich in dem Schrank versteckt haben?«

»Ich habe nach etwas gesucht, was Freunden von mir gestohlen worden ist«, kam seine vage Erwiderung. »Ich hatte Informationen, denen zufolge der Gegenstand vielleicht hier auf Ware Castle zu finden ist.«

»Unsinn.« Emma starrte ihn zornig an. »Bilden Sie sich ja nicht ein, Sie könnten mich mit einer derart hanebüchenen Geschichte abspeisen. Lady Arnes ist ganz offensichtlich reich wie Krösus. Sie hat also keinen Grund, das Risiko einzugehen und etwas zu stehlen, was sie haben will.«

»Gerade in der besseren Gesellschaft kommt es hin und wieder vor, dass der äußere Schein, den jemand sich gibt, nicht ganz den Tatsachen entspricht. Aber rein zufällig habe ich Lady Arnes sowieso nicht in Verdacht.«

»Und was haben Sie dann in ihrem Zimmer gemacht? Wissen Sie, nur wenige Minuten vor unserer Begegnung in dem Schrank habe ich zufällig beobachtet, wie Sie ein Stockwerk tiefer durch ein Fenster geklettert sind.«

Er zog erstaunt die Brauen hoch. »Ach, haben Sie mich dabei beobachtet? Sie sind wirklich eine aufmerksame Person. Ich hätte gedacht, dass niemand etwas davon merkt. Früher war ich in solchen Dingen mal sehr gut. Vielleicht sind meine Fähigkeiten etwas eingerostet.« Plötzlich brach er ab. »Aber egal. Zurück zu meiner Anwesenheit in Lady Arnes’ Schlafzimmer. Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung. Ich habe versucht, Ihnen aus dem Weg zu gehen.«

»Mir?«

»Als ich in die obere Etage kam, bemerkte ich jemanden auf dem Balkon am anderen Ende des Korridors. Ich wusste, wer auch immer diese Person war, sie würde mich, wenn sie zurückkommt, auf alle Fälle sehen. Also habe ich mit einem Dietrich eine der Schlafzimmertüren geöffnet und mich in dem Raum versteckt. Ich hatte die Absicht, dort zu warten, bis die Luft wieder rein war, und dann mit meiner Suche fortzufahren.«

»Was für ein hoffnungsloses Durcheinander.« Emma kreuzte die Arme vor der Brust. »Trotzdem nehme ich an, muss ich Ihnen sogar dankbar sein.«

»Und warum das?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie nicht die Tür zu Lady Arnes’ Schlafzimmer geöffnet hätten, hätte ich nicht hinein gekonnt, und in dem ganzen Flur gab es nirgendwo ein anderes Versteck.«

»Es ist mir immer ein Vergnügen, einer charmanten Dame zu Diensten zu sein.«

»Hmm.« Sie bedachte ihn mit einem Seitenblick. »Ich glaube nicht, dass Sie mir erzählen wollen, was genau Sie heute Abend gesucht haben?«

»Ich fürchte, nicht. Das ist eine persönliche Angelegenheit.«

Darauf wette ich, dachte Emma. Was auch immer Edison Stokes im Schilde führte, eins war klar – er hatte mindestens ebenso viel zu verbergen wie sie selbst. »Ihre Geschichte ist wirklich äußerst originell, Mr. Stokes.«

Er setzte ein leichtes Lächeln auf. »Und Sie, Miss Greyson, sind in einer ziemlichen Notlage, nicht wahr?«

Sie zögerte, doch schließlich nickte sie. »Ganz offensichtlich. Ich werde Ihnen gegenüber ehrlich sein. Ich kann mir einen Skandal, durch den ich meinen Posten als Lady Mayfields Gesellschafterin verlieren würde, einfach nicht leisten, Sir.«

»Meinen Sie, dass das wahrscheinlich ist?« Edisons Stimme drückte leise Zweifel aus. »Bei allem Reichtum und bei all dem Ansehen, das Lady Mayfield in den besseren Kreisen genießt, kommt sie mir nicht besonders rigide oder engstirnig vor.«

»Trotzdem wage ich es nicht, ihre Empfindsamkeit auf eine derartige Probe zu stellen«, antwortete Emma ihm. »Lady Mayfield ist mir gegenüber stets sehr freundlich. Ich habe das Glück, dass sie sich gern etwas exzentrisch gibt. Sie toleriert meine kleinen Schwächen eher als meine vorherigen Arbeitgeberinnen, aber –«

»Kleine Schwächen?«

Emma räusperte sich. »In den letzten Monaten habe ich drei Anstellungen verloren, Sir. Wie Ihnen bereits bekannt ist, eine wegen des Zwischenfalls mit Chilton Crane, die anderen beiden jedoch, weil ich gelegentlich einfach ungefragt meine Meinung zu einer Sache äußere. Ich schaffe es einfach nicht, stets die mir gebotene Zurückhaltung an den Tag zu legen, Sir.«

»Ich verstehe.«

»Letty ist in einigen Dingen wirklich liberal –«

»Letty? Ach, Sie meinen Lady Mayfield.«

»Sie besteht darauf, dass ich sie bei ihrem Vornamen nenne. Wie gesagt, sie ist eine ziemlich exzentrische Person. Aber ich kann wohl kaum von ihr erwarten, dass sie mich weiter als Gesellschafterin behält, wenn jemand ernsthaft meine Tugendhaftigkeit in Zweifel zieht. Dadurch würde sie sich selbst der allgemeinen Lächerlichkeit preisgeben.«

»Ich verstehe.« Edison dachte kurz nach. »Tja, dann scheint es so, Miss Greyson, als hätten wir beide allen Grund, mit unseren persönlichen Angelegenheiten auch weiter vertraulich umzugehen.«

»Ja.« Sie atmete ein wenig auf. »Darf ich also davon ausgehen, dass Sie bereit sind, Schweigen zu bewahren über den Zwischenfall, in den ich in Ralston Manor verwickelt war, falls ich mich bereit erkläre, niemandem zu verraten, dass Sie nach Ware Castle gekommen sind, um in den Schlafzimmern der Gäste herumzuschleichen?«

»Genau. Was halten Sie von einem derartigen Gentleman’s Agreement, Miss Greyson?«

Emma sah ihn lächelnd an. »Von einem derartigen Gentleman’s und Ladys Agreement halte ich sehr viel.«

»Bitte verzeihen Sie. Ein Gentleman’s und Lady’s Agreement, natürlich.« Er nickte mit dem Kopf. »Sagen Sie, bedeutet Ihre Betonung der Gleichheit beider Geschlechter zufällig, dass Sie eine Anhängerin von Mary Wollstonecraft und Frauen ihrer Sorte sind?«

»Ich habe Wollstonecrafts Geltendmachung der Rechte von Frauen gelesen, ja.« Emma reckte das Kinn. »Meiner Meinung nach war das Buch von einem großen Maß an Vernunft und gesundem Menschenverstand geprägt.«

»Wenn Sie dieser Meinung sind, werde ich mich nicht mit Ihnen darüber streiten«, sagte er in nachsichtigem Ton.

»Ich bin sicher, dass jede Frau, die sich allein durchs Leben schlagen muss, innerhalb kürzester Zeit Wollstonecrafts Überzeugung, dass die Bildung und die Rechte der Frauen unerlässliche Bestandteile eines menschenwürdigen Daseins sind, nicht nur schätzen, sondern teilen wird.«

»Ist das die Situation, in der Sie sich befinden, Miss Greyson? Müssen Sie sich ganz allein durchs Leben schlagen?«, fragte Edison voll Mitgefühl.

Sie merkte, dass die Unterhaltung plötzlich bemerkenswert intim geworden war. Aber, wie er bereits gesagt hatte, hatten sie schließlich zuvor in Lady Arnes’ Schrank eine noch viel größere Intimität geteilt. Emma hoffte inständig, dass sie nicht weiter jedes Mal erröten würde, sobald sie sich an die Nähe seines allzu warmen, allzu festen Leibes erinnerte. »Nicht ganz. Glücklicherweise habe ich noch eine jüngere Schwester, Daphne, die Mrs. Osgoods Schule für junge Damen in Devon besucht.«

»Ich verstehe.«

»Unglücklicherweise müssen Ende des Monats die Gebühren für das nächste Vierteljahr bezahlt werden. Ich darf diesen Posten also einfach nicht verlieren.«

Er setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Sagen Sie, Miss Greyson, sind Sie ansonsten vollkommen mittellos?«

»Augenblicklich ja.« Sie kniff die Augen zusammen. »Aber ich bin sicher, dass sich das bald ändern wird. Ich habe eine Investition getätigt, die sich eigentlich bereits vor zwei Monaten hätte auszahlen sollen. Leider ist das nicht geschehen, aber ich bin voll der Hoffnung, dass es nicht mehr lange dauern wird.«

»Und falls nicht?«

»Dann überlege ich mir etwas anderes.«

»Das bezweifle ich keine Sekunde, Miss Greyson.« In Edisons Belustigung mischte sich ehrlicher Respekt. »Ganz offensichtlich sind Sie eine energische, einfallsreiche Frau. Darf ich fragen, was mit Ihren übrigen Verwandten geschehen ist?«

»Meine Eltern starben, als Daphne und ich noch sehr jung waren, sodass unsere Großmutter uns beide aufgezogen hat. Sie war eine sehr gebildete Person. Ihr verdanke ich die Bekanntschaft mit Wollstonecraft und den anderen. Aber Granny Greyson starb vor ein paar Monaten und hinterließ uns neben einer bescheidenen Summe nur noch ihr kleines Haus.«

»Was ist mit dem Haus passiert?«

Sie blinzelte. Untrüglich hatte er den Knackpunkt der ganzen Geschichte erkannt. Zu spät erinnerte sie sich an das Getuschel der anderen Gäste der Landparty. Es hieß, dass Stokes ein Mann mit weitreichenden finanziellen Interessen war, und ganz offensichtlich hatte er tatsächlich einen Sinn für alles Geschäftliche.

»Ja, das Haus.« Ihr Lächeln drückte Traurigkeit und Wehmut aus. »Sie haben den Kern des Problems sofort erkannt.«

»Wollen Sie mir erzählen, was mit dem Haus geschehen ist?«

»Warum nicht? Zweifellos können Sie sich die Antwort auf diese Frage sowieso schon denken.« Sie holte Luft und hob den Kopf. »Das Haus war alles, was Daphne und mir auf dieser Welt geblieben war. Das Haus, Sir, und der kleine, dazugehörige Hof, sollte unseren Lebensunterhalt sichern und uns ein Heim bieten.«

»Ich nehme an, dass irgendein Unglück über das Haus hereingebrochen ist?«

Emma kniff sich schmerzhaft in die Unterarme. »Ich habe das Haus verkauft, Mr. Stokes. Dann habe ich die paar Pfund genommen, die ich für das erste Vierteljahr an Mrs. Osgoods Schule für junge Damen bezahlen musste, und habe den gesamten Rest in ein höchst unvernünftiges Unternehmen investiert.«

»Ein Unternehmen.«

»Ja.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich hatte eine Eingebung. Für gewöhnlich ist meine Intuition etwas, worauf man sich hundertprozentig verlassen kann, aber mit jedem Tag wird deutlicher, dass mir dieses Mal offenbar ein gravierender Fehler unterlaufen ist.«

Nach Kurzem Schweigen sagte Edison: »Mit anderen Worten, Sie haben alles verloren, was Ihnen hinterlassen worden war.«

»Nicht unbedingt. Ich hoffe immer noch –« Sie brach ab und sah ihn an. »Alles, was ich brauche, sind ein bisschen Zeit und etwas Glück.«

»Ich war schon immer der Ansicht, dass Glück eine extrem unzuverlässige Voraussetzung für den Erfolg gleichwelches Unternehmens ist«, erwiderte er mit einem ernüchternden Mangel an Mitgefühl.

Sie runzelte die Stirn. Schon bedauerte sie den seltsamen Impuls, der sie dazu bewogen hatte, einem völlig Fremden derart persönliche Dinge anzuvertrauen. »Sparen Sie sich Ihre klugen Worte, Sir. Für einen Mann mit Ihrem Reichtum und Ihrer Macht ist es einfach, deprimierende Bemerkungen zum Thema Glück zu machen, aber es gibt Menschen, die haben nun einmal nicht viel anderes, mit dem sich arbeiten lässt.«

»Ihr Stolz ist dem meinen nicht unähnlich«, sagte er sanft. »Ob Sie es nun glauben oder nicht, ich weiß, wie es ist, wenn man ganz allein und ohne einen Penny ist.«

Beinahe hätte sie laut gelacht. »Wollen Sie damit etwa sagen, Sie selbst waren einmal arm gewesen, Mr. Stokes? Das zu glauben fällt mir wirklich äußerst schwer.«

»Glauben Sie es ruhig, Miss Greyson. Meine Mutter war Gouvernante und wurde ohne Referenz hinausgeworfen, nachdem sie von einem Gast des Hauses, in dem sie arbeitete, verführt und geschwängert worden war. Und der Schurke, der mein Vater war, hat sich in dem Augenblick, in dem er von der Schwangerschaft erfuhr, wortlos und für alle Zeiten von ihr abgewandt.«

Vor Empörung zitternd öffnete sie den Mund, klappte ihn wieder zu und öffnete ihn abermals. »Das tut mir leid, Sir. Ich hatte keine Ahnung, dass –«

»Sie sehen also, dass ich durchaus ein gewisses Verständnis habe für Ihre Situation. Glücklicherweise landete meine Mutter nicht im Armenhaus, sondern zog zu einer alten Tante nach Northumberland. Als diese Tante nach wenigen Jahren starb, hinterließ sie uns genug zum Überleben, und außerdem schickte die Mutter meines Vaters gelegentlich ein bisschen Geld.«

»Das war aber sehr nett von ihr.«

»Niemand, der sie kennt«, sagte er sehr ruhig, »würde je den Riesenfehler begehen und Lady Exbridge nett nennen. Sie hat das Geld geschickt, weil sie es als ihre Pflicht ansah. Bereits unsere Existenz sieht sie als große Schande an, aber sie ist sich dessen, was sie Verantwortung gegenüber der Familie nennt, extrem bewusst.«

»Mr. Stokes, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Da gibt es nichts zu sagen.« Er winkte müde ab. »Meine Mutter starb an einer Lungenentzündung, als ich siebzehn war. Ich glaube nicht, dass sie je die Hoffnung aufgegeben hat, dass mein Vater sich eines Tages seiner Liebe zu ihr bewusst und obendrein seinen unehelichen Sohn anerkennen würde.«

Die Leichtigkeit, mit der er sprach, verdeckte nicht zur Gänze seinen Zorn. Seine arme Mutter war nicht die Einzige gewesen, die gehofft hatte, dass der Schwerenöter, der ihn gezeugt hatte, eines Tages doch noch Interesse an seinem illegitimen Nachkommen zeigen würde, stellte Emma fest.

Irgendwo, irgendwie, so wurde Emma klar, hatte Edison einen Weg gefunden, den Zorn zu kühlen, der in seinem Inneren loderte. Doch schwinden würde dieser Zorn, auch wenn er ihn beherrschte, sicher nie.

»Ihr Vater, Sir.« Sie machte eine Pause, da sie nicht wusste, ob ihre Frage vielleicht zu verwegen war. »Darf ich fragen, ob Sie ihm jemals begegnet sind?«

Edison lächelte wie ein großer, grauer Wolf. »Nachdem seine Frau und sein Erbe im Kindbett gestorben waren, hat er mich ein-, zweimal besucht. Allerdings kamen wir uns nie besonders nah. Er starb, als ich neunzehn und gerade außer Landes war.«

»Wie traurig.«

»Ich glaube, Miss Greyson, jetzt habe ich genug zu diesem Thema gesagt. Die Vergangenheit ist nicht so wichtig. Ich habe sie lediglich erwähnt, um Ihnen deutlich zu machen, dass ich Ihre Notlage durchaus verstehen kann. Heute Abend jedoch geht es einzig und allein darum, einander zu versprechen, dass die Geheimnisse des jeweils anderen sicher sind. Ich bin sicher, dass ich mich drauf verlassen kann, dass Sie Ihren Teil der Übereinkunft einhalten.«

»Darauf gebe ich Ihnen mein Wort, Sir. Und falls Sie mich jetzt bitte entschuldigen, muss ich langsam wirklich ins Haus zurück. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, kann ich es mir nicht leisten, mit Ihnen oder irgendeinem anderen Gentleman allein hier draußen im Garten gesehen zu werden.«

»Ja, natürlich. Das Problem des guten Rufs.«

Emma stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Es ist wirklich lästig, wenn man ständig auf seinen Ruf bedacht sein muss, aber in einem Metier wie dem meinen ist er eine unerlässliche Voraussetzung.«

Gerade, als sie gehen wollte, legte er sanft, aber entschieden seine Hand auf ihren Arm. »Falls es Ihnen nichts ausmacht, habe ich noch eine letzte Frage an Sie.«

Sie blickte zu ihm auf. »Was für eine Frage, Sir?«

»Was werden Sie tun, falls sich Chilton Crane daran erinnert, wer Sie sind?«

Sie erschauderte. »Ich glaube nicht, dass das passiert. Während meiner Zeit in Ralston Manor hatte ich eine dunkle Perücke und keine Brille.«

»Aber wenn er sich an Ihr Gesicht erinnert?«

Sie richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf. »Dann wird mir schon etwas einfallen. Bisher habe ich noch immer für alles eine Lösung gefunden, Sir.«

Zum ersten Mal, so dachte sie, sah er sie mit einem fröhlichen und vor allem echten Lächeln an.

»Das kann ich mir sehr gut vorstellen«, erklärte er. »Sie erscheinen mir wie eine durchaus einfallsreiche Frau. Und nun laufen Sie los. Ihre Geheimnisse werden bei mir sicher sein.«

»Und Ihre Geheimnisse bei mir. Gute Nacht, Mr. Stokes.

Und viel Glück bei der Suche nach dem, was Ihren Freunden gestohlen worden ist.«

»Danke, Miss Greyson«, kam seine unerwartet förmliche Erwiderung. »Und viel Glück bei Ihren Versuchen, die verlorenen Investitionen wieder hereinzubekommen.«

Sie betrachtete sein im Dunkeln liegendes Gesicht und kam zu dem Schluss, dass Mr. Stokes ein eigenartiger und vielleicht unter bestimmten Umständen auch gefährlicher Zeitgenosse war. Aber auf sein Wort war sicherlich Verlass. Das sagte ihr Gefühl.

Sie wünschte einzig, auch auf ihr Gefühl wäre wie früher völliger Verlass.

4. Kapitel

»Himmel, Emma, wo ist nur mein Tonikum? Ich habe heute Morgen wirklich widerliche Kopfschmerzen.« Letitia, Lady Mayfield, richtete sich in ihren Kissen auf und blickte stirnrunzelnd auf das Tablett mit heißer Schokolade, das soeben von einem der Mädchen hereingetragen worden war. »Ich nehme an, ich habe einfach etwas zu häufig an Wares französischem Champagner genippt. Heute Abend werde ich mich ein wenig zurückhalten.«

Was Emmas Meinung nach nicht sehr wahrscheinlich war. Letty war, wenn es um Champagner ging, alles andere als zurückhaltend. Sie nahm die Flasche mit dem Gebräu und trat mit ihr ans Bett.

»Hier ist es, Letty«, sagte sie.

Lettys leicht glasiger Blick fiel auf die Flasche in Emmas Hand, und eilig streckte sie die Finger danach aus. »Gott sei Dank. Ich weiß nicht, was ich ohne mein Tonikum machen würde. Es wirkt wahre Wunder.«

Emma vermutete, dass die Flasche eine großzügige Menge Gin sowie diverse andere widerliche Zutaten enthielt, aber sie enthielt sich eines Kommentars. Während der letzten Wochen hatte sie ihre neueste Arbeitgeberin kennen- und durchaus schätzen gelernt, ja, sie sah Lady Mayfield sogar gewissermaßen als ihr heimliches Vorbild an, denn Letty stammte ebenfalls aus ärmlichen Verhältnissen.

Nachdem sie als Letty Piggins, Tochter eines verarmten Bauern aus Yorkshire, auf die Welt gekommen war, hatte sie sich, wie sie stets gern erzählte, als junge Frau nach London aufgemacht. Und zwar mit einer Mitgift, die einzig aus ihrer Tugend und ihren wunderbaren Rundungen bestand.

»Ich habe, was ich hatte, weise investiert, Mädchen, und sehen Sie, wie weit ich es damit gebracht habe. Lassen Sie sich meine Geschichte eine Lehre sein.«

Soweit Emma wusste, hatte Letty einen beachtlichen Teil ihrer Mitgift in einem Kleid mit möglichst tiefem Ausschnitt vorteilhaft zur Schau gestellt, woraufhin sie dem ältlichen Lord Mayfield aufgefallen war. Er hatte sie umgehend per Sonderheiratserlaubnis geehelicht, war drei Monate später gestorben und hatte seiner jungen Frau zum Trost für den Verlust seinen Titel und seine Reichtümer vermacht.

Wirklich vorbildlich.

Letty gab großzügig von ihrem Tonikum in einen Krug und leerte ihn in einem Zug. Dann rülpste sie leise und seufzte vor Zufriedenheit.

»Das sollte helfen. Danke, meine Liebe.« Sie gab Emma die Flasche zurück. »Seien Sie so gut und heben Sie sie bis morgen auf. Wahrscheinlich brauche ich sie dann noch mal. Und nun erzählen Sie mir doch, was für seltsame, ländliche Vergnügungen Ware heute für uns in petto hat.«

»Als ich vorhin unten war«, antwortete Emma ihr, »hat mir die Hausdame erklärt, dass sich die Herren heute Nachmittag im Dorf ein Rennen ansehen, während die Damen ihr Können im Bogenschießen und bei anderen Spielen auf die Probe stellen.«

Letty sagte ein wenig wehmütig: »Ich würde lieber zu dem Rennen gehen, aber ich nehme an, dass das nicht möglich ist.«

»Auf alle Fälle würde es den hiesigen Adel sicher schockieren, wenn eine Dame zusammen mit den Bauern und den Herren aus der Stadt auf eins der Tiere setzen würde«, stellte Emma fest. »Übrigens hat die Köchin gesagt, dass es das Frühstück wieder etwas später geben wird.«

»Das will ich doch hoffen.« Letty massierte ihre Schläfen. »Ich bezweifle, dass ich mich in der nächsten Stunde auch nur aus dem Bett erheben kann. Und vor zwölf bekomme ich ganz sicher keinen Bissen herunter, womit es mir bestimmt wie allen anderen geht. Wir waren alle ziemlich hinüber, als wir schließlich zu Bett gegangen sind.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

Letty kniff die Augen zusammen und sah Emma an. »Ich nehme an, Sie sind wie üblich schon seit Stunden auf?«

»Ich war schon immer eine Frühaufsteherin«, murmelte Emma. »Mir ist durchaus bewusst, dass Ihrer geschätzten Meinung nach so früh am Morgen nichts Besonderes passiert, aber einige von uns hält es trotzdem einfach nicht länger in den Betten.«

Es wäre sinnlos, Letty zu erklären, dass sie noch früher als gewöhnlich aufgestanden war, da sie sowieso kaum ein Auge zugetan hatte. Seltsamerweise hatte nicht der Gedanke an Chilton Crane sie am Schlafen gehindert, sondern die Erinnerung an die spätabendliche Begegnung mit Edison Stokes.

Zumindest war das mal etwas anderes. Für gewöhnlich wälzte sie sich wach in ihrem Bett, weil das Gespenst ihres drohenden finanziellen Ruins sie keine Ruhe finden ließ. Und Edison Stokes war auf alle Fälle interessanter als ihre eigene ungewisse Zukunft, stellte sie philosophisch fest.

Ihr kam der Gedanke, dass es angesichts ihrer durchaus nicht ungefährlichen Übereinkunft mit ihm sicher angeraten wäre, fände sie so viel wie möglich über ihn heraus. Letty war immer eine hervorragende Informationsquelle, sobald es um die Reichen und Mächtigen des Landes ging.

Emma räusperte sich. »Gestern Abend habe ich auf der Treppe noch kurz mit Mr. Stokes geplaudert. Ein wirklich interessanter Gentleman.«

»Haha. Geld hat es nun mal so an sich, dass es einen Mann interessant erscheinen lässt«, stellte Letty beinahe genüsslich fest. »Und Stokes hat genug, um nicht nur interessant, sondern rundweg faszinierend zu sein.«

Emma tastete sich vorsichtig weiter. »Ich nehme an, er hat es durch Spekulationen erwirtschaftet.«

»Aber sicher doch, wie sonst? Als Junge war er arm wie eine Kirchenmaus. Wissen Sie denn nicht, dass er ein sogenannter Bastard ist? Vater war der Exbridge-Erbe. Hat irgendeine törichte kleine Gouvernante verführt.«

»Ich verstehe.«

»Lady Exbridge hat ihrem Enkel natürlich nie verziehen.«

»Es war ja wohl kaum Mr. Stokes’ Fehler, dass er unehelich auf die Welt gekommen ist.«

Letty verzog das Gesicht. »Ich bezweifle, dass Sie Victoria jemals davon überzeugen könnten, dass das so ist. Jedes Mal, wenn sie ihn sieht, muss sie der Tatsache ins Auge sehen, dass ihr Sohn Wesley keinen rechtmäßigen Erben hatte, als er sich bei einem Reitunfall das Genick gebrochen hat. Wissen Sie, das nagt an ihr.«

»Sie meinen, dass sie den Zorn auf ihren Sohn einfach auf den Enkel übertragen hat?«

»Ich nehme an, dass man das so sagen kann. Nicht nur, dass Wesley das Zeitliche gesegnet hat, ehe er der Pflicht seinem Titel gegenüber Genüge tun konnte, hat er es darüber hinaus auch noch geschafft und vor seinem Tod das gesamte Vermögen der Familie am Kartentisch verzockt.«

»Klingt, als ob dieser Wesley zumindest die Tugend der Konsequenz besessen hat.«

»Das stimmt. Er hat der Familie in allen nur denkbaren Bereichen Schande gemacht. Auf alle Fälle kehrte ungefähr zur Zeit seines Todes der junge Stokes mit einem Vermögen aus dem Ausland zurück. Er hat die Gläubiger der Exbridges ausbezahlt und Victoria auf diese Weise vor dem Bankrott bewahrt. Was sie ihm natürlich ebenfalls nicht verzeihen kann.«

Emma zog die Brauen hoch. »Ich wette, dass sie das Geld trotzdem genommen hat.«

»Natürlich hat sie das. Man kann Victoria vieles vorwerfen, aber Dummheit gehört ganz sicher nicht dazu. Tja, in den letzten Jahren habe ich sie nicht mehr allzu häufig gesehen. Wir waren niemals enge Freundinnen, aber man traf sich eben immer mal wieder bei irgendwelchen gesellschaftlichen Anlässen. Nach Wesleys Tod jedoch hat sie sich vollkommen in ihr Haus zurückgezogen. Sie nimmt keine Einladungen mehr an. Ich glaube, hin und wieder geht sie ins Theater, aber das dürfte auch schon alles sein.«

»Offensichtlich ist ihr Enkel ein geselligerer Mensch.«

»Eigentlich nicht.« Letty setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Ich kenne in ganz London keine Gastgeberin, die nicht einen Mord begehen würde, nur, damit er eine ihrer Soireen oder einen ihrer Bälle besucht. Aber im Allgemeinen hält er sich von derartigen Festen fern. Seltsam, dass er überhaupt hier zu Wares Landparty erschienen ist.«

»Ich nehme an, dass er sich in London einfach gelangweilt hat. Das ist für Gentlemen wie ihn ein häufiges Problem. Sie sind beständig auf der Suche nach neuem Amüsement.«

»Stokes nicht.« Letty bedachte sie mit einem wissenden Blick. »Es kann nur einen Grund geben, weshalb er eine Einladung wie diese angenommen hat.«

Emma hielt den Atem an. War es möglich, dass Letty den wahren Grund für Stokes Erscheinen auf der Burg erraten hatte?

»Und der wäre?«, fragte sie.

»Ganz offensichtlich ist er auf der Suche nach einer geeigneten Ehefrau.«

Emma starrte sie mit großen Augen an. »Einer Ehefrau?«

Letty schnaubte verächtlich auf. »Allerdings ist offensichtlich, dass der Mann von diesen Dingen keine große Ahnung hat. Hier wird er wohl kaum eine passende junge Frau aus guter Familie vorfinden. Basil Ware veranstaltet diese Landparty nur aus dem Grund, dass man sich amüsieren soll.«

»Das stimmt. Die einzigen allein stehenden Damen, die er eingeladen hat, sind wohlhabende Witwen wie Lady Arnes. Nicht gerade die Art Frau, die einen Mann auf der Suche nach einer jungfräulichen Braut mit tadellosem Ruf ansprechen dürfte, denke ich.« Emma konnte unmöglich erklären, dass sie aus sicherer Quelle wusste, dass Edison zumindest gerade jetzt keineswegs auf Brautschau war.

Natürlich könnte er, nachdem sein Auftrag erledigt wäre, zu dem Schluss kommen, sich die Waren auf dem Heiratsmarkt genauer anzusehen.

Ein leises Klopfen unterbrach ihren Gedankengang.

»Herein«, rief Emma und lächelte das schüchterne Mädchen freundlich an, das in der Tür erschien. »Guten Morgen, Polly. Komm herein.«

»Morgen, Miss Greyson.«

»Ich nehme an, das ist mein Kaffee?« Letitia blickte hoffnungsvoll auf das Tablett, das Polly in den Händen hielt. »Ja, Ma’am. Und etwas Toast, genau, wie Sie gesagt haben.« Polly stellte das Tablett auf einen Tisch. »Hätten Sie gern sonst noch was, Ma’am?«

»Ja, nimm diese widerliche Schokolade wieder mit. Ich verstehe einfach nicht, wie irgendjemand den Tag mit ekelhafter, heißer Schokolade anfangen kann. Kaffee ist das Einzige, was bei mir funktioniert.«

»Ja, Ma’am.« Polly nahm eilig das Schokoladentablett von der Bettdecke.

»Haben Sie schon Kaffee oder Tee getrunken, meine Liebe?« Letty blickte Emma an.

»Ja, vielen Dank, Letty. Ich habe vorhin eine Tasse getrunken, als ich unten war.«

»Hmm.« Letty kniff die Augen zusammen. »Wie kommen Sie eigentlich so ganz allein oben im dritten Stock zurecht?«

»Sehr gut«, versicherte Emma ihr. »Machen Sie sich über mich keine Gedanken, Letty. Mrs. Gatten hat mir ein hübsches, kleines Zimmer zugeteilt. Es ist ruhig und etwas abgelegen, wie es mir gefällt.«

Wenn sie ehrlich war, so hasste sie das kleine, dunkle Schlafzimmer im dritten Stock. Irgendwie machte es sie depressiv. Nein, mehr als das. Man bekam dort eine Gänsehaut. Es hätte sie nicht überrascht, wenn sie erfahren hätte, dass irgendwann einmal in der Geschichte der Burg irgendjemand irgendeine Gewalttat dort verübt hatte.

Polly blickte Emma an. »Verzeihen Sie, Ma’am, aber die Hausdame hat Sie deshalb dort untergebracht, weil es Miss Kents Zimmer gewesen ist. Ich nehme an, Mrs. Gatten dachte, wenn es für sie gut genug gewesen ist, ist es auch gut genug für Sie.«

»Wer ist Miss Kent?« Emma sah das Mädchen fragend an.

»Sie war die Gesellschafterin von Lady Ware, der verstorbenen Tante des jetzigen Burgherrn, die bis zu ihrem Tod die Herrin über das Anwesen war. Lady Ware hatte Miss Kent angeheuert, um während der letzten paar Monate ihrer schrecklichen Krankheit nicht allein zu sein. Und dann war sie plötzlich fort.«

»Lady Ware?« Letitia zuckte mit den Schultern. »Das ist wohl nicht weiter überraschend. Die meisten toten Menschen besitzen den Anstand zu verschwinden, nachdem sie die Augen endgültig zugeklappt haben.«

»Ich habe nicht Lady Ware gemeint, Ma’am.« Polly wirkte ungewöhnlich aufgeregt. »Natürlich ist die Herrin tot und begraben, Gott hab’ sie selig. Es war Miss Kent, die einfach ganz plötzlich wie ein Geist verschwand.«

»Was hätte sie unter den gegebenen Umständen auch anderes tun sollen?«, warf Emma trocken ein. »Nachdem ihre Arbeitgeberin gestorben war, gab es schließlich niemanden mehr, der sie bezahlt hätte. Ich nehme an, dass Miss Kent inzwischen in irgendeinem anderen Haushalt arbeitet.«

Polly schüttelte den Kopf. »Das ist wohl eher unwahrscheinlich.«

Emma runzelte die Stirn. »Was meinst du, das ist eher unwahrscheinlich?«

»Sie ist einfach ohne Referenz gegangen.«

Emma sah sie verwundert an. »Weshalb in aller Welt hätte sie so etwas tun sollen?«

»Mrs. Gatten denkt, dass sie deshalb einfach so gegangen ist, weil sie sich mit dem gnädigen Herren eingelassen hat. Und dann haben die beiden einen fürchterlichen Streit gehabt.«

»Und worum ging es bei dem Streit?«

»Das weiß keiner von uns. Es passierte eines späten Abends, ein paar Tage nachdem Lady Ware gestorben war. Und am nächsten Morgen war sie mitsamt ihren ganzen Sachen fort.«

»Oh je«, flüsterte Emma.

»Wenn Sie mich fragen, war das wirklich seltsam.« Ganz offensichtlich erwärmte sich Polly für ihre Erzählung »Aber seit dem Abend, an dem Lady Ware gestorben war, hatte sie sich wirklich eigenartig aufgeführt.«

»Eigenartig?«, fragte Letty mit flüchtigem Interesse. »Was meinst du mit eigenartig, Mädchen?«

»Wissen Sie, ich war diejenige, die sie gefunden hat. Ich meine, Lady Ware.« Polly senkte ihre Stimme auf ein vertrauliches Flüstern herab. »Ich habe ein Tablett mit Tee auf ihr Zimmer gebracht, dieses Zimmer hier, und dann –«

Letty riss entsetzt die Augen auf. »Gütiger Himmel. Willst du damit sagen, dass das hier Lady Wares privates Schlafzimmer gewesen ist? Das, in dem sie gestorben ist?« Polly nickte eifrig mit dem Kopf. »Genau. Aber wie gesagt, ich habe ihr also eine Tasse Tee raufbringen wollen. Als ich den Flur herunterkam, sah ich, dass Mr. Ware aus diesem Zimmer kam. Er hatte ein ganz ernstes Gesicht. Als er mich sah, sagte er, Lady Ware wäre im Schlaf gestorben. Er sagte, er würde die notwendigen Vorkehrungen treffen und den Haushalt informieren.«

»Tja, schließlich ist es nicht so, als ob sie überraschend gestorben wäre«, stellte Letty philosophisch fest.

»Nein, Ma’am«, pflichtete Polly ihr mit ernster Miene bei. »Wir alle haben uns sowieso gefragt, wie sie so lange durchgehalten hat. Tja, ich kam also hier in das Zimmer und habe ihr gerade die Decke über das Gesicht gezogen, als das Seltsame geschah.«

»Nun?«, drängte Letty sie. »Was geschah denn nun Seltsames?«

»Miss Kent kam aus dem Ankleidezimmer geflogen.« Polly nickte in Richtung der Tür, durch die man aus dem Schlafzimmer in die angrenzende Kammer kam. »Sie war vollkommen aufgelöst. Sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen.«

»Vielleicht hatte sie das ja auch«, warf Letty ein. »Den Geist von Lady Ware.«

Emma runzelte die Stirn. »Sie glauben doch sicher nicht an Geister, Letty.«

Letty zuckte mit den Schultern. »Wenn man in mein Alter kommt, lernt man, dass es alle möglichen seltsamen Dinge auf der Erde gibt.«

Emma ging über diese Feststellung hinweg und wandte sich wieder dem Mädchen zu. »Vielleicht war Miss Kent ganz einfach aufgeregt, weil Lady Ware gestorben war.«

»Aber was hat sie in dem Ankleidezimmer gemacht?«, fragte Polly, ehe sie sie sich umgehend selbst beantwortete. »Wissen Sie, was ich denke?«

»Ich bin sicher, dass du es uns gleich sagen wirst«, antwortete Emma ihr.

Polly zwinkerte vielsagend. »Ich denke, sie und der gnädige Herr haben sich drüben im Ankleidezimmer miteinander vergnügt, als Lady Ware gestorben ist. Ich nehme an, es hat Miss Kent einen Heidenschrecken eingejagt, als sie wieder rauskam und sah, dass Lady Ware in der Zwischenzeit den Löffel abgegeben hatte.«

Letty lächelte amüsiert. »Die arme Frau. Entdecken zu müssen, dass die Arbeitgeberin gestorben ist, während sie selbst gerade im Nebenzimmer ein bisschen Spaß hatte, war sicher alles andere als angenehm.«

»Ganz zu schweigen von dem Schock, den es ihr versetzt haben muss, plötzlich arbeitslos zu sein«, murmelte Emma so leise, dass keine der beiden anderen sie verstand.

»Wie gesagt, ein paar Tage später war sie verschwunden.« Pollys Miene wurde wieder angemessen ernst. »Mrs. Gatten hat gesagt, sicher bekäme Miss Kent nie wieder einen derartigen Posten, denn keine Dame mit auch nur einem Funken Anstand im Leib würde eine Gesellschafterin nehmen, die ohne Empfehlungsschreiben kommt.«

Es gab Wege, auf denen sich dieses Problem einfach umgehen ließ, dachte Emma, hielt es allerdings für besser, wenn sie diesen Gedanken in Anwesenheit ihrer momentanen Arbeitgeberin nicht laut aussprach.

Letty schüttelte den Kopf. »Eine junge Frau muss das, was sie besitzt, so einsetzen, dass es sich lohnt. Wenn sie ihre Tugend und ihren Ruf einer kurzen Affäre wegen riskiert, muss sie damit rechnen, dass es mit ihr ein schlimmes Ende nimmt.«

»Trotzdem war es bedauerlich«, sagte Polly aus Richtung der Tür. »Miss Kent war immer gut zu Lady Ware. Sie hat Stunde um Stunde neben ihrem Bett verbracht, obgleich die gnädige Frau es die meiste Zeit wegen des Opiums, das sie gegen ihre Schmerzen nahm, gar nicht mitbekommen hat. Trotzdem hat Miss Kent bei ihr gesessen und gestickt. Dafür hatte sie ein besonderes Talent.«

Stille senkte sich über den Raum, nachdem Polly gegangen war. Emma nutzte sie und dachte über die Gefahren ihres Berufes nach.

»Ich fürchte, diese Geschichte hört man immer wieder«, stellte Letty schließlich fest. »Sicher hat sie tatsächlich keine große Chance auf eine neue Anstellung als Gesellschafterin, wenn sie keine Empfehlung ihrer letzten Arbeitgeberin vorzuweisen hat. Es ist wirklich deprimierend, wenn eine junge Frau das, was sie hat, derart vergeudet, finde ich.«

»Hmm«, antwortete Emma nur. Sie dachte an die Referenzen, die sie sich in den letzten Wochen selbst geschrieben hatte und fügte nach einem Augenblick hinzu: »Manchmal genügt es schon, wenn man sich den Anschein gibt, dass man über bestimmte Qualitäten oder Vorzüge verfügt.«

Letty zog ihre dünnen, grauen Brauen hoch und ihre leuchtend braunen Augen blitzten vor Belustigung.

»Wenn eine junge Frau clever genug ist, das zu tun, dann sollte sie dieses Talent nutzen und sich einen reichen Alten angeln, der nicht mehr lange lebt. Glauben Sie mir ruhig, die Welt liegt ihr zu Füßen, sobald ihr das gelungen ist.«

Bei dem Gedanken, einen Mann zu heiraten, den sie weder lieben noch respektieren könnte, ballte Emma unweigerlich die Faust. Sie würde darum kämpfen, dass sowohl ihr als auch Daphne einmal ein besseres Schicksal beschieden war.

»Ich habe nicht die Absicht zu heiraten, Letty«, stellte sie denn auch entschieden fest.

Letty sah sie fragend an. »Liegt das daran, dass Sie Ihr Kapital bereits vergeudet haben oder daran, dass Ihnen die Vorstellung, damit an die Börse zu gehen, nicht gefällt?«

»Falls ich meine Unschuld bereits verloren hätte, würde ich das doch sicherlich nicht zugeben und das Risiko eingehen, meine Stelle als Ihre Gesellschafterin zu verlieren.« Emma lächelte verschmitzt und Letty brach in fröhliches Gelächter aus.

»Sehr gut reagiert, meine Liebe. Dann sagt Ihnen die Vorstellung, Ihre Unschuld gegen einen Ehering einzutauschen, also nicht zu?«

»In letzter Zeit habe ich eine Menge Pech gehabt, aber noch nicht genug, um versucht zu sein, mir einen Ehemann zu angeln«, antwortete Emma wahrheitsgemäß.

Die Londoner Zeitungen kamen am späten Vormittag. Wie die meisten Adligen auf dem Land hatte auch Basil Ware mehrere Blätter abonniert.

Inzwischen waren die meisten Gäste aus dem Schlaf erwacht, aber bisher hatte sich noch kaum einer vor seine Zimmertür gewagt, sodass Emma in der Bibliothek alleine war. Voller Ungeduld wartete sie darauf, dass die rundliche, gutmütige Mrs. Gatten endlich die Zeitungen hereinbrachte, und als sie schließlich kam, hätte sie sie ihr beinahe aus den Händen gerissen vor lauter Ungeduld.

»Danke, Mrs. Gatten.« Sie stürzte mit den Zeitungen zu einem Fensterplatz.

»Gern geschehen.« Mrs. Gatten schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der derart versessen aufs Zeitunglesen ist. Nicht, dass je irgendetwas Gutes drin stünde.«

Emma wartete ungeduldig, bis die Hausdame wieder gegangen war, riss sich die nutzlose Brille von der Nase, legte sie neben sich und sah die Blätter eilig auf Schiffsmeldungen durch.

Kein Wort über die Goldene Orchidee, das Schiff, in das sie beinahe den gesamten Erlös aus dem Verkauf des Hauses in Devon investiert hatte. Das Schiff war seit nunmehr zwei Monaten überfällig.

Vermutlich auf See verloren gegangen.

Diese schrecklichen Worte hatte Emma zum ersten Mal vor sechs Wochen unter den Schiffsmeldungen diverser Zeitungen gelesen, aber immer noch gab sie die Hoffnung nicht zur Gänze auf. Sie war sich so sicher gewesen, dass ihre Investition in die Goldene Orchidee ein cleverer Schachzug war. Nie zuvor hatte sie ein besseres Gefühl gehabt als an dem Tag, an dem sie alles, was sie besaß, auf das Schiff gesetzt hatte.

»Verdammtes Ding.« Sie warf die letzte Zeitung fort. »Das war wirklich das allerletzte Mal, dass ich mich auf meine Eingebung verlassen habe.«

Doch noch während sie das sagte, wusste sie genau, dass sie sich selbst belog. Manchmal war ihr Gefühl derart übermächtig, dass es sich beim besten Willen nicht einfach ignorieren ließ.

»Guten Tag, Miss Greyson. Miss Greyson ist doch richtig, oder nicht? Ich fürchte, ich habe Sie seit Ihrer Ankunft noch nicht allzu oft gesehen.«

Emma fuhr zusammen, als sie die Stimme ihres Gastgebers vernahm. Sie griff nach ihrer Brille, setzte sie eilig wieder auf und wandte sich dem in der Tür stehenden Herren höflich zu.

»Mr. Ware. Guten Tag, Sir. Ich habe Sie gar nicht kommen hören.«

Basil Ware war ein offengesichtiger, frischer, sportlich attraktiver Mann. Besonders gut sah er in seiner oft getragenen Reitgarderobe aus. Meistens hielt er dabei seine Gerte in der Hand, so wie andere Männer ihre Spazierstöcke. Trotz der Jahre, die er in Amerika verbracht hatte, war er mit seiner Begeisterung für Hunde und Pferde und die Jagd der typische englische Gentleman.

Letty zufolge war Basil Ware wie so viele jüngere Söhne alleine und verarmt nach Amerika gegangen, um dort sein Glück zu machen. Anfang letzten Jahres war er nach England zurückgekommen, als er erfahren hatte, dass seine Tante im Sterben lag und er ihr einziger überlebender Erbe war.

Nachdem er sein Erbe schließlich angetreten hatte, hatte Basil sich mit einer Leichtigkeit und einer charmanten Eleganz in den glitzernden Kreisen der sogenannten besseren Gesellschaft bewegt, dass er sich innerhalb kürzester Zeit einer großen Beliebtheit erfreut hatte.

»Steht irgendetwas Interessantes in den Zeitungen?«, fragte er, während er in den Raum geschlendert kam. »Ich muss gestehen, dass ich während der letzten paar Tage nicht dazu gekommen bin, mich über das, was sich in London ereignet, zu informieren. Ich hatte einfach zu viel mit der Unterhaltung meiner Gäste zu tun.«

»Ich habe nichts Besonderes entdeckt.« Emma erhob sich von ihrem Platz und strich ihre langweiligen, braunen Röcke glatt.

Sie wollte sich gerade entschuldigen, als eine riesige, leicht vornüber gebeugte Gestalt in Lady Ames’ auffälliger blausilberner Livree im Türrahmen erschien.

Swan, Mirandas Kammerdiener, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem eleganten Namensgeber, dachte sie. Sein Hals war so dick, dass er beinahe nicht zu existieren schien. Sein Gesicht war flach und breit. Der Stoff seiner teuren Livree spannte sich über den sich wölbenden Muskeln seiner Brust und seiner Oberschenkel, und seine Hände und Füße erinnerten Emma an den Bären, den sie einmal auf einem Jahrmarkt gesehen hatte.

Kein Wunder, dass Chilton Crane am Vorabend so eilig aus Mirandas Zimmer geflohen war, nachdem sie gedroht hatte, andernfalls würfe ihr Kammerdiener ihn hinaus.

Doch bei aller Grobschlächtigkeit hatte Swan einen ehrlichen, ernsten Gesichtsausdruck. Er war kein brutaler Kerl. Er hatte einfach das Pech, wie einer auszusehen.

»Verzeihen Sie, Sir«, sagte Swan mit einer Stimme, die an ein rostiges Rasiermesser erinnerte. »Ich habe eine Nachricht von meiner Herrin für Sie. Lady Ames hat gesagt, ich soll Ihnen ausrichten, dass sie die Damen, während die Herren bei dem Rennen sind, gerne unterhält.«

»Hervorragend. Dann brauche ich mir also keine Gedanken darüber zu machen, dass sich die Damen langweilen, solange ich mit den Herren unterwegs bin, nein?«

Swan räusperte sich. »Auch Ihnen, Miss Greyson, soll ich etwas ausrichten.«

»Mir? Von Lady Arnes?« Emma war ehrlich verblüfft.

»Ja, Ma’am. Sie hat mich angewiesen, Sie einzuladen, sich den von ihr für heute Nachmittag geplanten Aktivitäten anzuschließen. Sie sagt, Sie möchte nicht, dass Sie noch mal so alleine in der Gegend herumwandern wie gestern Nachmittag.«

»Da hat sie vollkommen recht«, verkündete Basil jovial. »Als Lady Mayfields Gesellschafterin sind Sie ebenso Gast in meinem Haus wie alle anderen, Miss Greyson. Amüsieren Sie sich also bitte heute Nachmittag mit Miranda und den anderen Damen, ja?«

Es war das Letzte, was sie wollte, aber sie wusste einfach nicht, wie sie die Einladung ablehnen sollte, ohne unhöflich zu sein. »Danke, Mr. Ware.« Mit einem, wenn auch gezwungenen Lächeln wandte sie sich an Swan. »Bitte richten Sie Lady Arnes doch meinen Dank für die freundliche Einladung aus.«

»Meine Herrin ist eine wirklich gütige Person, die stets an alles und jeden denkt.« Swans raue Stimme hatte einen beinahe ehrfürchtigen Unterton. »Es ist mir eine Ehre, ihr dienen zu dürfen«, fügte er dann auch noch hinzu.

Oh je, dachte Emma bei sich. Ganz unverkennbar war der arme Kerl in dieses Weib verliebt.