Leseprobe Nur ein Gentleman kann gewinnen

1. Kapitel

Man munkelte, sie habe ihren Mann umgebracht, weil er ihr lästig geworden sei. Man munkelte, um ihre Tat zu verschleiern, habe sie das Haus in Brand gesetzt. Und weiter munkelte man, möglicherweise sei sie geisteskrank.

In jedem der Clubs der St. James Street war eine Standardwette in den Wettbüchern eingetragen, die tausend Pfund demjenigen bot, der eine Nacht mit der Verruchten Witwe verbrachte und am nächsten Morgen noch lebend von seinen Erlebnissen zu berichten wusste.

Unzählige Gerüchte kursierten über diese Dame. Artemas Hunt kannte sie alle, denn er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, gut informiert zu sein. Zahlreiche Augen und Ohren waren überall in London für ihn im Einsatz. Ein Netzwerk von Spionen und Informanten lieferte ihm eine nicht enden wollende Flut an Gerüchten und Mutmaßungen.

Manches der Flut, die seinen Schreibtisch überschwemmte, entsprach der Wahrheit; manches war lediglich wahrscheinlich; und manches war ganz offensichtlich falsch. Diese Flut zu durchforsten, kostete viel Zeit und Mühe. Er vergeudete nicht die Zeit, allen Dingen nachzugehen, die ihm zugetragen wurden. Vieles beachtete er überhaupt nicht, weil es sein Privatleben nicht berührte.

Bis zum heutigen Abend hatte er keinerlei Veranlassung gehabt, den Gerüchten um Madeline Deveridge viel Aufmerksamkeit zu widmen. Ob die Dame ihren Ehemann in die Nachwelt befördert hatte oder nicht war für ihn ohne Belang. Sein Augenmerk galt ganz anderen Dingen.

Bis zum heutigen Abend hatte er keinerlei Interesse an der Verruchten Witwe gehabt. Doch jetzt, so schien es jedenfalls, zeigte sie Interesse an ihm. Die meisten würden das als ausgesprochen schlechtes Zeichen deuten. Ihn selbst amüsierte jedoch die Feststellung, dass er es als eines der aufregendsten Vorkommnisse empfand, die ihm seit langer, langer Zeit widerfahren waren. Das wiederum zeigte einmal mehr, wie eingeschränkt und beengt sein Leben in letzter Zeit verlaufen war.

Er stand auf der nächtlichen Straße und betrachtete die kleine, elegante Kutsche, die im Nebel stand. Die Lampen des Gefährtes leuchteten unheimlich in dem dichten, die Kutsche umwabernden Nebel. Die Gardinen waren zugezogen und verbargen das Innere der Kutsche. Die Pferde standen regungslos. Der Kutscher war auf seinem Bock kaum zu erkennen.

Artemas erinnerte sich an das Sprichwort, das er vor Jahren bei den Mönchen in den Tempelgärten gelernt hatte. Sie waren es gewesen, die ihn in der alten Philosophie und der Kampfkunst des Vanza ausgebildet hatten. Das Leben bietet eine Unzahl von Köstlichkeiten. Weisheit aber ist es zu wissen, welche davon munden und welche sich als giftig erweisen.

In seinem Rücken wurde die Tür des Clubs erst geöffnet und dann wieder geschlossen. Lautes, trunkenes Lachen hallte in der Dunkelheit. Abwesend trat er weiter in den Schatten des Torbogens und beobachtete, wie zwei Männer die Treppe hinuntertaumelten. Sie bestiegen eine wartende Pferdekutsche und ließen sich in eine der Spielhöllen der Rotlichtbezirke chauffieren. Langeweile war ihr Todfeind, und sie würden alles in Bewegung setzen, um ihr zu entkommen.

Artemas wartete, bis das abgetakelte Gefährt die Straße hinunter verschwunden war. Dann betrachtete er erneut die dunkle, im Nebel fast geisterhaft wirkende zierliche Kutsche. Ein Problem des Vanza war es, dass es trotz seines kabbalistischen Wissens der menschlichen Neugier nur wenig Spielraum ließ.

Wenig Spielraum für seine Neugier jedenfalls.

Artemas fällte eine Entscheidung. Er trat aus dem Torbogen hervor und ging durch die Nebelschwaden auf die Kutsche der Verruchten Witwe zu. Seine steigende Erwartung war das einzige Anzeichen dafür, dass er seine Entscheidung möglicherweise bereuen sollte. Er missachtete dieses Gefühl.

Der Kutscher rutschte ein wenig zur Seite und erstarrte, als er sich näherte.

„Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?“

Obwohl die Frage höflich gestellt war, hörte Artemas die unterschwellige Anspannung heraus. Er schloss daraus, dass der Mann, der unter seinem Cape zusammengesunken dagesessen und einen Hut bis über die Ohren gezogen hatte, sowohl als Kutscher als auch als Leibwächter arbeitete.

„Mein Name ist Hunt. Artemas Hunt. Ich gehe davon aus, mit der Dame eine Verabredung zu haben.“

„Dann sind Sie also derjenige, ja?“ Der Mann entspannte sich immer noch nicht. Wenn überhaupt, so schien sich seine Anspannung noch zu vergrößern. „Bitte, steigen Sie ein. Sie werden erwartet.“

Angesichts des strengen Befehlstons zog Artemas die Augenbrauen hoch, schwieg jedoch. Er drückte den Türgriff und öffnete die Kutsche.

Das warme, bernsteinfarbene Licht der Lampe leuchtete ihm entgegen. Auf einem der beiden mit schwarzem Samt bezogenen Sitze saß eine Frau. Sie trug einen edel wirkenden schwarzen Umhang, der bis auf das schwarze Kleid darunter fast alles verdeckte. Ihr Gesicht war lediglich ein blasser, verschwommener Flecken hinter dem schwarzen Spitzenschleier. Er konnte ihren zarten Körperbau erkennen. Sie strahlte eine geschmeidige, selbstsichere Eleganz aus, die ihm bestätigte, dass es sich nicht um ein unerfahrenes und ungelenkes Schulmädchen handelte. Er hätte den Gerüchten mehr Aufmerksamkeit schenken sollen, die ihm während des letzten Jahres zu Ohren gekommen waren, doch war es dafür jetzt leider zu spät.

„Es war sehr freundlich von Ihnen, so schnell auf meine Nachricht zu reagieren, Herr Hunt. Zeit ist Gold wert.“ Ihre Stimme besaß einen rauchigen Unterton, der tief in seinem Inneren etwas Sinnliches berührte. Doch obwohl ihre Worte hastig gesprochen waren, konnte er keinerlei Anzeichen für eine entfachte Leidenschaft bei ihr entdecken. Offenbar hatte die Verruchte Witwe ihn nicht in seine Kutsche gebeten, um ihn zu einer ungestümen, wilden Liebesnacht zu verführen. Artemas setzte sich, schloss die Tür und sann darüber nach, ob ihn dies enttäuschen oder aber erleichtern sollte.

„Ihre Nachricht erreichte mich just in der Minute, als ich eine Runde Karten spielte, bei der ich mit großer Wahrscheinlichkeit gewonnen hätte“, eröffnete er das Gespräch. „Was immer Sie mir zu sagen haben, gnädige Frau, wird hoffentlich die paar hundert Pfund wettmachen, die ich um dieses Treffen willen habe aufgeben müssen.“

Sie richtete sich kerzengerade auf. Ihre Finger, in Ziegenlederhandschuhe gekleidet, schlossen sich um die große schwarze Handtasche auf ihrem Schoß. „Gestatten Sie mir, mich vorzustellen, Sir. Ich bin Madeline Reed Deveridge.“

„Ich weiß, wer Sie sind, Frau Deveridge. Und da Sie offenbar auch wissen, wer ich bin, schlage ich vor, die Formalitäten beiseitezulassen und unverzüglich zum geschäftlichen Teil vorzudringen.“

„Aber natürlich.“ Unter dem Schleier blitzten ihre Augen auf, möglicherweise weil sie sein Verhalten verärgerte.

„Meine Magd Nellie ist vor noch nicht einmal einer Stunde in der Nähe des westlichen Tors der Vergnügungsgärten entführt worden. Ich erwarte, dass Sie die volle Verantwortung für jegliche kriminelle Vorkommnisse übernehmen, die sich auf oder in der Nähe Ihrer Grundstücke abspielen. Ich möchte Sie bitten, mir bei der Suche nach Nellie behilflich zu sein.“ Artemas hatte das Gefühl, in einen eisigen Teich geworfen worden zu sein. Sie wusste von seiner Verbindung zu den Vergnügungspavillons. Wie war das möglich? Nachdem er ihre Nachricht erhalten hatte, hatte er ein halbes Dutzend von Gründen für das unverhoffte Rendezvous heute Abend erwogen und wieder verworfen. Keine seiner Überlegungen jedoch hatte diese Möglichkeit auch nur gestreift. Wie konnte sie erfahren haben, dass er der Besitzer der Gärten war?

Von Anfang an waren ihm die Risiken der Aufdeckung bekannt gewesen. Doch hatte er die Strategien der Geheimhaltung und der Ablenkung so geschickt angewandt, dass niemand  mit der einzig möglichen Ausnahme eines anderen Vanza-Meisters  die Wahrheit hätte aufdecken können. Doch gab es keinerlei Anlass, weswegen ein anderer Vanza-Meister nach ihm Ausschau halten sollte.

„Herr Hunt?“ Madelines Stimme klang scharf. „Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?“

„Wort für Wort, Frau Deveridge.“ Um seine Beunruhigung zu verbergen, ließ er seine Stimme etwas überdrüssig klingen, so wie man es von einem über alle Maßen gelangweilten Gentleman erwarten würde. „Doch ich muss gestehen, ich begreife nicht ganz. Möglicherweise haben Sie sich an die falsche Adresse gewandt. Wenn Ihre Magd tatsächlich entführt wurde, müssen Sie Ihren Kutscher beauftragen, Sie in die Bow Street zu bringen. Dort werden Sie sicherlich einen Laufburschen auftreiben können, um sie zu suchen. Hier in St. James jedoch vertreiben wir uns auf andere und nicht ganz so aufreibende Art und Weise die Zeit.“

„Spielen Sie Ihre Vanza-Spielchen nicht mit mir, Sir. Mir ist es gleichgültig, ob Sie darin ein Meister sind. Als Inhaber der Vergnügungspavillons unterliegt es Ihrer Verantwortung, die Sicherheit derer zu gewährleisten, die sich auf Ihrem Gelände vergnügen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um Nellie zu finden.“

Sie wusste, dass er ein Vanza war. Das war noch bestürzender als die Tatsache, dass sie ihn als Eigentümer der Vergnügungspavillons kannte.

Die eisige Kälte in seinem Magen begann sich auszubreiten. Urplötzlich hatte er die verrückte Vorstellung, dass sich sein so sorgfältig ausgearbeiteter Plan in Luft auflösen könne. Diese außergewöhnliche Frau hatte auf welche Art auch immer eine gefährliche Fülle von Wissen über ihn erlangt.

Um seine Wut und seine Fassungslosigkeit zu verbergen, lächelte er. „Die Neugier treibt mich zu fragen, wie Sie zu der seltsamen Schlussfolgerung gelangt sind, ich könne in irgendeiner Weise etwas mit den Vergnügungspavillons oder der Vanza-Gemeinschaft zu tun haben.“

„Das ist hier ohne Belang, Sir.“

„Da irren Sie sich, Frau Deveridge“, erwiderte er kaum hörbar. „Es ist von Belang.“

Etwas in seiner Stimme hatte sie offenbar berührt. Zum ersten Mal, seit er die Kutsche betreten hatte, schien sie zu zögern. Damit hatte sie sich auch weiß Gott lange genug Zeit gelassen, dachte er verbittert.

Als sie ihm jedoch endlich antwortete, war sie erstaunlich kühl. „Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass sie nicht nur der Vanza-Gemeinschaft angehören, sondern auch ein Meister dieser Kunst sind, Sir. Als ich so viel über Sie herausgefunden hatte, wusste ich, dass ich auch unter die Oberfläche würde schauen müssen. Diejenigen, die in dieser Philosophie unterrichtet wurden, entsprechen nur selten dem, was sie zu sein vorgeben. Sie lieben die Illusion und tendieren ein wenig zur Exzentrizität und Absonderlichkeit.“

Das alles war um vieles schlimmer, als er es befürchtet hatte. „Ich verstehe. Darf ich fragen, wer Sie über mich unterrichtet hat?“

„Niemand, Sir. Jedenfalls nicht auf die Weise, die Sie hier ansprechen. Ich bin aufgrund eigener Anstrengungen auf die Wahrheit gestoßen.“

Nicht sehr wahrscheinlich, dachte er. „Bitte führen Sie das doch etwas weiter aus, gnädige Frau.“

„Ich habe jetzt wirklich nicht die Zeit, dieses Thema zu vertiefen, Sir. Nellie ist ernsthaft in Gefahr. Ich bestehe darauf, dass Sie mir bei der Suche nach ihr behilflich sind.“

„Warum sollte ich mir die Mühe machen, Ihnen bei der Suche nach Ihrer durchgebrannten Magd zur Seite zu stehen, Frau Deveridge? Sicherlich können Sie ohne großes Aufheben Ersatz finden.“

„Nellie ist nicht durchgebrannt. Wie ich Ihnen bereits dargelegt habe, ist sie von Schurken entführt worden. Ihre Freundin Alice hat alles mit angesehen.“

„Alice?“

„Die beiden hatten sich heute Abend die neuesten Attraktionen in einem der Pavillons angeschaut. Als sie die Gärten durch das westliche Tor verließen, schnappten sich zwei Männer Nellie. Noch bevor jemand den Vorfall überhaupt bemerken konnte, hatten sie sie in eine Kutsche gezerrt und sind auf und davon.“

„Ich halte es für wesentlich wahrscheinlicher, dass Ihre Nellie mit einem jungen Mann durchgebrannt ist“, beharrte Artemas. „Im Nachhinein hat sich ihre Freundin diese Entführungsgeschichte ausgedacht. Auf diese Weise würden Sie sie wieder bei sich aufnehmen, falls Nellie ihre Meinung ändern sollte.“

„Unsinn. Nellie wurde von der Straße weg entführt.“ Zu spät erinnerte er sich, dass man die Verruchte Witwe auch als verrückt betrachtete. „Warum sollte jemand Ihre Magd entführen?“, stellte er die Frage, die er unter den Umständen für durchaus gerechtfertigt hielt.

„Ich fürchte, sie ist von jenen widerlichen Männern entführt worden, die Bordelle mit unschuldigen jungen Frauen versorgen.“ Madeline hob ihr schwarzes Schirmchen auf. „Genug der Erläuterungen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Artemas fragte sich, ob sie ihn mit der Schirmspitze zur Tat antreiben wollte. Erleichtert stellte er fest, dass sie ihn am Griff hielt und mit der Spitze gegen das Dach der Kutsche stieß. Auf dieses Signal hatte der Kutscher offenbar gewartet, denn das Gefährt setzte sich unverzüglich in Bewegung.

„Was zum Teufel erlauben Sie sich?“, erkundigte sich Artemas. „Ist es Ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass ich für meinen Teil einer Entführung ebenfalls nicht zustimmen könnte?“

„Ihre Einwände sind mir recht gleichgültig.“ Madeline lehnte sich auf ihrem Sitz zurück. Ihre Augen glitzerten durch den Schleier hindurch. „Nellie zu finden ist im Moment mein einziges Anliegen. Später werde ich mich bei Ihnen entschuldigen, falls sich das als nötig erweisen sollte.“

„Dem sehe ich jetzt schon mit Freude entgegen. Wohin fahren wir?“

„Zurück zum Ort der Entführung. Zum westlichen Tor Ihres Vergnügungspavillons, Sir.“

Artemas’ Augen wurden schmal. Geisteskrank wirkte sie nicht. Im Gegenteil, sie schien genau zu wissen, was sie wollte.

„Was genau erwarten Sie von mir, Frau Deveridge?“

„Sie sind Inhaber der Vergnügungspavillons. Und Sie sind ein Vanza. Beides zusammengenommen wird Ihnen das an Orten Beziehungen verschaffen, an denen ich über keine verfüge.“

Er betrachtete sie lange. „Wollen Sie damit andeuten, ich unterhielte Beziehungen zu Kriminellen, gnädige Frau?“

„Ein Urteil über das Ausmaß, ganz zu schweigen über die Qualität ihrer Beziehungen, würde ich mir nicht anmaßen wollen.“

Der Zorn in ihrer Stimme war besonders interessant, da er zusätzlich zu ihrem beunruhigenden Wissen über seine privatesten Belange entstanden schien. Eines jedoch war sicher: Unmöglich konnte er jetzt aus der Kutsche springen und ihr damit den Rücken kehren. Ihr Wissen darüber, dass ihm die Pavillons gehörten, reichte für sich allein genommen schon aus, seine langjährig ausgearbeiteten Pläne zu zerstören.

Seine Neugier und Erwartung amüsierten ihn mittlerweile nicht mehr. Nicht nur musste er unbedingt herausfinden, wie viel Madeline Deveridge wusste, er musste zusätzlich in Erfahrung bringen, wie sie derart umsichtig tief verborgene Tatsachen hatte aufdecken können.

„Also gut, Frau Deveridge“, sagte er. „Ich werde alles tun, um Ihre vermisste Magd wieder zu finden. Aber machen Sie es nicht mir zum Vorwurf, falls sich herausstellen sollte, dass die junge Nellie gar nicht gefunden werden möchte.“

Sie hob eine Ecke der Gardine an und starrte auf die neblige Straße. „Ich versichere Ihnen, dass sie auf ihre Rettung wartet.“

Ein paar Sekunden war seine Aufmerksamkeit von der eleganten Hand im Handschuh gefangen genommen, die die Gardine hielt. Unwillkürlich war er von der zarten Biegung ihres Handgelenks fasziniert. Er bemerkte den kaum wahrnehmbaren Duft irgendwelcher Blumenblätter, die sie für ihr Badewasser benutzt haben musste. Sich selbst ermahnend, widmete er sich wieder den momentan drängenden Aufgaben. „Unabhängig vom Ausgang dieser Angelegenheit möchte ich Sie doch warnen, dass ich im Anschluss ein paar Erklärungen von Ihnen erwarte.“

Sie wandte sich ihm abrupt zu und fixierte ihn.

„Erklärungen? Was für Erklärungen?“

„Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Deveridge. Ich bin über alle Maßen von der Fülle und der Genauigkeit Ihres Wissens über meine Person beeindruckt. Sie müssen über ausgezeichnete Quellen verfügen. Doch fürchte ich, dass Sie ein wenig zu viel über mich und meine Belange haben in Erfahrung bringen können.“

Es war ein verzweifelter Schritt gewesen, doch sie hatte gewonnen. Jetzt saß sie dem geheimnisvollen Traum-Händler gegenüber, dem heimlichen Eigentümer von Londons exotischstem Vergnügungspark. Madeline war sich sehr wohl des hohen Risikos bewusst, ihn in ihre Kenntnis seiner Identität einzuweihen. Ihrer Meinung nach hatte er allen Grund zur Besorgnis. Er bewegte sich in den obersten Kreisen der Gesellschaft. Sein Name stand auf der Gästeliste jeder einflussreichen Gastgeberin der Stadt, und er war Mitglied der vornehmsten Clubs. Doch selbst sein Vermögen würde ihn nicht vor der gesellschaftlichen Katastrophe bewahren können, falls eben diese Gesellschaft erfahren sollte, dass sie in ihre obersten Ränge einen Mann aufgenommen hatte, der als Geschäftsmann arbeitete.

Sein wagemutiges Auftreten jedoch musste sie anerkennen. Hunt hatte sich eine Rolle erarbeitet, die des großartigen Edmund Kean würdig gewesen wäre. Er hatte es erfolgreich verstanden, seine Identität als Händler von Träumen und Illusionen geheim zu halten. Niemand hinterfragte die Quelle seines Reichtums. Gentlemen ließen derlei Dinge unerwähnt, es sei denn, einem von ihnen war für andere sichtbar das Geld ausgegangen. In diesem Fall wurde er zur Zielscheibe unverhohlenen Spotts und gehässiger Nachrede. Nicht wenige von ihnen hatten sich lieber die Kugel gegeben, als dem Skandal finanziellen Ruins die Stirn zu bieten.

Man konnte es nicht anders bezeichnen: Heute Abend hatte sie Hunt praktisch dazu erpresst, ihr zu helfen, doch hatte sie keine andere Wahl gehabt. Sicherlich würde sie dafür noch bezahlen müssen. Artemas Hunt war ein Vanza-Meister, und noch dazu einer der gebildetsten Gentlemen, die jemals diese geheime Kunst erlernt hatten. Solche Männer waren bereits von Natur aus sehr verschlossen.

Hunt hatte keine Mühe gescheut, seine Vanza-Vergangenheit zu verheimlichen  ein ausgesprochen verdächtiges Verhalten. Doch anders als sein Besitz der Vergnügungspavillons würde ihm die Mitgliedschaft der Vanza-Gemeinschaft keine gesellschaftliche Unbill eintragen. Schließlich war das Erlernen dieser Kunst ausschließlich Gentlemen vorbehalten. Dennoch bestand er darauf, eine geheimnisvolle Aura um seine Person aufrechtzuerhalten. Das wiederum versprach nichts Gutes.

Ihrer Erfahrung nach waren die meisten Mitglieder des Vanza-Zirkels harmlose Spinner. Andere wiederum konnte man nur als leidenschaftliche Sonderlinge bezeichnen. Einige wenige unter ihnen waren schlicht verrückt. Und andere wirklich gefährlich. Artemas Hunt, so schien es ihr, musste wohl dieser letztgenannten Kategorie angehören. Wenn diese Nacht hinter ihr lag, würde sie noch ganz andere Probleme zu lösen haben.

Als ob sie nicht ohnehin schon mit genügend Dingen beschäftigt wäre. Wenn sie andererseits ihre Schlaflosigkeit in letzter Zeit in Betracht zog, dann konnte sie sich allerdings auch gleich mit irgendetwas beschäftigen.

Ein Schauer durchfuhr sie. Sie war sich wohl bewusst, dass Hunt einen Großteil des Innenraums der kleinen Kutsche für sich beanspruchte. Er war wohl kaum so groß wie ihr Kutscher Latimer, doch waren seine Schultern beeindruckend breit, und seine gefährliche Geschmeidigkeit verstörte sie auf eine Art und Weise, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Die wachsame Intelligenz seiner Augen verstärkte noch dieses verstörende Gefühl.

Trotz allem, was sie über ihn wusste, war sie fasziniert von ihm.

Sie schlang ihren Umhang noch enger um ihren Körper. Sei kein Dummkopf, ermahnte sie sich. Denn das Allerletzte, wonach ihr der Sinn stand, war, sich noch einmal mit einem Vanza-Mitglied einzulassen.

Jetzt jedoch war es zu spät, ihre Meinung zu ändern. Sie hatte ihre Entscheidung gefällt, nun musste sie ihren Plan auch ausführen. Nellies Leben hing von dieser Entscheidung ab.

Die Kutsche hielt an und schüttelte sie aus ihren sorgenvollen Gedanken. Artemas drehte das Licht der Kutsche herunter. Dann fasste er die Gardine und schob sie zur Seite. Gegen ihren Willen war sie von seinen kontrollierten Bewegungen fasziniert, als er in die Nacht hinausspähte.

„Gnädige Frau, wir sind am Westtor angekommen. Wie Sie selbst sehen können, ist es sogar zu dieser Stunde noch recht belebt hier. Ich kann nicht glauben, dass ein junges Mädchen vor den Augen so vieler Menschen in eine Kutsche hätte gezerrt werden können. Jedenfalls nicht, wenn sie es nicht selbst auch gewollt hätte.“

Madeline lehnte sich vor, um die Szene zu betrachten. Eine Unzahl von farbenprächtigen Lampen erleuchtete die Gegend. Der geringe Eintrittspreis ermöglichte allen gesellschaftlichen Schichten den Zutritt, um sich einen Abend lang in den Vergnügungspavillons zu amüsieren. Ehrwürdige Damen und Gentlemen, Mitglieder des Landadels, Ladenbesitzer, Lehrlinge, Mägde und Diener, Dandys, Offiziere, Schurken und Taugenichtse  alle kamen hierher und traten durch die hell erleuchteten Tore.

Hunts Beobachtung hatte einiges für sich, dachte sie. Zahlreiche Leute und Gefährte waren zu sehen. Eine Frau gegen ihren Willen in eine Kutsche zu zerren, wäre sicherlich kaum möglich gewesen, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre.

„Die Entführung hat nicht unmittelbar vor dem Tor stattgefunden“, erläuterte Madeline. „Alice sagte, Nellie und sie hätten an der nächsten Straßenkreuzung gestanden und auf die Kutsche gewartet, die ich für sie geschickt hatte, als die Wüstlinge auf der Bildfläche erschienen.“ Sie betrachtete die enge, düstere Straße. „Sie wird die Ecke dort drüben gemeint haben, wo die jungen Kerle herumlümmeln.“

„Hmm.“

Seine Zweifel waren nur zu offensichtlich. Madeline betrachtete ihn bestürzt. Ohne dass er die Sache ernst nahm, würden sie heute Abend rein gar nichts ausrichten können. Und die Zeit wurde allmählich knapp. „Sir, wir müssen uns sputen. Wenn wir nicht unverzüglich etwas unternehmen, wird Nellie in den Rotlichtbezirken verschwinden. Dann wird es nicht mehr möglich sein, sie zu finden.“

Artemas ließ die Gardine wieder vor das Fenster gleiten. Seine Hand legte sich auf den Türknauf. „Bleiben Sie hier. In wenigen Minuten werde ich wieder zurück sein.“

Sie schnellte vor. „Wohin gehen Sie?“

„Beruhigen Sie sich, Frau Deveridge. Ich habe nicht die Absicht, die Suche abzubrechen. Ich werde zurückkommen, nachdem ich ein paar Dinge in Erfahrung gebracht habe.“

Geschickt sprang er aus der Kutsche und schloss die Tür, noch bevor sie ihm weitere Fragen stellen konnte. Beunruhigt und verschreckt durch die Art, dass er plötzlich das Geschehen dominierte, beobachtete sie ihn, wie er auf die dunkle Gasse zuging.

Sie sah, wie er energisch einige Änderungen an seinem Cape und Hut vornahm, und war über das Ergebnis verblüfft. Innerhalb nur weniger Schritte hatte er sein Aussehen vollkommen verändert.

Obwohl er jetzt nicht mehr wie ein Gentleman aussah, der eben aus seinem Club getreten war, bewegte er sich doch immer noch mit jener geschmeidigen Selbstsicherheit, die sie überall wiedererkannt hätte. Es ähnelte so sehr der Art und Weise, wie Renwick sich bewegt hatte, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Für alle Zeiten würde sie den geschmeidigen, pirschenden Gang mit den hervorragend in der Kampfkunst des Vanza Ausgebildeten verbinden. Erneut fragte sie sich, ob sie nicht einen großen Fehler begangen hatte. Hör damit auf, maßregelte sie sich selbst. Als du die Note in seinen Club schicktest, hast du genau gewusst, worauf du dich einlässt. Du wolltest seine Hilfe. Welche Folgen sich auch immer daraus ergeben mögen, seine Hilfe hast du jetzt. Positiv war andererseits zu verbuchen, dass Hunts Aussehen in keinster Weise dem ihres verstorbenen Ehemanns glich. Unerfindlicherweise beruhigte sie diese Tatsache. Mit seinen blauen Augen, dem hellen Haar und den romantisch ansprechenden Gesichtszügen hatte Renwick die goldgelockten Engelsgestalten alter Gemälde großer Meister in den Schatten gestellt.

Hunt dagegen hätte ebenso gut als der Teufel persönlich durchgehen können.

Nicht nur sein fast rabenschwarzes Haar, die grünen Augen und das strenge, asketische Gesicht verliehen ihm eine unergründliche Tiefe. Es war der kalte, wissende Blick, der ihre Nerven erstarren ließ. Dies war der Mann, der durch die Hölle gegangen war. Anders als Renwick, der jeden in seiner Nähe mit der Leichtigkeit eines Magiers verzauberte, wirkte Hunt tatsächlich so gefährlich, wie er es zweifellos tatsächlich war.

Er verschwand in der Dunkelheit, die sich hinter der Insel der hell erleuchteten Vergnügungspavillons auftat.

Latimer kletterte vom Kutschbock. Sein breites, vor Besorgnis zerfurchtes Gesicht erschien vor dem Fenster.

„Die Sache gefällt mir nicht, gnädige Frau“, sagte er. „Wir hätten doch in die Bow Street fahren und einen Laufburschen anheuern sollen.“

„Vielleicht haben Sie recht, doch ist es jetzt für diese Vorgehensweise zu spät. Ich kann nur hoffen …“ Sie brach ab, als Hunt hinter Latimer auftauchte. „Ach, da sind Sie ja wieder, Sir. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“

„Das hier ist der Kurze Hans.“ Artemas deutete auf einen mageren, drahtigen und ungepflegten Jungen, der nicht älter als zehn oder elf Jahre sein mochte. „Er wird uns begleiten.“

Madeline runzelte beim Anblick des Kurzen Hans die Stirn. „Es ist schon recht spät. Sollten Sie nicht im Bett sein, junger Mann?“

Der Kurze Hans hob angewidert den Kopf und spuckte gekonnt auf der Straße aus. „Diese Art von Arbeit mache ich nicht, gnädige Frau. Ich gehe einem anständigen Gewerbe nach, jawohl.“

Madeline musterte ihn. „Verzeihen Sie, aber was verkaufen Sie?“

„Auskünfte“, erwiderte der Kurze Hans unbekümmert. „Ich bin einer von Zacharys Augen und Ohren.“

„Wer ist Zachary?“

„Zachary arbeitet für mich“, erwiderte Artemas und kürzte so eine sicherlich ausführliche Erklärung ab. „Kurzer Hans, erlauben Sie mir, Ihnen Frau Deveridge vorzustellen.“

Der Kurze Hans grinste, riss sich die Kappe vom Kopf und machte einen überraschend galanten Diener. „Zu Ihren Diensten, gnädige Frau.“

Als Antwort neigte Madeline leicht den Kopf. „Es ist mir ein Vergnügen, Kurzer Hans. Ich hoffe, Sie werden uns helfen können.“

„Ich werde mich bemühen, gnädige Frau.“

„Genug jetzt, wir können keine Zeit mehr verschwenden.“ Artemas warf Latimer einen Blick zu, während er den Türknauf der Kutsche umfasste. „Beeilung, junger Mann. Der Kurze Hans wird Ihnen den Weg weisen. Wir fahren zu einer Schänke in der Blister Lane, dem ‚Gelben Hund‘. Ist sie Ihnen bekannt?“

„Die Schänke nicht, mein Herr, die Blister Lane jedoch kenne ich.“ Latimers Gesicht verdunkelte sich. „Haben die Gauner meine Nellie etwa dorthin gebracht?“

„So jedenfalls hat es mir der Kurze Hans berichtet. Er wird mit Ihnen auf dem Bock fahren.“ Artemas öffnete die Tür und glitt in die Kutsche. „Fahren wir.“

Latimer warf sich auf seinen Sitz, und der Kurze Hans kletterte hinter ihm auf den Bock. Noch bevor Artemas die Tür hatte schließen können, setzte sich die Kutsche schon in Bewegung.

„Ihr Kutscher ist wirklich sehr erpicht darauf, Nellie aufzutreiben“, bemerkte er, als er sich setzte.

„Latimer und Nellie sind ein Liebespaar“, erläuterte Madeline. „Sie wollen bald heiraten.“ Sie versuchte, seine Miene zu entschlüsseln. „Woher wissen Sie, dass man Nellie in diese Schänke gebracht hat?“

„Der Kurze Hans war Augenzeuge des gesamten Vorfalls.“

Sie musterte ihn erstaunt. „Warum in aller Welt hat er das Verbrechen dann nicht angezeigt?“

„Wie er Ihnen schon sagte, ist er Geschäftsmann. Er kann es sich nicht leisten, seine Ware zu verschenken. Er wartete gerade auf Zachary, der seine gewohnte Runde drehte und Auskünfte einsammelte. Am nächsten Morgen wäre es dann mir zugetragen worden. Da ich heute jedoch selbst aufgetaucht bin, hat der Junge seine Ware mir verkauft. Er weiß, dass ich Zachary seinen gewohnten Lohn dafür zahlen werde.“

„Gütiger Gott, Sir, wollen Sie mir sagen, dass Sie über ein ganzes Netzwerk solcher Informanten wie den Kurzen Hans verfügen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich zahle ihnen weit mehr dafür als die Händler, denen sie früher gelegentlich eine gestohlene Uhr oder einen Kerzenhalter verschachert haben. Und wenn Zachary und seine Augen und Ohren mit mir ihre Geschäfte machen, riskieren sie dabei nicht, im Gefängnis zu landen, wie das bei den Arbeitgebern ihrer früheren Tätigkeiten der Fall gewesen ist.“

„Das begreife ich nicht. Weshalb sollten Sie für diese Art von Gerüchten und Klatsch, den ein paar junge Raufbolde auf der Straße auflesen, Geld bezahlen wollen?“

„Es würde Sie erstaunen, was man aus solchen Quellen lernen kann.“

Sie rümpfte leicht die Nase. „Zweifelsohne sind derlei Auskünfte über alle Maßen erstaunlich, doch frage ich mich, weshalb ein Gentleman in Ihrer Position etwas davon wissen möchte?“

Schweigend blickte er sie an. Erst leuchteten seine Augen kühl und belustigt, dann zog er sich an einen dunklen Ort in seinem Inneren zurück.

Was hatte sie denn erwartet, fragte sie sich. Dass er durch und durch absonderlich war, hätte sie voraussagen können. Sie räusperte sich. „Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Sir. Es klingt nur alles ein wenig, nun ja, ein wenig ungewöhnlich.“

„Und so sehr rätselhaft, unübersichtlich und geheimniskrämerisch, wollen Sie das damit zum Ausdruck bringen?“ Artemas’ Stimme war viel zu höflich. „Zu sehr nach Vanza vielleicht?“

Madeline hielt es für besser, das Thema zu wechseln. „Und wo ist dieser Zachary heute Abend?“

„Er ist älter, als man annehmen möchte“, erwiderte Artemas trocken. „Heute Abend macht er seiner jungen Dame den Hof. Sie arbeitet bei einem Hutmacher, und heute ist ihr freier Abend. Es wird ihm leidtun zu erfahren, was er verpasst hat.“

„Immerhin wissen wir jetzt, was passiert ist. Ich sagte Ihnen doch, dass Nellie nicht mit einem Mann durchgebrannt ist.“

„Richtig, das haben Sie. Erinnern Sie Ihre Umgebung dauernd daran, wenn Sie einmal recht gehabt haben?“

„Ich rede nur ungern um den heißen Brei herum, Sir. Jedenfalls nicht dann, wenn etwas so Wichtiges wie die Sicherheit einer jungen, unschuldigen Frau auf dem Spiel steht.“ Stirnrunzelnd überlegte sie. „Woher kannte der Kurze Hans den genauen Ort, an den Nellie entführt worden ist?“

„Er ist der Kutsche zu Fuß gefolgt. Das sei nicht weiter schwierig gewesen, denn der Verkehr habe sich wegen des Nebels ohnehin nur schleppend vorwärts bewegt.“ Artemas grinste bitter. „Der Kurze Hans ist ein heller Kopf. Ihm war klar, wenn eine junge Frau in der Nähe einer der Eingänge zu den Pavillons entführt wird, so gehört dies genau zu jenen Vorkommnissen, für die ich gut zahle.“

„Ich möchte hoffen, dass Sie über kriminelle Vorkommnisse in der Nähe Ihres Geschäftes unterrichtet sein wollen. Schließlich tragen Sie als Eigentümer der Pavillons eine gewisse Verantwortung.“

„Wohl wahr.“ Artemas schien sich noch weiter in die Schatten zurückzuziehen. „Solche Dinge sollten nicht vorkommen, schließlich schaden sie dem Geschäft.“

2. Kapitel

Die dicken Glasfenster des „Gelben Hundes“ schimmerten unheimlich. Das Kaminfeuer entfesselte bedrohliche Schatten, die wie trunkene Geister umhertorkelten. Zweifelsohne waren die Gäste betrunken, doch harmlos waren sie mit Sicherheit nicht. Vermutlich waren die meisten von ihnen bewaffnet. Der „Gelbe Hund“ war einer jener Orte, an denen sich die raubeinigsten Gestalten des Rotlichtbezirks einfanden.

Madeline betrachtete durch das Fenster der Kutsche hindurch aufmerksam das Geschehen. „Gott sei Dank habe ich nicht versäumt, meine Pistole mitzubringen.“

Es gelang ihm, sein Stöhnen zu unterdrücken. Zwar kannte er sie erst seit einer Stunde, doch wusste er genügend über die Dame Bescheid, dass ihn diese Neuigkeit nicht in Erstaunen versetzte.

„Sie wollen so freundlich sein und sie in Ihrer Handtasche belassen“, erwiderte er bestimmt. „Ich greife nicht gerne zu Waffen, wenn es sich vermeiden lässt. Im Allgemeinen sind sie der Auftakt eines recht unangenehmen Durcheinanders.“

„Dessen bin ich mir wohl bewusst“, erwiderte sie.

Ihm fielen die Gerüchte wieder ein, die er über den plötzlichen Tod ihres Mannes vernommen hatte. „Das kann ich mir gut vorstellen.“

„Dennoch“, fuhr Madeline fort, „eine junge Frau einfach so auf der Straße zu entführen, kann man wohl kaum als angenehmes Verbrechen bezeichnen, Sir. Und wie ich vermute, wird es auch keine angenehme Lösung dafür geben.“ Er malmte mit den Zähnen. „Wenn Ihre Nellie sich in diesem Etablissement befindet, sollte es mir möglich sein, sie ohne die Hilfe einer Pistole zu befreien.“

Madeline schien immer noch nicht überzeugt. „Das halte ich kaum für möglich, Herr Hunt. Die Gäste scheinen mir rechte Raufbolde zu sein.“

„Ein Grund mehr, laute Geräusche zu vermeiden, die ihre Aufmerksamkeit erregen würden.“ Er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. „Mein Vorhaben wird nur dann gelingen, wenn Sie meinen Anordnungen folgen, gnädige Frau.“

„Ich habe eingewilligt, Ihrem Plan zu folgen, und daran werde ich mich auch halten.“ Sie hielt inne. „Es sei denn natürlich, etwas läuft aus dem Ruder.“

Mit diesem halbherzigen Versprechen würde er sich wohl oder übel abfinden müssen, dachte er. Die Verruchte Witwe war es offenbar gewohnt, Anordnungen zu erteilen, und nicht, ihnen zu folgen. „Nun denn, gehen wir die Sache an. Sie sind sich über Ihre Aufgabe im Klaren?“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Sir. Der Kurze Hans und ich werden mit der Kutsche am Eingang der Gasse warten.“

„Ich bitte darum. Ich würde sehr ungehalten darüber sein, wenn ich mit Nellie aus der Hintertür komme und keine Möglichkeit erkenne, die Gegend zu verlassen.“ Artemas warf seinen Hut auf den Sitz und verließ die Kutsche. Latimer übergab dem Kurzen Hans die Zügel und kletterte vom Bock, um Artemas zu begleiten. Stehend wirkte er noch größer als zusammengesunken auf dem Kutschbock. Die ausladenden Schultern des Kutschers verdeckten fast das gesamte Licht der einzigen an der Kutsche befestigten Lampe.

Artemas erinnerte sich an seinen ersten Eindruck von Latimer. Mehr Leibwächter denn Kutscher.

„Ich habe meine Pistole dabei“, versicherte ihm Latimer.

„Gehen Ihre Dienstherrin und Sie denn niemals aus dem Haus, ohne bis an die Zähne bewaffnet zu sein?“ Latimer schien die Frage zu überraschen. „Aber nein doch, Sir.“

Artemas schüttelte den Kopf. „Und sie hält mich für absonderlich. Nichts für ungut. Sind Sie bereit?“

„Ja, Sir.“ Latimer musterte die Fenster des „Gelben Hundes“. „Gnade ihnen Gott, falls sie meiner Nellie etwas angetan haben sollten. Dann werde ich jeden Einzelnen dafür bluten lassen.“

„Ich bezweifle, dass sie ausreichend Zeit hatten, um dem Mädchen etwas anzutun.“ Artemas überquerte die Straße.

„Um es ganz deutlich zu sagen, wenn sie tatsächlich mit dem Ziel entführt worden ist, sie an ein Bordell zu verkaufen, werden die Kerle nichts getan haben, was ihren, sagen wir, Wert in diesem bestimmten Markt schmälern würde, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Latimer erstarrte vor Groll und Widerwillen. „Ich habe Sie sehr wohl verstanden, Sir. Wie ich höre, werden Mädchen auf Auktionen wie Pferde verkauft. Die armen Dinger gehen an denjenigen, der den höchsten Preis für sie bietet.“

„Keine Angst, wir werden sie noch rechtzeitig retten können“, meinte Artemas leise.

Latimer wandte ihm das Gesicht zu. In dem gelblichen, aus der Schänke dringenden Licht wirkte es wie eine schaurige Maske. „Wenn Sie meine Nellie heute Nacht hier unversehrt herausbekommen können, werde ich den Rest meines Lebens in Ihrer Schuld stehen, Sir.“

Der arme Mann ist verliebt, dachte Artemas. Unfähig, noch weitere Beschwichtigungen zu finden, drückte er lediglich kurz Latimers Schulter. „Nicht vergessen“, meinte er, „mir fünfzehn Minuten zu geben, aber nicht mehr, und dann ein Ablenkungsmanöver zu verursachen.“ Er verschwand in der Dunkelheit.

„Jawohl, Sir.“ Latimer schritt auf die Eingangstür zu, öffnete diese und trat in die Schenke.

Artemas lief zu der Gasse, die sich auf der Rückseite der Gaststätte befand. Nach nur wenigen Schritten schlug ihm eine Flut übel riechender Gerüche entgegen. Die enge Gasse war offenbar sowohl zur Verrichtung der Notdurft als auch als Müllhalde benutzt worden. Nachdem er seinen erzwungenen Auftrag erledigt hatte, würden seine Stiefel eine gründliche Reinigung nötig haben.

Er gelangte zum Ende der Gasse, bog um die Ecke und fand sich in etwas wieder, was ehemals ein Garten gewesen sein musste. Die Toilette der Schänke stand in einer der Ecken. Die Tür zur Küche stand offen, um etwas von der nächtlichen Luft hereinzulassen. Ein Stockwerk darüber brannte in einem der Fenster Licht.

Artemas schlug den Kragen seines Capes hoch, um so sein Profil zu verstecken. Dann näherte er sich der Küchentür. Falls ihm jemand begegnen sollte, so würde man ihn lediglich für einen dieser trunkenen Rüpel halten, die sich auf der Suche nach Laster und Unterhaltung im Rotlichtbezirk herumdrückten.

Er fand die Hintertreppe und vernahm die gedämpften Stimmen zweier Männer. Hinter einer der Türen war ein heftiger Streit im Gange.

„Sie ist erste Sahne, sag ich dir. Von der alten Puffmutter in Rose Lane könnten wir glatt das Doppelte bekommen.“

„Ich habe einen Handel abgeschlossen, verdammt noch eins, und daran werde ich mich auch halten. Ich muss schließlich an meinen Leumund denken.“

„Wir sind hier in ein Geschäft verwickelt, du verdammter Idiot, und nicht in ein Spiel der vornehmen Gesellschaft, wo es festgelegte Regeln und dergleichen gibt. Wir wollen doch Gewinn daraus schlagen, und ich sage dir, die wird uns einiges mehr eintragen, wenn wir sie der alten Schachtel in Rose …“

Die Auseinandersetzung wurde von einem plötzlichen Durcheinander im unteren Stockwerk gestört. Schreie und Rufe hallten im Treppenhaus wider. Artemas erkannte die lauteste unter den Stimmen. Sie gehörte Latimer.

„Feuer! In der Küche brennt es! Rennt um euer Leben, das Ding brennt wie eine Strohhütte!“

Ein donnerndes Geräusch folgte. Schwere Stiefel kamen auf die Tür zu, wie Artemas erwartet hatte. Er hörte ein Scharren, dann etwas splittern, ein Tisch vielleicht, den man umgeworfen hatte.

Er versuchte die erste Tür im Flur. Der Knauf ließ sich leicht drehen. Er öffnete die Tür einen Spalt und hielt inne. Sein Gespür sagte ihm, dass das nicht erleuchtete Zimmer leer sein musste. Er trat ein und ließ die Tür leicht angelehnt.

„Löst Alarm aus!“, hörte er Latimers gedämpfte Stimme rufen. „Der Rauch in der Küche ist so dicht, dass man seine eigene Hand nicht vor Augen sehen kann.“ Die zweite Tür auf dem oberen Flur schlug krachend auf. Artemas beobachtete aus dem Schatten heraus, wie ein breiter, kräftig gebauter Mann erschien. Ihm folgte sein schmächtiger Kumpan mit einem hageren Gesicht. Das Licht, das vom Inneren des Zimmers herausdrang, beleuchtete ihre grobe Kleidung und verunsicherten Mienen.

„Was in aller Welt geht hier vor?“, richtete der große Mann seine Frage an niemand Bestimmten.

„Du hast doch das Rufen gehört.“ Der schmächtige Mann versuchte, sich an dem Breitschultrigen vorbeizudrängen. „Es ist ein Feuer ausgebrochen. Ich kann den Rauch riechen. Wir müssen hier raus.“

„Und was ist mit dem Mädchen? Sie ist zu viel wert, als dass wir sie zurücklassen können.“

„Mein Leben jedenfalls ist sie nicht wert.“ Dem Schmächtigen war es endlich gelungen, sich den Weg in den Flur zu bahnen. Er rannte auf die Treppe zu. „Du kannst sie ja über die Schulter nehmen, wenn du dir die Mühe machen willst.“

Der große Mann zögerte. Er blickte zu dem erleuchteten Zimmer zurück. Arger und Verzweiflung mischten sich auf seinem Gesicht. „Gott verdammt noch mal!“

Leider gewann die Gewinnsucht die Oberhand. Der Mann wandte sich um und kehrte zu der kleinen Kammer zurück. Eine Minute später kam er mit einer ohnmächtigen Frau über seinen breiten Schultern wieder heraus.

Artemas trat auf den Flur hinaus. „Gestatten Sie mir, Ihnen bei der Rettung der Dame behilflich zu sein.“

Der große Mann reagierte wütend. „Gehen Sie mir verdammt noch eins aus dem Weg.“

„Entschuldigung.“ Artemas trat zur Seite.

Der Hüne rannte an ihm vorbei auf die Treppe zu. Artemas stellte ihm ein Bein und versetzte ihm gleichzeitig einen knappen Schlag auf die empfindliche Stelle zwischen Hals und Schulter.

Der Mann schrie auf, und sein linker Arm und der überwiegende Teil seiner linken Körperseite wurden empfindungslos. Er strauchelte und fiel der Länge nach über Artemas’ vorgestreckten Stiefel. Im vergeblichen Bemühen, seinen Sturz abzufedern, ließ er Nellie fallen.

Noch ehe Nellie auf dem Boden aufschlug, hatte Artemas sie aufgefangen. Er schulterte das Mädchen und lief zur hinteren Treppe. Von unten hörte er die Geräusche derer, die durch die Küchentür zu entkommen versuchten.

Ein Mann kam ihm im Treppenhaus entgegen.

„Haben Sie sie?“, fragte Latimer. Dann bemerkte er Artemas' Last. „Nellie! Sie ist tot!“

„Sie schläft nur. Vermutlich hat man sie mit Laudanum oder etwas Ähnlichem betäubt. Kommen Sie, wir müssen uns sputen.“

Dagegen hatte Latimer nichts einzuwenden. Er machte kehrt und führte die beiden die Treppe hinunter. Artemas folgte ihm auf dem Fuße.

Als sie das Erdgeschoss erreicht hatten, merkten sie, dass sie zu den Letzten gehörten, die das Gebäude verließen. Rauch quoll aus der Küche.

„Sie haben es vielleicht ein wenig übertrieben, das Lampenöl in die Kochstellen zu gießen“, bemerkte Artemas.

„Sie haben mir nicht gesagt, welche Menge ich verwenden sollte“, brummte Latimer.

„Wie auch immer, es hat Wirkung gezeigt.“

Sie eilten durch den Garten auf die Gasse zu. Mehrere Menschen standen auf der Straße herum, doch die allgemeine Panik legte sich bereits. Dass keine Flammen zu sehen waren, war der Täuschung abträglich, dachte Artemas. Er bemerkte einen Mann, möglicherweise den Inhaber der Schänke, der sich vorsichtig wieder in das Gebäude hineinwagte.

„Jetzt aber schnell“, befahl Artemas.

„Jawohl, Sir.“

Die Kutsche stand genau dort, wo Artemas sie hinbestellt hatte. Anweisungen befolgte die Frau zumindest. Der Kurze Hans saß mit den Zügeln in der Hand auf dem Bock. Als Artemas sich näherte, flog die Tür der Kutsche auf.

„Sie haben sie!“, rief Madeline. „Gott sei gedankt!“

Sie half Artemas, Nellie durch die schmale Öffnung zu bekommen, dann sprang Latimer auf den Bock, um die Führung zu übernehmen.

Artemas, der Nellie durch die Tür geschoben hatte, wollte gerade selbst einsteigen.

„Keine Bewegung, du gemeiner Dieb. Sonst schieß ich dir in den Rücken.“

Artemas erkannte die Stimme wieder. Sie gehörte dem schmächtigen Mann.

„Latimer, Beeilung.“ Artemas zwängte sich durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Er wollte gerade Madeline von ihrem Sitz auf den Boden zerren, damit man ihre Umrisse nicht durch das Fenster erkennen konnte. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund widersetzte sie sich ihm. Artemas fühlte, wie sie sich ihm entwand, als die Kutsche losfuhr. Sie hob den Arm. Er sah eine kleine Pistole in ihrer Hand, nur wenige Zentimeter von seinem Ohr entfernt.

„Nein!“, schrie er. Doch er wusste, dass es zu spät war. Er ließ von ihr ab und bedeckte mit den Händen seine Ohren. Ein Lichtblitz schoss durch die Dunkelheit. In der kleinen Kutsche wirkte das Knallen der Pistole so laut wie Kanonenfeuer.

Artemas erkannte, dass sich die Kutsche ruckartig in Gang setzte, doch nahm er die dazugehörigen Geräusche der Räder und Hufe nur wie aus großer Entfernung wahr. Er öffnete die Augen und sah, dass Madeline besorgt auf ihn herabblickte. Ihre Lippen bewegten sich, doch konnte er kein Wort von dem verstehen, was sie sagte.

Sie rüttelte an seinen Schultern. Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder. Ihm wurde klar, dass sie ihn fragte, ob alles in Ordnung sei.

„Nein“, erwiderte er. Jetzt nahm er ein Klingeln in den Ohren wahr. Er konnte seine eigene Lautstärke nicht einschätzen. Er hoffte, dass er brüllte. „Nein, es geht mir nicht gut. Verdammt noch mal, gnädige Frau, ich kann nur zum Himmel beten, dass Sie mich nicht für immer taub gemacht haben.“