Leseprobe Nordseeliebe und Inselglück

Weihnachten in Husum

Die Atemluft kondensierte zu kleinen Nebelwölkchen, als Marie zu Fuß durch die Straßen eilte. Sie war früh dran, aber die kalte, feuchte Luft ließ sie ihre Schritte beschleunigen. Sie zog ihren Schal enger um ihren Hals und schob die Kante über Mund und Nase, sodass nur noch ihre Augen zwischen Mütze und Schal der kalten Witterung ausgesetzt waren.

Kühl war es schon am Morgen dieses Heiligen Abend gewesen, aber im Lauf des Nachmittags war der Wind aufgefrischt und wehte feucht vom Meer her durch die Straßen Husums. Inzwischen war Marie am Markt angekommen. Erst hier traf sie auf andere Menschen, die mit ihr gemeinsam auf die Marienkirche zustrebten. Es musste deutlich vor Elf sein und richtig, in diesem Moment erklang eine erste Glocke über ihrem Kopf, eine zweite gesellte sich hinzu und das Geläut rief die Gläubigen zum Besuch der Christmette. Trotz des rauen Wetters blieb Marie kurz stehen und schaute zum Glockenturm hinauf. Vor einigen Jahren hatte ihr Vater sie auf die Glocken aufmerksam gemacht, fünf an der Zahl waren es, die im Turm hingen. Nein, dachte sie bitter, nicht an sie hatte er die Erklärungen gerichtet, sondern an ihren Bruder. Kurz presste sie die Lippen aufeinander und schob den Gedanken beiseite, dann trat sie entschlossen auf das Portal der Kirche zu. Im Inneren des Gotteshauses, vor dem ruppigen Wind geschützt, zog sie ihre Mütze vom Kopf und sah sich um. Obwohl es noch früh war, schien die Kirche gut besucht. Nur mit Mühe fand sie einen freien Platz.

Das Holz der Kirchenbank knarrte, als sie sich neben einer älteren Frau niederließ. Flüchtig nickte sie der Dame zu und legte dann ihre Sachen vor sich auf den Boden. Mit einem verhaltenen Seufzer richtete sich Marie auf und schloss die Augen. Leises Geraschel zeigte an, dass noch immer Menschen einen Platz suchten. Husten und Schniefen mischten sich in die Geräusche von Sohlen auf Stein und das Knarren der Holzbänke. Die Luft war trocken und jetzt bemerkte sie an der älteren Dame einen vertrauten Geruch. Es dauerte eine Weile, bis sie den Duft zugeordnet hatte. Ihre Großmutter hatte das gleiche Parfum benutzt. Maries Mundwinkel hoben sich.

Weihnachten. Das Erste, dass sie allein verbringen würde. Seit dem Tod ihres Vaters vor drei Monaten hatte sich viel verändert. Das Verhältnis zu ihrem Bruder war – schwierig geworden. So feierte er mit seiner Familie allein und sie selbst war nach Husum gefahren, um die Feiertage und die Zeit zwischen den Jahren am Meer zu verbringen. Einen Vorteil musste es schließlich haben, dass sie das Ferienappartement in Hafennähe geerbt hatte. Die Firma und das Haus in Norderstedt gehörten jetzt ihrem Bruder. Es hatte einen heftigen Streit gegeben, als der Vater sie vom Testament in Kenntnis gesetzt hatte. Es müsse einen einzigen Betriebsleiter geben und das sei nun mal der Ältere, der Mann.

Wieder einmal fühlte Marie in sich hinein. Ja, er war noch da, der Stachel der Eifersucht. Hatte sie nicht die gleiche Ausbildung gemacht wie Eike? War sie nicht genau so sehr Kind ihres Vaters? Natürlich konnte man die Firma nicht teilen. Sie zu verkaufen oder zu zerschlagen wäre Marie nie in den Sinn gekommen, aber sie fühlte sich abgespeist. Es blieb dabei, sie war lediglich eine Angestellte in der Firma ihrer Familie, zunächst beim Vater, jetzt beim Bruder.

In diesem Moment begann der Posaunenchor zu spielen und Marie konzentrierte sich auf die bekannte Melodie. Es ist ein Ros’ entsprungen, summte sie innerlich mit und nach der ersten Strophe durfte die Gemeinde mitsingen, was sie mit Freude tat. Sie mochte die alten Weihnachtslieder und wenn diese aus vielen Kehlen im Kirchenschiff erklangen, musste Marie manchmal gegen die Tränen ankämpfen. So schloss sie die Augen und sang auswendig mit.

Als der letzte Ton verklungen war, begrüßte der Pastor die Gemeinde. Schon bei seinen ersten Sätzen schweiften Maries Gedanken wieder ab. Ihr letzter Kirchenbesuch war der Trauergottesdienst für ihren Vater gewesen. Die Kirche war brechend voll, die Honoratioren, Nachbarn und die Belegschaft, viele der Trauernden kannte Marie, noch mehr waren ihr unbekannt. Alle zeigten sich betroffen, dass der rüstige Mittsechziger so plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er die Fäden seiner Fensterbaufirma fest in seinen Händen gehalten. Zwar arbeiteten Sohn und Tochter in der Firma, aber der Chef war er, er traf die Entscheidungen, die dann umgesetzt wurden. Er hatte sich mit niemandem beraten.

Ungewohnte Klänge rissen Marie aus ihren Überlegungen. Was sie von der Orgelbühne hörte, kam ihr bekannt vor und doch war sie sicher, dieses Lied noch nie oder zumindest nicht in dieser Weise gehört zu haben. Eine Männerstimme setzte ein: »Oh come, come ye, joyful and triumphant …«

Marie schnappte nach Luft. Diese Stimme! Kraftvoll und doch samtig erklang die Melodie zunächst von dem Sänger allein. Dann setzte der Kinderchor ein: »Herbei, oh ihr Gläubigen …« Den Choral kannte sie, er gehörte zu Weihnachten, solange sie denken konnte. Sie drehte sich um und reckte den Hals, um die Sänger zu sehen. Auf der Empore strahlten die Kinder und folgten der Leitung des Dirigenten. Neben ihm vorn an der Balustrade stand der Solosänger, der gerade wieder Luft holte. Er sang die nächste Strophe wiederum auf Englisch, deren Melodie sich an den Gesang der Kinder anschmiegte, sie umspielte und schließlich überstrahlte.

Marie bekam eine Gänsehaut. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie wandte sich nicht ab.

Als der letzte Ton verklungen war, ließ der Sänger seinen Blick über die Köpfe der Gemeinde schweifen und schien an Maries Gesicht hängen zu bleiben. Einen kurzen intensiven Moment hatte sie das Gefühl, als schaue er sie direkt an. Ihr Wangen brannten und obwohl ihr das unangenehm war, konnte sie sich doch nicht abwenden. Erst als der Pastor längst wieder sprach, drehte sie sich zögernd nach vorn um.

Nach dem Segen erklang vom Posaunenchor das Vorspiel zu Stille Nacht und gemeinsam sangen die Menschen alle Strophen des alten getragenen Liedes.

Während der letzte Ton durch die Kirche hallte, ergriff eine Frau das Wort und lud alle Besucher des Gottesdienstes im Anschluss zu einem Becher Glühwein oder Punsch vor der Kirchentür ein.

Marie ließ sich Zeit, zupfte zwei lange blonde Haare von ihrem Mantel und griff nach ihrer Mütze. Draußen war es sicher noch kälter geworden.

Der Auszug aus dem Kirchenhaus stockte, und als sie schließlich am Portal ankam, erkannte sie auch warum: Der Pastor schüttelte jedem Kirchenbesucher persönlich die Hand und wünschte frohe Weihnachten. Direkt neben dem Eingang, vom Wind geschützt, stand ein Tisch mit zwei großen Töpfen, die dampften und würzig dufteten. Noch während sie schaute, bekam Marie einen Becher Glühwein angeboten.

»… oder möchten Sie lieber Punsch?«

Marie sah auf und erkannte in ihrem Gegenüber den Solisten. Freundlich lächelnd hielt er ihr die dampfende Tasse entgegen.

Fast mechanisch griff sie nach dem Wein und bedankte sich. Zwei Schritte weiter drehte sie sich zurück und betrachtete ihn aus dieser kurzen Entfernung. Dunkelblonde, kurz geschnittene Haare und ein sauber gestutzter Bart umrahmten ein etwas rundliches Gesicht mit auffallend blauen Augen. Selbst bei diesem schummrigen Licht schienen diese zu leuchten. Ansonsten war er groß, sicher einen halben Kopf größer als sie und erschien breitschultrig in seiner Caban-Jacke. Mit stoischer Ruhe verteilte er den Glühwein und schaute dabei jeden gleichbleibend freundlich an.

Marie nippte an ihrer Tasse. Der Wein wärmte durch seine Gewürze, umschmeichelte ihre Zunge mit Zimt, Nelke und Orange, und sie merkte, wie ihr innerlich warm wurde. Hier zwischen den vielen Menschen spürte sie den Wind kaum. Obwohl sie niemanden persönlich kannte, fühlte sie sich nicht fremd und genoss den Moment der Gemeinschaft, der auch sie mit einschloss.

Ihr Blick wanderte zurück zu dem Mann, der inzwischen keinen Glühwein mehr verteilte, sondern selbst eine Tasse zum Mund führte.

Kurzentschlossen trank sie den letzten Schluck und ging zu ihm zurück.

»Darf ich Ihnen die zurückgeben?« Auffordernd hielt sie ihm ihre Tasse entgegen und bevor sie der Mut verlassen konnte, sprach sie weiter: »Ich möchte Ihnen für den Gesang danken. Das Stück … und Ihre Stimme haben mich sehr berührt.«

Er hatte sie während ihrer kurzen Rede äußerlich unbewegt angeschaut. Jetzt nahm er ihr die Tasse ab und umfing dabei für einen kurzen Moment ihre Finger.

»Danke«, sagte er und übernahm etwas umständlich das Gefäß.

Norddeutsch wortkarg schoss es Marie durch den Kopf, dann wandte sie sich mit einem Nicken ab. Erst als sie aus der Menschentraube heraustrat, fiel ihr auf, wie warm seine Hand gewesen war.

 

Zurück in ihrem Appartement setzte sich Marie mit einem Glas Rotwein auf das Sofa. Auf dem Tisch vor ihr lag ein Päckchen. Bevor sie sich ans Auspacken machte, kuschelte sie sich unter eine flauschige Decke. Das Geschenk hatte sie von ihrer Freundin Nele bekommen. Darauf eine Weihnachtskarte, nein, fast ein Brief, stellte sie fest, als sie die Karte aufklappte.

Liebe Marie,

schön, dass Du Deine Ankündigung wahrgemacht hast und Weihnachten in Husum feierst. Die letzte Zeit war sicher nicht einfach für Dich und Du hast Dir die Auszeit redlich verdient. Lange habe ich überlegt, was ich Dir in Dein Exil auf Zeit mitgeben könnte. Als Erstes fiel mir ein Boxsack ein, aber den hättest Du ja nur unnütz hin- und hertransportieren müssen und außerdem vor Ort nicht einsetzen können.

Marie schmunzelte. Ja, nach einem Boxsack hätte ihr in den letzten Monaten durchaus einige Male der Sinn gestanden, wie gut ihre Freundin sie doch kannte.

Also habe ich überlegt, wie Du Dir sonst etwas Gutes tun kannst. Ich hoffe, ich habe Deinen Geschmack getroffen. Fühl Dich gedrückt und frohe Weihnachten.

Deine Freundin Nele

Gespannt nahm Marie nun das Päckchen vom Tisch. Mittelschwer war es und raschelte oder klapperte nicht, während sie es vorsichtig bewegte. Für ein Buch hatte es das falsche Format. Vorsichtig schnürte sie die Schleife auf und wickelte diese auf. Dann löste sie die Klebestreifen von dem goldglänzenden Papier und brachte eine Pappschachtel zum Vorschein. Nele machte es also spannend. In dem Karton sah sie zunächst nur Füllmaterial, dann ein rotes Etwas, das sie aus den Maischips fischte. Ein roter Knautschball kam zum Vorschein mit einem ärgerlichen Gesicht, das ihrem Bruder merkwürdig ähnelte. Hatte Nele das etwa gezeichnet? Marie hob den Ball ins Licht und tatsächlich gab es gedruckte Linien und anscheinend später nachgezeichnete. Eikes Frisur, ein sauber gegelter Kurzhaarschnitt, war gut getroffen und die Augen waren braun nachgezeichnet. Darin waren sich die Geschwister sehr ähnlich. Beide hatten blonde Haare und braune Augen. Als Kinder waren sie öfter verwechselt worden, obwohl ihr Bruder etwas älter war. Sie knautschte den weichen Ball und ließ das Konterfei darauf Grimassen schneiden. Mit einem Schnauben legte sie den Ball beiseite. Vorsichtig suchte sie im Füllmaterial, fand aber nichts weiter, außer dass es darunter glatt war und noch etwas auf dem Grund der Kiste sein musste. Kurzentschlossen kippte sie die Maischips auf das Geschenkpapier und stieß auf eine weitere Karte. Gutschein prangte in großen Lettern darauf. Als sie sie aufklappte, las sie mit Erstaunen, dass sie zum Probetraining in einen Boxklub gehen konnte. Zwar hatte sie mit Nele mehrfach geblödelt, dass sie sich etwas zum Draufschlagen wünschte, aber hatte sie das wirklich ernst gemeint? Der Ball grinste sie an. »Du hältst dich da raus«, beschied sie ihm und schlug mit der Faust auf den Ball, sodass dieser platt wie ein Pfannkuchen aussah und erst langsam zu seiner runden Form zurückfand. Noch ein Schnauben hallte durch das ruhige Zimmer ihrer Ferienwohnung. Dann hob Marie den letzten Teil des Geschenks aus dem Karton. Das fühlte sich eindeutig nach Buch an. Gespannt, was Nele für sie ausgesucht haben mochte, packte sie aus. Der Klappentext verhieß einen Abenteuerroman, bei dem auch die Romantik nicht zu kurz käme. Es war ein dicker Schinken, genau das Richtige für lange Winterabende allein.