Leseprobe Nordseeküsse und Meeresrauschen

Kapitel 1

»Mama! Jetzt wach endlich auf. Ich komme zu spät zur Schule!«

Die Stimme meiner Tochter dringt wie durch einen Nebel zu mir hindurch. Ihre kleinen Hände rütteln an meiner Schulter, sodass ich nun vollends aus dem Schlaf gerissen werde. Müde drehe ich mich zu ihr um.

»Guten Morgen, mein Schatz. Wie spät ist es?«

Ich kann die Uhrzeit auf meinem Wecker nicht sehen, da Nina davorsteht und mir die Sicht versperrt. Schmunzelnd betrachte ich ihre blonden Zöpfe, die zerzaust und schief von ihrem Kopf abstehen. Heute hat sie sich die Haare selbst gemacht.

»Halb acht«, antwortet sie sofort. Erschrocken schlage ich die Decke zurück und falle beinahe aus dem Bett. Kichernd tritt Nina einen Schritt nach hinten.

»Mist. Ich habe den Wecker nicht gehört«, brumme ich und verziehe mich sogleich ins Badezimmer, wo ich mir notdürftig Wasser ins Gesicht spritze und meine Haare zu einem Knoten am Hinterkopf frisiere. Dann schminke ich mich in Windeseile, damit ich auf der Arbeit nicht zu übernächtigt aussehe. Meine Tochter kommt zu mir und setzt sich auf den Wannenrand. Mit der Zahnbürste im Mundwinkel drehe ich mich zu ihr um.

»Hast du dir die Zähne geputzt?«, frage ich sie. Nina nickt. »Und Frühstück?«

»Müsli«, antwortet sie sofort. Mit einem wehmütigen Lächeln betrachte ich meine Kleine. Sie ist mit ihren fast sieben Jahren viel zu erwachsen. Manchmal stimmt es mich traurig, weil meine Tochter schon früh gelernt hat, selbstständig zu sein. Dann bin ich wiederum verdammt stolz auf sie. Ich spucke die Zahnpasta ins Waschbecken, dann gehe ich zu Nina rüber und nehme sie fest in den Arm.

»Ich bin stolz auf dich, mein Schatz«, flüstere ich ihr ins Ohr und küsse ihre Stirn. Nina grinst mich breit an.

»Ich auch auf dich, Mama«, erwidert sie und drückt ihr Gesicht an meine Brust. Einen Moment verharren wir so, dann entlasse ich sie aus meiner Umarmung, sonst kommen wir tatsächlich zu spät zur Schule.

»Komm, ich richte mal deine Frisur. Danach müssen wir los.«

Nina nickt und löst einen ihrer Zöpfe, damit ich ihr die Haare kämmen und neu frisieren kann. Dann verlässt sie das Bad und holt den Schulranzen aus ihrem Kinderzimmer. Ich flitze zurück ins Schlafzimmer und zerre Bluse und Hose aus dem Schrank, schlüpfe hinein und greife nach meiner Handtasche.

»Willst du nichts essen?«, fragt Nina mit einem besorgten Gesichtsausdruck. »Ich habe dir ein Brot geschmiert.«

»Das nehme ich mit zur Arbeit«, erwidere ich und hole mir mein Frühstück aus der Küche, das ich in die Handtasche stecke. Gemeinsam mit Nina verlasse ich die Wohnung. Unten im Hof schließe ich mein Fahrrad auf und will mich schon zu meinem Kind herunterbeugen, um sie in den Kindersitz zu heben, als mir auffällt, dass sie ihren Helm nicht dabeihat.

»Oh, Mist. Warte kurz hier, ich hole deinen Helm.« Sofort stürme ich wieder die Treppen hinauf bis zur Dachgeschosswohnung, die meine Tochter und ich bewohnen. Im Flur finde ich ihren Helm unter einem Stapel Jacken und Pullover, die ich letzte Woche nicht weggeräumt habe. Nach Feierabend sollte ich endlich mal Ordnung schaffen, denn seit Tagen suche ich vergebens Notizbücher und Hefte, die ich für die Arbeit benötige. Auch Nina hatte sich beklagt, weil sie ihr Lieblingsstofftier nicht finden konnte. Als alleinerziehende Mutter ist es nicht immer leicht, Job, Haushalt und Kinderbetreuung unter einen Hut zu kriegen. Bisher habe ich die Situation jedoch irgendwie gemeistert, auch wenn mir manchmal alles über den Kopf wächst.

Seufzend schließe ich die Tür hinter mir und gehe zurück in den Hof. Bis Unterrichtsbeginn bleiben uns nur noch zehn Minuten, weshalb ich noch schneller als üblich in die Pedale trete. Vor dem Eingang der Grundschule verabschiede ich mich von meiner Tochter, die sogleich ins Innere des Gebäudes läuft.

Gähnend steige ich wieder aufs Fahrrad. Meine Schüler werden noch ein wenig auf mich warten müssen, auch wenn das Gymnasium, an dem ich unterrichte, nur wenige Minuten von Ninas Grundschule entfernt ist. Wäre ich gestern nicht über dreiundzwanzig verschiedenen Interpretationen von Goethes Erlkönig eingeschlafen, dann hätte ich heute bestimmt nicht verschlafen. Weil ich die Nachmittage mit meiner Tochter verbringen möchte, lege ich die Nacharbeit für meinen Unterricht stets in die späten Abendstunden.

Auf dem Schulhof angekommen, stelle ich das Fahrrad ab und eile durch die Flure zu meinem Klassenraum. Noch bevor ich von zu Hause losgefahren bin, habe ich einer Kollegin Bescheid gegeben, damit sie meine Klasse während meiner Abwesenheit vertritt.

»Guten Mo-«, beginne ich meine Begrüßung, die mir jedoch beim Betreten des Klassenraumes im Hals stecken bleibt. Ich mache zwei Schritte rückwärts, glaube schon, mich in der Tür geirrt zu haben, denn es ist nicht meine Kollegin Sabine, die ich im Raum antreffe, sondern ein mir unbekannter Mann.

»Ähm, Entschuldigung«, murmele ich und wende mich schon zum Gehen.

»Frau Konrad, wo wollen Sie denn wieder hin? Sie sind sowieso heute viel zu spät dran«, höre ich die Stimme des Schulleiters hinter mir. Er drängt sich an mir vorbei durch die Tür und bedeutet mir mit einem strengen Blick, ebenfalls den Klassenraum zu betreten. Irritiert sehe ich zwischen Werner und dem Fremden hin und her, der mir seinerseits seine Aufmerksamkeit schenkt. Ist er der neue Kollege, von dem alle vor den Sommerferien gesprochen haben?

So still war es in meiner Klasse noch nie, denn es murmelt eigentlich immer jemand. Doch jetzt ist das wilde Klopfen meines Herzens das einzige Geräusch, das ich wahrnehme. Ich bin aufgeregt, weil es mir vor meiner Klasse peinlich ist, zu spät gekommen zu sein. Das offene Lächeln des Mannes sorgt nicht gerade dafür, dass ich mich entspanne. Sein kantiges Kinn wird von einem Dreitagebart bedeckt, der das Lächeln noch attraktiver macht. Kleine Lachfältchen bilden sich um die dunkelbraunen, beinahe schon schwarzen Augen des Mannes, die mich sein Alter schwer schätzen lassen. Er ist groß und trägt ein dunkelblaues Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hat. Dazu eine Jeans und Sneakers. Was mich an ihm jedoch am meisten beeindruckt, ist sein braunes Haar, das ihm in krausen Locken bis auf die Schultern fällt.

»Ich habe die Zeit Ihrer Abwesenheit genutzt, um Herrn Schuster vorzustellen. Er wird diesen Jahrgang zukünftig in Mathe und Biologie übernehmen, weil Frau Michels wegen längerer Krankheit ausfällt«, erklärt mir der Direktor, dem ich jedoch nur mit halbem Ohr zuhöre. Zu sehr bin ich von dem Anblick des fremden Mannes gefangen, der mir seine Hand entgegenhält.

»Freut mich wirklich. Ich bin Robert Schuster«, stellt er sich vor und sein Lächeln wird noch eine Spur breiter.

»Mel- Melanie Konrad«, stammele ich immer noch verwirrt. Seine Hand ist warm, der Händedruck fest, sodass meine Handinnenfläche direkt zu schwitzen beginnt. Beschämt lasse ich ihn los und wische mir die Hand so unauffällig wie möglich an meiner Hose ab.

»Gut, dann werden wir Sie nun nicht weiter stören und Sie Ihrer Klasse übergeben. Es ist sowieso schon zu viel Zeit verstrichen«, meint der Schulleiter, verschränkt seine Arme hinter dem Rücken und geht an mir vorbei zur Tür. »Kommen Sie, Herr Schuster, ich werde Sie auch noch den anderen Schulklassen vorstellen.«

»Ich freue mich auf jeden Fall auf die Zusammenarbeit.« Auch Robert will bereits zur Tür, dreht sich jedoch nochmals zu mir um. »Sie haben da noch Zahnpasta.«

Erschrocken wische ich mir mit dem Handrücken über den Mund, was Robert lachen lässt. Röte schießt mir in die Wangen, als wir uns einen Moment länger als nötig in die Augen sehen. Im Hintergrund höre ich verhaltenes Kichern meiner Schüler. Gott, wie peinlich!

Räuspernd trete ich einen Schritt zurück und auch Robert strafft die Schultern, bevor er den Klassenraum hinter dem Direktor verlässt. Im Kopf zähle ich bis zwanzig, um wieder zur Ruhe zu kommen, danach gehe ich zum Pult und lege meine Tasche drauf, als hätte es die vergangenen Minuten gar nicht gegeben. Dann stütze ich mich mit beiden Händen an der Tischplatte ab. Einerseits, um mich von diesem plötzlichen Herzklopfen abzulenken. Andererseits, um mehr Autorität auszustrahlen. Die Schüler sehen mich teilweise amüsiert, teilweise neugierig an, sodass ich mich nochmals räuspern muss.

»Guten Morgen«, begrüße ich sie endlich und ziehe die Hefte mit den Aufsätzen aus der Tasche. »Wir haben genug Zeit vergeudet. Nun sollten wir uns dem Ernst des Lebens stellen. Heute ist euer Glückstag, denn ich habe die Gedichtinterpretationen durchgesehen.«

Unzufriedenes Murren geht durch die Tischreihen und sofort ist mein peinlicher Auftritt von eben vergessen.

***

»Hast du ihn schon gesehen?«, fragt mich meine Kollegin Sabine während der großen Pause, nachdem ich mit meinem wohlverdienten Kaffee aus der angrenzenden Küche ins Lehrerzimmer komme. Seufzend lasse ich mich auf meinen Stuhl am Schreibtisch fallen, den ich mir mit Sabine teilen muss.

»Ja«, antworte ich knapp. Es ist offensichtlich, dass sie von Robert spricht.

»Und ist er nicht wahnsinnig attraktiv? Wäre ich bloß zehn Jahre jünger …« Sabines Augen bekommen dieses Funkeln, das ich nur zu gut kenne. So sieht sie immer aus, wenn sie ins Schwärmen gerät. Dabei ist das Objekt ihrer Begeisterung jedes Mal ein anderes. Ein schöner Mann, ein niedlicher Hundewelpe, eine neue Handtasche oder ein besonders interessantes Buch.

»O ja …«, entgegne ich bloß und puste in meinen Kaffeebecher. Robert ist unglaublich nett, unglaublich attraktiv, unglaublich sympathisch, unglaublich – keine Ahnung! Ich habe ihn nur wenige Minuten gesehen und kaum zwei Worte mit ihm gewechselt, dennoch hat mich seine Ausstrahlung sofort in den Bann gezogen.

»Also stimmst du mir zu, dass er verdammt gut aussieht?«, stellt Sabine nickend fest. »Claudia und Mareike teilen diese Ansicht nicht. Sie sahen vorhin verdammt unzufrieden aus, als ich sie auf ihn angesprochen habe. Vermutlich hat ihnen seine Frisur nicht gefallen.«

»Er ist … nett, denke ich«, entgegne ich, weil ich dieses Gespräch, so schnell es geht, beenden möchte. Ungerne will ich ein Gerücht nähren, ich könnte meinen neuen Kollegen attraktiv finden. Sabines Mundwinkel schieben sich enttäuscht nach unten, denn sie hatte sich schon über eine neue Sensation gefreut. Sie liebt Klatsch zu sehr, als dass sie sich so leicht abspeisen lässt. Grinsend stößt sie mir den Ellbogen in die Seite, sodass ich mich an dem Nutellabrot, das Nina für mich gemacht hat, verschlucke und heftig husten muss. Sabine klopft mir auf den Rücken und ich spüle die Krümel in meinem Hals mit einem großen Schluck Kaffee runter.

»Jetzt sei nicht gleich eine Spielverderberin. Ich wollte dich nur ein bisschen auf den Arm nehmen. Schließlich ist er der einzige Kollege, der annähernd in deinem Alter ist.«

»Apropos Robert – wo ist er?«, frage ich beiläufig, weil er mir bisher nicht erneut begegnet ist, und übergehe dabei ihre Anspielung.

»Pausenhofaufsicht«, meint Sabine bloß und nippt ebenfalls an ihrem Getränk. Zwei Kollegen betreten das Lehrerzimmer, grüßen und setzen sich auf ihre Plätze. Die Pause ist in fünf Minuten vorbei, dann habe ich Deutschunterricht in der Zehnten, deshalb sollte ich darauf achten, nicht erneut zu spät zu kommen. Eigentlich. Gerade gilt mein Interesse jedoch dem neuen Kollegen, der draußen bei den Schülern Aufsicht hat.

»Ich muss dann noch mal aufs Klo«, sage ich zu Sabine und laufe aus dem Lehrerzimmer. Statt jedoch zu den Lehrertoiletten zu gehen, verlasse ich das Gebäude und trete hinaus in den Hof. Strahlender Sonnenschein begrüßt mich, sodass ich meine Augen mit der Hand abschirmen muss, um besser sehen zu können. Langsam gehe ich über den Schulhof und halte nach Robert Ausschau. Irgendwie macht mich mein neuer Kollege neugierig, denn unsere erste Begegnung hat bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.

Noch einmal sehe ich mich um, doch weil ich den Neuen nicht entdecke, wende ich mich schon zum Gehen. Plötzlich bemerke ich einen Tumult und eine Gruppe Schüler, die sich hinter dem Schulgebäude herumdrücken. Sofort schrillen meine Alarmglocken und ich eile auf die kleine Gruppe zu. Na, hoffentlich streitet sich niemand! Von Weitem erkenne ich Roberts hochgewachsene Gestalt und seine breiten Schultern. Mit dem Rücken zu mir steht er neben einigen Schülerinnen aus meinem Deutschkurs. Ich sehe Aylin, die sich weinend an ihre Freundin Sina klammert. Ihr Mascara ist verschmiert und sie schluchzt heftig. Christiane steht daneben, auch Paul, Tom und Sebastian erkenne ich. Tom sieht wütend aus und Sebastians Gesichtsausdruck ist ebenfalls grimmig. Zudem hat er eine aufgeplatzte Lippe.

»Was ist denn hier passiert?«, frage ich die Mädchen, ohne Robert anzusehen. Aylin schluchzt noch lauter, die anderen drehen sich zu mir um.

Robert fährt sich mit der Hand übers Gesicht und sieht wirklich erleichtert aus, als er mich erblickt.

»Frau Konrad. Gut, dass Sie hier sind. Ich bin mit dieser Situation ein wenig überfordert«, gesteht er mit einem entschuldigenden Lächeln. Verständnislos sehe ich zwischen ihm und meinen Schülern hin und her.

»Tom und Basti haben sich geprügelt«, kommt ihm Christiane zu Hilfe. »Weil Basti Aylin beleidigt hat. Nicht nur, dass er aus heiterem Himmel mit ihr Schluss gemacht hat. Nein. Jetzt unterstellt er ihr sogar, ihm mit seinem Cousin fremdgegangen zu sein.« Empört rümpft sie die Nase und funkelt Sebastian verärgert an. Dieser wirkt auf mich jedoch nicht gerade reumütig. Soll ich jetzt in Liebesangelegenheiten schlichten, oder wie? Kein Wunder, dass Robert sich ein wenig hilflos fühlt. Ich atme tief ein und ergreife Sebastians Arm.

»Du solltest deine Freundin nicht haltlos – und vor allem nicht auf dem Schulhof – beschuldigen«, sage ich in strengem Ton.

»Ex-Freundin«, betont er grimmig. »Wenn sie meinen Cousin vögelt, will ich nichts mehr mit ihr zu tun haben!«

»Na hör mal!«, zischt Sina und streicht der schluchzenden Aylin über den Rücken. »Dein Cousin hat ihr nachgestellt, nicht umgekehrt.«

»Und ich habe ihn abgewiesen, du Idiot«, kommt es stockend von Aylin, doch Sebastian zeigt keine Regung.

»Außerdem ist es kein Grund euch zu schlagen, Jungs. So etwas kann man zivilisiert lösen«, kommt mir Robert zu Hilfe. Er hat echt Pech an seinem ersten Tag gleich in einen Streit zu geraten.

»Ich wollte nur ihre Ehre verteidigen«, entgegnet Tom und stemmt die Hände in die Hüften. »Ich habe gesehen, wie Chris Aylin am Wochenende auf der Party angemacht hat. Sie trifft keine Schuld.«

Also das ist eindeutig kein Schulhofgespräch. »Ihr zwei Streithähne kommt mit mir zum Direktor. Der Grund mag nobel sein, dennoch werden keine Schlägereien auf dem Pausenhof geduldet, verstanden?«

Tom lässt betreten die Schultern hängen, Sebastian wirkt ebenfalls eingeschüchtert. Ich winke einer anderen Lehrkraft zu und übergebe die beiden Raufbolde an meine Kollegin, der ich die Situation kurz schildere.

»Und ihr anderen, ab mit euch in den Unterricht«, fordere ich meine Schüler auf, die sich murrend verziehen. Einen Moment sehe ich ihnen nach, dann wende ich mich an Robert, der schweigend neben mir steht und keine Anstalten macht zu gehen.

»Danke für die Hilfe. Sie haben die Situation kompetent gelöst«, richtet er das Wort an mich. Sein charmantes, ein bisschen schüchternes Lächeln lässt mein Herz auf einmal schneller schlagen. Sogleich schüttele ich dieses angenehme Gefühl ab, das sich in meinem Inneren ausbreitet. »Ach was. War eine Kleinigkeit. Ich kenne meine Schüler schon seit der Unterstufe. Sie sind eigentlich sehr gewissenhaft. Und der ein oder andere Ausrutscher passiert jedem mal«, winke ich ab und setze mich in Bewegung. »Außerdem können Sie mich ruhig duzen. Immerhin sind wir Kollegen und ungefähr im selben Alter.«

Meine nächste Stunde beginnt gleich, deshalb sollte ich mich nicht länger auf dem leeren Pausenhof aufhalten. Schließlich bin ich heute Morgen bereits zu spät gekommen. Was bin ich für ein Vorbild für meine Schüler, wenn ich kurz nach den Sommerferien mit meiner Selbstdisziplin nachlasse? Ich nicke Robert noch einmal zu und eile davon, um meinem stärker werdenden Herzklopfen zu entkommen.

***

»Sorry, Schatz, ich hatte noch eine wichtige Besprechung«, entschuldige ich mich bei meiner Tochter, die auf einer Bank in der Nähe des Schultors sitzt. Nina hat ihre Arme um den Ranzen geschlungen, den sie fest an sich drückt, als wäre er ihr geliebtes Stofftier. Dabei wirkt sie ein bisschen verloren, sodass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. Nina hebt den Kopf und lächelt mich an. Dann hüpft sie von der Bank und ergreift meine Hand.

»Ist doch nicht schlimm, Mama. Ich habe eben noch mit Laura gespielt. Sie wurde gerade erst von ihrer Oma abgeholt«, erklärt sie mir und ich hocke mich hin, um meine Tochter in die Arme zu schließen. Seufzend streiche ich ihr über den Kopf, bevor ich mich wieder erhebe. Wären meine Eltern ebenfalls hier auf der Insel, dann müsste ich Nina nicht so lange in der Nachmittagsbetreuung ihrer Grundschule lassen. Aber leider ist meine Familie immer noch in Hamburg. Lediglich meine ältere Schwester Mona lebt hier auf Sylt. Doch sie hat mit ihrem Strandcafé viel zu tun. Da will ich ihr die Betreuung meiner Tochter nicht zusätzlich zumuten, obwohl ich weiß, wie gerne sich Mona um Nina kümmert. Meine Schwester ist knapp zehn Jahre älter als ich und unverheiratet. In der Arbeit ihres Cafés blüht sie richtig auf.

»Wollen wir ein bisschen an den Strand? Wir könnten ein Eis essen?«, schlage ich vor.

»O ja! Das wäre super!« Sie jubelt fröhlich, während ich ihren Schulranzen in den Korb vorne am Fahrrad lege und es aufschließe. Dann hebe ich Nina in den Fahrradkindersitz und steige selbst auf.

Das Wetter ist herrlich. Eine frische Brise weht uns entgegen und ich genieße es, mit dem Rad über die Wege hinab zum Strand zu fahren. Seitdem ich hier auf der Insel lebe, kann ich mir nicht mehr vorstellen, zurück nach Hamburg zu ziehen. Die Hektik der Großstadt fehlt mir überhaupt nicht. Mir sind der Strand, das Wasser und der strahlende Sonnenschein am wolkenlosen Himmel über mir viel lieber als lärmende und überfüllte Straßen.

Ich stelle mein Fahrrad neben dem kleinen Kiosk ab, an dem ich für Nina ein Erdbeereis kaufe.

»Wollen wir uns in einen Strandkorb setzen?«, frage ich meine Tochter, die sich bereits die Sandalen von den Füßen gestreift hat und mit ihrem Eis in der Hand über den Sand zum Wasser läuft. Das geblümte Kleid weht um ihre Beine. Lächelnd sehe ich Nina nach, bevor ich es ihr gleichtue und meine Schuhe ebenfalls ausziehe. Der Sand unter meinen Zehen ist noch angenehm warm und kitzelt leicht, während ich zu einem der freien Standkörbe gehe und mich hineinsetze. Ninas Ranzen und meine Handtasche lege ich in den Sand neben mir, dann lehne ich mich zurück und schließe die Augen.

Das Wetter ist herrlich und erneut freue ich mich über meine Entscheidung, nach der Trennung von meinem Ex-Freund zu meiner älteren Schwester nach Westerland gezogen zu sein. Schwanger und mit einem gebrochenen Herzen war ich unendlich erleichtert, für eine Weile bei Mona unterzukommen. Aus den wenigen Wochen wurden Monate und schließlich brach ich alle Zelte in Hamburg ab, um auf der Insel zu bleiben. Mein Studium musste ich wegen der Geburt meiner Tochter sowieso pausieren, so kam mir der Ortswechsel gelegen. Das Referendariat habe ich am hiesigen Gymnasium absolviert und dort direkt eine Stelle bekommen.

Meine Gedanken schweifen zurück zu meiner Zeit in Hamburg. An die Tage, in denen ich ohne ein richtiges Ziel vor Augen vor mich hingelebt habe. Es kommt mir völlig absurd vor, dass ich jemals geglaubt habe, mit Peter glücklich zu werden und eine Familie zu gründen. Unsere Beziehung beruhte mehr auf einem Geben meinerseits und einem Nehmen seinerseits. Trotzdem bin ich froh, mit ihm zusammen gewesen zu sein, denn sonst hätte ich nicht dieses wunderbare kleine Mädchen an meiner Seite. Ihr helles Lachen und die kindliche Fröhlichkeit haben mich schon aus so manch trauriger Situation geholt. Auch jetzt geht mir regelrecht das Herz auf, wenn ich sie am Strand herumtoben sehe. Nina ist ein richtiger Sonnenschein und der Sinn meines Lebens. Egal, welches Arschloch ihr Vater war, sie ist mein Ein und Alles.

»Mama! Guck doch mal!«, ruft sie und winkt mir zu. Ich richte meinen Blick wieder auf Nina, die nun auf mich zugelaufen kommt. Hinter ihr rennt ein kleiner Hund, der fröhlich bellt und mit seinem Schwanz wedelt.

»Schau doch. Er ist mir zugelaufen«, erklärt meine Tochter und krault den kleinen Kerl hinter den Ohren. Erneut bellt der Hund, dann schmiegt er sich gegen meine Beine.

»Na, wo kommst du denn her?«, frage ich amüsiert und streichele dem Hund durch sein weiches Fell.

»Darf ich ihn behalten?«, fragt Nina und setzt einen Dackelblick auf, der dem des kleinen Hundes Konkurrenz macht. Ich schüttele den Kopf.

»Nein, mein Schatz. Bestimmt gehört er jemandem. Vielleicht steht eine Telefonnummer auf seinem Halsband.«

Betrübt schiebt Nina ihre Unterlippe vor und hockt sich in den Sand, um das Hündchen ausgiebig zu streicheln.

»Wie schade. Dabei bist du so niedlich«, murmelt sie.

»Du weißt doch, dass unsere Wohnung viel zu klein für einen Hund ist«, erkläre ich meiner Tochter, die verständnisvoll nickt. Erneut frage ich mich, wie sie so plötzlich erwachsen geworden ist. Wo ist nur das trotzige Kleinkind hin, das wegen jeder Kleinigkeit einen Wutausbruch hatte? Wie sehr wünsche ich mir die Zeit zurück, in der Nina sich nachts an meine Brust gedrückt hat, wenn sie nicht einschlafen konnte. Ihre winzigen Händchen an meinem Gesicht und das weiche Haar, das meine Nase kitzelte, wenn sie auf mir lag. Diese Erinnerungen stimmen mich jedes Mal ein bisschen wehmütig. Auch wenn die ersten Jahre als alleinerziehende Mutter verdammt anstrengend für mich gewesen sind, will ich sie nicht missen.

»Vielleicht können wir irgendwann einen Hund haben, wenn du etwas älter bist«, sage ich zu ihr und werde mit einem strahlenden Lächeln belohnt.

»Sherlock! Sherlock, wo steckst du denn? Komm her, es gibt ein Leckerli!« Eine laute Männerstimme dringt zu mir durch. Neugierig verlasse ich meine schützende Position im Strandkorb und sehe den langen Strand entlang. Ein Mann sieht sich gehetzt nach allen Seiten um. Anscheinend sucht er den kleinen Hund, mit dem Nina schmust. Die dunkelbraunen Locken werden vom Wind durcheinandergewirbelt, sodass er sich immer wieder mit der Hand durchs Gesicht fährt, um etwas sehen zu können. Als er in unsere Richtung schaut, begegnen sich unsere Blicke und ein Lächeln erhellt seine Züge. Es ist kein geringerer als mein neuer Kollege Robert, der in Bermudashorts und einem schlichten Shirt durch den Sand auf mich zueilt. Vor mir bleibt er stehen und stützt seine Hände auf die Knie, um zu Atem zu kommen. Dann hebt er den Kopf und grinst mich geradewegs an. Das verschmitzte Lächeln steht ihm unglaublich gut.

»Da bist du ja«, sagt er und für einen Moment bin ich irritiert, ob er mich damit meint. Dann hockt er sich jedoch zu Nina in den Sand und streichelt dem kleinen Hund über den Kopf, der sogleich freudig bellt.

»Ist das deiner?«, frage ich Robert, ohne mich von der Stelle zu rühren. Er nickt und erhebt sich mühsam.

»Sherlock«, stellt er seinen Hund vor. »Ich habe ihn seit drei Jahren, trotzdem hat er mich besser im Griff als ich ihn.«

»Er ist so süß!«, kommt es aufgeregt von meiner Tochter, die den Hund nun auf den Arm nimmt. Sherlock leckt ihr über die Wange, was Nina kichern lässt.

»Anscheinend mag er dich lieber als mich«, stellt Robert amüsiert fest. Nun muss ich ebenfalls grinsen.

»Na, da haben wir seinen Besitzer schnell gefunden«, sage ich zu Nina, die Sherlock zurück an Robert überreicht. Traurig zieht sie die Mundwinkel nach unten.

»Schade. Ich hätte gerne noch ein bisschen mit ihm gespielt.«

»Also …« Er schaut kurz zu mir rüber, dann setzt er den Hund wieder in den Sand. Sogleich hüpft der kleine Kerl um Ninas Beine herum. »Ich habe es eigentlich gar nicht so eilig, nach Hause zu kommen. Deshalb macht es keinen Unterschied, wenn Sherlock und ich eine Weile hierbleiben.«

»Das ist toll!«, jubelt Nina und rennt hinter dem Hund her zurück zum Wasser. Robert geht an mir vorbei und setzt sich wie selbstverständlich in den Strandkorb, neben dem ich immer noch unschlüssig stehe.

»Sie sieht dir ähnlich«, stellt er mit einem langen Blick auf Nina fest und räuspert sich dann. »Sorry, ich wollte dir jetzt nicht zu nahe treten.«

»Schon okay. Bist du nicht«, entgegne ich ruhig und setze mich endlich neben ihn, um nicht wie eine Idiotin vor ihm zu stehen. Dann strecke ich meine Beine lang aus und vergrabe meine nackten Zehen im warmen Sand. »Viele sagen mir, dass sie mir wie aus dem Gesicht geschnitten ist und hat wenig Ähnlichkeit mit ihrem Vater …« Sofort breitet sich dieses ungute Gefühl in mir aus, das mich immer überkommt, sobald ich an Peter erinnert werde. Ich denke nicht gerne an meine Zeit in Hamburg zurück, denn auch wenn der Gedanke nicht mehr so schmerzt wie vor Jahren. Dass er mich schwanger sitzen gelassen hat, kann ich ihm nicht verzeihen.

»Was für eine Rasse ist er?«, frage ich Robert, um nicht in peinliches Schweigen zu verfallen. Es ist mir so schon ein bisschen unangenehm, ihm nach Feierabend zu begegnen. Zwar pflege ich ein freundschaftliches Verhältnis zu all meinen Kollegen aus der Schule, dennoch lasse ich sie nicht zu tief in mein Leben eindringen.

»Ein Yorkshire Terrier. Er war ein Geschenk für –« Er stockt und sein Blick schweift in die Ferne. Etwas Trauriges liegt in seinen braunen Augen, weshalb ich es schon bereue, dieses Thema angeschnitten zu haben. Ich wollte mich lediglich von den Gedanken an Peter ablenken … Habe ich ihn mit dieser Frage gekränkt?

»Wie auch immer.« Robert streicht sich einige Strähnen aus dem Gesicht, dann sieht er mich wieder an. »Sherlock ist noch jung und wild. Er bräuchte ein intensives Training, das ich bisher ziemlich habe schleifen lassen. Ich bin neu hier auf der Insel und kenne mich nicht aus. Kannst du mir eine Hundeschule empfehlen?«

Ratlos zucke ich mit den Schultern. »Sorry, ich habe nicht viel Ahnung von Hundehaltung.«

»Hätte ja sein können.« Er sieht zu Nina rüber, die mit dem kleinen Hund am seichten Wasser entlangläuft. Ihr helles Lachen dringt zu uns. »Sie scheinen Spaß zu haben.«

»Ja«, entgegne ich mit einem milden Lächeln. Ich freue mich jedes Mal, meine Tochter so ausgelassen zu erleben. Sie ist ein ernstes und gewissenhaftes Kind, was mir manchmal ein bisschen leidtut. Doch als alleinerziehende Mutter fällt es mir nicht leicht, meinen Job und die Erziehung immer unter einen Hut zu bekommen.

Mein Kollege erhebt sich und streckt sich ausgiebig.

»Okay, ich sollte mich auf den Heimweg machen. Bis morgen in der Schule«, sagt er zu mir und geht zu Nina rüber, um seinen Hund an die Leine zu nehmen. Ich stehe ebenfalls auf und winke meine Tochter zu mir, um nach Hause zu gehen.