Leseprobe Nordseegeflüster

Kapitel 4

Vier Tage lang ließ sich Emma von ihren Eltern und ihrer Tante verwöhnen. Sie spürte, dass es ihr zunehmend besser ging. Sie schlief gut, und ihr Appetit kehrte zurück. Sie unternahm lange Spaziergänge in der Umgebung, lief durch die Wiesen und lichten Buchenwälder.

Jeden zweiten Abend rief Tobias an. „Wie geht es dir?“

„Schon viel besser.“

„Das freut mich. Ehrlich.“

Danach entstand jedes Mal eine Pause. Emma erschrak. Hatten sie sich etwa nichts mehr zu sagen?

„Wie läuft es bei der Arbeit?“, fragte sie, nur um überhaupt etwas zu sagen.

„Wie gehabt. Noch mehr Arbeit. Wenn mein Chef mir nur noch einen Auftrag mehr reindrückt, schaffe ich es gar nicht mehr, nach Hause zu kommen.“

Emma sah ihre Wohnung vor sich, sein und ihr Zuhause. Immer aufgeräumt und sauber bis in die hinterste Ecke. Sonst hatte sie ja nichts zu tun. Sehnte sie sich danach zurück? Nach ihrer Seidenbettwäsche? Ihren Designermöbeln?

Ihre Mutter war wie erstarrt in der Haustür stehengeblieben, als sie sie zum ersten Mal besucht hatte. „Das … das ist alles so modern“, sagte sie und wirkte eingeschüchtert, während sie vorsichtig ein paar Schritte in die Wohnung hineinging. Ihr Blick war auf das Sofa gefallen. „Ich wage ja gar nicht, mich da hinzusetzen. Nicht, dass ich etwas schmutzig mache.“

„Unsinn. Komm doch endlich rein und mach es dir gemütlich.“

Folgsam hatte ihre Mutter sich gesetzt, jedoch nur auf die Kante, und Emma hatte das Gefühl gehabt, dass sie sich nicht wohlfühlte.

„Emma, bist du noch da?“, rief Tobias. „Du sagst ja gar nichts mehr. Oder ist die Verbindung schon wieder abgebrochen?“

„Nee, ich bin noch dran. Tja, äh, dann will ich dich auch nicht länger aufhalten.“

Müsste er jetzt nicht abwiegeln? Sagen, dass es nichts Wichtigeres gab, als mit ihr zu sprechen? „Ja, ich habe tatsächlich noch Arbeit auf dem Schreibtisch. Ich ruf dich morgen wieder an, ja?“

Enttäuscht hatte sie aufgelegt. Bisher hatte er sie nicht einmal gefragt, wann sie wieder nach Hause kommen wollte. Interessierte es ihn denn gar nicht? Sehnte er sich nicht nach ihr?

Arbeit auf dem Schreibtisch, hatte er gesagt. Plötzlich sah Emma wieder seine Sekretärin dort sitzen, sah, wie sie langsam ihre Bluse öffnete, Knopf für Knopf. War das der Grund für seine Gleichgültigkeit? Oder wollte er sie einfach nicht drängen?

Plötzlich fühlte Emma Entschlossenheit in sich aufsteigen. Morgen würde sie zurück nach Berlin fahren. Sie wollte Tobias mit ihrer Ankunft überraschen. Und wenn er am Abend nach Hause kam, würden sie in aller Ruhe ein Gespräch führen, ganz ohne Vorwürfe oder Streit. Sie würden über seine Affäre mit dieser Constanze sprechen, über den Schmerz wegen der Fehlgeburt und darüber, wie alles weitergehen sollte. Gemeinsam.

Emma stockte in ihren Überlegungen. Wollte sie das überhaupt noch? Eine gemeinsame Zukunft mit Tobias? Liebte sie ihn noch? Sie horchte in sich hinein. Unmittelbar nach der Fehlgeburt war in ihr alles wie betäubt, war sie sicher gewesen, auch die Gefühle für Tobias seien mit ihrem Baby gestorben. Doch war das wirklich so? Inzwischen hatte sie sich erholt, es ging ihr schon viel besser. Müsste sie sich nicht nach ihm sehnen?

Sie wusste es nicht. Ja, sie beschloss, morgen zurückzufahren, gleich am Morgen. Dann würden sie ein klärendes Gespräch führen, und sie würde sich einen Job suchen. Sie hatte keine Lust mehr, nur zu Hause herumzusitzen und auf Tobias zu warten. Kein Wunder, dass es ihm zu langweilig mit ihr geworden war. Sie war zum Heimchen am Herd mutiert. Welcher Mann wollte schon so eine Frau? Nein, sie würde wieder arbeiten gehen und ihr eigenes Geld verdienen. So würde sie wieder hinauskommen, eigene Erlebnisse haben und unabhängiger werden. Das würde ihrer Beziehung guttun. Denn sie beschloss, Tobias seinen Fehltritt mit Constanze zu verzeihen. Zu einem Teil hatte sie es ja mitverschuldet, durch ihr eigenes, selbstmitleidiges Verhalten.

Doch das hatte nun ein Ende. Sie würde endlich selbständig werden, Tobias ebenbürtig und damit eine Partnerin, die er respektieren konnte. Und bei der es keinen Anlass mehr gab, sie zu betrügen.

Nach dem Mittagessen am Tag vor ihrer Rückreise wollte sie noch einen Ausflug ans Meer machen. Es waren nur wenige Kilometer bis zur Nordsee. Ihr altes Fahrrad stand noch im Schuppen. Aus dem Hinterreifen war die Luft entwichen, und sie pumpte ihn auf. Wie oft war sie damals mit dem Rad unterwegs gewesen. Warum hatte sie sich in Berlin eigentlich noch kein Fahrrad gekauft? Sie mochte das Radfahren. Ja, die Idee gefiel ihr. Sobald sie zurückkehrte, würde sie sich eines anschaffen. Sie musste ja nicht im dichten Stadtverkehr damit fahren, aber es gab überall Parks und Grünflächen mit Radwegen.

Beschwingt stieg sie auf und radelte los. Das Wetter schien sich zu ändern, der Himmel zog sich zu, graue Wolken flogen von der See heran. Doch das störte Emma nicht. Während sie die Dorfstraße entlangfuhr, überlegte sie, zu ihrem alten Treff von damals zu fahren. Zwar gab es in Cuxhaven den schöneren Strand, doch erstens war der Weg dorthin weiter, zweitens war der Bereich zu dieser Jahreszeit zu überlaufen, und drittens wollte sie den Ort gern einmal wiedersehen, an dem sie sich als Jugendliche oft aufgehalten hatte und mit ihren Freundinnen stundenlange Gespräche geführt hatte. Dort, auf dem Deich mit Blick auf die Nordsee, hatte niemand ihren Gesprächen lauschen können, und der Wind hatte die Worte gleich wieder fortgetragen, egal, welche Geheimnisse sie ihm auch anvertraut hatten.

Der Wind nahm zu, während sie dem Weg durch die Wiesen folgte. Sie musste sich richtig in die Pedale legen, um ihm zu trotzen. Doch Emma genoss jeden Atemzug der frischen, kühlen Luft. Wie stickig es in Berlin zu dieser Jahreszeit oft war. Oh, sie liebte Berlin. Die Stadt war einfach großartig, und es wurde ihr nicht langweilig, wieder und wieder all die berühmten Sehenswürdigkeiten zu betrachten, an der Spree spazieren zu gehen oder zu shoppen. Es gab hervorragende Restaurants aus aller Herren Länder, Bistros, Cafés, Bars und Klubs. Es gab Kinos, die unterschiedlichsten Museen und einen herrlichen zoologischen Garten. Mit Bus oder Bahn konnte man alles in kürzester Zeit problemlos erreichen.

Doch ihre Tante hatte recht. Dies hier war ihr Zuhause. Hier hatte sie ihre Kindheit und Jugend verbracht und die glücklichsten Jahre ihres Lebens. Auch wenn man meist nur einmal in der Woche einkaufte, damit sich die weite Anfahrt in den nächsten Supermarkt auch lohnte.

Dort vorn sah sie schon den Deich. Noch einmal strengte sie sich an, als ihr der Wind heftig entgegenblies. Endlich war sie da. Die rauen Schreie der Möwen begrüßten sie, dunkel hoben sich ihre schnittigen Flügel gegen den grauen Himmel ab. Emma sprang vom Rad, stellte es an einem Zaun ab und stieg die Stufen am Deich empor. Der Wind rauschte im Gras. Noch schien die Sonne, und es leuchtete so grün, wie sie es lange nicht mehr gesehen hatte. Einsam war es hier, das nächste Dorf lag einen Kilometer entfernt.

Auf der Deichkrone blieb sie stehen und ließ ihren Blick schweifen. Vor ihr lag das Deichvorland, und die Nordsee unmittelbar dahinter begrüßte Emma mit ihrem salzigen Atem. Tief sog sie die würzige Luft in ihre Lungen. Grau und endlos erstreckte sich die See vor ihr, der Wind schob schaumgekrönte Wogen vor sich her. Es war Flut. Emma wandte den Kopf erst nach links, dann nach rechts. Grau und grün, so weit sie blicken konnte. Sie breitete die Arme aus, schloss die Augen und genoss das Gefühl, wieder hier zu sein, den Wind auf ihrer Haut zu spüren. Ja, sie fühlte sich lebendig. Und das tat unglaublich gut.

Auf der Seeseite ging sie ein paar Schritte den Deich hinunter und setzte sich ins Gras. Hier hatten sie damals immer gesessen, oft auch mit ein paar Jungen aus ihrer Klasse. Eine richtige Clique waren sie gewesen.

Auch Sven hatte dazugehört, zumindest zu Beginn. Doch irgendwann war er nicht mehr gekommen. Hatte er da schon Sandra gekannt? Emma erinnerte sich nicht mehr. Wie es ihm inzwischen wohl gehen mochte. Sie war immer noch schockiert über die Neuigkeiten. Und der arme Kleine! In dem Alter die Mutter zu verlieren musste das Schlimmste sein, was man sich vorstellen konnte.

Am Horizont sah sie große Schiffe vorbeiziehen. Tanker, Containerschiffe, Fähren. Sie kamen aus Hamburg, fuhren die Elbe entlang der Unendlichkeit entgegen, oder sie folgten dem Meer in den Norden oder Süden. Wohin mochten sie fahren?

„Oh“, hörte sie eine Stimme hinter sich.

Sie wandte sich um. Ein Mann stand auf dem Deich, in eine Jacke gehüllt, die Hände in den Taschen vergraben. Er warf ihr einen kurzen Blick zu und sah dann aufs Meer hinaus. „Ich wusste nicht, dass jemand hier ist“, sagte er leise, mehr zu sich selbst, wie es Emma schien.

„Kein Problem“, erwiderte sie. Obwohl das nicht ganz stimmte. Sie wäre gern noch eine Weile allein hiergeblieben.

Ihre Blicke folgten dem Mann, der ein paar Schritte weitergegangen war und nun erneut stehenblieb. Emma stutzte. Sie sah ihn nur im Profil, aber etwas an ihm kam ihr bekannt vor. Ja, auch seine Stimme hatte an eine Erinnerung in ihr gerührt, die sie längst vergessen glaubte.

So unauffällig wie möglich sah sie genauer hin und entdeckte, dass auch der Mann verstohlen zu ihr hinübersah.

Konnte das sein? „Sven?“, fragte sie vorsichtig.

Der Mann wandte ihr sein Gesicht zu. Das blonde Haar war noch genau wie damals, voll und leicht verwuschelt. Sein Gesicht jedoch hatte sich verändert. Tiefe Linien hatten sich in die Züge gegraben. Kummer, Verzweiflung und unaussprechlicher Schmerz hatten um seine Lippen herum, auf der Stirn und besonders um die Augen ihre Spuren hinterlassen.

„Emma?“, fragte er ungläubig.

Rasch stand sie auf und wischte sich ein paar Grashalme von der Hose. Während sie die paar Schritte zu ihm hinging, betrachtete sie ihn genauer. Schmaler war er geworden, aber es bestand kein Zweifel. „Du bist es wirklich. Das ist ja eine Überraschung.“

Er hielt ihr die Hand hin und lächelte leicht. Selbst dabei wirkte er unsagbar traurig. „Ganz meinerseits. Was machst du hier?“ Das klang fast etwas grob, ganz so, als würde ihre Anwesenheit ihn ärgern. Doch er schien es selbst gemerkt zu haben und schüttelte fast unmerklich den Kopf, als würde er sich selbst rügen. „Tut mir leid. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass jemand hier ist. Sonst bin ich um diese Zeit immer allein hier.“

„Das wusste ich nicht. Da hatten wir beide wohl den gleichen Gedanken.“

Ganz leichtes Interesse zeigte sich in seinem Gesicht, und er lächelte ein wenig stärker. „Und ich dachte schon, ich wäre der Einzige, der gern mal seine Ruhe hat.“ Er wies auf den Deich. „Wollen wir uns nicht hinsetzen? So wie damals.“ Damit ging er ein paar Schritte den Deich hinunter und ließ sich ins Gras sinken.

Emma setzte sich neben ihn und sah aufs Meer hinaus. „Ich musste auch an damals denken. Deshalb bin ich hergekommen.“

Auch Sven starrte in die Ferne. „Es kommt mir vor, als läge eine Ewigkeit zwischen damals und heute. Als wäre es gar nicht ich gewesen, der vor Jahren hier gesessen, gelacht und gescherzt hatte.“

„Ja, mir geht’s ähnlich. Es ist viel geschehen seitdem. Wir haben uns verändert.“

Eine Weile saßen sie stumm da, während die Wolken, die über der Nordsee hereinzogen, immer dunkler wurden und bald die Sonne schluckten. Schlagartig wurde es kühler. Nur die Möwen schienen unbeeindruckt und schwebten weiterhin über ihnen dahin, schrille Schreie ausstoßend. Und ein paar Schwalben jagten mit waghalsigen Flugmanövern auf der Suche nach Insekten dicht über das Gras.

„Bist du zu Besuch hier, bei deinen Eltern?“, erkundigte sich Sven schließlich.

Emma nickte. „Ja, für ein paar Tage.“

„Ich hoffe, es ist nichts passiert? Geht es ihnen gut?“

„Bei ihnen ist alles in Ordnung.“ Emma zögerte. Sie hatte Sven seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen. Und damals waren sie lockere Freunde gewesen, in einer Teenagerclique. Sie hatten sich gut verstanden, aber das war es auch schon gewesen. „Bei mir allerdings nicht“, setzte sie hinzu, ehe sie die Worte zurückhalten konnte.

Sven starrte sie erschrocken an. Er wirkte plötzlich ganz bleich. „Bist du krank?“

Emma biss sich auf die Lippen. Verdammt, sie hatte ihn nicht an irgendwelche Krankheiten erinnern wollen. War doch klar, dass er zuerst an so etwas dachte. „Nein, ich bin okay. Es ist nur …“ Sie verstummte. Sven hatte genug eigenen Kummer. Sie konnte ihn unmöglich mit ihren Sorgen belasten. Auch wenn sie spürte, dass es ihr guttun würde, sich einmal einem neutralen Menschen anzuvertrauen. Einem, der Tobias nicht kannte.

Sven ließ erleichtert die Schultern sinken, die er unbewusst hochgezogen hatte. „Das ist das Wichtigste“, sagte er so leise, dass Emma ihn kaum verstand.

„Wie geht es dir?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

Eine Weile erwiderte Sven nichts, und Emma dachte schon, er würde nicht antworten. Er hätte jedes Recht dazu. „Das weiß ich nicht“, sagte er schließlich. „Seit einem halben Jahr fühle ich nichts mehr.“

Nun sah er Emma an, und sie war sich sicher, nie zuvor so viel Schmerz in einem Gesicht gesehen zu haben wie in seinem.

„Du weißt davon?“, hakte er nach.

Sie nickte beklommen. Fast meinte sie, seine Verzweiflung körperlich spüren zu können. „Es tut mir so leid! Meine Tante hat es mir erzählt. Ich … ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, Sven. Worte können so einen Verlust nicht einmal ansatzweise beschreiben.“

Er starrte in die Ferne und schien in Gedanken ganz weit weg zu sein. „Zum Glück ist Thies noch so klein. Er hat kaum noch Erinnerungen an seine Mutter. Jedenfalls glaube ich das. Wer weiß schon, was in so einem kleinen Kopf vor sich geht? Oft wird er nachts wach und weint, und es ist schwer, ihn zu beruhigen. Vielleicht erinnert er sich doch an sie. Zumindest an das Gefühl der Liebe, die sie ihm gab, an ihre Geborgenheit und Wärme.“ Er stockte und wandte sein Gesicht ab.

Emma wartete still und gab ihm Gelegenheit, seine Emotionen wieder in den Griff zu bekommen. „Er wird sie bestimmt nie vergessen“, sagte sie schließlich leise. „Sie war seine Mama. Er wird sie ewig in seinem Herzen tragen.“

Sven sah sie immer noch nicht an. Emma sah, wie er mit sich rang, und dachte an Tobias. Wie vergleichsweise kühl er geblieben war, als er vom Tod ihres Kindes erfahren hatte. Natürlich konnte man das nicht vergleichen. Aber hätte er nicht ein wenig mehr Betroffenheit und Trauer zeigen müssen? Immerhin war ihr Kind bereits ein Mensch gewesen, sein Herz hatte geschlagen, es hatte sich bewegt. Es hatte gelebt. Und in wenigen Monaten hätten sie es im Arm halten können. Ihr ganzes Leben hätte sich mit seiner Ankunft verändert. Mit seinem Tod waren all ihre Träume gestorben, all ihre Hoffnungen von einem glücklichen Leben als Familie.

„Danke“, sagte Sven so plötzlich, dass Emma aus ihren Gedanken gerissen wurde und zusammenfuhr.

„Wofür? Ich habe doch gar nichts getan.“

„Du hast zugehört. Und du hast genau die richtigen Worte gewählt. Weißt du, ich versuche, mir genau das jeden Tag einzureden. Dass er seine Mutter nicht vergessen wird, so wie ich sie niemals vergessen werde. Aber er ist noch so klein, und in dem Alter vergessen Kinder noch so schnell. Ich habe ständig Angst, dass er nicht mehr weiß, wer sie war.“

Impulsiv legte Emma ihre Hand auf seine. „Natürlich weiß er das. So tiefe Gefühle vergisst man niemals. Auch wenn er noch so klein ist.“

Ob auch ihr Kind bereits ihre Liebe gespürt hatte? Ob es traurig war, als es ihren Leib viel zu früh verlassen musste?

„Zeig ihm jeden Tag Fotos von ihr“, schlug sie vor. „Und sag ihm, dass das seine Mama war, die ihn unendlich geliebt hat. Das wird ihm guttun. Er wird sich geliebt und behütet fühlen.“

Erstaunt sah Sven sie an. In seinen zuvor so dunklen Augen zeigte sich ein Funken Hoffnung. „Das werde ich! Danke! Wie viele Kinder hast du? Du kennst dich sehr gut damit aus. Sicher bist du eine wunderbare Mutter. Deine Kinder können sich glücklich schätzen, dass sie …“

Unvermittelt brach Emma in Tränen aus. Sie konnte nichts dagegen tun, es kam einfach über sie.

Erschrocken legte Sven seine Hand auf ihre Schulter. „Hab ich was Falsches gesagt? Das tut mir so leid! Bitte verzeih mir, ich …“

„Schon gut.“ Sie hob die Hand, um ihn zu beschwichtigen, und wischte sich über die Augen. „Du konntest es ja nicht wissen. Ich … ich habe keine Kinder. Aber ich habe bereits drei verloren, das letzte gerade vor zwei Wochen.“

Schockiert starrte Sven sie an. „Oh, mein Gott! Das ist ja schrecklich! Es tut mir so leid, Emma! Und ich blöder Idiot …“

„Ist schon in Ordnung. Du wusstest es ja nicht. Ich dachte, ich hätte es bereits besser verarbeitet, aber wie es scheint …“ Sie schniefte noch einmal und atmete dann tief durch.

Plötzlich lachte Sven, auch wenn es nicht fröhlich, sondern eher bitter klang. „Da sitzen wir hier also, zwei vom Schicksal Gebeutelte.“

Emma versuchte zu lächeln. „Ja, wir haben uns gesucht und gefunden.“

Ein kalter Tropfen fiel auf ihre Stirn, gleich darauf traf sie ein zweiter und dritter. Um sie herum begann es zu rauschen, als der Regen stärker wurde. Die Nordsee war auf einmal hinter Dunst verschwunden und ging übergangslos in den Himmel über.

„Ach, du meine Güte“, rief Sven, sprang auf und griff nach Emmas Hand, um ihr hochzuhelfen. „Das war ja absehbar. Komm schnell mit, mein Auto steht unten.“

So schnell sie konnten, rannten sie den Deich hinunter. Sven riss die Beifahrertür für Emma auf, und sie sprang rasch hinein. Gleich darauf ließ sich Sven auf den Fahrersitz fallen. Er sah sie an, und plötzlich wich die Anspannung und Trauer einem Lachen. Emma meinte förmlich zu spüren, wie sich beides in Luft auflöste und mit dem Wind fortflog.

Zwanzig Minuten lang ergoss sich ein wahrer Wolkenbruch auf das Auto. Der Regen prasselte laut auf das Dach und die Fensterscheiben, und Bäche, nein, Wasserfälle rannen an ihnen hinab. Es schien, als wollte der Regen den Kummer und die Tränen fortspülen, und Emma fühlte sich körperlich erleichtert.

Sogar ihr Gespräch nahm eine vollkommen andere Wendung. Sven fragte sie nach ihrem Leben, und sie erzählte von Berlin, von ihrem schicken Haus und den vielen Restaurants, die sie und Tobias bereits ausprobiert hatten. Um ihre Probleme machte sie nun einen großen Bogen und erwähnte weder Tobias’ Seitensprung noch ihre Fehlgeburten. Danach erinnerten sie sich an alte Zeiten, als sie mit ihrer Clique hergekommen waren, und an die bereits damals halb zerfallene Disco irgendwo in Kehdingen, wo die beste Musik weit und breit gespielt wurde und sie bis zum frühen Morgen getanzt hatten.

Endlich ließ der Regen nach, und unvermittelt kam die Sonne wieder zum Vorschein, als wollte sie sich vergewissern, dass alles wieder in Ordnung war und es keine Tränen mehr gab. Prüfend öffnete Emma die Wagentür und hielt ihre Hand hinaus.

„Ich glaube, ich kann es wagen, mich auf den Rückweg zu machen“, sagte sie.

„Soll ich dich nicht lieber fahren?“, erkundigte sich Sven besorgt und sah in den Himmel. Immer noch zogen graue Wolken rasch am Himmel dahin, getrieben vom Nordwestwind.

„Nett von dir. Aber ich hab mein Fahrrad hier stehen, das muss ja irgendwie zurückkommen. Ich glaube nicht, dass es gleich wieder anfängt, ich schaffe es schon trocken wieder zurück, es ist ja nicht weit.“

„Okay. Auf deine Verantwortung.“ Sven lächelte bei diesen Worten, und zum ersten Mal konnte Emma keinen Kummer mehr in seinen Augen entdecken. Stattdessen erstreckte sich ein feines Netz aus Lachfältchen um seine blauen Augen. Plötzlich fiel ihr auf, wie weiß seine Zähne blitzten.

„Klar. Ich bin ja nicht aus Zucker, falls es doch wieder anfängt.“

„Das sah aber eben ganz anders aus. Du bist in meinem Auto verschwunden wie eine Maus in ihrem Loch, wenn die Katze hinter ihr her ist.“

„Das sagt der Richtige! Du bist wie der Blitz in den Wagen gehüpft!“

Sie sahen sich an und lachten. Doch plötzlich war da eine gewisse Scham. Emmas Lachen verging. Durften sie hier fröhlich scherzen, nachdem sie sich gerade erst unter Tränen von ihren furchtbaren Schicksalsschlägen erzählt hatten?

„Es war schön, dich wiederzusehen“, sagte Sven und war wieder vollkommen ernst geworden.

„Hat mich auch sehr gefreut.“

„Wann fährst du wieder zurück nach Berlin?“

„Morgen.“

„Dann wünsche ich dir eine gute Fahrt.“

„Danke.“

„Wenn du mal wieder in der Gegend bist – du kannst mich ruhig mal anrufen.“ Nun lächelte er doch wieder. „Meine Telefonnummer ist noch die Gleiche wie damals. Manche Dinge ändern sich nie.“

„Gern, das mach ich. Ja, also dann … Mach’s gut.“ Emma hielt Sven die Hand hin.

Er ergriff sie und drückte sie fest. Seine Haut war warm. „Du auch. Und grüß mir Berlin.“

Emma sah ihm nach, als er wieder in seinen Wagen stieg und davonfuhr. Erst dann fuhr sie ebenfalls los. Die Rückfahrt zu ihren Eltern ging viel schneller und leichter als die Hinfahrt. Der Wind schob sie vor sich her, als wollte er sie unterstützen. Als wollte er ihr zeigen, wie schön es hier doch war. Dass doch im Grunde gar kein Anlass dafür bestand, nach Berlin zurückzufahren.

Was dachte sie denn da? Natürlich gab es Gründe, genug sogar. Da war Tobias, da war ihre Wohnung mit all den schönen Sachen darin, da war ihr Plan von der Jobsuche, mit dem sie gleich morgen beginnen wollte …

Unsinn, flüsterte ihr eine leise Stimme zu. Eine Arbeit kannst du auch hier finden.

Nein, sie freute sich schon auf ihre Rückkehr. Sie würde mit Tobias noch einmal völlig neu beginnen. Sie könnten endlich ihre Hochzeit planen. Ja, das war doch eine gute Idee. Damit wären sie beschäftigt und abgelenkt und würden auf andere Gedanken kommen. Eine Hochzeit wäre doch ein hervorragender Anlass, endlich mit den alten Zeiten voller Probleme und Kummer abzuschließen und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken.