Leseprobe Net ganz bacha

1.

„I lieb die feine Herbschtluft, du net au?“

Strahlend hakte sich ihre Kollegin Franzi bei Helena unter, als sie gemeinsam das Polizeipräsidium verließen, wo sie beide als Kriminalkommissarinnen arbeiteten.

Helena atmete tief durch und stimmte ihrer Partnerin zu. „Der Herbst war schon immer meine liebste Jahreszeit. Als Kinder haben wir Unmengen Kastanien gesammelt und lauter verschiedene Tiere daraus gebastelt.“ Die Kindheitserinnerung ließ sie verträumt vor sich hin lächeln.

„Mei, des ham mir au immer g’macht! Dann ham mir mit Zahnstochern die scheensten Viecher gebaschtelt.“

Inzwischen waren die beiden auf dem Parkdeck angekommen und stiegen in Helenas Auto.

„Wo wollen wir denn heute Mittag essen?“, fragte Helena, während sie den Gurt anlegte.

Franzi überlegte. „Hmmm, heut hätte i a Gluuscht auf was Deftiges. Was meinsch du?“

Helena sah ihre Partnerin fragend an. „Du hättest was?“

Ihre Augsburger Kollegin lachte glucksend. „Ach geh, Lena, jetzt wohnsch du scho so lang hier bei uns, da wirsch mi doch endlich mal verschtehn!“

Die gebürtige Hamburgerin Helena rollte mit den Augen. „Inzwischen glaube ich, dass ich niemals so weit sein werde, alles zu verstehen, was ihr so von euch gebt“, sagte sie seufzend, während sie das Auto startete. „Ihr Augsburger wisst schon, dass wir hier in Deutschland leben und alle so sprechen sollten, dass man sich auch versteht?“

Grinsend fuhr Helena das Auto aus dem Parkplatz und bog auf die große Allee vor dem Präsidium ein.

„Mir Augschburger sind halt was ganz B’sonderes“, stellte Franzi augenzwinkernd fest. „Wer zu uns kommt, muss si halt anstrengen. Aber a ganz so hoffnungsloser Fall bisch jetzt au wieder net, Lena.“

„Jetzt mal im Ernst, Franzi. Was hast du vorhin gesagt?“

„I hab g’sagt, dass i a Gluuscht auf was Deftiges hätt, verstehsch? Gluuscht heißt so was wie Luscht. Schau“, fügte sie versöhnlich hinzu und tätschelte Helenas Knie, „scho wieder hasch was Neues g’lernt. Mir machen aus dir no nen richtigen Datschiburger.“

Lachend schüttelte Helena ihren Kopf. Datschiburger! Die Augsburger waren so stolz auf ihren berühmten Zwetschgendatschi, dass er ihnen sogar den Spitznamen Datschiburger eingebracht hatte.

„Das wohl eher nicht, aber gefallen tut es mir hier schon.“

Zufrieden grinste Franzi ihre Partnerin an.

„Dann fahr ich in die Maxstraße und schau, ob ich da parken kann. Da finden wir jede Menge Restaurants, einverstanden?“ Helena setzte den Blinker und fuhr in Richtung Innenstadt.

„Au ja, des mach mer! I wollt scho immer mal den neuen Italiener ausprobieren. Der soll ne gute Mittagskarte ham.“

 

Zehn Minuten später saßen die beiden Frauen draußen vor einem kleinen Lokal und warteten auf ihre Bestellung. Helena hatte ihre Sonnenbrille aufgesetzt, während Franzi ihr sommersprossiges Gesicht mit geschlossenen Augen von der warmen Herbstsonne bescheinen ließ.

„Des isch vielleicht schee! Kei Vergleich zu dem Mief im Präsidium.“

Helena stimmte ihr zu. Mittags versuchten die beiden Kommissarinnen, sooft wie möglich auswärts zu essen, um frische Luft zu schnappen. Natürlich gingen sie nicht jeden Tag in Restaurants, das hätte ihre Geldbeutel doch arg strapaziert. Oft spazierten sie auch einfach nur in den großen Park um den Augsburger Hotelturm und aßen dort ihre mitgebrachten Leckereien auf einer Bank.

„Ihre Pasta Vongole.“ Eine freundlich aussehende Kellnerin stellte eine große dampfende Schüssel vor Franzi ab. Kritisch beäugte Helena die Meeresfrüchte. Auch wenn sie aus einer Hafenstadt kam, hatte sie sich damit noch nie anfreunden können.

„Ihre Pizza mit Ruccola. Buon appetito.“ Eine riesige Pizza, die über den Rand hinaushing, wurde vor Helena platziert. Mit großen Augen besah sie ihre Bestellung.

„Da mußsch aber nen g’hörigen Hunger ham, Lena“, lachte Franzi und stach mit der Gabel genüsslich in ihre Nudeln. „I wünsch dir nen guten Appetit.“

„Den wünsche ich dir auch, Franzi. Au weia, dieses Ungetüm schaffe ich niemals!“ Zweifelnd blickte Helena auf ihr Essen.

„Mußsch doch au net. Den Rescht kannsch immer no mitnehmen“, beruhigte sie ihre Kollegin. „Und übrigens, unser Hannes hätt die locker g’schafft!“ Sie zwinkerte Helena verschmitzt zu.

„Da muss ich dir voll und ganz recht geben!“ Helenas Großcousin, der im vergangenen Jahr in Augsburg zu Besuch gewesen war, hatte Unmengen an Essen in sich hineinstopfen können. Eine Pizza dieser Größe hätte ihn vor keine besonders große Herausforderung gestellt. Inzwischen studierte er in Hamburg Betriebswirtschaft. Häufig rief er an und berichtete von seinem Werdegang, verdankte er doch den beiden Frauen, dass sich sein Leben zum Besseren gewendet hatte.

Helena schnitt sich ein Stück der Pizza ab und steckte es sich in den Mund. Hmmm, köstlich! Der würzige Rucola passte hervorragend zu der fruchtigen Tomatensoße und dem geschmolzenen Mozzarella. Schweigend genossen die beiden Frauen ihre Köstlichkeiten.

„Boah, ich kann nicht mehr“, stöhnte Helena eine Viertelstunde später. „Ich platze gleich!“ Zur Bestätigung fasst sie an ihren Bauch.

„Da hasch aber fei net viel g’schafft“, neckte sie Franzi. „Da isch ja fascht no die Hälfte übrig.“

„Das macht nichts“, winkte Helena ab. „Dann hab ich abends noch was oder ich heb sie mir für morgen auf.“

Sie tranken noch zwei Espressi, bezahlten und schlenderten gemütlich zum Auto zurück.

„Mi zieht’s grad so gar net in die stickige Bude z’rück“, sagte Franzi, die auffallend langsam ging.

„Lass uns noch ein bisschen in die Schaufenster gucken. Dann haben wir gleich einen Verdauungsspaziergang gemacht“, schlug Helena vor. Franzi stimmte begeistert zu und lief gleich darauf wesentlich beschwingter neben ihrer Kollegin her.

Interessiert besahen sie sich die bunten Auslagen und stellten überrascht fest, dass die Geschäfte bereits auf Wintermode umgestellt hatten. Lange Mäntel schienen wieder in Mode zu kommen. In der warmen Herbstsonne vermochte man sich noch gar nicht vorzustellen, dass es bald wieder so kalt sein würde, dass man so etwas tragen musste.

 

Eine halbe Stunde später fuhren die beiden Frauen ins Präsidium zurück. Sie hatten ihre Mittagspause überzogen und würden daher am Nachmittag eine Überstunde einlegen müssen, um die verlorene Arbeitszeit wieder reinzuholen.

„Hoffentlich wird dei Nick net sauer, wenn du später heimkommsch“, sagte Franzi, als sie sich Helena gegenüber an ihrem Schreibtisch niederließ.

„Ach was“, winkte ihre Partnerin ab. „Der ist sowieso immer lange im Laden.“

Seit einem guten Jahr waren Helena und Nick ein Paar. Sie hatte den gutaussehenden Mann kennengelernt, als er in die gegenüberliegende Wohnung eingezogen war. Inzwischen verbrachten sie die meiste Zeit zusammen, hatten sich jedoch noch nicht dazu entschließen können, eine der Wohnungen aufzugeben.

„Wie läuft denn das Geschäft?“, erkundigte sich Franzi interessiert.

Nick hatte den kleinen Laden auf dem Augsburger Stadtmarkt von seiner Tante übernommen, als diese in den Ruhestand ging. Alle möglichen Kleinigkeiten konnte man in dem liebevoll eingerichteten Geschäft erstehen, von Geschirr über Taschen hin zu lauter verschiedenen Dekoartikeln.

„Er sagt, er sei zufrieden“, sagte Helena. „Er hat wohl viel Stammkundschaft, aber auch die Touristen kaufen gerne bei ihm ein. Er hat inzwischen eine kleine Augsburg-Ecke, wo man nette Andenken erwerben kann.“

Franzi nickte stolz. „Des werden von Jahr zu Jahr immer mehr Touris, die in unsre scheene Stadt kommen. Des isch ja au kein Wunder net, wo mir doch inzwischen sogar Weltkulturerbe sind.“

Seit 2019 stand das Wassermanagementsystem der Stadt Augsburg auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes, eine Tatsache, die Franzi nie müde wurde zu erzählen. „Mir sind Weltkulturerbe“, stand auf einer Werbepostkarte, die einen der Augsburger Wassertürme zeigte, die Franzi an die Seite ihres Monitors geklebt hatte. Sie hatte Helena sogar einmal zu einer Führung in den Wasserturm am Roten Tor gedrängt, ganz in der Nähe von Helenas Wohnung, und obwohl Helena anfangs nicht gerade viel Lust dazu verspürt hatte, hatte sie die Führung dann doch als überaus interessant empfunden. Sie hatte sogar ihren Eltern am Telefon davon erzählt und ihnen versprochen, eine Führung für sie zu organisieren, wenn die beiden sie mal wieder besuchen würden.

Die nächsten Stunden war außer dem eifrigen Klackern der Tastatur nicht viel zu hören. Über den Sommer war einiges an Papierkram liegen geblieben, dem sie sich leider widmen mussten. Das Fenster ihres Büros im zweiten Stock des Präsidiums stand weit offen. Hin und wieder vernahm man neben dem gleichmäßigen Brummen der zahlreichen Autos Kindergeschrei von einer nahegelegenen Schule und das Bimmeln der Straßenbahn, die direkt vor dem großen Steingebäude, in dem das Polizeipräsidium Schwaben untergebracht war, eine Haltestelle hatte.

Schrilles Klingeln unterbrach die Stille und ließ Helena zusammenfahren.

„Danner“, meldet sich Franzi, nachdem sie den Hörer des Telefons abgenommen hatte. Sie lauschte eine Weile und machte sich währenddessen Notizen.

„Wo genau ham Sie g’sagt? Aha … Also neben dem großen Karussell? Alles klar, mir kommen hin. Sperren’S großräumig ab.“ Sie legte den Hörer auf und sah Helena an.

„Lena, mir müssen los. Wir ham a Leich aufm Plärrer.“

Helena stand auf, griff sich ihren Notizblock und ihre Tasche und wartete, bis Franzi ihre Sachen verstaut hatte.

„Mir lassen uns aber mit’m Streifenwagen hinfahrn“, sagte Franzi, als sie aus der Tür traten. „Da unten findsch du um die Zeit ums Verrecken kein Parkplatz net.“

Helena folgte ihrer Kollegin zum Eingang des Präsidiums und wartete, während diese mit der jungen Beamtin dort die Einzelheiten ihres Transports ausmachte. Anschließend traten sie gemeinsam aus dem Gebäude.

„Mir solln auf’m Parkdeck warten, hat sie g’sagt“, ließ Franzi sie wissen, woraufhin sie sich dorthin begaben. „Sag a mal, warscht du eigentlich inzwischen scho mal auf unsrem Plärrer?“

Helena schüttelte den Kopf. „Ich bin bis jetzt noch nie dort gewesen“, gab sie zerknirscht zu. „Ich bin nicht so der Volksfesttyp.“

Entsetzte Blicke trafen sie. „Was soll’n des heißen, net so der Volksfeschttyp?! Der Plärrer g’hört doch zu unsrer Augschburger Kultur!“ Franzi schüttelte so heftig ihren Kopf, dass ihre rotbraunen Locken nur so durch die Gegend flogen. „So a Banausin“, murmelte sie vor sich hin.

Helena wusste, dass das bekannte Augsburger Volksfest, das Plärrer genannt wurde, zweimal im Jahr stattfand, einmal an Ostern, der sogenannte Oschterplärrer, und einmal im Herbst, der Herbschtplärrer, wie die Augsburger sagten. Als Kind war sie mit ihrer Familie hin und wieder auf den Hamburger Dom gegangen, ein riesengroßes Volksfest, das dreimal jährlich stattfand und zu dem über 10 Millionen Besucher kamen. Als Kind hatte sie den Rummel ja noch richtig schön gefunden, die verschiedenen Karusselle, der Geruch nach Popcorn und gebrannten Mandeln, riesige Zuckerwatte … Aber je älter sie wurde, desto weniger konnte sie dem Ganzen abgewinnen. Menschenmassen, die einen durch die Gänge schoben, überall Krach und überlaute Musik, volltrunkene Besucher, die durch die Straßen torkelten oder auf den Grünstreifen ihren Rausch ausschliefen … Da konnte sich Helena wahrlich Schöneres vorstellen.

„Ah, da isch er scho“, sagte Franzi und deutete auf einen Streifenwagen, der soeben auf das Parkdeck abbog und wendete. Als er vor ihnen hielt, stiegen die beiden Kommissarinnen ein, Franzi vorne, Helena hinten.

„Wo derf’s denn higehen, die Damen?“

„Ja, Schorsch! Mei, jetzt hab i di gar net glei erkannt, weil die Scheibe so g’schpiegelt hat!“ Grinsend schlug Franzi dem uniformierten Beamten auf die Schulter. „Des isch aber nett, dass du uns rumchauffiersch.“

„Grüß dich, Schorsch“, sagte auch Helena erfreut, die es sich auf dem Rücksitz bequem machte und sich anschnallte. „Schön, dich mal wieder zu sehen.“

Der Beamte sah in den Rückspiegel und tippte sich mit der Hand grüßend an die Mütze. „Gleichfalls, Lena. Wo soll’s nun hingehen?“ Fragend sah er seine Mitfahrerinnen an.

„Mir müssn zum Plärrer nunter“, ließ Franzi ihn wissen.

„Ah, jetzt verschteh i. Deswegen habt’s ihr a Taxi braucht. Da unten findsch echt kein Parkplatz net“, sagte Schorsch und fuhr los.

Auf dem Weg erkundigte sich Helena, was Franzi am Telefon erfahren hatte.

„Mei, viel ham die net g’sagt, weißsch. Nur, dass se a Leich am Riesenrad g’funden ham.“ Franzi zuckte mit den Schultern. „Schau’n mer mal, was uns da erwartet.“

Kurze Zeit später hielt der Streifenwagen vor einem der Eingänge zum Augsburger Plärrer. Kaum hatte Helena die Autotür geöffnet, schlug ihr bereits Volksfestlärm entgegen. Lautsprechermusik, Ansagerinnen, die zum Mitfahren einluden, das Grölen halbstarker Betrunkener …

Helena seufzte. Ihr Blick glitt über den Festplatz, wo sich bunte Karusselle nebst gewaltigen Bierzelten dicht an dicht drängten. Direkt am Eingang drehte ein Kettenkarussell beschwingt seine Runden. Seltsam altertümlich wirkte es zwischen den anderen modernen, quietschbunten Attraktionen und war über und über mit Bildern von Augsburger Sehenswürdigkeiten bemalt. Offenbar wurde es von Einheimischen betrieben.

Helena mochte Kettenkarusselle. Als Kind hatte sie wohlbehütet neben ihrer Mutter Runde um Runde gedreht und wurde nicht müde, den Hamburger Dom von oben zu bestaunen. Auch hier gab es Doppelsitze für Elternteile mit Kind und Helena musste schmunzeln, als sie den aufgeregten Gesichtsausdruck eines kleinen Jungen in Lederhosen sah, der sich eng an seine Mama drückte, die Fahrt aber trotzdem sehr zu genießen schien. Seine Mutter hatte liebevoll ihren Arm um ihren Sprössling gelegt, um ihm ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Mit der anderen Hand deutete sie auf Dinge, die sie dem Jungen zeigen wollte. Seifenblasen wurden aus einer Röhre geblasen und stiegen zwischen den Fahrenden auf.

„Willsch mal fahren?“, fragte Franzi grinsend, der die Blicke ihrer Partnerin nicht entgangen waren, und stieß sie neckend in die Seite.

„Nein danke“, wehrte Helena erschrocken ab. „Das Karussell hat mich nur an früher erinnert, das ist alles.“

„Vielleicht ham mir ja später no Zeit, es zu fahren“, sagte Franzi augenzwinkernd und deutete nach links. „Da drüben isch des Riesenrad, wie man unschwer erkennen kann. Lass uns nübergehen.“

Während sich die beiden Kommissarinnen durch die Besuchermassen schlängelten, sah Helena sich neugierig um. Der Plärrer war viel kleiner als der Hamburger Dom, aber trotzdem war irgendwie alles da. Fressbuden, die Fritten, gekochten Mais oder Steckerlfisch verkauften, Süßigkeitenläden mit den obligatorischen gebrannten Mandeln, deren Geruch einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, Popcorn und Lebkuchenherzen, eine Geisterbahn, die, wie Helena zugeben musste, ihr als Kind immer fürchterlich Angst gemacht hatte und jetzt irgendwie gar nicht mehr schrecklich aussah, und natürlich Bierzelte.

Viele der Besucherinnen und Besucher waren in bayerischer Tracht gekleidet, traditionelle, beinahe knöchellange Dirndl, die hauptsächlich von älteren Frauen getragen wurden, aber auch die neumodischen Mini-Dirndl, die maximal bis zu den Knien reichten. Stilecht wurden dazu Schürzen aus Spitze, Baumwolle oder Seide getragen, die farblich zu den Kleidern passten. Viele der männlichen Plärrergänger trugen Lederhosen, wobei die meisten davon auch höchstens bis zum Knie reichten. Dazu trugen sie karierte Hemden, die gut zu den Hosen passten. An den Füßen schien das Traditionsbewusstsein vieler Besucher jedoch zu enden, trugen die jungen Burschen doch Chucks oder andere Sneaker anstelle der traditionellen Lederschuhe.

„Heut isch Trachtentag“, erklärte Franzi, als die erstaunte Helena sie auf die vielen Dirndls aufmerksam machte. „Wobei i sagen muss, dass in den letschten Jahren immer mehr Leut au einfach so in Tracht kommen.“

„Und ich dachte immer, ihr Augsburger wollt nicht besonders viel von der bayerischen Tradition wissen“, entgegnete Helena schmunzelnd. Sie musste ihre Stimme erheben, um über den Lärm hinweg gehört zu werden.

„A was“, winkte Franzi ab, „mir suchen uns des aus, was uns g’fällt“, erklärte sie augenzwinkernd. „Bier mög mer ja au ganz gern, weißsch?“

Das war Helena in der ganzen Zeit, die sie in Augsburg lebte, natürlich auch aufgefallen. In der Fuggerstadt gab es einige Brauereien, die ihre Köstlichkeiten in dazugehörigen Biergärten anboten. Franzi hatte Helena schon in einige davon geschleppt und inzwischen hatte sich die Hamburgerin sogar mit dem würzigen Getränk anfreunden können. Früher hatte sie Wein bevorzugt, doch an einem heißen Sommertag ein kühles Bier, dessen Glas in der Hitze beschlug … Herrlich!

Als sie damals von Hamburg nach Augsburg gezogen war, hatte Helena fest mit einem durch und durch bayerischen Lebensstil gerechnet. Natürlich war ihr klar gewesen, dass die Bayern nicht jeden Tag in Tracht herumliefen, aber dass sich die Augsburger dermaßen vom restlichen Bayern unterschieden, vor allem was die Sprache anging, hatte sie doch sehr überrascht. Helena hatte im Fernsehen hin und wieder bayerischen Dialekt gehört und versucht, den Film „Brandner Kaspar“ anzusehen. Es war bei dem Versuch geblieben, denn dieses Kauderwelsch war wirklich nicht zu verstehen gewesen. Sie hatte sogar nachgesehen, ob sie deutsche Untertitel anschalten konnte, was aber leider nicht geklappt hatte.

Als Helena im letzten Jahr die zweifelhafte Ehre gehabt hatte, den Polizeipräsidenten Niedermaurer bei seinem Präsidiumsbesuch herumzuführen, war sie das erste Mal live in Kontakt mit dem Bayerischen gekommen. Der Präsident sprach tiefstes Niederbayerisch, wie man es beispielsweise in München sprach. Die bayerische Hauptstadt war gerade mal 60 Kilometer von Augsburg entfernt und trotzdem unterschieden sich die Dialekte frappierend. Leider war der Augsburger Dialekt beileibe nicht einfacher zu verstehen als das bayerische …

„Oh, schau, die Leopardenschpur!“, rief Franzi plötzlich begeistert. „Des war früher mei absolutes Lieblingskarussell!“

Helena folgte Franzis Blick und sah ein Fahrgeschäft, das sich schnell im Kreis drehte. Das schien alles zu sein, was es konnte, doch dem fröhlichen Quietschen der Mitfahrenden konnte man entnehmen, dass das durchaus auszureichen schien.

„Des müss mer mal zsam fahrn!“, sagte Franzi grinsend und zog die kopfschüttelnde Helena weiter in Richtung Riesenrad an Losbuden und Imbissbuden vorbei. „Aber heut ham mer ja nen Fall, um den mer uns kümmern müssen, gell?“ Helena nickte. Ihr kam der ganze Trubel völlig unpassend vor, wenn man bedachte, dass sich ganz in der Nähe ein Toter befand. Nach wie vor fiel es ihr schwer, sich mit dieser Seite ihres Berufs anzufreunden. Ein Mensch hatte sein Leben verloren und dennoch schien es irgendwie keinen wirklich zu kümmern, ganz nach dem Motto „The show must go on“.

Plötzlich wurde Helena heftig angerempelt und verlor beinahe das Gleichgewicht.

„Schöne Frau“, nuschelte ein junger Mann und schielte sie von der Seite an, „wohin desch Wegsch?“ Seiner verwaschenen Sprache und seiner Fahne nach zu urteilen, hatte er bereits mehrere Maßkrüge gelehrt.

„Geh, schausch, dass’d weitergehsch, du b’soffener Uhu, du b’soffener!“, fuhr Franzi ihn grob an, woraufhin der Gescholtene eiligst den Rückzug antrat.

Helena musste schallend lachen. „Wenn ich dich nicht hätte, meine Retterin in der Not!“

„Ah, geh, solche Prachtexemplare findsch hier überall. Da mußsch aufpassen, dass die dich net vollkotzen. I war mal auf’m Oktoberfescht in München drüben und da hasch richtig Spießrutenlaufen müssen, damit keiner über di drüberreihert!“

Franzi lachte über Helenas angewiderten Gesichtsausdruck. „Wenn i dir nen Tipp geben darf: Solltsch du je nach München zum Oktoberfescht fahrn, dann geh vormittags hin, da isch des mit den B’soffenen no net so schlimm.“

„Ich hab wirklich kein Bedürfnis, da jemals hinzufahren“, sagte Helena schaudernd. „Wie ich vorhin schon sagte: Volksfeste sind eh nicht so mein Ding.“

„Des verschteh i! Aber unser Plärrer isch scho toll, geh?“

Grinsend stimmte Helena ihr zu, wohlwissend, dass Franzi nichts auf ihr geliebtes Augsburg kommen ließ.

Vor dem Riesenrad, auf dem in riesigen beleuchteten Lettern der Schriftzug „Bavarian Princess“ prangte, war ein Polizeiabsperrband gespannt worden und uniformierte Polizisten hatten alle Hände voll zu tun, neugierige Plärrergänger zu verscheuchen, die meinten, das Band würde ausgerechnet für sie nicht gelten.

Am Eingang wiesen die Kommissarinnen sich aus, woraufhin ein Polizist das Absperrband hochhielt und sie untendurch gehen ließ.

„Wo isch denn die Leich?“, fragte Franzi nach und der Mann deutete in Richtung Kabinen.

„Und wo sind denn die ganzen Fahrgäste?“, hakte Helena nach. „Wir brauchen sämtliche Kontaktdaten zu Ermittlungszwecken.“

„Wir haben bereits die Daten der Leute aufgenommen, gleich als wir angekommen sind. Leider kann ich nicht ausschließen, dass manche vorher gegangen sind.“

„Danke für die Info.“ Helena und Franzi befolgten den Weg zwischen samtenen Absperrbändern, den sonst die Fahrgäste nahmen. Am Rand standen große Plastikvasen mit künstlichen Blumen und direkt vor dem Bereich, der zu den Kabinen führte, prangte ein riesiges, kitschiges Gemälde.

„Ah, die Sissi.“

„Woher weißt du das jetzt?“, fragte Helena Franzi irritiert.

„Na, des isch doch klar! Bei Bavarian Princess kann es sich doch nur um unsere Sissi handeln. Ihre Familie hat hier ganz in der Nähe ein Wasserschloss g’habt, in Unterwittelsbach. Da mußsch mal hinfahren! Da kann man sogar Kleider von ihr bewundern.“

„Ich dachte immer, sie war Kaiserin von Österreich“, sagte Helena stirnrunzelnd, deren Interesse für dynastische Geschichte sich in Grenzen hielt.

„Ja, sag mal, kennsch du die Sissi-Filme net, die jeds Jahr zu Weihnachten im Fernseh kommen?“, fragte Franzi ehrlich entrüstet.

„Nicht wirklich“, gab Helena zu. Ihre Mutter liebte die kitschigen Filme, aber ihrer Tochter war es bislang immer gelungen, einem gemeinsamen Ansehen der Filme zu entgehen.

„Du bisch wirklich a Baunause!“, teilte Franzi ihr mit. „Die Sissi war a bayerische Prinzessin und isch durch die Heirat mit dem Franz-Josef Kaiserin von Öschterreich g’worden.“

Forschend betrachtete Helena das kitschige Gemälde näher. Tatsächlich wies die Darstellung eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Romy Schneider auf, von der sie wusste, dass sie die Hauptrolle in den Sissi-Filmen gespielt hatte.

„Hier rüber.“ Ein uniformierter Beamter erregte ihre Aufmerksamkeit und winkte sie heran, auf die unterste Kabine deutend, deren Türen weit geöffnet waren. Im Inneren kniete ein Mann vor einer Person, die seltsam verkrümmt auf einer der sich gegenüberliegenden Bänke saß.

„Ah, der Herr Doktor Lysander isch uns wieder mal zuvorkommen“, sagte Franzi lächelnd, woraufhin sich der auf dem Boden kniende Mann zu ihnen umdrehte.

„Grüß Sie Gott, Frau Danner und Frau Hansen.“ Ächzend erhob er sich, wobei seine Knie vernehmlich knackten. Der großgewachsene Pathologe musste sich in der niedrigen Kabine bücken, um nicht an der Decke anzustoßen.

„Guten Tag, Doktor Lysander“, begrüßte Helena den älteren Mann. „Was haben wir denn hier?“ Sie deutete auf die zusammengekrümmte Person.

„A Leich, würd i sagen“, schaltete sich Franzi grinsend ein, was von Helena mit einem Augenrollen quittiert wurde.

„In der Tat“, stimmte der Pathologe der Augsburgerin schmunzelnd zu. „Der Mann ist vor nicht allzu langer Zeit verstorben. Der Rigor Mortis hat noch nicht eingesetzt, sehen Sie?“ Er bückte sich und bewegte den Arm des Toten, der sich problemlos biegen ließ.

„Woran ist er denn gestorben?“, fragte Helena, die in der Zwischenzeit ihr Notizbuch aus ihrer Tasche gekramt hatte und mit dem Stift in der Hand bereitstand.

„Bitte geben Sie mir kurz Zeit“, bat der Pathologe. „Der Kollege, der mit dem Notarztwagen hier war, hat aufgrund der Wahrscheinlichkeit einer möglichen Fremdeinwirkung lediglich den Tod des Mannes eindeutig festgestellt. Mehr kann ich leider noch nicht genau sagen.“ Bedauernd hob der Arzt die behandschuhten Hände. „Also müssen sich die Damen leider noch einen Moment gedulden.“ Er drehte sich wieder zu dem Toten um und fuhr mit seiner Untersuchung fort.

Nachdem er den Körper leicht nach vorne gezogen hatte, sog er scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. „Hier haben wir es, meine Damen.“ Er deutete auf den Rücken des Toten, auf dem ein großer Blutfleck zu sehen war, der nicht nur seine Jacke tränkte, sondern auch an der Rückwand der Kabine klebte, an die der Tote gelehnt hatte.

„Ganz offensichtlich Tod durch Fremdeinwirkung.“ Er lehnte den Toten vorsichtig wieder an die Wand und stieg hinter den Kommissarinnen aus der Kabine. „Ich lasse Ihnen meinen Bericht baldmöglichst zukommen.“

Nachdem er seine Utensilien in der mitgebrachten braunen Ledertasche verstaut hatte, verabschiedete sich der Arzt und ging davon.

Inzwischen waren die Kollegen der SpuSi eingetroffen und machten sich daran, Spuren zu sichern. Helena sah am Rand einen älteren Mann, der auf einem Stuhl saß und den Kopf in die Hände stützte und begab sich zu ihm, während Franzi noch mit den weißgekleideten Kollegen der SpuSi sprach.

„Mein Name ist Hansen, Kripo“, teilte sie ihm mit und hielt zur Bestätigung ihren Ausweis hoch.

„Denger“, sagte der Mann. „Ich bin der Betreiber der ‚Bavarian Princess‘.“

„Haben Sie den Toten gefunden?“, fragte Helena, während sie den Namen des Mannes in ihrem Notizbuch vermerkte.

„Nein, das war ne Mitarbeiterin. Sie wird dort hinten im Krankenwagen behandelt. Sie hat nen fürchterlichen Schock erlitten, müssen’S wissen.“

Helena sah schräg hinter dem Riesenrad einen Krankenwagen stehen.

„Können Sie mir schon sagen, wann wir wieder öffnen dürfen?“, fragte Herr Denger.

Helena zog die Augenbrauen hoch.

„Wissen’S, wir sind auf des G’schäft ang’wiesen! Jede Stunde weniger koschtet uns viel Geld“, beeilte sich der Schausteller, seine Frage zu erläutern.

„Das kann ich Ihnen leider nicht genau sagen“, sagte Helena bedauernd. „Erst wenn die SpuSi den Tatort freigibt, kann es für Sie weitergehen.“

„Tatort?“ Entsetzt sah der Mann hoch.

„Momentan sieht alles nach einem Gewaltverbrechen aus“, teilte Helena ihm mit. „Kannten Sie den Toten vielleicht?“

Kopfschüttelnd verneinte Herr Denger die Frage.

„Ich danke Ihnen vielmals“, sagte Helena und angelte eine Visitenkarte aus ihrer Tasche. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.“

„Das werd ich. Auf Wiederschauen!“

Helena ging zurück zu Franzi und erzählte ihr von ihrem Gespräch mit dem Schausteller.

„Dann lass uns mal nüber zum Sanka gehn. Vielleicht isch die Frau bereits wieder vernehmungsfähig“, sagte Franzi hoffnungsvoll.

Kurze Zeit später standen die beiden vor dem Krankenwagen und klopften an die Tür.

„Ja bitte?“ Ein älterer Sanitäter öffnete die Tür einen Spalt und sah die beiden Frauen fragend an.

„Danner und Hansen von der Kripo“, sagte Franzi, während die beiden ihre Ausweise zückten. „Mir würden gerne mit der Frau sprechen, wenn des möglich isch.“

„Kommen’S doch rein“, sagte der Mann freundlich, öffnete die Tür weiter und machte den Kommissarinnen Platz, damit sie einsteigen konnten.

Eine blasse Frau mittleren Alters lag auf der Liege, einen Infusionsschlauch im Arm, und blickte den Helena und Franzi mit großen Augen entgegen.

„Sie sind von der Kripo?“, flüsterte sie mit leiser Stimme. Offenbar hatte sie mitgehört, als die Kommissarinnen mit dem Sanitäter gesprochen hatten.

„Danner und Hansen“, stellte Franzi sich und Helena vor.

„Milke“, kam es leise zurück

„Frau Milke, fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?“, erkundigte sich Helena vorsichtig.

Tapfer nickte die kleingewachsene Frau, während ihr eine Träne die Wange hinunterlief. Die junge Sanitäterin, die neben der Frau saß und ihre Hand hielt, tupfte sie mit einem Taschentuch vorsichtig weg.

„Können Sie uns bitte beschreiben, wie Sie den Toten gefunden haben?“

„Ich kann eigentlich gar nicht viel sagen. Als die übliche Rundenzahl bei dem Durchgang des Riesenrads zu Ende war, hab ich die Gäste wie immer zum Aussteigen aufgefordert. Der Mann in Kabine 34 hat nicht auf meine Aufforderung reagiert. Da hab ich halt gedacht, dass der seinen Rausch ausschläft, und weil grad net viel los war bei uns, hab ich ihn noch ein paar Runden fahren lassen.“ Sie schluchzte laut auf. „Ich hab ja net ahnen können, dass der Mann tot ist.“

Die Sanitäterin reichte ihr ein frisches Taschentuch und Frau Milke schnäuzte kräftig hinein.

„Was isch dann passiert?“, hakte Franzi nach.

„Als wieder mehr los war, hab ich natürlich versucht, den Mann wachzurütteln. Dabei hab ich bemerkt, dass er sich net mehr rührt, und geatmet hat er auch nicht mehr.“ Erneut flossen Tränen über ihre Wangen. „Ich hab sofort beim Chef Bescheid gesagt und wir haben keinen mehr reingelassen. Bis alle anderen ausgestiegen waren, hat der arme Mann noch einige Runden fahren müssen. Ich wollt ihn ja da rausholen, aber Herr Denger hat gesagt, wir sollen nix anfassen.“

„Das war auch richtig so“, beruhigte Helena sie. „Kannten Sie den Mann eigentlich?“

„Ich hab ihn noch nie zuvor gesehen.“ Bedauernd hob Frau Milke ihre Hände.

Helena reichte ihr ihre Karte. „Bitte rufen Sie uns an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Gute Besserung Ihnen.“ Die Kommissarinnen verabschiedeten sich und stiegen aus dem Krankenwagen. Franzi bestellte per Handy einen Streifenwagen, der sie abholen sollte.

„Ein Toter, der Karussell fährt …“, sagte Helena nachdenklich, während sie zum Abholort gingen.

„Des isch scho verrückt, so was!“, pflichtete ihr Franzi kopfschüttelnd bei. „Zum Glück hat der Betreiber gut reagiert, sonscht hätt’s am End no a Panik geben bei de Leit.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn die g’wusst hätten, dass ne Leich mit ihnen mitfährt …“

„Es wird auf alle Fälle schwierig herauszubekommen, wer mit dem Toten in einer Kabine war“, sagte Helena seufzend. „Oder überhaupt herauszubekommen, wer zeitgleich im Riesenrad war. Zeugen, die das Opfer gesehen haben oder vielleicht gesehen haben, mit wem er eingestiegen ist …“

„Des wird g’wiss net einfach!“, stimmte Franzi der Einschätzung ihrer Kollegin zu. „Aber wenn’s jemand schafft, dann doch mir zwei, geh?“ Grinsend hakte sie sich bei Helena unter.

„Du mit deinem unerschütterlichen Optimismus“, erwiderte Helena lachend.

„Einer muss ja positiv denken, net wahr?“ Die Augsburgerin zwinkerte verschmitzt.

Insgeheim musste Helena ihrer Partnerin natürlich recht geben. Sie war von Haus aus eher pessimistisch veranlagt, weswegen sie Franzis unerschütterlicher Optimismus immer wieder überraschte. Zugegebenermaßen hatte Franzi recht … Was brachte es schon, immer vom Worst Case auszugehen, außer dass man automatisch miese Laune bekam? Helena hatte im Lauf ihrer Zeit in Augsburg festgestellt, dass die gelassene Herangehensweise ihrer Kollegin durchaus auf sie abzufärben begann, obwohl sie nie gedacht hätte, dass man sich in diesem Punkt tatsächlich ändern konnte. Sie wusste aber, dass ihr das wirklich guttat.

„Da isch er wieder“, sagte Franzi und winkte dem Streifenwagen zu, der die Straße herunterfuhr.

„Habt’s ihr mir Mandeln mitbracht?“, brummte Schorsch, kaum dass die beiden Frauen eingestiegen waren.

„Leider nicht“, sagte Helena bedauernd.

„Schade, aber meim Ranzen hätt des eh net guttan“, erwiderte der beleibte Polizist augenzwinkernd, während er mit der rechten Hand liebevoll die ausladende Leibesmitte tätschelte.

Auf dem Rückweg erzählte Schorsch ihnen den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Präsidium. Müde lehnte Helena sich zurück und ließ das Gespräch an sich vorbeiplätschern. Inzwischen war Feierabend und sie würde vom Präsidium aus bald nach Hause fahren. Eigentlich musste sie sich nur noch die eingepackte Pizza aus dem Kühlschrank schnappen. Viel Hunger hatte sie nicht, aber dann würde sie wenigstens später nicht mehr kochen müssen.

Der Beamte lieferte die beiden Kommissarinnen am Präsidium ab, bevor er weiter auf Streife fuhr.

„Du, Lena“, sagte Franzi gähnend auf dem Weg hoch ins Büro, „i glaub, i pack’s au glei. Den Bericht könn mer doch au morgen schreiben, oder?“

„Auf jeden Fall“, pflichtete Helena ihr bei. „Mir schwirrt eh schon der Kopf von dem vielen Getippe heute Nachmittag. Ich wollte auch gleich los.“

„Kannsch es wohl gar nimmer erwarten, zu deim Nick zu kommen, geh?“, sagte Franzi grinsend, sie neckisch in die Seite stupsend.

„Ja, schon“, gab Helena lächelnd zu. Seit über einem Jahr war sie mit dem Potsdamer liiert, der in Augsburg ebenfalls eine neue Heimat gefunden hatte. Eine Welt ohne ihn vermochte sie sich gar nicht mehr vorzustellen.

„I freu mi jedenfalls, dass du so glücklich bisch, Lena.“

Inzwischen hatten sie ihr Büro erreicht und Franzi angelte ihren quietschgrünen Fahrradhelm vom Garderobenständer. Dankbar lächelte Helena ihr zu. Sie umarmte ihre Partnerin zum Abschied und packte ihre Sachen zusammen.

 

Zehn Minuten später bog sie mit ihrem Auto bereits in die Tiefgarage ihres Wohngebäudes ab.

Sie freute sich schon auf einen gemütlichen Abend mit ihrem Freund. Die restliche Pizza konnte sie mit einem großen Salat strecken und schon reichte die Mahlzeit für zwei. Der Aufzug trug sie geschwind nach oben und Helena schloss ihre Wohnungstür auf.

„Nick?“, rief sie in die Wohnung. Obwohl sie in zwei verschiedenen Wohnungen lebten, hielt sich ihr Freund doch die meiste Zeit bei Helena auf. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie eine der Wohnungen aufgaben.

„Nick? Ich bin zu Hause!“ Helena streckte den Kopf ins Wohnzimmer, fand aber niemanden vor. „Nick?“

Merkwürdig, auch in den anderen Zimmern war er nicht zu finden. Vielleicht hatte er ihr eine Nachricht hinterlassen? Sie angelte ihr Handy aus der Tasche und stellte enttäuscht fest, dass es leider nichts Neues gab.

Er würde sich wohl auch verspäten. Na ja, da konnte sie ebenso gut damit anfangen, das Abendessen vorzubereiten. Zuerst schlüpfte Helena in bequemere Klamotten. Ihre Jeans war wirklich schön, doch verteufelt eng. Auch die hellblaue Bluse wanderte zurück in den Schrank, nachdem Helena sich davon überzeugt hatte, dass man sie noch einmal tragen konnte, bevor sie in die Wäsche musste. Stattdessen schlüpfte sie in bequeme Leggings und einen übergroßen Pullover, den ein bezauberndes Strickmuster zierte. An den Füßen trug sie selbst gestrickte Wollsocken von Franzis Tante Lotte, die zwar eine gewagte Farbkomposition aufwiesen, aber himmlisch warm waren. Anschließend begab sie sich in die Küche, schnitt Salat, Tomaten und Gurken in Stücke und gab alles mit feinen Kräutern in eine große Schüssel und fügte das Dressing hinzu.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass Nick mehr als spät dran war. Helena begann sich ernsthaft Sorgen zu machen. Ihr Handy blieb nach wie vor stumm und sie beschloss, erst in seiner Wohnung nachzusehen, bevor sie ihn anrief. Vielleicht war er ja einfach nur auf der Couch eingenickt.

Entschlossen schnappte sie sich Nicks Wohnungsschlüssel mit dem herzförmigen Anhänger, den er ihr auf ihrer gemeinsamen Reise in Potsdam gekauft hatte, und verließ ihre Wohnung. Ihre Tür ließ sie angelehnt, sie musste ja nur den Gang runter. Sie betätigte die Klingel und wartete kurz, da sie es sich einfach nicht angewöhnen konnte, unangekündigt in seiner Wohnung zu erscheinen, auch wenn Nick ihr schon gefühlt hundert Mal gesagt hatte, dass das nicht nötig sei. Sie war das jedoch von zu Hause gewohnt. Wenn sie ihre Eltern besuchte, klingelte sie auch immer, bevor sie aufsperrte.

Gerade als sie den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, öffnete sich die Tür.

„Nick“, sagte Helena überrascht. „Du bist ja da.“

„Wo soll ich denn sonst sein?“, brummte ihr Freund ungehalten.

Helena zog überrascht die Brauen hoch. Was war das denn für eine seltsame Reaktion?

„Ich hab mir halt Sorgen gemacht, das ist alles.“ Sie lief einen Schritt auf ihn zu, um ihn zur Begrüßung zu küssen. Zu ihrem Erstaunen wich er ihr aus. Verunsichert trat sie einen Schritt zurück und sah zu ihm hoch. Nick war doch immer so liebevoll. Was war nur mit ihm los?

„Kommst du zum Essen?“

Warum wich er ihrem forschenden Blick aus? Helenas Magen zog sich vor Sorge schmerzhaft zusammen.

„Heute nicht, ok? Ich bin echt müde.“ Er beugte sich nach vorne und gab ihr einen kaum spürbaren Kuss auf die Wange, bevor er seine Wohnungstür wieder zuzog und die sprachlose Helena davor zurückließ.

Eine kurze Weile starrte sie noch auf die Wohnungstür. Bestimmt würde er sie gleich wieder öffnen! Sicher hatte er sich nur einen Scherz mit ihr erlaubt …

Als nichts dergleichen geschah, lief Helena mit hängenden Schultern in ihre Wohnung zurück. Sie setzte sich an den Küchentisch, den sie liebevoll für zwei gedeckt hatte, und vergaß vor lauter Grübeln ihren Salat und die Pizza. Hunger hatte sie sowieso keinen mehr. So kannte sie Nick gar nicht. Er hatte sich ihr gegenüber immer mehr als aufmerksam und liebevoll verhalten. Ihm musste wohl eine Riesenlaus über die Leber gelaufen sein! Andererseits war sie selbst ja auch nicht immer nur gut gelaunt. Ihre Arbeit war manchmal mehr als stressig und Helena war mehr als einmal gereizt nach Hause gekommen. Das würde es sein! Vermutlich hatte er Ärger mit einem Kunden oder einem Lieferanten gehabt oder er hatte einfach einen total anstrengenden Tag hinter sich und wollte nur noch seine Ruhe.

Obwohl sie es schade fand, dass er sie nicht an seinen Gefühlen teilhaben ließ, beruhigte sie der Gedanke augenblicklich. Sie konnte sich sogar dazu bringen, ein paar Bissen von dem knackigen Salat zu nehmen. Die restliche Pizza ließ sie im Kühlschrank. Die würde sie morgen mit ins Büro nehmen und mittags essen.

 

Nach dem Essen setzte sich Helena auf ihr Sofa, um fernzusehen. Ohne Nick machte das gar keinen Spaß mehr, gestand sie sich seufzend ein. Es war doch viel unterhaltsamer, sich zusammen einen Film anzusehen. Heute wurde das nichts mehr. Helena angelte nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Obwohl es noch viel zu früh war, machte sie sich bettfertig. Dann würde sie eben noch lesen.

Als sie zwei Stunden später ihre Nachttischlampe ausknipste, war sie endlich müde genug, um einzuschlafen. Das unangenehme Gefühl im Bauch blieb.